Multiversum
von claudrick
Kurzbeschreibung
Was in unserer Welt Realität ist, mag in einer Parallelwelt ganz anders sein. Captain Future macht sich deshalb nach Joan Landors Tod auf in andere Dimensionen - doch was wird er dort vorfinden... ?
GeschichteSci-Fi / P12 / Gen
Curtis Newton / Captain Future
Joan Landor
03.11.2013
24.11.2013
4
10.446
1
03.11.2013
3.667
Mit einem Stöhnen hob Curtis seinen Kopf von der Steuerungskonsole. Ein unangenehmer Druck auf den Trommelfellen ließ ihm die Ohren klingeln, und als er mühsam die Augen öffnete, hatte er große Mühe, irgendetwas in seiner Umgebung zu fixieren. Übelkeit überkam ihn, und er musste heftig würgen. Doch in seinem Magen befand sich nichts, was er hätte erbrechen können. Mit einem tiefen Atemzug zwang er sich zu einer aufrechten Haltung in seinem Sitz, bis sich sein Kreislauf wieder stabilisiert hatte und er wieder geradeaus schauen konnte. Vor ihm lag die Erde. Genauso wie er sie aus seinem Universum kannte. Er strich sich noch einmal über den Drei-Tage-Bart, den er sich absichtlich hatte stehen lassen, und flog los.
Auch New York City sah aus, wie er es zuletzt in seinem Universum gesehen hatte. Liberty Island mit der Freiheitsstatue, das Empire State Building, die Brooklyn Bridge und das unscheinbare Gebäude der Planet Patrol am Ufer des East River. Dort parkte Curtis den Cosmoliner in einem der öffentlichen Ports und ging auf das wohlbekannte Gebäude zu. Er tat dies, ohne zu wissen, ob er Joan hier überhaupt antreffen würde. War sie in diesem Universum eigentlich Agentin der Planet Patrol? Und lebte sie überhaupt in New York? Seine Fragen beantworteten sich von selbst, noch bevor er sie zu Ende gedacht hatte. Er erkannte Joan sofort, als sie nur wenige Meter von ihm entfernt aus der großen Glastür des Polizeigebäudes trat. Sie sah anders aus, aber ihre Körperhaltung, ihre Art zu gehen und sich mit der Hand das Haar aus dem Gesicht zu streichen waren ihm so vertraut, dass er eine Verwechslung sofort ausschloss. Wie gut es tat, sie so lebendig zu sehen, so schön wie er sie in Erinnerung hatte! Doch diese Frau war nicht die Joan, die er gekannt hatte. Das musste er sich sofort wieder ins Bewusstsein rufen. Sie trug die Haare kürzer, ihr Körper unter der dunkelblauen Sportkleidung erschien ihm sehniger und durchtrainierter, und ihr Gesicht wirkte abgeklärt und nicht mehr so mädchenhaft. Curt war erleichtert. Es gab eine Welt, in der Joan gesund und am Leben war. Und vielleicht war sie sogar glücklich, mit wem auch immer... Entgegen seiner ersten Pläne hatte er später beschlossen, Professor Simons Rat zu befolgen und keinen Kontakt zu Joan aufzunehmen. Denn es war überhaupt nicht abzusehen, was das für Konsequenzen hätte haben können. So folgte er ihr einfach noch ein paar Häuserblocks, wie um sich an ihr satt zu sehen und hätte sich dann zufrieden auf den Rückweg in sein Universum machen können, als er etwas bemerkte, was ihn zutiefst erstaunte. Erste Regentropfen fielen gerade vom bewölkten Himmel über New York, und Joan schwang sich ihre Sporttasche über die Schulter, um eine schnellere Gangart einlegen zu können, als er sie für einen kurzen Moment an Joans Handgelenk aufblitzen sah: Seine Atomarmbanduhr.
Das war für ihn Grund genug, Joan kurzerhand doch in unauffälligem Abstand weiter zu folgen. Der Regen wurde indes stärker, und so entschied sich Joan, die U-Bahn zu nehmen. Sie betrat die Rolltreppe der nächstgelegenen Station, Curtis unerkannt nur wenige Stufen hinter ihr. Viele Menschen drängten sich unten am Bahnsteig, und Newton musste aufpassen, Joan nicht aus den Augen zu verlieren. Als sie endlich in die Bahn einsteigen konnten, waren nur noch Stehplätze frei, was Curt nur recht war, denn so konnte er sich, die Baseballkappe tief im Gesicht, hinter der großformatigen Zeitung verstecken, in die der Fahrgast neben ihm gerade vertieft war. Joan stand direkt am Fenster, eingepfercht zwischen zwei älteren Damen und starrte gedankenverloren zum Fenster hinaus. Sie sah so wunderbar und vertraut aus, dass allein die Vorstellung, mit ihr zu sprechen und ihr nahe zu sein, seinen Entschluss, sich unentdeckt im Hintergrund zu halten, kurz ins Wanken geraten ließ, als plötzlich das Zischen einer Protonenwaffe zu hören war und ihr blasser Strahl eines der Oberlichter des Abteils zerstörte, dass die Funken flogen. Ein ungepflegter Kerl in schmuddeliger Kleidung pflanzte sich breitbeinig in der Mitte des Abteils auf, in der erhobenen Rechten die Strahlenwaffe, und grinste verächtlich.
„So, ihr stinkenden Mistkäfer, jetzt mal raus mit allem Barem, Schmuck und Uhren. Und dass mir keiner versucht, den Helden zu spielen, sonst schieß ich ihm ebenfalls die Lichter aus!“ Unterdrückte Ausrufe des Entsetzens waren zu hören, und die Fahrgäste begannen in hilfloser Verzweiflung, eingeschüchtert in ihren Taschen herumzukramen, während der Dieb mit einer Plastiktüte in der Hand und einem gierigen Grinsen im Gesicht die Sitzreichen entlang ging. Curtis sah angespannt zu Joan hin. Die fixierte den Verbrecher mit aufgerissenen Augen, den Körper angespannt zum Angriff. Sie schien nur noch zu überlegen, wie sie den Kerl am einfachsten und ohne andere zu gefährden im dichtgedrängten Abteil Schachmatt setzen konnte. Der Dieb schien seinen Überfall genau geplant zu haben, denn die nächste Station kam bereits in Sicht, seine Tüte war gut gefüllt, und es gab keinen Zweifel, dass er den nächsten Halt zur Flucht nutzen würde, um dann schnellstmöglich im Gedrängel auf dem Bahnsteig unterzutauchen. Der Bursche stand nun weniger als einen Meter von Curtis entfernt. Unter den fettigen Haarsträhnen verbarg sich ein hageres Genick, an dem sich die Knochen der Wirbelsäule unter der Haut abzeichneten. Es war ein Leichtes für Newton, die Wirbel abzuzählen und mit einem gezielten, stählernen Fingerdruck den neuralgischen Punkt zu treffen, der den Dieb sofort ausschaltete. Der sackte in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte, fiel hart zu Boden und rührte sich nicht mehr. In diesem Moment bremste die Bahn ab und fuhr in die Station ein. Joan sprang mit einem akrobatischen Satz herbei und verpasste dem Verbrecher eine Daumenfessel, während Curt die Strahlenwaffe noch vor ihre Füße kickte, um sich unter dem Jubel der Fahrgäste als Erster aus der sich gerade öffnenden Tür zu drängeln, bevor Joan ihn möglicherweise erkennen konnte. Einer der Fahrgäste hatte wohl endlich das Notsignal im Abteil gedrückt, denn ein schriller Alarmton schallte aus den Lautsprechern des Bahnsteigs, und ein paar Uniformierte des Sicherheitspersonals stürmten herbei, um den Schurken in Gewahrsam zu nehmen. Curt hatte schon die ersten Stufen der Treppe genommen, als er noch einmal atemlos einen Blick zurück warf. Und Joan direkt in die Augen sah, die gerade aus der U-Bahn getreten war! Ertappt sah Curt schnell wieder weg und versuchte, schleunigst die Station zu verlassen. Doch er ahnte bereits, dass Joan nicht locker lassen und sie ihm folgen würde, wenn ihr Ermittlergeist erst einmal geweckt war. Ein vorsichtiger Blick über seine Schulter bestätigte ihm seinen Verdacht, ihr blonder Haarschopf kam immer näher. Als er endlich wieder das Straßenniveau erreichte, prasselte kalter Regen heftig auf ihn herab und durchnässte ihn sofort bis auf die erhitzte Haut. Kurz musste er überlegen, in welcher Richtung nun wohl der East River lag. Jäher Schwindel überkam ihn, und er musste sich eingestehen, dass seine letzte Mahlzeit wohl doch schon etwas zu lange zurück lang, was gepaart mit den Strapazen der Hyperraumreise nun doch seinen Tribut forderte. Er schwankte, als ihn jemand fest am Arm ergriff, und ihn zwang, sich umzudrehen. Joan stand vor ihm, schnappte bestürzt nach Luft, als sie sein Gesicht sah und ließ ihn wieder los. Ihm wurde schwarz vor Augen, er klammerte sich an das Schild der U-Bahn-Station und sank daran zu Boden, wie ein betrunkener Obdachloser. Er nahm Joans Stimme wahr, die wie durch Watte an sein Ohr drang, fühlte ihre Hand an seinem Mund und ein Stück Traubenzucker zwischen seinen Lippen. Gleich ging es ihm wieder etwas besser, er hob den Kopf und sah sie an. Joan bedeckte ihren Mund mit der Hand, und für einen Moment war in ihren Augen noch einmal diese Fassungslosigkeit zu sehen, die er schon vorhin an ihr beobachtet hatte. Dann ergriff sie seinen Arm und wollte ihm aufhelfen.
„Es geht schon wieder“, murmelte er verärgert über sich selbst und schob ihre Hand weg, um alleine aufzustehen, nur um sich gleich wieder auf das Geländer der Stationstreppe stützen zu müssen.
„Rettet eben noch das Leben und die Wertsachen etlicher Fahrgäste und klappt dann kurz darauf hier zusammen, als ob...“ Die geringschätzige Bemerkung, die Joan auf der Zunge lag, blieb unausgesprochen, als sie dem Mann in die Augen sah. In diese grauen Augen, die sie so gut kannte! Die Ähnlichkeit war einfach verblüffend. Es musste wohl doch stimmen, dass jeder Mensch auf der Welt einen Doppelgänger hat...
„Es geht mir gut“, wiederholte der Mann, diesmal etwas freundlicher und fügte mit einem Lächeln hinzu: „Der Traubenzucker hat mich gerettet“. Seine Stimme und sein Lächeln trafen Joan schmerzhaft mitten ins Herz. Dieser unrasierte Kerl sah aus, sprach und gab sich wie Curtis Newton! Ihre Gedanken rasten durcheinander, suchten nach einer Erklärung, und fanden doch keine. Und da ihr Verstand angesichts dieser Herausforderung so offensichtlich versagte, musste wohl kurzfristig ihr Bauchgefühl eine Entscheidung treffen.
„Wann haben Sie denn zuletzt etwas gegessen?“, hörte sie sich fragen, bevor sie sich bewusst dazu entschieden hatte. „Kommen Sie mit. Ich spendiere Ihnen was“.
Curtis sah Joan einen Moment unentschlossen an. Er wusste, dass er dieses Angebot unbedingt hätte ablehnen und sich unverzüglich wieder auf den Weg in sein Universum hätte machen müssen, aber... Die Aussicht darauf, Zeit mit dieser Frau zu verbringen und vielleicht zu erfahren, was ihn mit ihr in diesem Universum so sehr verband, dass sie seine Atomarmbanduhr trug, ließ ihn zögern.
„Danke, das ist sehr nett von Ihnen“, nahm er das Angebot schließlich an. Es regnete noch immer in Strömen, und Joan kam in den Sinn, wie unangenehm es sein würde, in tropfend nasser Kleidung in einem Diner zu sitzen, überall Pfützen zu hinterlassen und sich nebenbei eine Erkältung einzufangen.
„Hören, Sie...“, wandte sie sich an den Mann an ihrer Seite. „Verstehen Sie das jetzt nicht falsch, aber ich habe mir überlegt, dass wir wohl besser zu mir nach Hause gehen. Es sind nur noch ein paar Blocks bis zu meiner Wohnung, und wir könnten uns duschen und uns umziehen...“ Angesichts der Zweideutigkeit ihrer Worte, die ihr just in diesem Moment klar wurde, geriet Joan ins Stottern. „N...Nur falls Sie nicht woanders hingehen können, meine ich...“, fügte sie hastig hinzu und errötete so bezaubernd wie Curt das in Erinnerung hatte. Er bedachte sie von der Seite mit einem liebevollen Blick, und ihm war klar, dass es auch in diesem Universum nicht ihre Art war, fremde Männer, die vor U-Bahn-Schächten kollabierten, aufzulesen und mit nach Hause zu nehmen. Dass sie es nun doch tat, war eindeutig dem Umstand geschuldet, dass seine Anwesenheit sie offenbar so sehr irritierte, dass sie der Sache auf den Grund gehen wollte. Und davon einmal abgesehen hätte ein Mann, der Joans Hilfsbereitschaft missverstehen oder gar hätte ausnutzen wollen, dies angesichts ihrer Nahkampfausbildung und einer stets griffbereiten Waffe ohnehin schnell bereut.
„Wirklich sehr freundlich von Ihnen“, antwortete Curt mit einem Lächeln. „Ich hoffe, ich kann mich in irgendeiner Form bedanken“. Joan blickte ihren Begleiter an, erneut fasziniert von dessen bestürzender Ähnlichkeit mit Curtis Newton und fragte sich dennoch, was sie da eigentlich gerade tat. Sie kannte diesen Mann überhaupt nicht und war soeben dabei, ihn in ihre Wohnung mitzunehmen. Aber dieses Lächeln... Diese Augen... Sie spürte keinerlei bedrohliche Ausstrahlung von ihm ausgehen, und falls sie sich doch irrte, würde sie sich schon zu helfen wissen. Aber sie musste einfach mehr über diesen Mann erfahren!
Bei dem Thailänder, der seine mobile Garküche direkt vor Joans Haustür aufgebaut hatte, kaufte sie ein paar Gerichte zum Mitnehmen und betrat schließlich mit ihrem Begleiter ihre kleine Wohnung.
„Ich weiß, es ist geradezu winzig, aber der Blick auf den Central Park ist dafür unbezahlbar“, bemerkte Joan, nur um etwas Belangloses zu sagen. ‚Ich weiß’, konnte sich Curt gerade noch verkneifen. Denn selbst diese Wohnung sah bis auf Kleinigkeiten aus, wie in seinem Universum.
„Hey... Warum gehen Sie nicht unter die Dusche und ich mache uns etwas Kaffee?“, fragte Joan und deutete auf die Badezimmertür. „Ich hätte sogar ein paar Kleidungsstücke, die Ihnen passen könnten“.
„Tatsächlich?“, antwortete Curtis und fragte sich, wem die wohl gehören mochten... „Danke, aber gehen Sie doch zuerst duschen und ich mache den Kaffee. Das bin ich Ihnen schuldig.“. Kurz keimte Misstrauen in Joan auf, doch ihr Gast begann schon, sich suchend in der Kochnische umzusehen.
„Ich habe keine Kaffeemaschine“, sagte Joan, „nur eine Cafetiere...“
‚Ich weiß’, hätte Curt fast wieder geantwortet, stattdessen sagte er souverän: „Kein Problem, damit kenne ich mich aus“.
Zögernd stellte Joan ihre Sporttasche ab und betrat ihr Badezimmer. Ein heimlicher Blick zurück in die Küche zeigte ihr, wie ihr Gast den Wasserkocher betätigte und Kaffeepulver in die Cafetiere löffelte. Hastig riss sie sich die nasse Kleidung vom Körper und sprang unter die Dusche. Sie wollte keinesfalls länger brauchen als der Kaffee zum Ziehen benötigte... In Sporthose und Shirt, barfuß und mit feuchtem Haar kam sie nur fünf Minuten später zurück in die Küche.
Ihr Gast hatte schon brav zwei Tassen aufgebaut und schenkte gerade den frisch gebrühten Kaffee ein. „Lassen Sie mich raten: Etwas Milch, kein Zucker, oder?“, fragte er mit einem Lächeln. Er hatte tatsächlich recht, aber das konnte auch Zufall sein.
„Das haben Sie gut erraten“, entgegnete Joan und nahm einen Schluck Kaffee. Er schmeckte sehr gut, gerade so, als sei er von... Der unvollendete Gedanke ließ ihre Hand zittern, und sie stellte die Tasse schnell ab.
„Falls Sie jetzt duschen wollen... Ich habe Ihnen was Trockenes zum Anziehen hingelegt. Und im Badezimmer steht auch ein Wäschetrockner, falls Sie ihn benutzen wollen“.
„Danke, gern“, antwortete Curt und verschwand mit der Kaffeetasse im Badezimmer. Joan atmete tief durch und setzte sich nachdenklich auf den Küchenhocker. Konnte es sein, dass Curtis einen Bruder hatte, von dem er nichts gewusst hatte? Einen Zwillingsbruder, um genau zu sein? Oder hatte sein Vater noch ein Kind gehabt, von dem er nichts gewusst hatte? Ehe sie noch länger darüber nachdenken konnte, kam ihr Gast auch schon wieder aus dem Badezimmer, ebenfalls mit feuchten Haaren und in dunkelblauer Planet Patrol Sportkleidung, die sie ihm hingelegt hatte. Und er sah toll aus! Joan musste sich zusammenreißen, um ihn nicht anzustarren.
„Tja, dann können wir jetzt ja essen“, stellte sie in betont lockerem Tonfall fest, stellte die Pappschachteln mit dem Thai-Essen auf den kleinen Couchtisch und befreite die Essstäbchen aus ihrer Papierhülle. Curtis nahm neben ihr Platz und öffnete eine der Schachteln.
„Die Sachen passen mir übrigens ausgezeichnet“, stellte er fest und nahm ein Stück Hühnchen. „Ich hoffe, der Mann, dem sie gehören, kommt nicht unvermutet hier herein und zieht womöglich die falschen Schlüsse?“
„Was für falsche Schlüsse sollte er denn ziehen?“, entgegnete Joan und sah Curtis herausfordernd an. Doch ehe dieser zu einer Antwort ansetzen konnte, fügte sie hinzu „Es geht Sie zwar nichts an, aber die Kleider stammen von einem Kollegen von mir“, erzählte Joan. „Er wohnt drüben in New Jersey, aber wenn es beim Dienst spät wird, dann übernachtet er ab und zu bei mir... und manchmal schlafen wir auch miteinander“, schloss sie und blickte ihm direkt in die Augen, um festzustellen, ob dieses Geständnis irgendeine Reaktion bei ihrem rätselhaften Gast auslöste. Und für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie tatsächlich, seine Lider fast unmerklich flattern zu sehen.
„Aha...“ entgegnete Curtis tonlos. „Was für ein Glückspilz...“ In diesem Universum lief offenbar doch einiges anders als in seinem! Er hatte keine Lust, dieses Thema zu vertiefen und fragte deshalb ganz unvermittelt nach der Sache, die ihn in erster Linie veranlasst hatte, hier zu bleiben.
„Sie haben da eine außergewöhnliche Armbanduhr. Ich sah sie im Badezimmer liegen...“
Joan zuckte bei dieser Frage leicht zusammen und spürte, dass sie blass wurde. Eigentlich hatte sie doch ihn ausquetschen wollen und nicht umgekehrt, aber mit dieser Frage hatte er sie prompt aus der Reserve gelockt. Zögernd stocherte sie in ihrem Essen herum.
„Die Uhr ist von jemandem, den ich mal kannte... Und der mir sehr viel bedeutet hat“.
Curtis schluckte und machte sich darauf gefasst, dass die Beziehung zwischen Captain Future und Joan Landor in diesem Universum an den vielen Widrigkeiten und Anforderungen ihrer beider Berufe gescheitert war und es eine bittere Trennung gegeben hatte.
„Was ist geschehen?“, fragte er vorsichtig.
Joan sah von ihrem Essen auf und blickte ihm direkt in die Augen. „Er ist tot“.
Curtis verschluckte sich so heftig, dass Joan ihr und sein Essen schnell beiseite stellte und ihm fest den Rücken klopfte.
„Tut mir leid, das zu hören“, antwortete Curt ehrlich bestürzt, als er sich wieder artikulieren konnte, ohne zu husten. „Darf ich fragen, wie das passiert ist?“
Joan seufzte tief und fragte sich, ob sie darüber sprechen wollte oder nicht. Es lag immerhin schon Jahre zurück und sie hatte es doch verarbeitet... oder? Und warum interessierte ihn das überhaupt? Schließlich fing sie doch an zu erzählen, dass sie hinter Vul Kuolun her gewesen waren, der die Diamanten der Macht an sich bringen wollte, um die Galaxis zu beherrschen. Und wie ‚ihr’ Captain versucht hatte, ein paar der bereits von Kuolun erbeuteten Steine aus dem Versteck im Zyklotron von dessen Raumschiff an sich zu bringen. Was genau dann an Bord des feindlichen Schiffes geschehen war, hatten sie niemals erfahren, doch die Future-Mannschaft und Joan hatten nur vermuten können, dass der Captain wohl bei einem Fluchtversuch getötet und wie lästiger Ballast ins All hinaus befördert worden war.
„Jedenfalls schwebte er plötzlich ganz friedlich vor der Bugscheibe unseres Schiffes vorbei, tot und steifgefroren. Alles sah so... unwirklich aus und war doch die grauenhafte Realität. Ich konnte das alles zunächst überhaupt nicht begreifen“.
Joans Selbstkontrolle begann zu bröckeln, als diese verdrängten Bilder wieder vor ihrem inneren Auge auftauchten. Ein schmerzhafter Kloß machte sich in ihrem Hals bemerkbar, und sie musste gegen aufsteigende Tränen ankämpfen.
„Wir bestatteten ihn auf einem Asteroiden, den seine Mannschaft dann mit der Protonenkanone ihres Raumschiffes verglühen ließ... Ich war die ganze Zeit dabei, habe das alles mitangesehen, aber erst als mir ein Mitglied seiner Mannschaft seine Uhr als Andenken schenkte, wurde mir bewusst, dass ich ihn niemals wiedersehen würde“. Ihre letzten Worte wurden von einem unterdrückten Schluchzen verzerrt, und sie wandte das Gesicht ab. Angesichts der schmerzvollen Ereignisse, die Joan gerade mit ihm teilte, erschien es Curtis ein bisschen unangebracht, danach zu fragen, aber er musste es einfach wissen.
„Und was geschah mit dem Verbrecher, hinter dem sie her waren, diesem Kuolun?“
„Er und seine Komplizin versuchten auf Pleasure Planet dem Casinobesitzer mit einem Trick beim Radium-Roulette einen der Steine abzuluchsen, was ihnen zunächst auch gelang. Der Casino-Besitzer bemerkte jedoch noch rechtzeitig, dass man ihn hereingelegt hatte, und bei ihrem turbulenten Fluchtversuch wurden Kuolun und seine Freundin vom Sicherheitsdienst des Casinos erschossen. Ich darf gar nicht daran denken, was aus dieser Welt geworden wäre, mit einem mächtigen Vul Kuolun. Und ohne jemanden wie... Ohne jemanden, der ihm gewachsen ist und es mit ihm aufnehmen kann!“
Sie sah Curtis geradewegs an, und eine einsame Träne bahnte sich ihren Weg über Joans Wange. Curtis zögerte einen Moment, dann beugte er sich vor und nahm Joan behutsam in die Arme.
Für den Bruchteil eines Augenblicks wollten in Joan die antrainierten Abwehrreflexe aufflammen, doch seine Umarmung ließ Erinnerungen auf sie einstürzen, die sie schlicht überwältigten. Als habe er sie einer schützenden Rüstung beraubt, lehnte sie sich hilflos an Curt, verkrampfte ihre Finger in seinem Shirt, ließ den Tränen endlich freien Lauf. Ein ‚Wer bist du?’ trudelte noch irgendwo in ihrem Kopf herum, aber in diesem Moment bedeutete ihr diese Frage noch weniger als eine eventuelle Antwort darauf. Sie wollte nur noch seinen Trost, seine Nähe, seine Umarmung... Curtis streichelte sanft ihren Rücken, die Wange an ihrem Haar, und starrte ungläubig ins Leere. In diesem Universum hatte er es also nicht geschafft, sich aus den Fängen von Kuoluns Komplizen, dem Chamäleon, zu befreien, und er hatte sein Ende in den Weiten des Alls gefunden... Unfassbar! Joan beruhigte sich langsam wieder, machte aber keine Anstalten, sich aus seinen Armen zurück zu ziehen.
„Das muss furchtbar für Sie gewesen sein“, stellte Curtis mit sanfter Stimme fest.
„Mein Leben war danach nicht mehr dasselbe“, antwortete Joan und sah ihn resigniert an. Doch die innige Liebe und absolute Loyalität für ihren Captain auch noch Jahre nach seinem Tod leuchteten bei diesen Worten in ihren Augen und berührten Curtis zutiefst. Einem plötzlichen Impuls folgend berührte er sie sachte am Kinn und küsste sie.
Irritiert hielt Joan still, ließ es einfach geschehen. Dieser Mann war ein Fremder, und doch fühlte es sich so gut und richtig an, ihn zu küssen. Und so schob sie all die widerstreitenden Gefühle beiseite und genoss einfach das geradezu vertraut anmutende Gefühl seiner warmen Lippen auf ihrem Mund, schlang die Arme um Curts Hals und erwiderte seinen Kuss.
Wie lange sie so dagesessen hatten, wusste Joan später nicht mehr zu sagen, sie musste, wie befreit von einer schweren Last, tief und fest in seinen Armen eingeschlafen sein. Als sie erwachte, hatte sich die Nacht bereits über New York gesenkt, ihre Wohnung lag dunkel, bis auf den hellen Streifen aus Licht, der aus der angelehnten Badezimmertür drang. Ihre Augen fühlten sich geschwollen an vom Weinen und ihre Lippen vom Küssen...
Joan musste lächeln. Sie fühlte sich gelöst und zufrieden, und obwohl sie die ganze Zeit vollständig bekleidet auf einer unbequemen Couch gesessen hatten, empfand sie das angenehme Gefühl, etwas wunderbar Intimes und Vertrauliches mit ihrem geheimnisvollen Gast geteilt zu haben.
Gerade kam er wieder in seinen eigenen Kleidern aus dem Badezimmer, setzte sich neben sie auf die Couch und streichelte zärtlich ihre Wange.
„Es war wunderbar, dich... kennen zu lernen, Joan“, sagte er und betrachtete sie liebevoll. „Aber ich muss jetzt wieder gehen“.
„Ich weiß“, antwortete sie und strich ihm durchs rote Haar. Dass er sie beim Namen genannt hatte, obwohl sie sich überhaupt nicht einander vorgestellt hatten, und an ihrer Haustür auch kein Klingelschild mit ihrem Namen angebracht war, schien ihr zu bestätigen, was ihr Verstand als surreal und unglaubwürdig abtun wollte: Dieser Mann war nicht von dieser Welt, er gehörte nicht hierher und musste dahin zurück, woher er gekommen war. Sie bedauerte dies ein wenig, jedoch nicht allzu sehr, denn selbst, wenn er jetzt ging, so hatte er ihr etwas gegeben, dass ihr all die Jahre gefehlt hatte: Das Gefühl, Abschied genommen zu haben.
Auch New York City sah aus, wie er es zuletzt in seinem Universum gesehen hatte. Liberty Island mit der Freiheitsstatue, das Empire State Building, die Brooklyn Bridge und das unscheinbare Gebäude der Planet Patrol am Ufer des East River. Dort parkte Curtis den Cosmoliner in einem der öffentlichen Ports und ging auf das wohlbekannte Gebäude zu. Er tat dies, ohne zu wissen, ob er Joan hier überhaupt antreffen würde. War sie in diesem Universum eigentlich Agentin der Planet Patrol? Und lebte sie überhaupt in New York? Seine Fragen beantworteten sich von selbst, noch bevor er sie zu Ende gedacht hatte. Er erkannte Joan sofort, als sie nur wenige Meter von ihm entfernt aus der großen Glastür des Polizeigebäudes trat. Sie sah anders aus, aber ihre Körperhaltung, ihre Art zu gehen und sich mit der Hand das Haar aus dem Gesicht zu streichen waren ihm so vertraut, dass er eine Verwechslung sofort ausschloss. Wie gut es tat, sie so lebendig zu sehen, so schön wie er sie in Erinnerung hatte! Doch diese Frau war nicht die Joan, die er gekannt hatte. Das musste er sich sofort wieder ins Bewusstsein rufen. Sie trug die Haare kürzer, ihr Körper unter der dunkelblauen Sportkleidung erschien ihm sehniger und durchtrainierter, und ihr Gesicht wirkte abgeklärt und nicht mehr so mädchenhaft. Curt war erleichtert. Es gab eine Welt, in der Joan gesund und am Leben war. Und vielleicht war sie sogar glücklich, mit wem auch immer... Entgegen seiner ersten Pläne hatte er später beschlossen, Professor Simons Rat zu befolgen und keinen Kontakt zu Joan aufzunehmen. Denn es war überhaupt nicht abzusehen, was das für Konsequenzen hätte haben können. So folgte er ihr einfach noch ein paar Häuserblocks, wie um sich an ihr satt zu sehen und hätte sich dann zufrieden auf den Rückweg in sein Universum machen können, als er etwas bemerkte, was ihn zutiefst erstaunte. Erste Regentropfen fielen gerade vom bewölkten Himmel über New York, und Joan schwang sich ihre Sporttasche über die Schulter, um eine schnellere Gangart einlegen zu können, als er sie für einen kurzen Moment an Joans Handgelenk aufblitzen sah: Seine Atomarmbanduhr.
Das war für ihn Grund genug, Joan kurzerhand doch in unauffälligem Abstand weiter zu folgen. Der Regen wurde indes stärker, und so entschied sich Joan, die U-Bahn zu nehmen. Sie betrat die Rolltreppe der nächstgelegenen Station, Curtis unerkannt nur wenige Stufen hinter ihr. Viele Menschen drängten sich unten am Bahnsteig, und Newton musste aufpassen, Joan nicht aus den Augen zu verlieren. Als sie endlich in die Bahn einsteigen konnten, waren nur noch Stehplätze frei, was Curt nur recht war, denn so konnte er sich, die Baseballkappe tief im Gesicht, hinter der großformatigen Zeitung verstecken, in die der Fahrgast neben ihm gerade vertieft war. Joan stand direkt am Fenster, eingepfercht zwischen zwei älteren Damen und starrte gedankenverloren zum Fenster hinaus. Sie sah so wunderbar und vertraut aus, dass allein die Vorstellung, mit ihr zu sprechen und ihr nahe zu sein, seinen Entschluss, sich unentdeckt im Hintergrund zu halten, kurz ins Wanken geraten ließ, als plötzlich das Zischen einer Protonenwaffe zu hören war und ihr blasser Strahl eines der Oberlichter des Abteils zerstörte, dass die Funken flogen. Ein ungepflegter Kerl in schmuddeliger Kleidung pflanzte sich breitbeinig in der Mitte des Abteils auf, in der erhobenen Rechten die Strahlenwaffe, und grinste verächtlich.
„So, ihr stinkenden Mistkäfer, jetzt mal raus mit allem Barem, Schmuck und Uhren. Und dass mir keiner versucht, den Helden zu spielen, sonst schieß ich ihm ebenfalls die Lichter aus!“ Unterdrückte Ausrufe des Entsetzens waren zu hören, und die Fahrgäste begannen in hilfloser Verzweiflung, eingeschüchtert in ihren Taschen herumzukramen, während der Dieb mit einer Plastiktüte in der Hand und einem gierigen Grinsen im Gesicht die Sitzreichen entlang ging. Curtis sah angespannt zu Joan hin. Die fixierte den Verbrecher mit aufgerissenen Augen, den Körper angespannt zum Angriff. Sie schien nur noch zu überlegen, wie sie den Kerl am einfachsten und ohne andere zu gefährden im dichtgedrängten Abteil Schachmatt setzen konnte. Der Dieb schien seinen Überfall genau geplant zu haben, denn die nächste Station kam bereits in Sicht, seine Tüte war gut gefüllt, und es gab keinen Zweifel, dass er den nächsten Halt zur Flucht nutzen würde, um dann schnellstmöglich im Gedrängel auf dem Bahnsteig unterzutauchen. Der Bursche stand nun weniger als einen Meter von Curtis entfernt. Unter den fettigen Haarsträhnen verbarg sich ein hageres Genick, an dem sich die Knochen der Wirbelsäule unter der Haut abzeichneten. Es war ein Leichtes für Newton, die Wirbel abzuzählen und mit einem gezielten, stählernen Fingerdruck den neuralgischen Punkt zu treffen, der den Dieb sofort ausschaltete. Der sackte in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte, fiel hart zu Boden und rührte sich nicht mehr. In diesem Moment bremste die Bahn ab und fuhr in die Station ein. Joan sprang mit einem akrobatischen Satz herbei und verpasste dem Verbrecher eine Daumenfessel, während Curt die Strahlenwaffe noch vor ihre Füße kickte, um sich unter dem Jubel der Fahrgäste als Erster aus der sich gerade öffnenden Tür zu drängeln, bevor Joan ihn möglicherweise erkennen konnte. Einer der Fahrgäste hatte wohl endlich das Notsignal im Abteil gedrückt, denn ein schriller Alarmton schallte aus den Lautsprechern des Bahnsteigs, und ein paar Uniformierte des Sicherheitspersonals stürmten herbei, um den Schurken in Gewahrsam zu nehmen. Curt hatte schon die ersten Stufen der Treppe genommen, als er noch einmal atemlos einen Blick zurück warf. Und Joan direkt in die Augen sah, die gerade aus der U-Bahn getreten war! Ertappt sah Curt schnell wieder weg und versuchte, schleunigst die Station zu verlassen. Doch er ahnte bereits, dass Joan nicht locker lassen und sie ihm folgen würde, wenn ihr Ermittlergeist erst einmal geweckt war. Ein vorsichtiger Blick über seine Schulter bestätigte ihm seinen Verdacht, ihr blonder Haarschopf kam immer näher. Als er endlich wieder das Straßenniveau erreichte, prasselte kalter Regen heftig auf ihn herab und durchnässte ihn sofort bis auf die erhitzte Haut. Kurz musste er überlegen, in welcher Richtung nun wohl der East River lag. Jäher Schwindel überkam ihn, und er musste sich eingestehen, dass seine letzte Mahlzeit wohl doch schon etwas zu lange zurück lang, was gepaart mit den Strapazen der Hyperraumreise nun doch seinen Tribut forderte. Er schwankte, als ihn jemand fest am Arm ergriff, und ihn zwang, sich umzudrehen. Joan stand vor ihm, schnappte bestürzt nach Luft, als sie sein Gesicht sah und ließ ihn wieder los. Ihm wurde schwarz vor Augen, er klammerte sich an das Schild der U-Bahn-Station und sank daran zu Boden, wie ein betrunkener Obdachloser. Er nahm Joans Stimme wahr, die wie durch Watte an sein Ohr drang, fühlte ihre Hand an seinem Mund und ein Stück Traubenzucker zwischen seinen Lippen. Gleich ging es ihm wieder etwas besser, er hob den Kopf und sah sie an. Joan bedeckte ihren Mund mit der Hand, und für einen Moment war in ihren Augen noch einmal diese Fassungslosigkeit zu sehen, die er schon vorhin an ihr beobachtet hatte. Dann ergriff sie seinen Arm und wollte ihm aufhelfen.
„Es geht schon wieder“, murmelte er verärgert über sich selbst und schob ihre Hand weg, um alleine aufzustehen, nur um sich gleich wieder auf das Geländer der Stationstreppe stützen zu müssen.
„Rettet eben noch das Leben und die Wertsachen etlicher Fahrgäste und klappt dann kurz darauf hier zusammen, als ob...“ Die geringschätzige Bemerkung, die Joan auf der Zunge lag, blieb unausgesprochen, als sie dem Mann in die Augen sah. In diese grauen Augen, die sie so gut kannte! Die Ähnlichkeit war einfach verblüffend. Es musste wohl doch stimmen, dass jeder Mensch auf der Welt einen Doppelgänger hat...
„Es geht mir gut“, wiederholte der Mann, diesmal etwas freundlicher und fügte mit einem Lächeln hinzu: „Der Traubenzucker hat mich gerettet“. Seine Stimme und sein Lächeln trafen Joan schmerzhaft mitten ins Herz. Dieser unrasierte Kerl sah aus, sprach und gab sich wie Curtis Newton! Ihre Gedanken rasten durcheinander, suchten nach einer Erklärung, und fanden doch keine. Und da ihr Verstand angesichts dieser Herausforderung so offensichtlich versagte, musste wohl kurzfristig ihr Bauchgefühl eine Entscheidung treffen.
„Wann haben Sie denn zuletzt etwas gegessen?“, hörte sie sich fragen, bevor sie sich bewusst dazu entschieden hatte. „Kommen Sie mit. Ich spendiere Ihnen was“.
Curtis sah Joan einen Moment unentschlossen an. Er wusste, dass er dieses Angebot unbedingt hätte ablehnen und sich unverzüglich wieder auf den Weg in sein Universum hätte machen müssen, aber... Die Aussicht darauf, Zeit mit dieser Frau zu verbringen und vielleicht zu erfahren, was ihn mit ihr in diesem Universum so sehr verband, dass sie seine Atomarmbanduhr trug, ließ ihn zögern.
„Danke, das ist sehr nett von Ihnen“, nahm er das Angebot schließlich an. Es regnete noch immer in Strömen, und Joan kam in den Sinn, wie unangenehm es sein würde, in tropfend nasser Kleidung in einem Diner zu sitzen, überall Pfützen zu hinterlassen und sich nebenbei eine Erkältung einzufangen.
„Hören, Sie...“, wandte sie sich an den Mann an ihrer Seite. „Verstehen Sie das jetzt nicht falsch, aber ich habe mir überlegt, dass wir wohl besser zu mir nach Hause gehen. Es sind nur noch ein paar Blocks bis zu meiner Wohnung, und wir könnten uns duschen und uns umziehen...“ Angesichts der Zweideutigkeit ihrer Worte, die ihr just in diesem Moment klar wurde, geriet Joan ins Stottern. „N...Nur falls Sie nicht woanders hingehen können, meine ich...“, fügte sie hastig hinzu und errötete so bezaubernd wie Curt das in Erinnerung hatte. Er bedachte sie von der Seite mit einem liebevollen Blick, und ihm war klar, dass es auch in diesem Universum nicht ihre Art war, fremde Männer, die vor U-Bahn-Schächten kollabierten, aufzulesen und mit nach Hause zu nehmen. Dass sie es nun doch tat, war eindeutig dem Umstand geschuldet, dass seine Anwesenheit sie offenbar so sehr irritierte, dass sie der Sache auf den Grund gehen wollte. Und davon einmal abgesehen hätte ein Mann, der Joans Hilfsbereitschaft missverstehen oder gar hätte ausnutzen wollen, dies angesichts ihrer Nahkampfausbildung und einer stets griffbereiten Waffe ohnehin schnell bereut.
„Wirklich sehr freundlich von Ihnen“, antwortete Curt mit einem Lächeln. „Ich hoffe, ich kann mich in irgendeiner Form bedanken“. Joan blickte ihren Begleiter an, erneut fasziniert von dessen bestürzender Ähnlichkeit mit Curtis Newton und fragte sich dennoch, was sie da eigentlich gerade tat. Sie kannte diesen Mann überhaupt nicht und war soeben dabei, ihn in ihre Wohnung mitzunehmen. Aber dieses Lächeln... Diese Augen... Sie spürte keinerlei bedrohliche Ausstrahlung von ihm ausgehen, und falls sie sich doch irrte, würde sie sich schon zu helfen wissen. Aber sie musste einfach mehr über diesen Mann erfahren!
Bei dem Thailänder, der seine mobile Garküche direkt vor Joans Haustür aufgebaut hatte, kaufte sie ein paar Gerichte zum Mitnehmen und betrat schließlich mit ihrem Begleiter ihre kleine Wohnung.
„Ich weiß, es ist geradezu winzig, aber der Blick auf den Central Park ist dafür unbezahlbar“, bemerkte Joan, nur um etwas Belangloses zu sagen. ‚Ich weiß’, konnte sich Curt gerade noch verkneifen. Denn selbst diese Wohnung sah bis auf Kleinigkeiten aus, wie in seinem Universum.
„Hey... Warum gehen Sie nicht unter die Dusche und ich mache uns etwas Kaffee?“, fragte Joan und deutete auf die Badezimmertür. „Ich hätte sogar ein paar Kleidungsstücke, die Ihnen passen könnten“.
„Tatsächlich?“, antwortete Curtis und fragte sich, wem die wohl gehören mochten... „Danke, aber gehen Sie doch zuerst duschen und ich mache den Kaffee. Das bin ich Ihnen schuldig.“. Kurz keimte Misstrauen in Joan auf, doch ihr Gast begann schon, sich suchend in der Kochnische umzusehen.
„Ich habe keine Kaffeemaschine“, sagte Joan, „nur eine Cafetiere...“
‚Ich weiß’, hätte Curt fast wieder geantwortet, stattdessen sagte er souverän: „Kein Problem, damit kenne ich mich aus“.
Zögernd stellte Joan ihre Sporttasche ab und betrat ihr Badezimmer. Ein heimlicher Blick zurück in die Küche zeigte ihr, wie ihr Gast den Wasserkocher betätigte und Kaffeepulver in die Cafetiere löffelte. Hastig riss sie sich die nasse Kleidung vom Körper und sprang unter die Dusche. Sie wollte keinesfalls länger brauchen als der Kaffee zum Ziehen benötigte... In Sporthose und Shirt, barfuß und mit feuchtem Haar kam sie nur fünf Minuten später zurück in die Küche.
Ihr Gast hatte schon brav zwei Tassen aufgebaut und schenkte gerade den frisch gebrühten Kaffee ein. „Lassen Sie mich raten: Etwas Milch, kein Zucker, oder?“, fragte er mit einem Lächeln. Er hatte tatsächlich recht, aber das konnte auch Zufall sein.
„Das haben Sie gut erraten“, entgegnete Joan und nahm einen Schluck Kaffee. Er schmeckte sehr gut, gerade so, als sei er von... Der unvollendete Gedanke ließ ihre Hand zittern, und sie stellte die Tasse schnell ab.
„Falls Sie jetzt duschen wollen... Ich habe Ihnen was Trockenes zum Anziehen hingelegt. Und im Badezimmer steht auch ein Wäschetrockner, falls Sie ihn benutzen wollen“.
„Danke, gern“, antwortete Curt und verschwand mit der Kaffeetasse im Badezimmer. Joan atmete tief durch und setzte sich nachdenklich auf den Küchenhocker. Konnte es sein, dass Curtis einen Bruder hatte, von dem er nichts gewusst hatte? Einen Zwillingsbruder, um genau zu sein? Oder hatte sein Vater noch ein Kind gehabt, von dem er nichts gewusst hatte? Ehe sie noch länger darüber nachdenken konnte, kam ihr Gast auch schon wieder aus dem Badezimmer, ebenfalls mit feuchten Haaren und in dunkelblauer Planet Patrol Sportkleidung, die sie ihm hingelegt hatte. Und er sah toll aus! Joan musste sich zusammenreißen, um ihn nicht anzustarren.
„Tja, dann können wir jetzt ja essen“, stellte sie in betont lockerem Tonfall fest, stellte die Pappschachteln mit dem Thai-Essen auf den kleinen Couchtisch und befreite die Essstäbchen aus ihrer Papierhülle. Curtis nahm neben ihr Platz und öffnete eine der Schachteln.
„Die Sachen passen mir übrigens ausgezeichnet“, stellte er fest und nahm ein Stück Hühnchen. „Ich hoffe, der Mann, dem sie gehören, kommt nicht unvermutet hier herein und zieht womöglich die falschen Schlüsse?“
„Was für falsche Schlüsse sollte er denn ziehen?“, entgegnete Joan und sah Curtis herausfordernd an. Doch ehe dieser zu einer Antwort ansetzen konnte, fügte sie hinzu „Es geht Sie zwar nichts an, aber die Kleider stammen von einem Kollegen von mir“, erzählte Joan. „Er wohnt drüben in New Jersey, aber wenn es beim Dienst spät wird, dann übernachtet er ab und zu bei mir... und manchmal schlafen wir auch miteinander“, schloss sie und blickte ihm direkt in die Augen, um festzustellen, ob dieses Geständnis irgendeine Reaktion bei ihrem rätselhaften Gast auslöste. Und für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie tatsächlich, seine Lider fast unmerklich flattern zu sehen.
„Aha...“ entgegnete Curtis tonlos. „Was für ein Glückspilz...“ In diesem Universum lief offenbar doch einiges anders als in seinem! Er hatte keine Lust, dieses Thema zu vertiefen und fragte deshalb ganz unvermittelt nach der Sache, die ihn in erster Linie veranlasst hatte, hier zu bleiben.
„Sie haben da eine außergewöhnliche Armbanduhr. Ich sah sie im Badezimmer liegen...“
Joan zuckte bei dieser Frage leicht zusammen und spürte, dass sie blass wurde. Eigentlich hatte sie doch ihn ausquetschen wollen und nicht umgekehrt, aber mit dieser Frage hatte er sie prompt aus der Reserve gelockt. Zögernd stocherte sie in ihrem Essen herum.
„Die Uhr ist von jemandem, den ich mal kannte... Und der mir sehr viel bedeutet hat“.
Curtis schluckte und machte sich darauf gefasst, dass die Beziehung zwischen Captain Future und Joan Landor in diesem Universum an den vielen Widrigkeiten und Anforderungen ihrer beider Berufe gescheitert war und es eine bittere Trennung gegeben hatte.
„Was ist geschehen?“, fragte er vorsichtig.
Joan sah von ihrem Essen auf und blickte ihm direkt in die Augen. „Er ist tot“.
Curtis verschluckte sich so heftig, dass Joan ihr und sein Essen schnell beiseite stellte und ihm fest den Rücken klopfte.
„Tut mir leid, das zu hören“, antwortete Curt ehrlich bestürzt, als er sich wieder artikulieren konnte, ohne zu husten. „Darf ich fragen, wie das passiert ist?“
Joan seufzte tief und fragte sich, ob sie darüber sprechen wollte oder nicht. Es lag immerhin schon Jahre zurück und sie hatte es doch verarbeitet... oder? Und warum interessierte ihn das überhaupt? Schließlich fing sie doch an zu erzählen, dass sie hinter Vul Kuolun her gewesen waren, der die Diamanten der Macht an sich bringen wollte, um die Galaxis zu beherrschen. Und wie ‚ihr’ Captain versucht hatte, ein paar der bereits von Kuolun erbeuteten Steine aus dem Versteck im Zyklotron von dessen Raumschiff an sich zu bringen. Was genau dann an Bord des feindlichen Schiffes geschehen war, hatten sie niemals erfahren, doch die Future-Mannschaft und Joan hatten nur vermuten können, dass der Captain wohl bei einem Fluchtversuch getötet und wie lästiger Ballast ins All hinaus befördert worden war.
„Jedenfalls schwebte er plötzlich ganz friedlich vor der Bugscheibe unseres Schiffes vorbei, tot und steifgefroren. Alles sah so... unwirklich aus und war doch die grauenhafte Realität. Ich konnte das alles zunächst überhaupt nicht begreifen“.
Joans Selbstkontrolle begann zu bröckeln, als diese verdrängten Bilder wieder vor ihrem inneren Auge auftauchten. Ein schmerzhafter Kloß machte sich in ihrem Hals bemerkbar, und sie musste gegen aufsteigende Tränen ankämpfen.
„Wir bestatteten ihn auf einem Asteroiden, den seine Mannschaft dann mit der Protonenkanone ihres Raumschiffes verglühen ließ... Ich war die ganze Zeit dabei, habe das alles mitangesehen, aber erst als mir ein Mitglied seiner Mannschaft seine Uhr als Andenken schenkte, wurde mir bewusst, dass ich ihn niemals wiedersehen würde“. Ihre letzten Worte wurden von einem unterdrückten Schluchzen verzerrt, und sie wandte das Gesicht ab. Angesichts der schmerzvollen Ereignisse, die Joan gerade mit ihm teilte, erschien es Curtis ein bisschen unangebracht, danach zu fragen, aber er musste es einfach wissen.
„Und was geschah mit dem Verbrecher, hinter dem sie her waren, diesem Kuolun?“
„Er und seine Komplizin versuchten auf Pleasure Planet dem Casinobesitzer mit einem Trick beim Radium-Roulette einen der Steine abzuluchsen, was ihnen zunächst auch gelang. Der Casino-Besitzer bemerkte jedoch noch rechtzeitig, dass man ihn hereingelegt hatte, und bei ihrem turbulenten Fluchtversuch wurden Kuolun und seine Freundin vom Sicherheitsdienst des Casinos erschossen. Ich darf gar nicht daran denken, was aus dieser Welt geworden wäre, mit einem mächtigen Vul Kuolun. Und ohne jemanden wie... Ohne jemanden, der ihm gewachsen ist und es mit ihm aufnehmen kann!“
Sie sah Curtis geradewegs an, und eine einsame Träne bahnte sich ihren Weg über Joans Wange. Curtis zögerte einen Moment, dann beugte er sich vor und nahm Joan behutsam in die Arme.
Für den Bruchteil eines Augenblicks wollten in Joan die antrainierten Abwehrreflexe aufflammen, doch seine Umarmung ließ Erinnerungen auf sie einstürzen, die sie schlicht überwältigten. Als habe er sie einer schützenden Rüstung beraubt, lehnte sie sich hilflos an Curt, verkrampfte ihre Finger in seinem Shirt, ließ den Tränen endlich freien Lauf. Ein ‚Wer bist du?’ trudelte noch irgendwo in ihrem Kopf herum, aber in diesem Moment bedeutete ihr diese Frage noch weniger als eine eventuelle Antwort darauf. Sie wollte nur noch seinen Trost, seine Nähe, seine Umarmung... Curtis streichelte sanft ihren Rücken, die Wange an ihrem Haar, und starrte ungläubig ins Leere. In diesem Universum hatte er es also nicht geschafft, sich aus den Fängen von Kuoluns Komplizen, dem Chamäleon, zu befreien, und er hatte sein Ende in den Weiten des Alls gefunden... Unfassbar! Joan beruhigte sich langsam wieder, machte aber keine Anstalten, sich aus seinen Armen zurück zu ziehen.
„Das muss furchtbar für Sie gewesen sein“, stellte Curtis mit sanfter Stimme fest.
„Mein Leben war danach nicht mehr dasselbe“, antwortete Joan und sah ihn resigniert an. Doch die innige Liebe und absolute Loyalität für ihren Captain auch noch Jahre nach seinem Tod leuchteten bei diesen Worten in ihren Augen und berührten Curtis zutiefst. Einem plötzlichen Impuls folgend berührte er sie sachte am Kinn und küsste sie.
Irritiert hielt Joan still, ließ es einfach geschehen. Dieser Mann war ein Fremder, und doch fühlte es sich so gut und richtig an, ihn zu küssen. Und so schob sie all die widerstreitenden Gefühle beiseite und genoss einfach das geradezu vertraut anmutende Gefühl seiner warmen Lippen auf ihrem Mund, schlang die Arme um Curts Hals und erwiderte seinen Kuss.
Wie lange sie so dagesessen hatten, wusste Joan später nicht mehr zu sagen, sie musste, wie befreit von einer schweren Last, tief und fest in seinen Armen eingeschlafen sein. Als sie erwachte, hatte sich die Nacht bereits über New York gesenkt, ihre Wohnung lag dunkel, bis auf den hellen Streifen aus Licht, der aus der angelehnten Badezimmertür drang. Ihre Augen fühlten sich geschwollen an vom Weinen und ihre Lippen vom Küssen...
Joan musste lächeln. Sie fühlte sich gelöst und zufrieden, und obwohl sie die ganze Zeit vollständig bekleidet auf einer unbequemen Couch gesessen hatten, empfand sie das angenehme Gefühl, etwas wunderbar Intimes und Vertrauliches mit ihrem geheimnisvollen Gast geteilt zu haben.
Gerade kam er wieder in seinen eigenen Kleidern aus dem Badezimmer, setzte sich neben sie auf die Couch und streichelte zärtlich ihre Wange.
„Es war wunderbar, dich... kennen zu lernen, Joan“, sagte er und betrachtete sie liebevoll. „Aber ich muss jetzt wieder gehen“.
„Ich weiß“, antwortete sie und strich ihm durchs rote Haar. Dass er sie beim Namen genannt hatte, obwohl sie sich überhaupt nicht einander vorgestellt hatten, und an ihrer Haustür auch kein Klingelschild mit ihrem Namen angebracht war, schien ihr zu bestätigen, was ihr Verstand als surreal und unglaubwürdig abtun wollte: Dieser Mann war nicht von dieser Welt, er gehörte nicht hierher und musste dahin zurück, woher er gekommen war. Sie bedauerte dies ein wenig, jedoch nicht allzu sehr, denn selbst, wenn er jetzt ging, so hatte er ihr etwas gegeben, dass ihr all die Jahre gefehlt hatte: Das Gefühl, Abschied genommen zu haben.