Die Bürde der schwarzen Magier I - Der Spion
von Lady Sonea
Kurzbeschreibung
Sonea hat ihren Geliebten vor dem Tod bewahrt. Doch durch ihre Wiederaufnahme in die von der Schlacht gegen die Ichani gezeichnete Gilde wird ihre Beziehung sehr bald komplizierter, als sie sich hätte träumen lassen. Nicht nur, dass Akkarin darauf besteht, dass ihre Liebe ein Geheimnis bleibt – die Rückkehr der beiden schwarzen Magier spaltet die Gilde – mit verhängnisvollen Folgen. Und noch während Sonea und Akkarin versuchen, sich an ihr neues, altes Leben zu gewöhnen und gegen Intrigen und Vorurteile ankämpfen, braut sich jenseits der Berge ein Unheil zusammen, das all die kleinlichen Sorgen der Gilde schon bald in den Schatten zu stellen droht. Kann Dannyls gefährliche Entdeckung in Elyne Abhilfe verschaffen? Und welche Rolle spielt die mysteriöse Bestie, die Dorrien durch die Berge jagt? (Gewinner des FanfiktionAward 2014)
GeschichteAbenteuer, Drama / P18 / Mix
Ceryni
Hoher Lord Akkarin
Lord Dannyl
Lord Dorrien
Lord Rothen
Sonea
27.06.2013
27.01.2015
60
658.584
118
Alle Kapitel
425 Reviews
425 Reviews
Dieses Kapitel
11 Reviews
11 Reviews
27.06.2013
9.312
Teil 1
Kapitel 1 – Wieder zuhause
Rastlos schritt Sonea in Rothens Wohnzimmer auf und ab. Ihre schwarze Robe flatterte dabei um ihren kleinen schlanken Körper, was ihr etwas Energisches, beinahe Zorniges verlieh.
„Wann werden sie mich endlich zu ihm lassen?“, fragte sie. „Ich warte schon seit Tagen!“
Rothen saß in einem Sessel am Fenster, eine Tasse Sumi in der Hand. Seine Dienerin war damit beschäftigt, den Staub von seinen Bücherregalen zu wischen. Bei Soneas Worten blickte sie erschrocken auf. Rothen wusste, Tania fürchtete Sonea weniger auf Grund der Macht, über die sie gebot, als wegen ihres momentan ständig wechselnden Temperaments.
Seit seine ehemalige Novizin wieder bei ihm wohnte, war Rothens Dienerin ihr gegenüber so herzlich und unbefangen, als wären die letzten Wochen nie geschehen. Wo andere ihr mit Furcht oder Misstrauen begegnet wären, glaubte Rothen Bewunderung aus Tanias Stimme herauszuhören, wann immer sie sich mit Sonea unterhielt. Doch sobald Soneas Stimmung kippte, wurde Tania so nervös wie als Sonea noch keine Kontrolle über ihre Magie gehabt hatte.
Nichtsdestotrotz war Tania damit eine einsame Ausnahme in der Gilde. Viele Magier und Novizen, aber auch ihre auf dem Gelände der Gilde lebenden Angehörigen und Diener, fürchteten das Mädchen, dem Rothen sich vor so langer Zeit angenommen hatte. Und das aus gutem Grund: Sonea war eine schwarze Magierin. Sie besaß das Wissen, sich mit der Magie anderer zu stärken, bis sie um ein Vielfaches stärker als ein normaler Magier war. Doch entgegen allen Befürchtungen verwendete Sonea diese Macht nicht für böse Zwecke, sondern um Kyralia vor feindseligen schwarzen Magiern zu beschützen.
Nachdenklich betrachtete Rothen seine ehemalige Novizin. Ihr Gesicht wirkte blass und angespannt, was von der Farbe ihrer Robe unterstrichen wurde. Zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet, die sie gleichsam nachdenklich und grimmig wirken ließ. Hätte Rothen nicht den Grund für ihr Verhalten gekannt, so hätte er Sonea möglicherweise gefürchtet. Tatsächlich glaubt er jedoch, ihre Situation besser zu verstehen als jeder andere.
„Hab Geduld.“ Er hatte aufgehört zu zählen, wie oft er ihr dies in den letzten Tagen gesagt hatte. „Die Heiler werden dich bestimmt bald zu ihm lassen.“
Sonea schnaubte.
„Das sagt Ihr andauernd. Allmählich fange ich an, es nicht mehr zu glauben.“ Sie hatte das Zimmer erneut durchquert und blickte ihn finster an. „Seit einer Woche warte ich auf eine Nachricht von den Heilern. Ich kann nicht schlafen, ich kann nichts essen – ich halte das nicht mehr aus!“
In einer jähzornigen und verzweifelten Bewegung warf sie die Arme in die Höhe. Tania zuckte kurz zusammen und wandte sich dann wieder Rothens Bücherregalen zu.
„Du wirst Akkarin erst besuchen dürfen, wenn er aufwacht“, sagte Rothen unbeeindruckt von ihrem Ausbruch. Er bezweifelte, sie würde ihre neue Macht benutzen, um unbefugt das Heilerquartier zu betreten. Sie fürchtete die Konsequenzen viel zu sehr.
In der einen Woche, die vergangen war, seit Sonea aus ihrer magischen Erschöpfung erwacht war, hatte sie Rothens Geduld auf eine harte Probe gestellt. Sie war so verschlossen wie in ihren ersten Wochen in der Gilde. Ihre damalige Furcht und das Misstrauen gegenüber der Gilde waren jedoch durch Trauer und Besorgnis abgelöst worden.
Sonea sprach nur wenig über Akkarin, doch das, was sie erzählte, zeigte Rothen, wie tief ihre Gefühle reichten. Rothen hatte noch nicht endgültig entschieden, was er davon halten sollte, dass Sonea, die wie eine Tochter für ihn war, eine intime Beziehung zu Akkarin, dem schwarzen Magier und ehemaligen Oberhaupt der Gilde unterhielt. Akkarin hatte ihm wieder und wieder Gründe geliefert, ihn zu hassen, und die meisten hatten mit Sonea zu tun. Doch Soneas Gefühle schienen aufrichtiger Natur und ihre Erzählungen zeichneten ein völlig anderes Bild von dem einstigen Hohen Lord.
Rothen erinnerte sich, wie wütend Sonea geworden war, als die Gilde Akkarin nach Sachaka verbannt, ihr jedoch eine zweite Chance gegeben hatte.
Wenn Ihr den Hohen Lord Akkarin ins Exil schickt, müsst Ihr mich mit ihm schicken, hatte sie erklärt. Denn dann ist er vielleicht noch am Leben und kann Euch helfen, wenn Ihr wieder zur Vernunft kommt.
Der König hatte ihre Rebellion nicht geduldet und sie ohne zu zögern ebenfalls verbannt.
Wenn Rothen daran dachte, was Sonea alles aufgegeben hatte und welche Gefahren sie überstanden hatte, um Kyralia zu retten, empfand er großen Stolz und Bewunderung. Mit ihrer sturen Entschlossenheit und ihren starken Moralvorstellungen hatte sie eine schwere, aber richtige Entscheidung getroffen. Sie wäre Akkarin auch ohne romantische Gefühle gefolgt. Im Nachhinein war jedoch offenkundig, dass sie schon bei der Anhörung in den schwarzen Magier verliebt gewesen sein musste.
Die Gilde schickt ihn in den Tod, hatte sie unter Tränen gesagt, als Rothen versucht hatte, sie umzustimmen. Zu zweit haben wir eine Chance, wo einer scheitern würde. Die Gilde muss die Wahrheit für sich herausfinden.
Stirnrunzelnd trank Rothen einen Schluck Sumi. Nichts für Akkarins Genesung tun zu können, musste schwer für Sonea sein. Rothen hatte mit angesehen, wie sie fast den Verstand verloren hatte, als Akkarin im Kampf gegen die letzten drei Ichani gestorben war.
Erst da war ihm gedämmert, dass ihre Gefühle für Akkarin weit über den Respekt vor seiner Person hinausgingen. So weit, dass ihr sehr leichtsinniger Versuch, ihn wiederzubeleben, Sonea selbst an den Rand des Todes gebracht hatte.
Die Bestätigung hatte er erhalten, als sie wenige Tage später in seinem Apartment aus ihrer magischen Erschöpfung erwacht war. Sein Name war ihr erstes Wort gewesen, kaum dass sie die Augen aufgeschlagen hatte.
„Wo ist er?“, hatte sie Rothen gefragt. „Ich muss zu ihm!“
„Er ist noch im Heilerquartier“, hatte Rothen geantwortet. „Aber die Heiler lassen niemanden zu ihm.“
„Warum?“, hatte sie zu wissen verlangt. „Was ist mit ihm?“
Realisierend, dass es keinen Sinn machte, es ihr zu verschweigen, hatte Rothen ihr die Wahrheit gesagt. Behutsam hatte er ihr erklärt, dass Akkarin noch nicht aus seiner magischen Erschöpfung erwacht war und dass sich seine Magie nur sehr langsam regenerierte. Die Kraft, die Sonea ihm gegeben hatte, hatte gerade ausgereicht, um ihm am Leben zu erhalten. Die Heiler wussten nicht, was sie mit ihm tun sollten, weil es so einen Fall in der Geschichte der Gilde nie zuvor gegeben hatte.
Seine Worte hatten Sonea entsetzt und sie war kurz davor gewesen, in Tränen auszubrechen.
„Sonea, was ist in Sachaka passiert?“, hatte Rothen vorsichtig gefragt.
Sie war ihm ausgewichen, doch die plötzliche Röte auf ihren Wangen hatte genügt, um Rothens Verdacht zu bestätigen. Und nachdem er Stillschweigen gelobt hatte, hatte sie ihm schließlich alles erzählt.
Seit jenem Tag hatte Rothen alles versucht, um Sonea aufzumuntern. Doch das wurde mit jedem Tag zu einer größeren Herausforderung, da Sonea sich gegen jegliche Art von Zerstreuung wehrte und Akkarins Zustand unverändert blieb. Selbst einen Spaziergang durch den Wald des Universitätsgeländes hatte sie entschieden abgelehnt. Wahrscheinlich würde sie nicht einmal in die Stadt wollen, würde die Gilde das erlauben, fuhr es ihm durch den Kopf.
Nichts in Rothens jahrelanger Erfahrung im Umgang mit schwierigen Novizen hatte ihn auf das hier vorbereiten können. Sonea stand völlig neben sich und er konnte nur für sie da sein.
„Was, wenn er nicht mehr aufwacht?“, fragte Sonea zum wiederholten Mal, während sie den Raum erneut durchquerte.
Die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen war verschwunden. Mit einem Mal wirkte sie sehr klein und zerbrechlich.
Rothen unterdrückte ein Seufzen. Das war Soneas größte Furcht. Und sie wuchs mit jedem Tag, den Akkarin nicht aufwachte. Sonea fürchtete, am Ende doch versagt zu haben. Aber es war mehr als das. Sie fürchtete eine ungewisse Zukunft. Sie war eine Ausgestoßene und verachtet und gefürchtet für die Macht, über die sie gebot. Ohne Akkarin würde sie damit auf sich gestellt sein.
Doch Sonea fürchtete auch eine Zukunft, in der Akkarin überlebte. Sie fürchtete, man würde sie und Akkarin erneut verbannen oder hinrichten, weil sie sich gegen das Urteil der Gilde aufgelehnt hatten und zurückgekehrt waren. Nachdem die Gilde nur knapp der Vernichtung durch eine Handvoll schwarzer Magier aus einem feindlich gesinnten Land entronnen war, mussten jedoch selbst die konservativsten Magier einsehen, dass sie Akkarin und Sonea brauchten. Mittlerweile wurden bereits Maßnahmen und Gesetze diskutiert, die eine Wiederaufnahme der beiden ermöglichen sollten. Auch wenn Akkarin und Sonea in der Gilde auf wenig Gegenliebe stoßen würden, hielt Rothen es für unwahrscheinlich, dass sie zurück nach Sachaka mussten. Sonea weigerte sich jedoch, das zu glauben.
Es war wie damals, als die Gilde nach ihr gesucht hatte und Sonea geglaubt hatte, die Magier wollten sie töten. Es hatte Rothen sehr viel Geduld und Kraft gekostet, Sonea vom Gegenteil zu überzeugen und sich der Gilde anzuschließen. Jetzt schien es, als stünde er erneut vor dieser frustrierenden Aufgabe.
„Ich bin sicher, dass Akkarin wieder aufwacht“, antwortete er ruhig.
„Was, wenn sie nicht wollen, dass er wieder aufwacht, und geben ihm ein Schlafmittel.“ Sonea hielt inne und ihre Augen weiteten sich. „Dürfen sie das überhaupt?“
„Ich bezweifle, dass sie das dürfen“, sagte Rothen vorsichtig. „Jeder Heiler muss einen Eid schwören, der sie oder ihn dazu verpflichtet, alles in seiner Macht stehende für die Genesung eines Patienten zu tun, egal welcher Herkunft oder Gesinnung er ist.“
Offenkundig nicht überzeugt verfinsterte sich ihre Miene weiter. „Vielleicht ist er auch schon seit Tagen wach, aber sie lassen mich nicht zu ihm, weil sie glauben, wir wollten die Gilde übernehmen.“
Rothen stellte seine Tasse auf einen kleinen Tisch. „Sonea, das ist Unsinn“, sagte er. „Wenn Akkarin aufwacht, wird sich diese Nachricht schneller in der Gilde verbreiten, als der Harrel flüchten kann. Glaub mir, wir wüssten es längst.“
Hoffentlich kommt sie zur Besinnung, wenn die Heiler sie endlich zu Akkarin lassen, dachte er in einem Anflug von Resignation.
Und er hoffte, das würde bald sein.
***
Seit er zum Zweiten Botschafter der Gilde von Elyne ernannt worden war, war Dannyl nur aus gelegentlichen dienstlichen Gründen nach Imardin zurückgekehrt. Bei jedem seiner Besuche hatte er sich hier weniger zuhause gefühlt. Sein Freund Rothen vermochte daran nicht viel zu ändern. Ebenso wenig wie das betagte Ehepaar Yaldin und Ezrille, mit dem er und Rothen befreundet waren.
In den zwei Jahren, die Dannyl nun schon in Elyne lebte, war sein Apartment in der Gilde unverändert geblieben. Die Apparatur, mit der er einst versucht hatte, Gedankenbilder dauerhaft auf Papier festzuhalten, nahm noch immer einen Großteil seines Wohnzimmers ein. Sein Diener hatte sie mit Tüchern abgedeckt, um sie vor Staub zu schützen. Während seiner Besuche hatte Dannyl sie kein einziges Mal angerührt. Es fiel Dannyl schwer, in sich den jungen Mann zu sehen, der einst so besessen von seiner Forschung gewesen war. Elyne hatte einen anderen Menschen aus ihm gemacht.
Seit einem Monat saß Dannyl nun in Imardin fest. Ursprünglich war er gekommen, um eine Gruppe von elynischer Rebellen zu überführen, war jedoch geblieben, als eine Gruppe schwarzer Magier nach Kyralia eingedrungen war.
Nach der Schlacht hatte Dannyl der Gilde geholfen, sich neu zu organisieren und bei den Aufräumarbeiten in der Stadt zu helfen. Im Inneren Ring, für den man ihn eingeteilt hatte, war die Verwüstung am größten. Viele der prächtigen Herrenhäuser waren mit Magie gebaut und hatten den Sachakanern in der Schlacht als magische Quelle gedient. Als Alchemist wusste Dannyl genug über die Konstruktion von Gebäuden mit Magie, dass er die Anweisungen der auf Architektur spezialisieren Magier verstehen und ausführen konnte, während die niederen Arbeiten von freiwilligen Helfern aus der Stadt erledigt wurden.
An diesem Tag hatte er sich jedoch freigenommen, um seinen Assistenten und Gefährten zu besuchen, der bei Verwandten in der Stadt untergekommen war.
Dannyl seufzte. Tayend zu sehen, hatte ihm gut getan. Der Besuch war jedoch nur kurz ausgefallen. In Elyne, wo die Menschen freizügiger und toleranter waren, galten Beziehungen zwischen Männern allenfalls als eine willkommene Form von Exzentrizität. Wie in so vielen anderen Dingen waren Kyralier jedoch auch in sexueller Hinsicht konservativ und prüde, und das zwang Dannyl, seine Beziehung geheim zu halten. Wenn sein Geheimnis herauskam, würde seine Karriere als Botschafter ein jähes Ende finden. Möglicherweise würde die Gilde in sogar zurück nach Imardin beordern und ihm verbieten, Tayend zu sehen. An die gesellschaftlichen Folgen für sich und seine Familie wollte er erst gar nicht denken.
Nichtsdestotrotz wollte Dannyl keinen Tag seines Lebens mehr ohne Tayend sein. Er hatte seine Natur zu lange verleugnet. Auch wenn er nun ein heimliches Doppelleben führte, so hatte er dies keinen einzigen Tag bereut. Durch Tayend war sein Leben so viel reicher geworden. Wie hatte er vorher nur existieren können!
Es klopfte.
Dannyl streckte seinen Willen nach der Tür aus und öffnete.
„Herein!“
Ein Diener trat ein und verneigte sich respektvoll. „Botschafter Dannyl, Lord … Administrator Osen wünscht Euch in seinem Büro zu sprechen“, sagte er. „Das heißt im Büro des früheren Administrators Lorlen.“
Anscheinend brauchen selbst die Diener Zeit, um sich an die vielen neubesetzten Posten in der Gilde zu gewöhnen, fuhr es Dannyl durch den Kopf.
„Hat er gesagt, worum es sich handelt?“, fragte er.
Der Diener nickte. „Es geht um Euren Posten in Elyne.“
Dannyl zuckte instinktiv zusammen. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, dass es die höheren Magier ihn zum Gespräch baten. Wie hatten sie von ihm und Tayend erfahren? War ihm auf dem Weg in die Stadt jemand gefolgt?
„Danke“, sagte er. „Ich mache mich sofort auf den Weg.“
Auf dem Weg zur Universität spürte Dannyl, wie sich die Furcht um seine Eingeweide krallte, und er bereitete sich innerlich auf das Schlimmste vor. Es gab kaum etwas, das er mehr fürchtete, als dass die Gilde ihn für immer nach Imardin zurückbeorderte, um ihn von Tayend zu trennen.
Bleib ruhig, ermahnte er sich. Du weißt nicht, ob es wirklich um dein Privatleben geht.
Als Dannyl das Büro des Administrators betrat, runzelte er überrascht die Stirn. Er hatte erwartet, alle höheren Magier vorzufinden. Außer dem neuen Administrator der Gilde, Osen, waren jedoch nur Balkan und Auslandsadministrator Kito anwesend. Allerdings war nahezu die gesamte Gilde seit Tagen mit den Aufräumarbeiten in der Stadt beschäftigt, was auch die Oberhäupter und Studienleiter mit einschloss. Auch Balkans Nachfolger fehlte, wofür Dannyl indes dankbar war.
Es war jedoch Rothen, den er in der kleinen Runde vermisste. Nachdem Lord Peakin die Nachfolge von Lord Sarrin als Oberhaupt der Alchemisten angetreten hatte, war Rothen auf seinen alten Posten gerückt. Obwohl Dannyl wusste, dass sich sein alter Freund um Sonea kümmerte, fand er, Rothen hätte ihm in dieser finsteren Stunde beistehen sollen.
Administrator Osen wies auf einen freien Stuhl. „Botschafter Dannyl, bitte setzt Euch.“
„Danke, Administrator“, erwiderte Dannyl. Er nickte den anderen Magiern zu. „Hoher Lord, Auslandsadministrator Kito.”
„Ich habe Euch herbeordert, um über Euren Posten als Zweiter Botschafter von Elyne zu sprechen“, teilte Osen ihm mit.
Dannyl nickte ernst.
„Als man Euch dieses Amt übertrug, war Euer Aufenthalt in Elyne nur für zwei Jahre ausgelegt. Im vergangenen Jahr wurde Euer Posten von Lor … meinem Vorgänger auf fünf Jahre verlängert …“ Osen hielt inne und schloss die Augen, als bereite ihm die Nennung des Namens innere Schmerzen.
Mit Lorlen hatten die Gilden einer der besten Administratoren in ihrer Geschichte verloren. Für Osen war er zudem auch ein Mentor gewesen. Dannyl mochte sich nicht ausmalen, wie dieser sich jetzt fühlen musste.
Als der junge Administrator seine Augen wieder öffnete und Dannyl direkt anblickte, hatte er sich jedoch wieder unter Kontrolle. „Die höheren Magier wünschen, erneut mit Euch über die Dauer Eures Amtes zu sprechen.“
Dannyl zwang sich, ruhig zu bleiben. „Was genau bedeutet das?“
„Botschafter Dannyl, Ihr seid hervorragend für dieses Amt geeignet“, sagte Auslandsadministrator Kito. „In den vergangen beiden Jahren habt Ihr hervorragende Arbeit geleistet. Es ist Euch gelungen, den Konflikt um den Großen Clan Khoymar friedlich zu lösen, was auf Grund der Ausgangslage nahezu unmöglich schien.“
Dannyl lächelte erfreut. „Vielen Dank, Kito.“
Und jetzt kommt der schlechte Teil. Es war wie in einem elynischen Drama.
„Die Gilde weiß zu schätzen, was Ihr in dieser Zeit geleistet habt“, fügte Osen hinzu. „Und wir, die höheren Magier, sind zu der Ansicht gekommen, dass Elyne mitsamt seinen Menschen, Sitten und Gebräuchen besser zu Euch passt, als Kyralia ...“
So kann man es auch ausdrücken, dachte Dannyl trocken.
„Elyne scheint Euch zu einem Zuhause geworden zu sein“, fuhr Osen fort. „Und aus diesem Grund bietet die Gilde Euch an, Euer Amt auf Lebenszeit zu bekleiden. Neben Lord Rothen hat sich vor allem Lady Vinara dafür ausgesprochen. Bedauerlicherweise kann sie nicht hier sein, weil sie ins Heilerquartier gerufen wurde …“
Es dauerte einen Augenblick, bis Dannyl den Sinn von Osens Worten begriff und was das für ihn bedeutete. Er wäre fort aus dem kalten und ungemütlichen Kyralia und konnte die Arbeit fortführen, die ihm so viel Freude bereitete.
Und er konnte weiterhin mit Tayend zusammen sein.
„Botschafter Dannyl?“
Dannyl zuckte zusammen.
Der Administrator blickte ihn fragend an. „Habt Ihr irgendwelche Einwände?“
„Nein.“ Dannyl schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil. Ich bin nur etwas überrascht. Damit habe ich nicht gerechnet.“
„Ihr habt es Euch verdient.“
Dannyl lächelte. Das war eine sehr kurze Besprechung gewesen. „Ich danke Euch“, sagte er. „Euch allen.“
„Ich gratuliere.“ Balkan erhob sich und schüttelte Dannyl die Hand. „Auf eine gute Zusammenarbeit.“
„Vielen Dank, Hoher Lord“, antwortete Dannyl unbehaglich. Balkan war bei weitem nicht so einschüchternd und ehrfurchtgebietend wie sein Vorgänger. Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. Obwohl er Akkarin bis ins Mark fürchtete, konnte Dannyl sich keinen anderen auf diesem Posten vorstellen.
Wer hätte jemals gedacht, dass ich es vermissen würde, den Hohen Lord zu fürchten?, dachte er mit einem Anflug von Erheiterung.
Auch Osen und Kito erhoben sich und gratulierten ihm.
„Botschafter Dannyl, habt Ihr noch Fragen?“, fragte Osen.
Dannyl überlegte einen Moment, dann nickte er. „Wann soll ich zurück nach Capia reisen?“
„Sobald die Gilde Euch hier nicht mehr benötigt“, antwortete Osen.
Dannyl lächelte. Ein Ende seines Aufenthalts in Imardin war in greifbare Nähe gerückt. Und wenn alles gutging, würde er für lange Zeit nicht mehr herreisen müssen.
***
Als es an der Tür zu Rothens Apartment klopfte, hielt Sonea inne und warf einen unsicheren Blick zu ihren Zimmer.
Bei jedem Besucher hoffte und fürchtete sie, es wäre wegen Akkarin. Ohne den Blutring, den man ihr abgenommen hatte, wagte sie es nicht, ihn zu rufen. Sie nahm an, man hatte Akkarin seinen Ring ebenfalls abgenommen, da sie nichts sehen konnte, wenn sie ihren Willen darauf richtete. Das ließ sie mit dem zweifelhaften Vergnügen zurück, auf Neuigkeiten zu seinem Zustand zu warten. Und sie würde diese Neuigkeiten ganz sicher nicht als Erste erfahren.
Bis jetzt waren indes nur Leute gekommen, um ihr Fragen zu stellen. Darunter wiederholt die höheren Magier, aber auch Freunde von Rothen, einige ihrer ehemaligen Lehrer und sogar ihre Klassenkameraden. Sonea hatte es Rothen und Tania überlassen, sie fortzuschicken und hatte die Flucht in ihr altes Zimmer ergriffen. Sie hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon, welcher Art diese Fragen waren, und sie weigerte sich, über Akkarin, ihre Zeit in Sachaka oder die Schlacht zu sprechen. Seit ihrer Rückkehr hatte sie nur mit Rothen und hin und wieder mit Tania gesprochen. Nachdem sie anderthalb Jahre lang keinen Kontakt zu ihrem ersten Mentor haben durfte, hatte die gemeinsame Zeit ihnen beiden gut getan.
Als Rothen die Tür mit seinem Willen öffnete und Sonea einen Mann in einer grauen Uniform und der grünen Schärpe der Diener des Heilerquartiers erblickte, setzte ihr Herz vor Furcht und Vorfreude für einen Moment aus.
„Ich habe eine Nachricht für Lady Sonea“, sagte der Diener und verneigte sich. „Lady Vinara wünscht Eure Anwesenheit im Heilerquartier.“
Soneas Herz machte einen schmerzhaften Sprung.
Er ist aufgewacht!
Sie war schon fast an der Tür, als Rothen sagte: „Warte, ich begleite dich.“
Ungeduldig wartete sie, während er die noch halbvolle Tasse abstellte und sich erhob. Sie waren kaum auf den Flur getreten, als Sonea loseilte. Die Magier, denen sie begegnete, wichen hastig vor ihr zurück.
Den Weg zum Heilerquartier legte Sonea nahezu im Laufschritt zurück. Rothen hatte offenkundig Mühe, mit ihr mitzuhalten, doch es fiel Sonea schwer, die nötige Geduld aufzubringen. Ohne Akkarin fühlte sie sich in einer Gilde, die sie verstoßen hatte und fürchtete, so allein wie nie zuvor.
Sich an die Umstände, unter denen sie Akkarins Novizin geworden war, zurückerinnernd, konnte Sonea kaum glauben, dass sie ein Paar geworden waren. Lange Zeit hatte sie ihn gehasst, weil er sie von Rothen getrennt hatte, und sie hatte ihn gefürchtet, so wie auch sie nun gefürchtet wurde.
Erst, nachdem Akkarin sie in sein Geheimnis eingeweiht hatte, waren Soneas Furcht und Ablehnung in Respekt und Bewunderung umgeschlagen. Sie hatte darauf bestanden, dass er sie in schwarzer Magie unterwies, damit sie ihm helfen konnte, Kyralia gegen die Sachakaner zu verteidigen. Doch daraus war schon sehr bald mehr geworden. Für ihn hatte sie alles aufgegeben und wiederholt ihr Leben riskiert.
Erst im Nachhinein hatte sie begriffen, dass sie ihm bedingungslos ergeben war.
Sonea erschauderte. Sie hatte nie verstanden, was die anderen Magier in ihrem Oberhaupt gesehen hatten. Auch jetzt verstand sie nicht, was er an sich hatte, das diese Loyalität inspirierte. Irgendwie hatten sich ihre Furcht und ihre aufkeimenden Gefühle in etwas verwandelt, das in seiner Fremdheit beängstigend und berauschend zugleich war.
Lady Vinara erwartete sie mit sauertöpfischer Miene in der Eingangshalle. „Akkarin ist aufgewacht und wünscht dich zu sehen“, sagte sie und musterte Sonea eingehend.
Sonea zwang sich, ihrem Blick standzuhalten. „Geht es ihm gut?“, fragte sie.
Das Oberhaupt der Heiler schürzte die Lippen. „Gut genug, um bereits Forderungen zu stellen. Ich bringe dich zu ihm.“
Sich fragend, was für Forderungen das waren, folgte Sonea der Heilerin auf den Flur. Lady Vinara schien jedoch nicht an weiteren Erklärungen interessiert und Sonea behielt ihre Fragen für sich.
Sie betraten einen Flur, der dem runden Grundriss des Gebäudes folgte. Auf ihrem Weg passierten sie Türen, hinter denen Behandlungs- und Krankenzimmer lagen. Der Geruch von Desinfektionsmitteln hing in der Luft und löste beklemmende Gedanken an Tod und Krankheit in Sonea aus. Spürend, wie Übelkeit in ihr aufstieg, zwang sie sich, ruhig zu bleiben und flach zu atmen.
Zwei Heiler kamen ihnen entgegen. Als sie Sonea erblickten, weiteten sich ihre Augen und sie eilten rasch weiter.
Schließlich blieb Lady Vinara vor einer Tür stehen, vor der zwei Krieger postiert waren. Beide sahen aus, als hätten sie erst kürzlich ihren Abschluss gemacht.
Und beide wirkten sehr nervös.
„Warum wird er bewacht?“, verlangte Sonea zu wissen.
„Eine Vorsichtsmaßnahme, die Balkan angeordnet hat“, antwortete Lady Vinara knapp.
Ungläubig schüttelte Sonea den Kopf. Hatten sie es denn noch immer nicht begriffen?
Die Heilerin bedeutete den Wachen, zur Seite zu treten und öffnete die Tür mit einer knappen Handbewegung.
Sonea zögerte. Seit Tagen hatte sie diesen Moment herbeigesehnt, doch nun schlug ihre Freude in Furcht um. Es war das erste Mal, das sie ihn sah, seit … seit …
Was, wenn er nicht mehr der Akkarin war, den sie kannte?
„Geh nur“, murmelte Rothen hinter ihr. „Ich werde draußen warten.“
Lady Vinara betrat das Krankenzimmer. Sonea folgte ihr mit wachsendem Unbehagen.
„Hier ist Sonea“, hörte sie die Heilerin wie aus weiter Ferne sagen. Zögernd trat Sonea neben sie.
Akkarin lag in einem Bett, das an der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand. Unter dem weißen Bettbezug wirkte er noch bleicher als üblich. Sonea stellte jedoch erfreut fest, dass er lächelte, als sein Blick auf sie fiel.
„Hallo, Sonea.“
Von einer jähen Unsicherheit erfüllte, erstarrte sie.
Sie hatten nie darüber gesprochen, was sein würde, wenn sie wieder zurück in der Gilde waren. Sie hatten nicht gewusst, ob sie die Schlacht überleben würden oder ob die Gilde sie wieder aufnahm. Sie hatten nur wenige gemeinsame Tage gehabt und doch waren sie sich in dieser kurzen Zeit näher gekommen, als Sonea je für möglich gehalten hätte. Reichte das, was sie hatten, überhaupt für eine Beziehung? Seit sie in Rothens Apartment aufgewacht war, quälte diese Frage sie.
Und jetzt, wo sie Akkarin gegenüberstand, fürchtete sie die Antwort mehr als alles andere.
Doch solange Lady Vinara noch im Raum war, musste Sonea sich zusammenreißen.
„Es ist schön, Euch wohlauf zu sehen, Mylord“, sagte sie und verneigte sich mit einer Unbeholfenheit, die nur zum Teil gespielt war. Spürend, wie ihre Wangen heiß wurden, hielt sie den Blick gesenkt, hoffend, dass Lady Vinara es nicht bemerkte.
Falls Akkarin ob ihres Verhaltens verwirrt war, so ließ er sich das nicht anmerken. „Lady Vinara, lasst mich mit Sonea allein“, sagte er mit unterschwelliger Autorität.
Die Heilerin runzelte die Stirn, erhob jedoch keinen Protest. „Ihr habt fünf Minuten.“
Fünf Minuten?!
Schlagartig verschwand die Röte aus Soneas Gesicht. Sie öffnete protestierend den Mund, besann sich dann jedoch eines besseren. Lady Vinara war bereits misstrauisch. Sie durfte dieses Misstrauen nicht noch vergrößern.
„Fünfzehn Minuten“, sagte Akkarin ruhig.
„Auf keinen Fall“, widersprach Vinara scharf. „Die halbe Gilde wartet seit Tagen darauf, Euch zu sprechen und Ihr müsst Euch schonen.“
„Wie ich bereits sagte: Ich werde mit niemandem sprechen, bevor ich mich nicht vollständig von Soneas Wohlergehen überzeugt habe“, sagte Akkarin. „Ich bezweifle, dass fünf Minuten dazu ausreichend sind.“
Lady Vinaras Blick verfinsterte sich und Sonea unterdrückte ein unwillkürliches Grinsen. Rasch wandte sie sich ab.
„Zehn Minuten“, sagte Lady Vinara. „Und keine Sekunde länger. Sonea, achte darauf, ihn nicht aufzuregen. Und darauf, dass er liegenbleibt.“
„Ja, Mylady“, sagte Sonea.
Die Heilerin bedachte Akkarin mit einem letzten strengen Blick und verließ dann das Krankenzimmer.
„So, du hast also niemanden von uns erzählt“, sagte Akkarin, nachdem sich die Tür hinter Vinara geschlossen hatte.
Das war keine Frage.
Sonea schüttelte den Kopf. „Ich wusste nicht, ob du einverstanden bist. Ich … wir haben nie darüber gesprochen. Für die anderen bin ich noch immer deine Novizin.“
Akkarin schwieg.
„Das heißt, ich habe es Rothen erzählt“, fuhr sie nervös fort. „Aber er wird es für sich behalten.“
Er runzelte die Stirn. „So, Rothen also.”
„Ich wohne bei ihm, bis die Gilde entschieden hat, was mit uns geschehen soll. Es stört dich doch nicht, oder?“ Nach allem, was zwischen ihnen geschehen war, konnte er unmöglich noch etwas dagegen haben, wenn Rothen sich um sie kümmerte!
„Nein. Sicher hattet ihr zwei einiges aufzuholen.“
Sie sahen einander an. Sonea wusste nicht, wie sie seinen Gesichtsausdruck deuten sollte. Sie hatte das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben.
Dann lächelte er unvermittelt.
„Sonea, komm her.“
Eine Woge der Erleichterung brach über sie herein. Dennoch trat sie nur zögernd näher. Warum musste sie ausgerechnet jetzt wieder anfangen ihn zu fürchten?
Akkarin setzte sich auf und reichte ihr ein paar Kissen. „Sonea, kannst du die hinter mir aufstapeln?“
Sie nickte und legte die Kissen am Kopfende übereinander, so dass er sich anlehnen konnte. Dann erinnerte sie sich an Lady Vinaras Worte.
„Aber du sollst doch liegenbleiben“, sagte sie streng.
Akkarin lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen, als hätte diese Bewegung ihn erschöpft. Als er sie wieder öffnete, entdeckte Sonea darin ein vertrautes Funkeln. Er streckte einen Arm nach ihr aus und zog sie auf die Bettkante herab. „Ah, ich möchte nur ein wenig aufrechter liegen.“
„Dann geht es dir also schon besser“, bemerkte sie.
„Im Gegensatz dazu, tot zu sein, ist dies eine deutliche Verbesserung.“
Bei seinen Worten zog sich etwas in Soneas Brust schmerzhaft zusammen. Ihre Kehle schnürte sich zusammen und das inzwischen nur allzu vertraute Brennen kehrte in ihre Augen zurück. Sie wandte den Blick ab. Hatte er überhaupt eine Vorstellung davon, durch welche Hölle sie für ihn gegangen war?
„Sonea.“
Eine kühle Hand berührte ihre Wange.
„Sieh mich an.“
Sie schluckte und gehorchte. Ihre Blicke begegneten einander.
„Ich habe dir mein Leben zu verdanken“, sagte er leise. „Es gibt Dinge, die sich mit Humor leichter ertragen lassen. Aber ich brauche dich nur anzusehen, um zu wissen, dass ich dir damit keinen Gefallen tue. Es tut mir leid.“
„Das braucht es nicht“, flüsterte sie.
Ihr Blick verschleierte sich und Tränen liefen heiß ihre Wangen herab. Sie schloss die Augen.
Akkarin legte seine Hände auf ihre Wangen. Seine Daumen strichen behutsam über ihre Haut und wischten die Tränen fort. Die Berührung löste ein vertrautes Kribbeln aus, das Sonea bis in die Haarwurzeln stieg.
„Alles ist gut“, flüsterte er und küsste sie.
Der Kuss löste etwas in ihr. In einem Anflug von Zuneigung schlang sie ihre Arme um ihn und er zog sie zu sich.
Eine lange Weile verharrten sie so und Sonea genoss das Gefühl, in seinen Armen zu liegen und seinen vertrauten Duft einzuatmen.
Jetzt ist der richtige Augenblick, es ihm zu sagen.
Behutsam löste sie sich von ihm und setzte sich auf, so dass sie einander ansahen. Als sein Blick dem ihren begegnete, drohte eine plötzliche Woge von Panik sie zu überwältigen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so schwer sein würde. Sie hatte es Rothen erzählt, hatte es unzählige Male im Stillen für sich wiederholt. Sie hatte es Akkarin sogar gesagt, als sie versucht hatte, ihn zu retten und sie nicht sicher gewesen war, ob er sie überhaupt hören konnte. Aber ihn dabei anzusehen, war so viel bedeutungsschwerer.
„Was ist?“
„Ich …“, begann sie und kam sich albern vor. Während der Schlacht hatte sie nicht gezögert. Doch seit jenem Tag war viel passiert. Sie hatte ihn verloren, war tagelang von ihm getrennt gewesen und hatte die ganze Zeit einer ungewissen Zukunft entgegengesehen. Doch jetzt war sie bei ihm und sie brauchte seine Zurückweisung nicht fürchten.
„Ich muss dir etwas sagen.“
Akkarin hatte die Arme vor der Brust verschränkt und betrachtete sie aufmerksam. Unter seinem Blick fühlte Sonea sich vielmehr wie seine Novizin, die gerade eine mittelschwere Dummheit angestellt hatte, als wie die Frau die er liebte.
„Ich höre.“
Er macht es mir nicht gerade leicht. Ob er das absichtlich tut?
Anscheinend musste sie da jetzt durch. Sonea holte sie tief Luft und richtete sich auf.
„Akkarin, ich liebe dich.“
Er bedachte sie mit seinem Halblächeln. „Ich weiß. Ich konnte dich hören“, sagte er und streckte eine Hand nach ihrer Wange aus.
Sonea schmiegte sich in seine Handfläche, das vertraute Kribbeln kehrte zurück und für einen Moment war ihre Welt in Ordnung. Dann wurde sie jedoch wieder ernst.
„Deine Kräfte sind gewachsen.“
Sie schüttelte den Kopf. Wie konnte er das wissen? Es war ihr nicht einmal selbst bewusst gewesen.
„Ich habe keine schwarze Magie benutzt“, antwortete sie schnell. Dachte er etwa, sie würde sich ohne seine Erlaubnis stärken?
„Es ist dein natürliches Potential“, sagte er anerkennend. „Ich dachte, es hätte sich inzwischen vollständig entwickelt. Doch anscheinend habe ich mich geirrt.“
Als sie sich auf die Quelle ihrer Kraft konzentrierte, erkannte Sonea, dass er recht hatte. Sie verspürte eine leise Freude, die sie jedoch beiseiteschob. Im Augenblick hatte sie ganz andere Sorgen.
„Was wird nun aus uns?“, fragte sie und lenkte damit das Gespräch auf das Thema, das ihr schon die ganze Zeit auf der Seele brannte.
„Das hängt davon ab, was die Gilde mit uns vorhat. Hast du etwas darüber erfahren?“
Soneas Herz wurde schwer. Und was ist mit uns?
„Nicht viel“, antwortete sie zögernd. „Rothen sagt, sie wollen uns wieder aufnehmen, doch sie streiten noch über die Bedingungen. Die Gilde ist dabei, sich neu zu organisieren. Es gibt viele Ämter, die neu besetzt werden müssen.“
„Weißt du, welche Magier im Gespräch sind?“
„Nach allem, was Rothen erzählt hat, ist schon alles inoffiziell entschieden. Osen ist der neue Administrator. Lord Sarrin ist in den Ruhestand gegangen, nachdem er vergeblich versucht hat, schwarze Magie zu erlernen, um die Gilde während unserer Verbannung zu verteidigen. Sein Nachfolger ist Lord Peakin. Rothen ist auf Peakins früherem Posten.“ Sie lächelte. „Er ist jetzt Leiter der alchemistischen Studien. Bei den Heilern ist alles beim Alten.”
Sonea hielt inne. Sie hatte noch weitere Neuigkeiten für ihn. Aber sie wusste nicht, ob sie ihm gefallen würden.
„Sprich weiter“, forderte Akkarin sie auf.
Es macht keinen Sinn, es ihm zu verschweigen, sagte sie sich. Er wird es sowieso erfahren.
„Das neue Oberhaupt der Krieger ist Lord Garrel.“ Sie glaubte, eine Spur von Missbilligung in Akkarins Miene zu lesen, als sie diesen Namen aussprach. „Aber er hat im Gegensatz zu Balkan nur dieses eine Amt. Der Leiter der strategischen Studien ist jetzt Lord Vorel. Und Balkan wird Hoher Lord.“
„Balkan ist eine gute Wahl“, sagte Akkarin.
Sonea betrachtete ihn überrascht. „Es macht dir nichts aus?“
„Nun, ich komme für diesen Posten wohl nicht mehr in Frage“, antwortete er ruhig. „Balkan fehlt zwar das politische Feingefühl, doch er ist ein guter Stratege.“
Sonea fragte sich, ob er wirklich so gelassen ob dieser Neuigkeit war, wie er sich gab. „Er trägt weiße Roben“, fügte sie hinzu.
Akkarins Mundwinkel zuckten. „Also wenn das nicht eine interessante Neuerung ist!“
„Sie haben wohl entschieden, die schwarzen Roben uns zu überlassen“, sagte Sonea froh, weil es ihr gelungen war, ihn zu erheitern. Ein Teil von ihr kam jedoch nicht umhin, sich zu wundern. Für Nicht-Gildenmagier war das Tagen von Magierroben ein Verbrechen. Hatte man ihr die Robe nach der Schlacht nicht weggenommen, weil die Magier sie und Akkarin zu sehr fürchteten, oder sollte das Schwarz sie öffentlich brandmarken?
Ihre Frage war indes noch immer nicht beantwortet. Und ihre Besuchszeit war fast abgelaufen.
„Angenommen, die Gilde nimmt uns zurück – die Magier werden Zeit brauchen, sich an uns zu gewöhnen“, sagte er. „Wenn sie von unserer Beziehung erfahren, könnte das unserer Integrität Schaden zufügen. Es war richtig, Rothen zu bitten, es für sich zu behalten. Solange wir nicht wissen, welche Pläne die Gilde mit uns hat, sollten wir unsere Beziehung geheim halten.“
Soneas Herz setzte einen Schlag aus. „Ich finde es nicht gut, wenn wir einander verleugnen“, sagte sie hart.
Sie hatte dieses Geheimnis gewahrt, solange sie nicht gewusst hatte, wie er dazu stand. Es wäre respektlos gewesen, es hinter seinem Rücken weiterzuerzählen. Aber sie hatte so fest damit gerechnet, er würde einverstanden sein, wenn jeder erfuhr, dass sie jetzt ein Paar waren!
„Mir gefällt es auch nicht, aber wir haben keine Wahl“, erwiderte er sanft. „Lass ihnen Zeit, sich an uns zu gewöhnen.“
Das könnte dauern, dachte Sonea mit leiser Resignation.
„Was, wenn wir wieder gehen? Von heute an komme ich jeden Tag vorbei und gebe dir meine Kraft und dann kämpfen wir uns hier heraus. Es sind nur zwei Wachen vor der Tür und von hier ist es nicht weit, bis zum Wald …“
Akkarin schien noch schwach. Kampf war somit undenkbar. Trotzdem würde Sonea sich ohne zu zögern mit ihm aus der Gilde kämpfen, würde er das wollen.
„Ah, die Wachen wären unser kleinstes Problem.“ Akkarin verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Sie sind voll Furcht, ich könnte plötzlich zwischen ihnen auftauchen und sie überwältigen. Ich bezweifle, sie würden ernsthaften Widerstand leisten, sollte ich das wirklich versuchen.“
„Woher weißt du das?“
„Ich kann ihre Gedanken hören.“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als habe etwas sein Missfallen erregt. „Sie haben mich aufgeweckt.“
Sonea starrte ihn an. „Wie ist das möglich?“ In der Gilde ging das Gerücht, dass Akkarin viele seltsame Fähigkeiten hatte. Einige, so wusste Sonea inzwischen, waren reiner Mythos und mehr seiner exzessiven Frequentierung der Geheimgänge als außergewöhnlichen Fähigkeiten zuzuschreiben. Andere waren damit zu erklären, dass sein bester Freund sein Blutjuwel getragen hatte, so wie auch Takan eines trug. Der Rest resultierte vermutlich aus dem jahrelangen Praktizieren schwarzer Magie und der größeren magischen Stärke, die die Sinne veränderte. Doch offenkundig war Akkarins natürliches Potential noch nicht wiederhergestellt. Wie konnte er zu etwas fähig sein, für das er um ein Vielfaches stärker sein musste?
Aber wenn er die Gedanken der Krieger vor der Tür lesen konnte, dann hatte er auch die ganze Zeit gewusst, was sie dachte!
Er hat mich ganz schön an der Nase herumgeführt, dachte Sonea.
„Darauf habe ich keine Antwort, Sonea.“ Akkarins Augen fokussierten auf etwas hinter der Wand. „Wenn es nicht so schwierig wäre, sie auszublenden, dann wäre es sogar recht amüsant.“
Sie streckte ihre Sinne aus, konnte die Präsenz der Wachen jedoch nur vage wahrnehmen.
„Warum? Was sagen sie?“
Akkarin lachte leise. „Seit deiner Ankunft sind sie in heller Panik.“
„Das ist doch albern!“, rief Sonea nicht wissend, ob sie lachen oder Mitleid mit den Wachen haben sollte.
„Furcht ist nicht rational. Das solltest du am besten wissen.“
Sie bedachte ihn mit einem finsteren Blick und verkniff sich eine passende Erwiderung.
„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet“, erinnerte sie Akkarin. „Warum gehen wir nicht wieder fort?“
„Sonea, wir werden die Gilde nicht verlassen, solange sie das nicht ausdrücklich wünscht“, sagte Akkarin leise. „Die Ichani hat sie an den Rand des Untergangs gebracht. Ein erneuter Angriff aus Sachaka wird sie vernichten. Die Gilde braucht uns. Was die Magier auch getan haben mögen, meine Loyalität gehört der Gilde und Kyralia.“
Sonea seufzte. Und meine Loyalität gehört dir …
Aber das war natürlich nur die halbe Wahrheit.
„Dasselbe gilt für mich“, erwiderte sie.
Akkarins Blick war erneut ins Leere gewandert. „Lady Vinara ist unterwegs. Wir sollten uns verabschieden.“
Woher weiß er denn das schon wieder? Sonea schüttelte den Kopf. Dann beugte sie sich vor und umarmte Akkarin. Als sie sich von ihm lösen wollte, hielt er sie fest, um sie noch einmal zu küssen.
Dann schob er sie abrupt zurück, um einen anständigen Abstand zwischen sie beide zu bringen.
„Warte.“ Sonea streckte ihm ihre Arme entgegen. „Nimm meine Kraft.“
Er zögerte und sein Blick wurde hart. „Sonea …“, begann er streng.
„Lady Vinara kommt“, erinnerte sie ihn. „Wir sollten uns beeilen.“
Akkarin seufzte. Seine Hände umschlangen ihre Handgelenke. Sich konzentrierend sandte Sonea ihm ihre Magie, darauf bedacht, sich nicht zu erschöpfen. Sie war sicher, das würde Lady Vinara sofort auffallen. Als Akkarin sie losließ, erhob sie sich und trat rasch einen Schritt zurück.
„Was, wenn mir jemand meine Gefühle für dich anmerkt?“
„Dann gib es zu. Nach allem, was passiert ist, wird das kaum jemanden überraschen.“
Sonea starrte ihn an, als wäre er nicht mehr ganz bei Trost. „Das kann nicht dein Ernst sein!“, entfuhr es ihr. „Dann werden sie weitere Fragen stellen.“
„Ich werde mir einen Plan zurechtlegen, damit wir zusammen sein können“, versprach Akkarin. „Vertrau mir.“
Sie begegnete seinem Blick. „Das tue ich.“
Die Tür ging auf und Lady Vinara trat ein. Ihr Blick verfinsterte sich, als sie Akkarin aufrecht sitzend erblickte. „Ihr sollt Euch ausruhen“, sagte sie streng.
„Selbstverständlich, Mylady“, antwortete er und ließ sich wieder in die Kissen sinken, doch Sonea sah das Funkeln in seinen dunklen Augen. Ein Grinsen unterdrückend sah sie zum Fenster.
Lady Vinara wandte sich ihr zu. „Sonea, komm mit. Ich möchte dir noch einige Fragen stellen. Verabschiede dich von Akkarin.“
„Auf Wiedersehen, Akkarin“, sagte sie und verneigte sich erneut. „Ich komme Euch morgen wieder besuchen, wenn ich kann.“
„Ich freue mich darauf“, erwiderte er. „Richte Rothen meine Glückwünsche zu seinem neuen Posten aus.“
„Das solltet Ihr lieber selbst tun“, gab Sonea zurück. Und das ist nicht das Einzige, was du ihm sagen solltest, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie hoffte, er hörte zu.
Das Oberhaupt der Heiler trat zum Bett und fühlte Akkarins Stirn. „Und Ihr freut Euch lieber nicht zu sehr“, sagte sie barsch. „Ihr sollt Euch nicht anstrengen.“ Dann legte sie Sonea eine Hand auf die Schulter und schob sie sanft zur Tür. „Komm, Sonea.“
Im Hinausgehen warf Sonea noch einen letzten Blick über die Schulter. Akkarin lächelte. Doch die Art, wie er es tat, ließ ihre Knie weich werden. Sie atmete einmal tief durch und wappnete sich für das, was als Nächstes kommen würde.
Draußen auf dem Flur hielt sie kurz inne und bedachte die beiden Krieger mit einem finsteren Blick. Als einer von ihnen sichtlich zusammenzuckte, lächelte sie befriedigt. Dann folgte sie der Heilerin in die höheren Etagen des Heilerquartiers
„Lord Rothen wartet noch immer auf mich“, wandte Sonea ein, als sie den Flur zu Lady Vinaras Büro entlangschritten.
„Es wird nicht lange dauern.“ Das Oberhaupt der Heiler öffnete die Tür zu ihrem Büro und bedeutete Sonea, auf einem Stuhl Platz zu nehmen.
Unbehaglich setzte Sonea sich. „Worum geht es?“
Lady Vinara setzte sich ihr gegenüber. „Es geht um zwei Dinge, die dich und Akkarin betreffen.“
Sie weiß es! Das Gefühl des Unbehagens verstärkte sich. Sie zwang sich, ruhigzubleiben und das Oberhaupt der Heiler anzusehen.
„Zunächst einmal wünsche ich eine Erklärung, wie es dir gelungen ist, Akkarin zurückzuholen, obwohl sein Körper jeglicher Magie entleert war“, begann Lady Vinara ohne Umschweife. „Selbst den besten Heilern der Gilde gelingt Wiederbelebung nur in seltenen Fällen – und auch nur dann, wenn der Tod nicht durch magische Erschöpfung erfolgt ist.“
Eigentlich hatte Sonea ein anderes Thema erwartet, doch besonders angenehm war auch dieses nicht.
Sie schluckte. „Es war ziemlich …“ wild, wollte sie sagen. Doch Lady Vinara hätte nicht gewusst, was dieses Wort bedeutete. Rothen hatte ihr einst mit viel Geduld den Hüttenslang abgewöhnt. Auch wenn er nicht hier war, wollte Sonea nicht vor anderen den Eindruck erwecken, seine Bemühungen seien vergebens gewesen.
„Es war schwierig“, sagte sie daher. „Ich hatte nicht wirklich eine Ahnung, was zu tun ist. Ich habe mehr auf mein Gefühl gehört als mein Wissen über Heilkunst benutzt. Aber meine Erinnerung daran ist ziemlich verschwommen. Und ich möchte sie auch nicht unbedingt wieder aufleben lassen.“
Sonea schauderte als die Erinnerungen an die Verzweiflung, den Schmerz, die Furcht zu versagen und die Hoffnung vielleicht doch Erfolg zu haben, zurückkehrten. Seit jenem Tag hatte sie sich oft gefragt, wie es wäre, hätte sie tatsächlich versagt. Sicher war nur: Sie hätte es nicht ertragen.
„Sonea, ich habe wirklich großes Verständnis für dich. Deinen Mentor sterben zu sehen muss eine sehr schlimme Erfahrung für dich gewesen sein“, sagte Lady Vinara ungewöhnlich sanft. „Aber es ist wichtig. Nicht nur ich – auch die anderen Heiler würden gerne erfahren, wie du ihn zurückgeholt hast. Es könnte viele Leben retten.“
„Ich verstehe“, sagte Sonea langsam.
Natürlich wollte sie, dass auch andere einen Nutzen davon hatten. Sie bezweifelte jedoch, dass ihr Trick bei anderen funktionierte. Ihre Gefühle für Akkarin hatten dabei keine unwichtige Rolle gespielt. Und ihr Wissen über schwarze Magie hatte ihr geholfen. Sie konnte nicht verantworten, das weiterzugeben.
„Wenn es für dich leichter ist, kannst du mir auch einen Bericht schreiben“, schlug Lady Vinara vor. „Lass dir ruhig ein paar Tage Zeit. Meinst du, eine Woche ist ausreichend?“
Sonea nickte, obwohl sie glaubte, keine Zeit der Welt würde genügen, bis sie bereit war, das noch einmal zu durchleben.
„Danke, Mylady. Darf ich dann jetzt gehen?“
„Nein.“
Das Oberhaupt der Heiler beugte sich in ihrem Sessel vor und musterte Sonea mit ihren grauen, raubvogelartigen Augen.
„Du bist jetzt eine Frau, Sonea. Deine Ausbildung ist noch nicht beendet, aber du bist schon lange kein Kind mehr. Das ist kaum einem Magier entgangen.“
Sonea beschlich eine ungute Ahnung, was als Nächstes kommen würde.
„Wie meint Ihr das?“, fragte sie um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht.
Lady Vinara musterte sie streng. „Sonea, du kannst vielleicht anderen etwas vormachen. Für mich hingegen sind deine Gefühle für Akkarin offensichtlich.“
Diese unverhohlene Bloßstellung ihres eigenen Herzen verschlug Sonea für einen Augenblick die Sprache. War es wirklich so offensichtlich?
„Ich habe es mir bereits bei eurer Anhörung gedacht“, fuhr Vinara fort. „Inzwischen besteht jedoch kein Zweifel mehr.“
„Bei allem Respekt, Lady Vinara, aber das ist meine Sache“, sagte Sonea.
Zu ihrer Überraschung lächelte die Heilerin. „Ich möchte wirklich nicht wissen, was dich dazu gebracht hat, dich in Akkarin zu verlieben. Ihr wart lange Zeit auf euch gestellt und dabei sind genug Dinge geschehen, die euch einander näher gebracht haben mögen. Ich werde niemandem von deinen Gefühlen erzählen.“
Wunderbar, dachte Sonea.
„Danke“, sagte sie bemüht, nicht zu schroff zu klingen.
Lady Vinara nickte. „Eine Sache muss ich dennoch wissen: Hat Akkarin sich dir gegenüber jemals unsittlich verhalten oder etwas getan, das du nicht wolltest?“
Sonea versuchte verzweifelt, ein Lachen zu unterdrücken. Diese Frage konnte sie ohne zu lügen verneinen. Alles, was Akkarin mit ihr getan hatte, hatte sie gewollt und für sie war es alles andere als unsittlich gewesen. Im Gegenteil.
„Nein“, sagte sie und sah der anderen Frau in die Augen.
„Gut.“
Lady Vinara schien zufrieden. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück. „Ich muss dich hoffentlich nicht daran erinnern, dass die Gilde eine intime Beziehung zwischen Mentor und Novize untersagt. Denn auch wenn ihr momentan nicht zur Gilde gehört, werdet ihr als das gehandhabt.“
„Ich verstehe“, sagte Sonea.
Die Worte der Heilerin erweckten unangenehme Erinnerung an Soneas erstes Jahr zum Leben. Damals hatte ihr Erzfeind Regin das Gerücht verbreitet, sie habe eine Affäre mit Rothen. Sonea hatte das dazu bewogen, aus Rothens Apartment ins Novizenquartier zu ziehen. Viel schlimmer war jedoch gewesen, wie herablassend ihre Lehrer und ihre Klassenkameraden sie daraufhin behandelt hatten. Hatte Akkarin richtig entschieden, indem er darauf bestanden hatte, ihre Beziehung geheim zu halten?
„Sonea, ich verurteile dich nicht für deine Gefühle“, unterbrach Lady Vinara ihre Gedanken. „Aber du musst wissen, wie du dich vor den Folgen schützen kannst, sollte Akkarin dir gegenüber eines Tages seine Beherrschung verlieren.“
Sonea betrachtete die Heilerin aufgebracht. Es kostete sie all ihren Willen, nicht aufzufahren und Akkarin zu verteidigen. Wie konnte Vinara so schlecht von ihm denken? War es, weil es ein schwarzer Magier war?
Sie vertrieb ihren Ärger mit einem tiefen Atemzug. „Dann sollte ich das wohl besser lernen.“
***
Von seiner Bank aus hatte Rothen den Eingang des Heilerquartiers im Blick. Während Sonea bei Akkarin war, hatte er sich auf die Suche nach seinem Sohn gemacht. Doch man hatte ihm nur gesagt, Dorrien sei in der Stadt unterwegs. Zwei Wochen nach der Schlacht herrschte in Imardin noch immer großes Chaos.
Ein Großteil der Magier verbrachte die Tage damit, die Häuser wieder aufzubauen und die zerstörten Nordtore und das Tor zum Inneren Ring zu reparieren. In den Hüttenvierteln war ein Feuer ausgebrochen, nachdem mehrere Hüttenleute einen Ichani getötet hatten. Wie Sonea erzählt hatte, hatte der Ichani alles in einem Umkreis von mehreren hundert Schritten dem Erdboden gleichgemacht, als er im Augenblick seines Todes die Kontrolle über seine Magie verloren hatte. Dabei waren mehrere Hütten in Brand geraten. Während das Feuer inzwischen wieder gelöscht war, litten die Menschen, die diese Katastrophe überlebt hatten, noch immer unter den Folgen.
Dorrien war nicht der einzige Heiler, der sich um das Wohl der Stadtbevölkerung kümmerte. Rothen schwante indes, sein Sohn tat dies vor allem auch, um der Gilde zu entfliehen. Es war seine Art damit fertig zu werden, dass Sonea einen anderen liebte.
„Wenn ich schon nicht mich selbst heilen kann, will ich wenigstens anderen helfen“, hatte Dorrien gesagt, als Rothen ihn kurz nach der Schlacht zur Rede gestellt hatte. Das war das letzte Mal, dass er seinen Sohn zu Gesicht bekommen hatte.
Obwohl Soneas Gefühle für Dorrien nicht über eine Freundschaft hinausgingen, war dieser seit ihrer ersten Begegnung völlig in sie vernarrt. Anstatt zu respektieren, dass Sonea in ihm nur einen Freund sah, schien Dorrien jedoch umso besessener von ihr zu werden, desto unerreichbarer sie für ihn wurde.
Seine Augen schließend genoss Rothen die frische Luft. Der Tag war ungewohnt kühl und ein kräftiger Wind blies allenthalben dunkle Wolken vom Meer heran. Seit der Schlacht hatte er sein Apartment nur verlassen, um an den Treffen der höheren Magier und Gildenversammlungen teilzunehmen, bei denen über den Wiederaufbau der Stadt, die Neuverteilung der Ämter oder über das weitere Vorgehen bezüglich Akkarin und Sonea diskutiert wurde. Rothen hatte jedoch klargestellt, sie sollten nur nach ihm schicken, wenn seine Anwesenheit wirklich erforderlich war. Sonea brauchte ihn mehr als Gildenmagier und Novizen.
Als er die Augen wieder öffnete, verließ Sonea das Heilerquartier. Sie wirkte aufgebracht.
Rothen erhob sich und eilte auf sie zu.
„Das war so demütigend!“, rief sie, als er sie fast erreicht hatte.
Mit großen Schritten stapfte sie in Richtung der Magierquartiere, die Hände in den langen Ärmeln ihrer Robe zu Fäusten geballt. Erneut hatte Rothen Mühe, mit ihr Schritt zu halten.
„Was hat er getan?“
Sonea hielt inne und wandte sich ihm zu. Ihre Haare flatterten im Wind und ihre dunklen Augen funkelten zornig.
„Doch nicht Akkarin!“
Ein Gruppe Heiler, die ihnen entgegen kam, blickte furchterfüllt in ihre Richtung.
„Vinara“, grollte Sonea.
Rothen blinzelte verwirrt. „Aber warum?“
„Sie hat …“ Sonea schnappte erregt nach Luft und wurde rot. „Wenn ich nur daran denke, könnte ich im Erdboden versinken!“
Rothen kicherte. „Ah, ich verstehe.“
Sie beachte ihn mit einem vernichtenden Blick.
„So etwas ist niemals angenehm, Sonea“, sagte er sanft. „Aber glaub mir, es war längst überfällig.“
„Wie könnt Ihr das sagen! Ihr wisst doch gar nicht …“
„Sonea, ich kenne dich lange genug, um mir den Rest zu denken, wenn du mir etwas nur zur Hälfte erzählst.“
Sie starrte ihn an, ihr Blick war wild.
„Es ist in Ordnung“, beruhigte Rothen sie. Er sah sich um und senkte die Stimme. „Du bist eine vernünftige, erwachsene Frau. Ich kann dir nicht verbieten, mit einem Mann intim zu sein. Ich bezweifle, dass du so an ihm hängen würdest, wäre er nicht anständig zu dir.“
Auch wenn ich wünschte, es wäre nicht ausgerechnet Akkarin!
Soneas Miene wurde ein wenig weicher. Zu lernen, wie man sich vor unerwünschten Folgen des Beischlafs schützte, war für die meisten Novizen eine eher peinliche Erfahrung. Trotzdem musste es sein. Auch wenn Sonea es mit keinem Wort erwähnt hatte, schloss Rothen aus ihren Erzählungen, dass sie und Akkarin mindestens einmal miteinander geschlafen hatten. Sie konnte von Glück sagen, dass es ohne Konsequenzen geblieben war, auch wenn er annahm, dass Akkarin die nötigen Vorkehrungen getroffen hatte.
So wie er Sonea kannte, ging es jedoch nicht nur darum, dass Lady Vinara mit ihr das „Gespräch“ geführt hatte. In der Gilde ging seit der Schlacht das Gerücht, zwischen Sonea und Akkarin existiere eine Affäre. Gewiss fürchtete Sonea die daraus resultierenden Konsequenzen.
„Komm, wir gehen ein wenig spazieren“, schlug Rothen vor. „Dann kannst du dein hitziges Gemüt abkühlen und mir alles von deinem Besuch bei Akkarin und deinem Gespräch mit Lady Vinara erzählen, ohne dass wir Zuhörer haben. Ist das ein Angebot?“
Sonea nickte. „Danke, Rothen.“
Nachdem sie die Gebäude der Universität hinter sich gelassen und den Weg in den Wald eingeschlagen hatten, berichtete Sonea ausführlich, was ihr im Heilerquartier widerfahren war. Während sie sprach, wurde sie allmählich ruhiger, und nachdem ihr Ärger verraucht war, vertraute sie ihm ihre Ängste und Bedenken an. Rothen ließ sie ausreden, insgeheim froh, dass sie endlich anfing, sich zu öffnen.
„Nun ich denke, fürs Erste ist es besser, wenn ihr eure Beziehung geheim haltet“, sagte Rothen, nachdem sie geendet hatte. „Wenn die Gilde euch beide wieder aufnimmt, wird es für sie dadurch, dass ihr schwarze Magier seid, schon schwer genug. Eure Beziehung könnte euch erheblichen Schaden zufügen, weil viele das nicht billigen werden.“
„So etwas Ähnliches hat Akkarin auch gesagt.“
„Und damit hat er recht.“
Selbst als Akkarin noch Hoher Lord gewesen war, hätte er sich über nicht derart über die Gilde hinwegsetzen können. Jetzt hingegen würde es für den schwarzen Magier noch schwieriger werden, Sonea zu beschützen. Würde ihm Soneas Wohlergehen nicht so sehr am Herzen liegen, so hätte Rothen es lieber gesehen, würden die beiden ihre Beziehung beenden, um allen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Doch anscheinend vermochte nicht einmal der Tod Akkarin und Sonea zu trennen. Wie sollte es die Vernunft dann können?
„Aber für Euch ist das mit Akkarin doch kein Problem, nicht wahr?“, fragte Sonea zögernd.
Rothen schüttelte den Kopf. Ihm war nicht wohl dabei, Sonea überhaupt mit einem Mann zusammen zu wissen. Wenn überhaupt, dann hätte er sich dazu jemanden wie Dorrien gewünscht. Doch Sonea traf ihre Entscheidungen niemals unüberlegt. Und solange sie glücklich war, war Rothen das Bestätigung genug, dass er sich keine Sorgen machen brauchte.
„Für mich nicht“, antwortete er. „Aber für viele der anderen Magier. Besonders für die älteren.“
„Akkarin hat gesagt, er würde sich einen Plan überlegen, wie wir trotzdem zusammen sein können.“
Rothen verkniff sich ein Lächeln. „Es würde mich wundern, wenn er das nicht tut.“
Während sie durch den Wald spazierten, dachte Rothen daran, wie einige seiner Nachbarn darauf reagiert hatten, dass Sonea vorübergehend bei ihm wohnte. Schon bald würde Akkarin aus dem Heilerquartier entlassen und ebenfalls ins Magierquartier ziehen. Aus den Gildenversammlungen wusste Rothen, dies würde erneut für Proteste sorgen, weil viele Magier von der Vorstellung, einen schwarzen Magier als Nachbar zu haben, beunruhigt waren. Rektor Jerrik und Lord Ahrind hatten zudem Einspruch dagegen erhoben, Sonea einen Platz im Novizenquartier zuzuteilen. In den Magierquartieren würde sie indes nicht bleiben können. Sonea war noch zwei Jahre von ihrem Abschluss entfernt.
Er führte Sonea fort von dem Weg, dem sie bisher gefolgt waren. Es ging ein wenig bergauf und Rothen begann zu schnaufen. Mit leisem Neid betrachtete er Sonea, der die Steigung nichts auszumachen schien.
Ich bin wahrhaftig ein gutes Vorbild für meine Schützlinge, dachte er. Immer wieder habe ich ihnen gesagt, sie sollen sich öfter an der frischen Luft bewegen, anstatt sich hinter ihren Büchern zu verstecken, und hier bin ich alter Stubenhocker und schaffe noch nicht einmal diesen Hügel.
Sie überquerten die Hügelkuppe und stiegen dann wieder hinab in den Wald. Nach einem kurzen Stück durchs Unterholz teilten sich die Bäume vor ihnen und gaben den Blick auf ein kleines, aber imposantes Haus im Stil der Villen im Inneren Ring frei. Obwohl es verlassen wirkte, zeigte die Fassade keinerlei Spuren von Vernachlässigung.
Sonea blickte sich verwirrt um. „Sind wir noch in der Gilde?“
„Ja.“ Rothen lächelte. „Wir sind bei den Residenzen. Das hier ist die Arran-Residenz.“
„Oh“, machte sie. „Warum ist mir das Haus noch nie aufgefallen?“
„Es steht ein wenig abseits von der Straße und den anderen Häusern. Lord Iven, der Magier für den es erbaut wurde, war schon immer ein wenig wunderlich gewesen. Und je älter er wurde, desto mehr wurde er zum Einsiedler.“
„Ihr sprecht von ihm, als wäre er gestorben.“
„Das ist er. Im letzten Winter, nachdem er über zehn Jahre hier gewohnt hat. Er wurde fast einhundert Jahre alt.“
Stirnrunzelnd blickte Sonea hinauf zu den fragilen Türmen. „Aber warum ist es dann nicht wie die anderen abgebrannt?“
„Lord Iven fürchtete um seine Frau, die mit ihm in dieses Haus zog. Weil sie sich weigerte, ihn zu verlassen, als es mit ihm zu Ende ging, musste sie in einem anderen Zimmer schlafen, damit sie in Sicherheit war, sollte er im Schlaf sterben. Aus demselben Grund brauchte er jeden Abend seine verbleibende Magie nahezu auf. Nach seinem Tod musste daher nur das große Schlafzimmer renoviert werden.“
Sonea schlang die Arme um ihren Körper. „Können wir bitte über etwas anderes reden?“
„Natürlich“, erwiderte Rothen sanft.
Er hatte nicht daran gedacht, dass Sonea auf dieses Thema empfindlich reagieren könnte. Er nahm sich vor, diesbezüglich etwas behutsamer zu sein.
„Möchtest du es dir ansehen?“, fragte er stattdessen.
„Gerne.“ Sie hielt inne und musterte ihn misstrauisch. „Warum habt Ihr mich hergeführt?“
„Ich wollte einen Spaziergang machen, um dich auf andere Gedanken zu bringen“, antwortete er lächelnd.
Ihre Augen verengten sich, dann nickte sie. „Sehen wir es uns an.“
Sie gingen zum Eingang. Rothen berührte den Türgriff, doch die Tür blieb verschlossen. Er streckte seinen Geist danach aus und untersuchte den Mechanismus. Die Tür war mit einem magischen Schloss belegt, dessen Mechanismus ihm unbekannt war.
„Es muss versiegelt worden sein“, sagte er. „Wir werden uns mit einem Blick durch die Fenster begnügen müssen.“
Er folgte Sonea, die bereits an der Hauswand entlanggelaufen war und durch ein Fenster spähte. Es war so hoch, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste.
„Die Zimmer sehen sehr groß aus“, sagte sie. „Aber die Möbel sind alle mit Tüchern bedeckt.“
„Das ist, damit sie nicht verstauben.“ Rothen betrachtete sie lächelnd. „Gefällt es dir?“
Sonea nickte und betrachtete die Außenfassade hingerissen. „Ein wirklich schönes Haus. Der Architekt, der es gebaut hast, muss sehr begabt gewesen sein.“
„Haus Arran züchtet Rennpferde. Lord Iven konnte sich gewiss einen guten Architekten leisten.“
„Was ist aus seiner Frau geworden?“
„Sie ist zu ihrer Familie in die Stadt gezogen.“
Sie hatten das Haus zur Hälfte umrundet. Auf der Rückseite befand sich eine Veranda mit hohen Fenstern, die bis zum Boden reichten. Der weitläufige Balkon darüber wurde von zerbrechlich wirkenden Säulen gestützt. Rothen hätte dieser Konstruktion wenig Vertrauen geschenkt, würde er nicht wissen, dass sie mit Magie verstärkt war.
Das Gras auf der Rückseite des Hauses war hoch und wogte im Wind. Die Bäume und Sträucher waren ungeschnitten und Unkraut wucherte in den Beeten. Der ganze Garten machte einen verwilderten Eindruck.
„Es gibt sogar Pachibäume!“
Begeistert wies Sonea auf eine kleine Gruppe von Bäumen, deren Äste sich unter dem Gewicht zahlreicher Pachi bogen. Rothen sah zu, wie sie auf die Bäume zu lief und die Früchte betrachtete.
„Schade, sie sind noch nicht reif.“
Rothen lächelte. An diesem Nachmittag hatte er mehr bei ihr erreicht, als in den gesamten zwei Wochen zuvor.
„Nun, wenn du hungrig bist, sollten wir besser zurückgehen.“