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Die Bürde der schwarzen Magier I - Der Spion

Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer, Drama / P18 / Mix
Ceryni Hoher Lord Akkarin Lord Dannyl Lord Dorrien Lord Rothen Sonea
27.06.2013
27.01.2015
60
658.584
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27.06.2013 10.603
 
Kapitel 20 – Eine grausige Entdeckung



In seiner letzten Klasse an diesem Tag unterrichtete Rothen die Novizen des fünften Jahres im Vertiefungskurs Alchemie. In diesem Teil des Studiums waren die Experimente schon lange nicht mehr trivial und dementsprechend gefährlich für unerfahrene Alchemisten. Bei dem Versuch, den er für den heutigen Unterricht gewählt hatte, wurde aus zwei normalerweise harmlosen Substanzen durch mehrere komplizierte Umwandlungen ein leichtentzündliches Gemisch hergestellt. Bereits bei der geringsten Abweichung in der Versuchsdurchführung konnte sich die Mischung vorzeitig entzünden, weswegen Rothen alle Novizen angewiesen hatte, Schutzbarrieren um ihre Plätze zu errichten und sich selbst mit einem Schild zu umgeben.

„Denkt daran, den Phasenübergang ganz langsam auszuführen“, ermahnte Rothen seine Klasse. „Es sei denn, ihr wollt für die nächsten zwei Wochen ohne Augenbrauen herumlaufen.“

Einige Novizen lachten. Genel wirkte verstört.

„Ich bin sicher, es wird ihr nicht auffallen“, versuchte Jarend ihn zu trösten.

Sein Freund verzog das Gesicht. „Wahrscheinlich hast du recht“, murmelte er düster. „Für sie bin ich doch völlig unsichtbar.“

Deswegen ist er also so niedergeschlagen, dachte Rothen. Genels Angebetete musste ihm einen Korb gegeben haben. Das erklärte zumindest, warum der Junge seit einigen Tagen so unaufmerksam und zerstreut war. Es störte Rothen nicht, wenn sich die Novizen in seiner Klasse für Mädchen interessierten, solange ihre Noten nicht darunter litten. Er nahm sich vor, Genel beiseite zu nehmen, sollte er nicht bald über dieses Mädchen hinwegkommen und wieder zu dem fleißigen Novizen werden, der er für gewöhnlich war.

Als er in die Gesichter der anderen Novizen blickte, bemerkte er, dass Genel nicht der Einzige war, den die Vorstellung sich die Augenbrauen zu verbrennen, entsetzte. Yannia blickte ihn auf seinen misslungenen Scherz hin mit vor Schreck geweiteten Augen an.

„Das wäre entsetzlich!“, entfuhr es ihr.

„Dann stell dich nicht so dumm an, wie du es sonst immer tust“, herrschte ihre Sitznachbarin sie an.

Rothen runzelte die Stirn. Veila kam aus einem sehr reichen und einflussreichen Haus und führte sich dementsprechend hochnäsig und herablassend auf. Neuerdings wirkte sie jedoch permanent wütend. Einen derartigen Zorn kannte er nur von schwierigen Novizen. Abgesehen von ihrer Arroganz war Veila jedoch eine ehrgeizige und wissbegierige Schülerin. Bis vor einigen Tagen hatte sie ihm nie Schwierigkeiten bereitet. Rothen begann sich zu fragen, ob zwischen ihrer Aggression und Genels Deprimiertheit irgendeine Verbindung bestand. War sie vielleicht das Mädchen, das Genel das Herz gebrochen hatte?

„Nur keine Sorge, die Augenbrauen wachsen wieder nach“, beruhigte Rothen seine Klasse. „Wenn ihr euch an die Vorgaben haltet, sollten sie dran bleiben.“

Seinen Novizen aufmunternd zulächelnd schritt er zwischen den Sitzreihen auf und ab und beobachtete sie bei ihrer Arbeit. Er war sich bewusst, wie sehr er diese jungen Menschen forderte, aber der Lehrplan schrieb Experimente dieser Art vor und es bereitete ihm Freude, solch anspruchsvolles Wissen zu vermitteln.

Er war so darin vertieft, seine Schüler zu beobachten, dass er zusammenzuckte, als eine barsche Stimme in seinem Kopf erklang.

- Rothen!

- Balkan?

- Kommt unverzüglich in Jerriks Büro.

- Meine Klasse führt gerade ein gefährliches Experiment durch, das ich nicht unterbrechen kann, antwortete Rothen mit aller Geduld, die er für den Krieger aufbringen konnte.

- Welcher Jahrgang?

- Fünfter. Es ist der Vertiefungskurs.

- Ich werde Lord Sarrin als Vertretung schicken. Sobald er eintrifft, macht Euch auf den Weg.

- Ja, Hoher Lord.

So, Lord Sarrin, dachte Rothen. Nach seinem Wechsel in den Ruhestand würde die ungeplante Abwechslung den betagten Alchemisten gewiss freuen. Was war so dringend, dass es nicht noch die halbe Stunde bis zum Unterrichtsende warten konnte?

Er seufzte und erhob seine Stimme. „Meine Damen, meine Herren, bitte hört mir einen Augenblick zu!“

Die Novizen unterbrachen ihre Arbeit und blickten ihn an.

„Ich bin soeben zu einer Besprechung gerufen worden“, teilte Rothen ihnen mit. „Deswegen werde ich leider den heutigen Unterricht nicht fortführen können. Doch bevor ihr in allzu großen Jubel ausbrecht, solltet ihr wissen, dass mich niemand Geringeres Lord Sarrin für den Rest dieser Stunde vertreten wird. Eure Hausaufgabe ist es, dieses Experiment zu protokollieren und eine detaillierte Auswertung und Interpretation zu schreiben.“

Die Novizen tauschten erfreute Blicke. Anscheinend waren sie alle neugierig darauf, wie es sein würde, von Lord Sarrin unterrichtet zu werden.

Das ist sicher einer der Vorteile, die es hat, zukünftige Alchemisten zu unterrichten, dachte Rothen. Im Gegensatz zu den Novizen, die andere Disziplinen erwählten, brachten sie die nötige Begeisterung auf und waren sogar enttäuscht, wenn der Unterricht einmal ausfiel.

Wenige Minuten später betrat er Jerriks Büro und sog überrascht die Luft ein. Sämtliche der höheren Magier hatten sich in dem kleinen Raum versammelt. Diejenigen, die keine Sitzgelegenheit mehr gefunden hatten, gingen entweder auf und ab oder standen mit vor der Brust verschränkten Armen da. Auf sein Erscheinen hin wandten alle ihm ihre Gesichter zu, so als hätten sie auf seine Ankunft gewartet.

Was Rothen jedoch am meisten überraschte, war, dass Akkarin dieses Mal Sonea mitgebracht hatte. Er stand hinter ihr und hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt, wie um sie zu beschützen. Er wirkte als Einziger ruhig und gelassen. Soneas Miene hingegen hatte diesen Ausdruck, den er inzwischen schon allzu gut von ihr kannte und der ihm jedes Mal das Herz zu zerreißen drohte. Immer wenn Rothen sie so sah, wurde ihm schmerzlich bewusst, wie erwachsen sie war und dass er nicht mehr für sie da sein konnte, weil sie ihren Weg gewählt hatte.

Und da erkannte Rothen, warum man ihn hergerufen hatte. Sonea hatte ihre Disziplin erwählt.

Als ihre Blicke einander begegneten, huschte ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht. Ob Akkarin ihr erzählt hat, dass ich mich als Einziger gegen die höheren Magier gestellt habe?

„Da wir nun alle versammelt sind, lasst uns diese Angelegenheit hinter uns bringen“, sprach Rektor Jerrik, nachdem Rothen seine Kollegen begrüßt hatte. „Da dieses Treffen Lord Akkarins Wunsch war, sollte er uns vielleicht auch den Anlass nennen.“

Er warf Akkarin einen kurzen, säuerlichen Blick zu.

„Ich denke, das sollte Sonea tun“, entgegnete dieser kühl.

Sonea wandte sich zu ihm um. Akkarin sagte etwas zu ihr, jedoch so leise, dass Rothen seine Worte nicht verstehen konnte. Als sie sich wieder umdrehte, wirkte sie ein wenig ruhiger. Sie holte tief Luft und straffte ihre Schultern.

„Heute Nachmittag hat mein Mentor mit mir ein Gespräch über die Wahl meiner Disziplin geführt“, begann sie. Ihre Stimme war ungewöhnlich eisig. „Lord Akkarin hat mich über einige Dinge informiert, die mir die Gilde vorenthalten wollte, obwohl sie wichtig sind, damit ich die richtige Entscheidung treffe. Ich billige nicht, was die höheren Magier getan haben. Ich habe dafür nichts als Verachtung übrig.“

Nacheinander blickte sie in die Gesichter der höheren Magier. Der Ausdruck in ihren Augen war ungewohnt kalt und ihre Gesichtszüge hatten ihre Sanftheit verloren. Mit einer grimmigen Befriedigung bemerkte Rothen, dass nur wenige Magier ihrem Blick standhielten und er hatte so eine Ahnung, dass sie eines Tages dieselbe Furcht wie Akkarin verbreiten würde.

„Was ich erfahren habe, hat mich sehr beunruhigt. Deswegen habe ich die Kriegskunst gewählt. Die meisten von Euch werden das sicher begrüßen. Aber ich tue das nicht für die Gilde. Ich tue es für Kyralia.“

Rothens Herz setzte einen Schlag aus. Sie hatte es tatsächlich getan. Und Akkarin hatte sie nicht davon abgehalten. Als er jedoch über ihre Worte nachdachte, musste er feststellen, dass er nichts anderes von Sonea erwartet hatte. Es war nicht das, was sie sich immer erträumt hatte, aber es entsprach ihren Prinzipien. Wenigstens hatte Akkarin dafür gesorgt, dass sie ihre Wahl frei treffen konnte.

„Läuft das nicht auf dasselbe hinaus?“, fragte Lord Garrel unwirsch, während er mit äußerst mürrischer Miene neben Balkan am Fenster lehnte.

„Akkarin und ich sind nicht Eure Assassinen“, sagte Sonea schneidend. „Wir sind hier, um Kyralia zu verteidigen. Unsere Loyalität gilt Kyralia und dem König. Der Gilde ist anscheinend nicht daran gelegen, das zu ändern. Denn sonst würdet Ihr es nicht vorziehen, mir die Wahrheit zu verschweigen und dabei in Kauf nehmen, dass ich die für uns alle falsche Entscheidung treffe. Ich bin weder ein Kind, das man vor Gefahren schützen muss, noch bin ich Euer Werkzeug. Ihr solltet Euch schämen.“

Betretene Stille trat ein. Rothen kam nicht umhin, Sonea für ihren Mut zu bewundern.

„Lord Akkarin, Ihr habt Euch nicht an unser Verbot gehalten!“, rief das Oberhaupt der Krieger schließlich. „Das beweist, dass Ihr nicht in der Lage seid, Eure persönliche Beziehung zu Eurer Novizin von ihrer Ausbildung zu trennen.“

„Ich habe nie gesagt, dass ich mich an dieses ‘Verbot’ halte“, entgegnete Akkarin kalt. „Euer Vorgehen zeugt nicht von den Werten, denen die Gilde sich verschrieben hat. Ich lehne diese Haltung ab und werde sie nicht an meine Novizin weitergeben. Sonea mag sich gemäß Euren Wünschen entschieden haben, doch sie hat es nicht für Euch getan.“

Sogar der Hohe Lord wirkte ob Akkarins Worten beschämt. Die Worte galten vor allem auch ihn. Er hätte es gar nicht so weit kommen lassen dürfen, doch Balkan war nicht gerade für seine Diplomatie und sein politisches Geschick bekannt. Als Krieger machte er alles zu einer Frage der Strategie.

Schließlich räusperte sich der Hohe Lord. „Nun, es lässt sich wohl nicht mehr ändern, dass wir jetzt zwei nur widerwillig kooperierende schwarze Magier haben“, sagte er, „was immer noch besser ist, als zwei überhaupt nicht kooperierende schwarze Magier. Nichtsdestotrotz begrüßt die Gilde Soneas Entscheidung. Sie wird die erste Kriegerin seit vielen Jahrgängen, wenn auch sie nach ihrer Ausbildung keine roten Roben erhalten wird. Dank ihr werden wir alle ruhiger schlafen können.“

Er wandte sich an Rektor Jerrik. „Arbeitet einen neuen Stundenplan für Sonea aus“, wies er ihn an. „Sie soll so bald wie möglich mit ihren neuen Kursen beginnen. Nach Möglichkeit schon morgen.“

„Das habe ich bereits, Hoher Lord.“

„Sehr gut.“ Die Hände in den Ärmeln seiner weißen Robe verschränkt, begann der Hohe Lord vor dem Fenster auf und ab zu gehen. Rothen fragte sich flüchtig, wessen Novizin Sonea eigentlich war. „Die bis zum Ende des Halbjahres verbleibende Zeit sollte ausreichen, damit Sonea den bisher versäumten Stoff aufholen kann.“ Balkans Blick fiel auf das Oberhaupt der Krieger. „Lord Garrel, hat Euer Neffe zu Beginn des Sommerhalbjahres nicht auch die Kriegskunst gewählt?“

„Ja, Hoher Lord. Das hat er.“

„Dann ist er sicher bereit, Sonea zu unterstützen, sollte sie mit ihren neuen Kursen Schwierigkeiten bekommen.“

Garrel erbleichte. Offenbar hatte ihm die Freundschaft zwischen Sonea und Regin nur behagt, solange sie ihm nützlich gewesen war, um seine Intrige gegen Akkarin zu spinnen. Rothen nahm an, das Oberhaupt der Krieger würde es inzwischen lieber sehen, wenn die beiden Novizen wieder erbitterte Feinde waren. Doch anscheinend ließ Regin sich von seinem Onkel in dieser Hinsicht nichts sagen.

„Regin wird ihr mit Freuden helfen“, versicherte der Krieger mit einem humorlosen Lächeln.

Rektor Jerrik räusperte sich. „Da wäre noch eine Sache, die bezüglich Soneas Entscheidung erwähnt werden sollte. Jetzt, wo sie die Kriegskunst gewählt hat, hat sie die Möglichkeit, Schwertkampf als Wahlpflichtfach zu belegen. Es genügt jedoch, wenn sie diese Entscheidung bis zum Beginn des Winterhalbjahres trifft, weil dieser Kurs nur anderthalb Jahre geht.“

Soneas Augen weiteten sich. „Schwertkampf?“, rief sie. „Ich bin eine Magierin!“

Dieser alberne Sport war bis vor kurzem eine Freizeitaktivität gewesen, die sich unter den Novizen, die Kriegskunst wählten, großer Beliebtheit erfreute. Lord Fergun hatte vor seiner Verbannung zum Fort am Nordpass lange dafür gekämpft, dass Schwertkampf offiziell zu einem Unterrichtsfach wurde. Erst nach seiner Strafversetzung hatte die Gilde beschlossen, einen freiwilligen Kurs daraus zu machen. Kein Novize sollte gezwungen sein, etwas zu lernen, das nichts mit Magie zu tun hatte, hatte es geheißen. Obwohl Rothen bis heute nicht begriffen hatte, wie Fergun damit durchgekommen war, kam er nicht umhin zu befürworten, dass die Novizen auf diese Weise die Chance auf körperliche Ertüchtigung erhielten, auch wenn sie noch so sinnfrei war, wie Schwerter für Magier.

Akkarin sagte leise etwas zu Sonea, woraufhin sich ihr Blick verfinsterte. Rothen verspürte ein jähes Mitgefühl. Sie würde sich um diese alberne Veranstaltung nicht drücken können.


***


Dorrien starrte auf die beiden Leichen, die einst Korten und Falken gewesen waren. Die Körper der beiden Männer waren so übel zugerichtet, dass ihr Anblick selbst einen gestandenen Heiler entsetzte. Einige Gliedmaßen waren verdreht oder standen in seltsamen Winkeln ab und beide Leichen waren mit blutigen Schrammen und Blutergüssen förmlich übersät. An einigen ungeschützten Körperstellen hatten sich Aasfresser zu schaffen gemacht.

Nachdem Dorriens Suchtrupp Felsenfeste verlassen hatte, waren sie einem Jäger begegnet, der die beiden Männer wenige Stunden zuvor entdeckt hatte und der von dem Fund völlig entsetzt gewesen war. Dorrien hatte sich von ihm den Weg zu der Stelle beschreiben lassen und den Mann dann zurück nach Felsenfeste geschickt, um die Dorfbewohner zu warnen.

Dem Grad der Verwesung und den zu dieser Jahreszeit in den Bergen herrschenden Temperaturen nach zu urteilen, waren Korten und Falken seit mindestens drei Tagen tot.

Dorrien ging neben den beiden Leichen in die Hocke. „Ihre Körpern weisen Verbrennungen auf sowie Kratzer oder Schnittwunden, die auf Kontakt mit Dornengestrüpp hindeuten könnten“, sagte er mehr zu sich als zu Kalin und Loken, die sich neben ihn gehockt hatten.

Er berührte Korten und sandte seine Magie in dessen Körper. Obwohl Dorrien in seinem Leben bereits mehrfach Leichen obduziert hatte, erfüllte es ihn jedes Mal mit leisem Grauen, wie einfach es war, in einen fremden Körper einzudringen, wenn die natürliche Barriere nicht mehr existierte.

„Korten hat innere Verletzungen. Aber das ist nicht die Todesursache“, murmelte er. „Sie wurden ihm nach seinem Tod zugefügt.“ Er runzelte die Stirn. „Seine Knochenbrüche weisen darauf hin, dass er gestürzt ist und seine Organe dabei verletzt wurden.“ Er blickte die Felswand hinauf. Kalin und Loken folgten seinem Blick. „Wenn er dort runtergefallen ist, muss er bereits oben gestorben sein.“

„Das würde bedeuten, die Bestie hat ihn getötet und dann die Klippe hinabgeworfen“, sagte Loken. Wenn der Anblick seiner toten Kameraden ihn entsetzte, dann zeigte er das nicht. „Welches Tier tut so etwas?“

Dorrien zögerte. Er war noch nicht sicher, wie er das Ergebnis seiner Obduktion interpretieren sollte. Er wandte sich zu der anderen Leiche.

Auch Falken war nach seinem Tod die Felswand hinunter gestürzt. Die Verletzungen, die er sich zuvor zugezogen hatte, waren dagegen allesamt nicht tödlich. Dorrien runzelte die Stirn. Dann erhob er sich und trat einen Schritt zurück und Verglich die Verletzungen der beiden Männer, in der Hoffnung irgendetwas zu finden, was ihm weiterhalf.

Auf den ersten Blick schien es, als sei Falken und Korten dasselbe zugestoßen, bloß mit dem Unterschied, dass ihre Verletzungen einander nicht exakt glichen. Ihre Rippen waren unterschiedlich gebrochen, die Verbrennungen waren an unterschiedlichen Stellen, ebenso wie die Schrammen und Blutergüsse auf ihrem Körper. Das machte Sinn, da sie unterschiedlich auf den Boden aufgeschlagen sein mussten, als sie von der Klippe gestürzt waren, wenn auch das nicht die Verbrennungen erklärte. Doch da war eine Verletzung, die bei beiden …

Dorrien hielt den Atem an. Falken und Korten hatten beide haargenau dieselbe Schramme an ihrem Hals. Auf der rechten Seite, direkt über der Halsschlagader.

Aufgeregt ging er neben Falkens Hals auf die Knie. Er drehte den Kopf des Toten ein Stück zur Seite und betrachtete die Wunde genauer. Es war keine Schramme, wie man sie sich beim Durchstreifen des Unterholzes zuzog. Solch saubere Wundränder entstanden nur durch einen sehr scharfen Gegenstand. Aber sie war dennoch zu oberflächlich, um zu töten.

Dorriens Herz setzte einen Schlag aus. Er wandte sich zu Korten und untersuchte dessen Hals. Die Wundränder waren so perfekt wie die seines Gefährten. Wie von einer scharfen Klinge, fuhr es Dorrien durch den Kopf. Jetzt ergaben auch die Verbrennungen einen Sinn. Eigentlich hätte er bereits bei den Pferden, die er in der Schlucht bei Hohenklüfte untersucht hatte, darauf kommen müssen. Aber es war auch nicht gerade der Normalfall, dass Menschen und Tiere im Stahlgurtgebirge von einem mittelschweren Betäubungsschlag verletzt wurden.

Als Dorrien die Leichen erneut untersuchte, gefror ihm das Blut in den Adern. Die Körper waren sämtlicher Magie entleert.

Er erhob sich und sah zu Kalin und Loken.

„Ich weiß jetzt, mit was für einer Bestie wir es zu tun haben“, sagte er. „Die Bestie, die das hier getan hat, ist menschlicher Natur. Sie ist das Gefährlichste und Verabscheuungswürdigste, was Menschen hervorbringen können: ein schwarzer Magier.“

Loken und Kalin erschauderten. Seit dem vergangenen Sommer hatten sie eine Ahnung, was das bedeutete. Aber es konnte nicht anders sein. Ein schwarzer Magier erklärte auf einen Schlag all die Seltsamkeiten, auf die Dorrien bei seiner Suche gestoßen war. Die Verletzungen, die Korten und Falken nach ihrem Tod zugefügt wurden, die Schnitte am Hals, die Verbrennungen an ihren Körpern und denen der Pferde bei Hohenklüfte. Es erklärte, warum sie nie auf eine Fährte gestoßen waren. Ein Magier, der nicht entdeckt werden wollte, wusste seine Spuren zu verwischen. Doch vor allem erklärte es, warum Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts verschwunden waren. Er musste sich seine Opfer nach ihrem magischen Potential ausgesucht haben.

„Glaubt Ihr, er hat auch die ganzen Leute, die verschwunden sind, getötet?“, fragte Kalin.

„Was, wenn es mehr als nur einer war?“, fügte Loken hinzu.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Dorrien. „Ich weiß nur eines sicher: Er muss aus Sachaka gekommen sein.“

Es gab nur zwei schwarze Magier in den Verbündeten Ländern. Akkarin und Sonea. Doch sie konnten es unmöglich gewesen sein, weil sie das Gelände der Gilde nicht verlassen durften. Wären sie ausgebrochen, so hätte die Gilde Dorrien gewarnt. Zudem konnte er sich nicht vorstellen, dass Sonea Kyralier tötete, um sich zu stärken. Selbst Akkarin musste Dorrien widerwillig so viel Anstand gegenüber seinen Landsleuten zugestehen.

In Sachaka hingegen war schwarze Magie nicht verboten. Einer dieser Barbaren musste über die Berge gekommen sein und dieses ganze Unheil angerichtet haben. Möglicherweise waren es auch zwei oder mehr, aber Dorriens Instinkt sagte ihm, dass sie dann schon früher auf eindeutigere Spuren gestoßen wären. Er bezweifelte, dass eine Gruppe schwarzer Magier sich die Mühe gemacht hätte, ihre Spuren zu verwischen.

Doch in jedem Fall mussten der oder die Eindringlinge aufgehalten und die Entführten, sofern sie noch am Leben waren, befreit werden.

Die Sachakaner hielten Sklaven, um sich an ihnen zu stärken. Wenn die Vermissten latentes magisches Potential besaßen, bestand die Möglichkeit, dass sie noch am Leben waren. Zumindest einige, korrigierte Dorrien sich. Die Frage, wie die Menschen gestorben waren, deren Leichen seine Leute in der Nähe von Oberjoch und Wildwasser gefunden hatten, war noch immer unbeantwortet. Waren sie eines natürlichen Todes gestorben oder waren sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen?

„Ich denke es besteht eine Chance, sie lebend zu finden“, sagte er. „Sachakanische Magier halten Menschen mit magischem Potential als Sklaven.“

Einen tiefen Atemzug nehmend, blickte er seine beiden Begleiter ernst an. „Allein werde ich ihn nicht stellen können. Ich muss Verstärkung aus Imardin anfordern. Kalin, reite noch heute zur Gilde. Geh zu Administrator Osen und sag ihm, was hier passiert ist. Die Magier neigen dazu, ihre Entscheidungen tagelang zu diskutieren. Mach ihnen klar, wie dringend das hier ist. Sag ihnen, dass ein schwarzer Magier aus Sachaka mehr als fünfzehn Menschen entführt hat und wir zwei von ihnen tot aufgefunden haben. Sag ihnen, dass ich versuche, den Mann aufzuspüren. Und dann verlangst du nach Akkarin und Sonea. Sie sind die Einzigen, die ihn aufhalten und die Vermissten retten können. Bring sie nach Windbruch.“

Kalins Augen weiteten sich. „Die beiden, nach denen wir im Sommer gesucht haben?“

„Genau die beiden“, bestätigte Dorrien und vertrieb die Erinnerungen an jenen Morgen, an dem er in den Bergen am Südpass patrouilliert hatte. Im Geiste sah er Sonea noch immer in Akkarins Armen schlafen. Selbst jetzt zog sich seine Brust bei dieser Erinnerung schmerzvoll zusammen.

Kalin nickte. „Ich mache mich sofort auf den Weg, Mylord.“

„Gut.“ Dorrien wandte sich zu seinem anderen Begleiter. „Loken, ich brauche deine Kenntnisse als Jäger, um den Sachakaner aufzuspüren und ihm unauffällig zu folgen. Du wirst mich begleiten.“

„Ja, Mylord“, sagte Loken. „Was ist mit den anderen, die unten warten?“

„Ich werde sie zurück nach Windbruch schicken. Zu zweit sind wir unauffälliger und sicherer.“

Der Gedanke, das Kullen beizubringen, erfüllte Dorrien mit Unbehagen, aber er wollte den Reberhirt nicht dabei haben. Inzwischen war ein Plan in ihm gereift. Während Kalin zur Gilde ritt, würde Dorrien gemeinsam mit Loken den Sachakaner aufspüren und ihm folgen. Und wenn Akkarin und Sonea eintrafen, würden sie ihn stellen und die Entführten befreien.

Er sah hinauf zu den Felsen. Dort oben mussten Falken und Korten angegriffen worden sein. Dort würden er und Loken mit der Suche beginnen.


***


„Was werden das für neue Kurse sein, von denen Balkan gesprochen hat?“ Sonea ergriff Akkarins ausgestreckte Hand und ließ sich von ihm auf einen Felsvorsprung oberhalb der Quelle ziehen. Gleich nach der Versammlung in Rektor Jerriks Büro waren sie hierher gekommen. Akkarin hatte auf den Spaziergang bestanden, damit sie ihre Gedanken ordnen konnte, wofür Sonea dankbar war. Was sie an diesem Nachmittag erfahren hatte, hatte sie zutiefst verstört. Es hätte Sonea gewundert, wäre ihm das entgangen.

Die Strahlen der Sonne waren lang geworden. Die hart umrandete Scheibe streifte die Wipfel der Bäume im Wald unter ihnen und sandte Balken aus Orange in das Unterholz. Sonea konnte kaum glauben, dass es schon so spät war. Nach Akkarins Besuch im Heilerquartier war ihr das Gefühl für die Zeit abhandengekommen.

Akkarin ließ sich auf dem Felsvorsprung nieder und bedeutete Sonea, sich neben ihn zu setzen. „Du wirst drei neue Kurse haben“, antwortete er, als sie neben ihm niedergelassen hatte. Er legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie zu sich. Anscheinend hatte er entschieden, für eine Weile nicht ihr Mentor zu sein. „Theoretische Kriegskunst, Strategie und Geschichte der Kriegskunst. Dazu kommt selbstverständlich dein praktischer Unterricht in der Arena.“

Sonea runzelte die Stirn. „Für mich klingt das alles, wie was ich bisher in Kriegskunst gelernt habe“, sagte sie. „Warum wird das in vier Kurse aufgeteilt?“

„Weil du diese Dinge von nun an sehr viel intensiver lernen wirst. Für jeden deiner neuen Kurse wirst du einen Lehrer bekommen, der auf seinem Gebiet ein Experte ist.“

Dann würde er sie also nicht selbst in diesen neuen Kursen unterrichten. Sonea verspürte eine vage Enttäuschung. Doch sie vertraute Akkarins Urteil. Seine Ansprüche waren hoch und er wollte, dass sie die bestmögliche Ausbildung genoss.

„Wirst du mich denn weiter in der praktischen Kriegskunst unterrichten?“

„Ja“, antwortete er.

Dann würde sie immerhin zwei Kurse bei ihm haben. Sofern man schwarze Magie als Kurs bezeichnen kann, fügte sie für sich hinzu.

„Und was ist mit meinen anderen Kursen?“, fragte sie weiter. Sie bezweifelte, sie würde alle behalten können. Ihr Stundenplan war bereits ziemlich voll.

„Du wirst weiterhin den Grundkurs in Alchemie besuchen. Architektur und Geschichte wirst du jedoch nicht mehr belegen können. Lady Vinara wird dich weiter in Heilkunst unterrichten. Sie wird dich von nun an auch das lehren was du bis jetzt bei Lady Indria und Lord Kiano gelernt hast, jedoch vorerst nur an zwei Doppelstunden pro Woche.“

„Oh“, machte Sonea. Das war erschreckend wenig Heilkunst. Tatsächlich war es sogar noch weniger als sie gedacht hatte.

„Wenn du den Rückstand in deinen neuen Kursen aufgeholt hast, wirst du wieder deine kompletten Stunden bei ihr belegen können“, fügte Akkarin hinzu. „Ich erwarte jedoch, dass du deiner gewählten Disziplin Vorrang einräumst.“

Sonea nickte. „Ja, Lord Akkarin.“

Sie lernte schnell. In ihrem ersten Jahr hatte sie eine ganze Klasse übersprungen und sie hatte gerade mehrere Wochen Rückstand aufgeholt, um das letzte Halbjahr nicht wiederholen zu müssen. Sie war sicher, sie würde bald auf dem Stand ihrer neuen Klassenkameraden sein und dann konnte sie wieder an vier Nachmittagen pro Woche von Lady Vinara unterrichtet werden. Von all ihren Heilkunst-Lehrern war das strenge und zuweilen sauertöpfische Oberhaupt der Heiler ihr am liebsten. Sie forderte sie, wo Lady Indria sanftmütig war und sie zeigte Verständnis, wo Lord Kiano uneinsichtig war.

Dennoch verspürte sie auch eine ungeahnte Wehmut. Ab dem nächsten Tag würde sie Trassia nur noch in Alchemie sehen. Sonea hoffte, Trassia würde ihr das nicht übelnehmen. Sie würde es vermissen, gemeinsam zum Unterricht zu gehen, sich einen Arbeitstisch zu teilen oder in der Bibliothek zu lernen. Dafür würde sie von nun an die meisten ihrer Kurse mit Regin haben.

Der Gedanke an Regin brachte Sonea zu der Frage, wie die Novizen in ihren neuen Kursen sein würden. Sie wusste, ihre Klassenkameraden Hal, Benon und Yarend hatten ebenfalls die Kriegskunst gewählt. Obwohl sie in Harrins Bande das einzige Mädchen gewesen war, bereitete Sonea die Vorstellung, nur mit halbwüchsigen Jungs in diesen Kursen zu sitzen Unbehagen. Sie war die erste Novizin seit Jahren, die die Kriegskunst gewählt hatte. Sie war sicher, ihre neuen Klassenkameraden würden es ihr nicht leichtmachen.

Sonea erschauderte als Akkarins kühle Finger eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht strichen. In der Abendluft hatte sie bereits zu frösteln begonnen.

„Was denkst du?“, fragte er.

Sie kuschelte sich ein wenig dichter an ihn. Sein angenehm herber Duft hatte eine beruhigende Wirkung, die ihre Sorgen weniger schwer erschienen ließ. „Ich denke darüber nach, was sich jetzt alles ändern wird.“

„Macht es dir Angst?“

„Nicht so sehr wie die Sachakaner. Aber ich frage mich, was mich in meinen neuen Kursen erwarten wird. Was, wenn ich scheitere?“

Sonea machte sich nichts vor. Die nächsten beiden Jahre würden hart werden. Doch sie würde nichts unversucht lassen, um Akkarin zu unterstützen.

„Sonea, das wird nicht passieren“, sagte Akkarin. „Du bekommst ausgezeichnete Lehrer, die sich um die kümmern werden. Du kannst mit Regin lernen.“ Er bedachte sie mit seinem Halblächeln. „Außerdem habe ich das alles auch einmal gelernt.“

Sie sah zu ihm auf. „Die Farbe deiner Roben lässt mich das leicht vergessen.“

Akkarin lachte leise und zog sie in seine Arme. Während die Sonne hinter den Dächern von Imardin versank und das Tageslicht allmählich zu schwinden begann, hielt er sie fest an sich gedrückt. Sonea genoss ihre stille Zweisamkeit. Es würde nicht immer so sein. Bis zu ihrem Abschluss würde sie nur sehr wenig Freizeit haben. So betrachtet war es gut, dass Akkarin sie wieder in schwarzer Magie unterrichten würde. Auch wenn es nicht dasselbe war, wie wenn sie als Paar zusammen waren, war sie glücklich, wenn sie überhaupt mit ihm zusammen war.

„Du frierst“, stellte Akkarin fest.

Er erhob sich und errichtete einen Wärmeschild um sie beide. Erst jetzt bemerkte Sonea, dass sie zitterte. Die Sonne war untergegangen und von den Bäumen unten im Wald streckte die aufziehende Dunkelheit ihre tastenden Finger nach der Hügelkuppe aus.

„Lass uns nach Hause gehen“, sagte er. „Takan wird bald mit den Vorbereitungen zum Abendessen fertig sein.“

Er streckte seine Hand nach ihr aus. Sonea ergriff sie und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen. Während sie zur Arran-Residenz zurückgingen, war sie ausnahmsweise einmal dankbar für den schnellen Schritt, den er anschlug. Trotz des Wärmeschilds fröstelte sie noch immer. Durch die Bewegung wurde ihr jedoch allmählich wärmer.

„Du hast mir noch nicht gesagt, was es mit diesem Wahlpflichtfach auf sich hat“, erinnerte Sonea, als sie in den Weg zu den Residenzen einbogen.

„Ah richtig, das Wahlpflichtfach!“ Akkarin machte eine Pause und runzelte die Stirn. „Schwertkampf ist seit etwa einem Jahr ein Wahlpflichtfach für Novizen, die Kriegskunst wählen. Davor war es eine reine Freizeitbeschäftigung. Dass es zu einem Unterrichtsfach wurde, ist wohl das einzig Gute, das die Gilde Lord Fergun zu verdanken hat.“

Sonea schnaubte leise. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie auch nur etwas Gutes an Fergun gewesen sein sollte. Er hatte ihren Freund Cery in den Tunneln unter der Universität gefangen gehalten, um sie zu erpressen. Akkarin hatte ihren Freund damals schließlich schmutzig und halb verhungert gefunden und Ferguns Intrige aufgedeckt.

Das einzig Gute an Fergun, überlegte Sonea, war sein Tod. Der Krieger war als Strafe für seine Vergehen zum Nordpass versetzt worden. Als die Ichani das Fort im Sommer überfallen hatten, hatte Fergun sich vor ihnen versteckt. Doch die Ichani hatten ihn gefunden und kurzerhand getötet. Soneas Mitleid hatte sich trotz ihres Entsetzens über das Massaker am Nordpass in Grenzen gehalten.

„Schwertkampf wird jetzt von Lord Kerrin unterrichtet“, fuhr Akkarin fort. „Wie du sicher schon in der Arena bemerkt hast, ist er alles andere, als ein ernstzunehmender Krieger. Dafür ist er mit dem Schwert nicht zu unterschätzen.“

Er lachte leise. Sonea fragte sich, ob Akkarin das wusste, weil gegen ihn gekämpft und ihn schließlich besiegt hatte. Doch sie behielt ihre Frage für sich, damit er nicht auf die Idee kam, dass sie Interesse an diesem Sport hatte.

„Was genau bedeutet ‘Wahlpflichtfach’?“, fragte sie stattdessen.

„Es bedeutet, dass du es nicht belegen musst. Entscheidest du dich jedoch dafür, wird es Bestandteil deiner Abschlussprüfung.“

Sonea stieß einen leisen Seufzer aus. Das heißt, sie würde es nicht belegen müssen.

„Sonea, ich wünsche, dass du Schwertkampf belegst“, sagte Akkarin streng. „Ich lasse dir bereits mehr Entscheidungsfreiheit, als ich müsste. Aber was dieses Wahlpflichtfach angeht, lasse ich nicht mit mir verhandeln.“

In einer rebellischen Geste schob sie ihr Kinn vor. „Warum?“, verlangte sie zu wissen. „Ich bin eine Magierin. Was soll ich mit einem albernen Schwert?“

„Schwertkampf schult die Ausdauer und die Reflexe. Dies geschieht zwar auf eine andere Art und Weise als in einem magischen Duell, aber es wird dir helfen, dich in der Arena oder auf dem Schlachtfeld zu konzentrieren. Deine Reaktion wird sehr viel schneller und besser sein, als sie es jetzt ist.“

Sonea bedachte Akkarin mit einem finsteren Blick. Irgendwie hatte sie das befürchtet, seit Rektor Jerrik das Thema angesprochen hatte.

„Hast du als Novize etwa auch Schwertkampf gelernt?“

Sie kannte die Antwort bereits, bevor sie die Frage ganz ausgesprochen hatte.

Akkarins Mundwinkel zuckten. „Selbstverständlich.“

Sonea schnitt eine Grimasse. Kein Wunder, dass er darauf bestand. Plötzlich begann sie laut zu lachen.

„Etwas anderes hätte ich bei jemandem, dessen größter Berufswunsch es einst war, Pirat zu werden, auch nicht erwartet!“

Aus den Augenwinkeln nahm sie Akkarins missbilligendes Kopfschütteln wahr. „Sonea“, sagte er streng. „Was du auch versuchst, meine Entscheidung steht. Denk an dein Versprechen.“

Sie senkte den Kopf. „Ich bitte um Verzeihung, Lord Akkarin“, sagte sie betont unterwürfig, aber nicht ohne Erheiterung.

„Wenn es dir so sehr widerstrebt, diesen Kurs zu belegen, genügt es mir, wenn du zum Winterhalbjahr damit anfängst“, sagte er ein wenig sanfter. „Bis dahin wirst du genug damit beschäftigt sein, den Stoff für deine neuen Kurse aufzuholen.“

Sonea begriff, dass sie mehr Entgegenkommen von ihm in dieser Hinsicht nicht erwarten brauchte. Sie versuchte, sich nicht allzu sehr darüber zu ärgern. Akkarin tat das nicht, um sie zu quälen. Er übte seine Funktion als Mentor mit einer Gewissenhaftigkeit aus, die Sonea nicht immer gefiel. Sie wusste, sie würde ihm eines Tages dafür dankbar sein, ganz besonders jetzt, wo sie sich dazu entschlossen hatte, sich ihm und seiner Sache vollständig und unwiderruflich anzuschließen.


***


„Mylord, das könnt Ihr nicht machen! Ihr könnt mich nicht nach Hause schicken, jetzt wo wir so nah dran sind!“ Kullens Gesicht hatte eine bedenklich dunkle Färbung angenommen, seine Augen waren geweitet vor Entsetzen über Dorriens Befehlsgewalt.

„Kullen“, sagte Dorrien beschwichtigend. „Der Mann, der deine Töchter entführt hat, ist ein noch viel stärkerer Magier, als ich es bin. Ich kann es nicht verantworten, euch mitzunehmen. Loken und ich werden ihn alleine aufspüren.“

Er und Loken waren zu dem Rest seines Suchtrupps zurückgeritten, um den anderen Männern von ihrem Fund zu berichten. Sie hatten die leblosen Körper von Korten und Falken mitgenommen. Kalin war bereits unterwegs nach Imardin.

Dorriens Männer hatten die Nachricht zunächst mit Schrecken aufgenommen. Inzwischen hatte jedoch wieder der stoische Gleichmut der Bergbewohner von ihnen Besitz ergriffen, was sie davor bewahrte, in schwierigen Situationen die Nerven zu verlieren.

Bis auf Kullen.

Der Reberhirt öffnete protestierend den Mund.

„Lord Dorrien hat recht.“ Loken legte eine Hand auf Kullens Arm. „Wir haben alles getan, was wir konnten. Alles andere ist jetzt Aufgabe der Magier. Ich begleite unseren Lord nur, weil ich Jäger bin und zuhause niemand auf mich wartet. “

Kullen verzog das Gesicht. Es war offensichtlich, wie sehr er in diesem Augenblick mit seiner Beherrschung rang.

„Wir werden dir Lina und Viana zurückbringen“, versprach Dorrien. „Und dafür sorgen, dass dieser Mann dafür bestraft wird. Darauf hast du mein Wort.“

Dorriens Plan, dem schwarzen Magier unbemerkt zu folgen, bis Akkarin und Sonea hier eintrafen, war gefährlich. Wenn man schnell ritt und oft das Pferd wechselte, brauchte man drei Tage bis Imardin. In diesem Fall würde es nicht sehr viel länger als eine Woche dauern, bis sie den Sachakaner stellen konnten. Dorrien kannte jedoch die Diskussionsfreudigkeit der Magier. Besser, er rechnete mit zwei Wochen oder mehr, in denen er sich nicht erwischen lassen durfte. Mit einem erfahrenen Jäger und Spurenleser an seiner Seite war das Risiko indes geringer.

Er unterdrückte ein Seufzen. Alles wäre einfacher, könnte er die Gilde per Gedankenrede direkt informieren. Aber damit hätte er den Sachakaner alarmiert und das ganze Vorhaben gefährdet. Und wer wusste, wer sonst noch alles mithörte.

„Danke Mylord“, sagte Kullen, wenn auch nur mäßig beruhigt. „Ich werde drauf zurückkommen.“

Dorrien nickte. Sein Blick schweifte über seine Männer und blieb schließlich bei dem zweiten Reberhirten in seiner Gruppe hängen.

„Gaden, gib mir deine Kleidung. Du bekommst dafür meine Robe.“

Gaden starrte ihn an, als wäre er nicht mehr ganz bei Trost.

Dorrien unterdrückte ein Seufzen. Angesichts seiner Entdeckung fiel es ihm schwer, die nötige Geduld mit seinen Männern aufzubringen. „Du hast in etwa meine Statur. Wenn ich Jagd auf den schwarzen Magier mache, sollte ich mich nicht als Gildenmagier zu erkennen geben“, erklärte er. „Sonst könnte es passieren, dass er mich auf der Stelle tötet.“

„Ach so“, machte Gaden. „Aber ist das nicht verboten?“

„Wir machen eine Ausnahme. Zuhause in Windbruch ziehst du wieder deine eigenen Sachen an.“

Er bedeutete dem Reberhirten, ihm hinter ein Gebüsch zu folgen. Dort errichtete er einen Wärmeschild, um sich und Gaden vor dem eisigen Wind zu schützen. Während er in die Kleider des Reberhirten stieg, verspürte Dorrien Dankbarkeit, weil der andere Mann so kooperativ war. Wenn die Bergbewohner sich nicht gerade vor ihm fürchteten, hielten sie ihn für einen Sonderling. Er unterdrückte ein Schnauben, als ihm bewusst wurde, dass die Angehörigen der Häuser ihn wahrscheinlich auch als das empfanden.

Als die Männer den Reberhirten in grünen Roben erblickten, begannen einige laut zu lachen.

„Müssen wir uns jetzt vor Euch verneigen, Lord Gaden?“, feixte Forren.

„Gerade du tätest wohl besser daran“, gab Gaden zurück.

Kullen gab ein Glucksen von sich.

Gaden fuhr herum. „Und du auch.“

Auch Dorrien hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen. „Gaden, du reitest nach Felsenfeste zu sprichst mit Kel. Berichte ihm von unserer Entdeckung. Wartet ein paar Tage für den Fall, dass der schwarze Magier noch in der Gegend ist, dann kehrt zurück nach Windbruch.“

„Ja, Mylord“, sagte Gaden unterwürfig, worauf die übrigen Männer in erneutes Gelächter ausbrachen. „Sollen wir Korten und Falken mitnehmen?“

„Ja. Ihre Familien sollen die Möglichkeit haben, sich von ihnen zu verabschieden.“ Dorrien wandte sich zu Loken. „Wir sollten aufbrechen. Ich würde gerne noch heute die Felsen untersuchen, von denen Korten und Falken gestürzt sind. Vielleicht finden wir dort Hinweise, die uns auf die Spur des Sachakaners führen.“

Loken nickte. „Ich bin bereit, Mylord.“

Dorrien lächelte schief. „Viel Glück euch allen“, wünschte er den anderen.

Eine halbe Stunde später waren sie wieder auf dem Weg zum Fundort der Leichen. Die anderen Männer hatten ihnen ihren Proviant überlassen, damit sie die nächsten zwei Wochen in der Wildnis überleben konnten. Dorrien war es lieber, wenn sie nicht jagen mussten. Das Risiko, dem Sachakaner in die Arme zu laufen, erschien ihm als zu groß. Zudem hatten sie ein paar zusätzliche Decken mitgenommen. Die Nächte würden nun immer kälter werden und Dorrien war nicht sicher, ob ein schwarzer Magier spüren konnte, wenn er Magie wirkte.

An einer Weggabelung wandten sie sich nach zu einem Weg, der stetig nach oben führte. Das Licht der tiefer sinkenden Sonne fiel schräg durch die fast kahlen Bäume. Schließlich endete der Wald vor einer Felswand. Nachdem Dorrien und Loken dem Weg ungefähr eine Meile entlang der Felswand gefolgt waren, hatten sie die Stelle erreicht, von der Korten und Falken gestürzt sein mussten.

Dorrien und Loken saßen ab und banden ihre Pferde an einen Baum. Vor ihnen stieg der Weg weiterhin an.

„Wonach soll ich Ausschau halten, Mylord?“, fragte der Schmied.

Dorrien nahm sich die Zeit, über diese Frage nachzudenken. Jemand, der nicht viel mit Magiern zu tun hatte, würde die typischen Anzeichen kaum als solche erkennen.

„Sieh nach, ob es Spuren eines Kampfes gibt, wie Blut oder Brandspuren“, antwortete er. „Oder etwas, das uns einen Hinweis darauf gibt, was mit Tulin und Hen geschehen ist. Am besten wäre, wenn wir Spuren finden, die von hier wegführen.“

Obwohl Dorrien vermutete, dass der Sachakaner die andere Hälfte des Suchtrupps mit sich genommen hatte, wollte er nicht ausschließen, dass sie irgendwo auf die Überreste von Tulin und Hen stießen. Fast hoffte er sogar, sie zu finden. Zumindest zog er dies der Ungewissheit vor.

Während der Schmied das Gelände absuchte, schloss Dorrien die Augen und streckte seine Sinne aus. Novizen lernten in ihrem ersten Jahr, ihre Aura zu verbergen. Doch die zusätzliche Magie eines schwarzen Magiers war aufspürbar, wenn dieser nicht wusste, wie er sie verbergen konnte. Dorrien hatte eine solche Aura gespürt, als er mit Sonea und Akkarin gegen den Ichani am Südpass gekämpft hatte.

Wenn der Sachakaner noch in der Nähe ist, werde ich ihn vielleicht durch seine Aura aufspüren, überlegte er. Womöglich besitzt er nicht einmal das Wissen, sie unaufspürbar zu machen.

Mehrere Minuten vergingen, in denen er angestrengt mit seinem Geist in seine Umgebung horchte, doch die einzige Präsenz, die er spüren konnte, war die Lokens.

Enttäuscht öffnete er die Augen und fand sich Loken gegenüber. Das Gesicht des Schmieds drückte offenkundige Verwunderung aus und Dorrien begann sich zu fragen, wie lange er dort bereits stand.

„Mylord, geht es Euch gut?“

Dorrien nickte. „Jeder Magier hat eine Aura, die für ihn einzigartig ist“, erklärte er. „So wie Fingerabdrücke.“ Er schüttelte den Kopf. Loken würde nicht wissen, wovon er sprach. „Oder wie die Spur eines Tieres. Selbst die Fußabdrücke zweier Bovar unterscheiden sich.“

Lokens Gesicht hellte sich auf, als er verstand. „Und das ist etwas, was nur Ihr finden könnt, weil Ihr auch ein Magier seid“, folgerte er.

„Richtig“, antwortete Dorrien. „Gildenmagier lernen ihre Aura zu verbergen, schwarze Magier sind jedoch sehr viel stärker, so dass ihre Aura dennoch spürbar ist. Ich habe versucht, den Sachakaner auf diese Weise zu finden, aber leider ohne Erfolg.“

Der Schmied wies ein Stück den Weg hinauf. „Dafür habe ich dort oben etwas gefunden, das wie Brandspuren aussieht. Wenn Ihr sie Euch anseht, könnt Ihr dann feststellen, ob sie durch Magie entstanden sind?“

Dorriens Herz machte einen Sprung. „Sehr gut, Loken!“, rief er und eilte den Weg entlang.

Die Brandspuren an den Felsen waren selbst in der einsetzenden Dämmerung nicht zu übersehen. Dorrien schuf eine Lichtkugel und besah sich die geschwärzten Stellen genauer. Er vermutete starke Betäubungsschläge oder auch mittelstarke Hitzeschläge.

Dorrien sah sich um. Der Weg war an dieser Stelle so schmal, dass sie hintereinander gehen mussten. „Seltsam“, sagte er. „Sieht fast so aus, als wären Korten und seine Männer ihm hier begegnet. Korten und Falken haben die Gefahr erkannt und sind geflohen, doch er hat sie erwischt, ihre Magie genommen und dann in den Abgrund gestoßen.“

„Und die anderen?“, fragte Loken.

„Ich hoffe, dass sie gefangen genommen wurden.“

Loken nickte nur. Sie beide kannten die Alternative.

Der Drang etwas zu unternehmen brannte heiß in Dorrien. Obwohl er nun wusste, womit sie es zu tun hatten, gab es keinerlei Anhaltspunkte, was das nächste Ziel des schwarzen Magiers war. Er war nur sicher, dass der Mann früher oder später den Südpass überqueren würde, um in seine Heimat zurückzukehren. So wie er auch nur von dort gekommen sein konnte. Denn der Südpass war der einzige unbewachte Übergang nach Kyralia.

Von Felsenfeste brauchte man etwa zwei Tage bis zum Südpass, wenn man den direkten Weg nahm. Mit einer Gruppe von Gefangenen, die vermutlich ausgehungert und erschöpft waren, würde der schwarze Magier jedoch langsamer vorankommen. Wenn Dorrien und Loken sich beeilten, dann hatten sie gute Chancen, ihn einzuholen, bevor er in der Wildnis auf der sachakanischen Seite verschwand.

Dorrien musste alles daran setzen, um den Sachakaner zu finden. Er konnte nicht untätig bleiben, bis Akkarin und Sonea hier eintrafen, während seine Leute in Gefahr waren.

Sofern die beiden schwarzen Magier überhaupt kamen. Vielleicht würde die Gilde nur ein paar Krieger als Verstärkung schicken, weil sie die Bedrohung nicht ernst nahm. Doch allein die Vorstellung, Sonea wiederzusehen, ließ Dorriens Herz höher schlagen.

„Lord Dorrien, was glaubt Ihr, warum wir nur Korten und Falken gefunden haben?“, riss Loken ihn aus seinen Gedanken.

„Entweder er hatte schon genug Sklaven oder er hat sie getötet, weil sie kein oder nur wenig magisches Potential haben“, antwortete Dorrien. Oder sie mussten sterben, weil sie ihm auf die Spur gekommen sind …

Der Schmied erschauderte. „Worauf warten wir noch, Mylord? Lasst uns das Ungeheuer finden!“

Dorrien lächelte grimmig. „Dann auf zum Südpass. Denn früher oder später wird er dort entlang kommen müssen, wenn er nicht bereits dort ist.“


***


Dannyl klappte das von Lord Sadakane verfasste Buch Magische Kriegsführung zu und schob es so weit von sich, wie es ihm nur möglich war. Was er gerade gelesen hatte, entsetzte ihn zutiefst. Die Experimente in Sadakanes anderem Werk, dessen Abschrift Tayend angefertigt hatte, erschienen ihm dagegen nahezu harmlos.

Magische Kriegsführung hingegen enthielt Anleitungen zur Herstellung einer Waffe mit verheerender Wirkung. Der eigentliche Bestandteil war ein Mineral, das fast ausschließlich in einer Lavawüste im Norden Sachakas vorkam. Durch langwieriges Experimentieren hatte Lord Sadakane herausgefunden, wie es auf künstliche Weise hergestellt werden konnte. Dazu musste der Anwender jedoch neben dem Wissen über schwarze Magie, das offenkundig die Grundvoraussetzung für Sadakanes Experimente war, die Alchemie sehr gut beherrschen. Selbst als ausgebildeter Alchemist war es Dannyl nur möglich gewesen, die Ansätze der Experimente zu begreifen. Zudem waren ihm viele der verwendeten Fachbegriffe fremd und er konnte weder sagen, ob sie in dem alten elynischen Dialekt, in dem die Bücher verfasst waren, gängige Begriffe der damaligen Alchemie waren oder ob es sich dabei um eine Art Geheimcode handelte. Doch trotz dieser Einschränkungen war Magische Kriegsführung kein Buch, das in die falschen Hände geraten durfte.

Unwillkürlich musste Dannyl an die Gruppe elynischer Rebellen denken, die er einige Monate zuvor festgenommen hatte. Nicht auszudenken, wenn diese Bücher in ihre Hände geraten wären!

Was wenn Bel Fiores Großonkel einer von ihnen gewesen war? Dass der Dem im Frühjahr gestorben war, bedeutete nicht, dass er vor seinem Tod nicht mit Dem Maranes Rebellen interagiert hatte. Nach allem, was die Bel ihm erzählt hatte, bezweifelte Dannyl das jedoch.

„Was hast du entdeckt?“

Dannyl schreckte aus seinen Gedanken hoch. Tayend betrachtete ihn mit einer Mischung aus Neugier und Sorge.

„Das willst du nicht wissen“, antwortete er. „Glaub mir.“

Sie saßen in dem großzügig geschnittenen Wohnzimmer auf Dem Callenes Landgut. Die laue Nachtluft flutete die durch die weitgeöffneten Türen und Fenster und trug das Zirpen unzähliger Zikaden mit sich. Obwohl es nicht kalt war, hatte Bel Fiore ein Feuer im Kamin entzündet.

„Kann es denn noch schrecklicher werden, als das, was wir in dem letzten Buch gefunden haben?“

Dannyl nickte. „Ich glaube, ich habe gerade erfahren, was die alte Gilde im letzten Krieg getan hat, um Sachaka zu verwüsten.“

Der Gelehrte erbleichte. „Bist du sicher?“

„Ja“, antwortete Dannyl. „Der Text erklärt es ziemlich deutlich.“

Er streckte seinen Willen nach seinem Weinglas aus. „Ich würde zu gerne wissen, wie diese Bücher es geschafft haben, der Vernichtung durch die Gilde zu entgehen“, murmelte er einen Schluck Wein trinkend.

Bel Fiore sah von Dem Callenes Tagebuch auf. Seit mehreren Tagen arbeitete sie sich durch die Aufzeichnungen ihres Großonkels um Hinweise darauf zu finden, woher er diese ganzen Bücher hatte.

„Noch mehr schwarze Magie?“, fragte sie.

„Ja“, bestätigte Dannyl. „Und zwar von ihrer finstersten Seite.“

Sofern eine derart finstere Kunst überhaupt noch finsterer werden kann, fügte er für sich hinzu.

„Dann ist es gut, dass wir hierher gekommen sind“, sagte die Bel. „Allein von den Titeln wäre ich gar nicht darauf gekommen, worum es sich bei diesen Büchern wirklich handelt!“

Dannyl betrachtete sie mitfühlend. „Nein, darauf hättet Ihr nicht von selbst kommen können“, stimmte er zu.

Wie unangenehm musste es sein zu erfahren, eine Bibliothek voll mit verbotenem magischen Wissen geerbt zu haben? Allein der Besitz von Büchern über schwarze Magie galt als Verbrechen. Dannyl und Tayend mussten diese Werke studieren, um zu erfahren, womit sie es zu tun hatten und um über ihre nächsten Schritte zu entscheiden. Und obwohl auch das strenggenommen verboten war, hatte Dannyl entschieden, lieber gegen ein Gesetz als gegen sein Gewissen zu verstoßen.

Die Bücher in Dem Callenes Keller handelten nahezu allesamt von schwarzer Magie, die meisten verfasst von Lord Sadakane. Die Titel ließen entweder nichts über den Inhalt vermuten oder nur, dass es sich um Magie handelte. Angesichts der Zeit, zu der Sadakane gelebt hatte, kam das nicht überraschend. Jemand, der sich mit Magie nicht auskannte, hätte unmöglich darauf kommen können, welch fürchterliches Wissen Ralend von Callene jahrelang in seinem Keller gehortet hatte.

Dannyl hatte mit Hilfe der Bücher die Utensilien aus dem Kellerraum identifizieren können. Einige waren alchemistische Instrumente, wie sie heute niemand mehr benutzte, andere wurden bei der Durchführung schwarzmagischer Experimente verwendet. Andere wiederum schienen das Resultat von vor langer Zeit durchgeführten Experimenten zu sein und waren möglicherweise von Lord Sadakane selbst erschaffen worden. Trotzdem wurde Dannyl das Gefühl nicht los, dass alles was sie entdeckten, nur noch weitere Fragen aufwarf.

Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Im Gegensatz zu seinem Freund hatte ihn das stundenlange Lesen ermüdet.

„Sollen wir schlafen gehen, Botschafter?“, fragte Tayend vorsichtig. Er rückte ein Stück näher zu Dannyl und berührte seine Hand.

Dannyl schüttelte den Kopf. Die Erinnerungen an das, was er soeben erfahren hatte, waren noch zu präsent und er fürchtete, davon in seinen Träumen heimgesucht zu werden.

„Eine etwas entspannendere Lektüre käme mir jetzt sehr gelegen“, sagte er, seine Müdigkeit mit ein wenig Magie vertreibend, während er seinen Kopf an Tayends Schulter lehnte.

Seit Bel Fiore ihnen zu verstehen gegeben hatte, dass sie von ihrer Beziehung wusste, teilten sie sich ein Gästezimmer. Dannyl hatte seine anfänglichen Bedenken einen weiteren Mitwisser zu haben, schnell überwunden. Es war so viel schöner, jeden Morgen gemeinsam aufzuwachen und er fand, er könne sich daran gewöhnen, wäre ihm nicht bewusst, dass er schon bald wieder zurück nach Capia musste.

„Ihr könnt mir mit den Tagebüchern helfen.“ Bel Fiore wies auf den Stapel neben ihrem Sessel. Ihre grünen Augen funkelten im Kerzenlicht und sie schenkte Dannyl ein ironisches Lächeln. „Ich wette, davon werdet Ihr sehr bald müde.“

Ralend von Callene hatte zu jenen Menschen gehört, die jedes Detail ihres Lebens akribisch festhielten. Dementsprechend groß war die Anzahl seiner persönlichen Aufzeichnungen. Seit die Bel die Verwaltung des Landguts erledigt hatte, tat sie nichts anderes mehr als die Tagebücher ihres Großonkels zu durchforsten, während Dannyl und Tayend sich mit den Büchern über Magie auseinandersetzten.

„Solange es mich von Magische Kriegsführung ablenkt, ist mir alles Recht“. Dannyl streckte seinen Willen aus und ließ das oberste Buch von Bel Fiores Stapel zu sich schweben. Begierig etwas Anspruchsloses zu lesen, schlug er es auf.

Es war vor über vierzig Jahren geschrieben worden. Zu jener Zeit war Dem Callene in seinen Dreißigern gewesen. Die Aufzeichnungen begannen mit einem Besuch bei seinem Großvater Dem Semelin in den Bergen nahe der Grenze zu Lonmar. Dannyl unterdrückte ein Gähnen, während er den Verlauf der Reise nachvollzog. Bel Fiore hatte nicht zu viel versprochen. Die ausführlichen Beschreibungen der wechselnden Landschaft hatten eine einschläfernde Wirkung. Erheiternd waren indes Dem Callenes Kommentare über seine Frau Freyrie, über die er sich allenthalben beklagte.

Diese Reise wäre weitaus weniger strapaziös, würde Freyrie öfter ihr Mundwerk halten, schrieb Dem Callene an einer Stelle. Als sie bereits die Hälfte der Reise zu Dem Semelin zurückgelegt hatten, folgte: Endlich ist sie eingeschlafen. Mir war bereits entfallen, wie lieblich die Stille doch ist.

Und einen Tag später: Sie ist eine Frau mit einem Auge für Schönheit. Wieso hat sie kein Auge für die Schönheit der Landschaft? Wieso kann sie nicht einfach ruhig sein und staunen? Mir ist unbegreiflich, wie ein einziger Mensch so viel reden kann!

Dannyl grinste unwillkürlich. Bel Fiores Großonkel hatte eine amüsante Art zu schreiben. Zudem schien er nicht allzu glücklich über seine Ehe zu sein. Dannyl nahm an, die Verbindung mit Freyrie war arrangiert worden. Dem Callenes gelegentliche Bemerkungen über seine Frau verliehen der Lektüre etwas Kurzweiliges. Nachdem er einige weitere Seiten über Dem Callenes Reise gelesen hatte, blätterte Dannyl zur Ankunft bei seinem Großvater vor. Ab da weckte das Tagebuch plötzlich Dannyls Interesse.

Nach dem Abendessen bat Großvater mich in sein Arbeitszimmer. Wir setzten uns und tranken einen sechs Jahre alten Porreni-Wein. Freyrie war bereits zu Bett gegangen. Nachdem sie mich drei Tage nur unterbrochen von einigen Stunden Schlaf mit ihrem Mundwerk penetriert hatte, genoss ich die Ruhe. Eine Weile saßen wir einfach nur da und tranken Wein. Wie ich ist Großvater nicht sehr gesprächig. Dies ist eine der Seiten, die ich sehr an ihm schätze.

Plötzlich und ohne jede Vorwarnung sagte Großvater: „Ralend, ich will dir nichts vormachen. In einigen Jahren werde ich sterben. Du hast deine Begeisterung für alte Bücher von mir geerbt. Deswegen werde ich dir meine Bibliothek vererben. Ich weiß, dass du sie nicht in falsche Hände geben wirst.“

Ich war sprachlos. Doch etwas daran, wie er das Wort Bibliothek aussprach, machte mir unwillkürlich klar, dass er etwas anderes meinte, als die Bücher in seinem Arbeitszimmer. „Das ist sehr großzügig von dir, Großvater“, sprach ich gänzlich überwältigt. „Von was für Büchern sprichst du?“

Großvaters hellblaue Augen blitzten verschwörerisch und er wirkte zehn Jahre jünger. Er stand auf und führte mich zu einem Regal, hinter dem sich eine Geheimtür befand. Dahinter war ein kleiner Raum, voll mit sehr alt aussehenden Büchern.

Wir betraten den Raum. Großvater zeigte mir einige der Einbände. Er sagte, ich dürfe sie studieren, schärfte mir jedoch ein, ihre Existenz für mich zu behalten. Als ich nach dem Warum fragte, sagte er, es handele sich um verbotenes Wissen, das jedoch nicht vollständig in Vergessenheit geraten dürfte. Er selbst habe die Bücher von seinem Vater geerbt. Mehr bekam ich an diesem Abend jedoch nicht aus ihm heraus. Als ich später im Bett lag – zu meinem Glück schlief Freyrie tief und fest – grübelte ich darüber nach, von welchem verbotenen Wissen mein Großvater gesprochen haben mochte. Aber ich stellte alsbald fest, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte.


Am unteren Rand der Seite befand sich eine mit einer anderen Tinte hastig gekritzelte Notiz.

Nachtrag: Für eine Weile gerieten Großvaters Bücher in Vergessenheit. Ich fand erst mehr heraus, als Großvater zwei Jahre später starb.

Dannyl sah auf. Die von Dem Callene verfassten Zeilen hatten seinen Forschergeist aufgeweckt. „Ich brauche das Tagebuch aus dem Jahr, in dem Dem Semelin gestorben ist“, sagte er aufgeregt.

Tayend und Bel Fiore starrten ihn an.

„Hast du etwas gefunden?“, fragte der Gelehrte.

Dannyl nickte und sah zu Bel Fiore. „Ich denke, jetzt weiß ich, woher Euer Großonkel diese Bücher hat.“


***


„Hier ist Soneas neuer Stundenplan.“ Mit sichtbar nervösem Gesichtsausdruck reichte der Rektor Akkarin einen Bogen Papier. „Die Abendstunden habe ich für Euren …“, er machte eine Pause und runzelte die Stirn, „ … Unterricht freigehalten. Ich hoffe, alles entspricht Euren Wünschen.“

Akkarin nahm den Plan entgegen und begutachtete ihn. Der Rektor betrachtete ihn derweil unbehaglich.

Sonea unterdrückte ein Grinsen. Immer wenn Jerrik gezwungen war, sich ohne die Unterstützung der höheren Magier in einem Raum mit Akkarin aufzuhalten, wurde er plötzlich ausgesprochen furchtsam und unterwürfig. Inzwischen beinhaltete das für sie eine gewisse Erheiterung.

„Ein guter Stundenplan für einen Novizen, der im vierten Jahr Kriegskunst wählt“, sagte Akkarin schließlich. „Die Lehrer in Soneas neuen Kursen sind die besten auf ihrem Gebiet. Ich habe keine Einwände.“

„Das freut mich zu hören.“

Jerrik wirkte erleichtert. Er reichte Sonea eine Kopie, die sie sofort eingehend studierte. Zu ihrer Freude stellte sie fest, dass ihre Nachmittagskurse bei Akkarin und Lady Vinara bestehen geblieben waren. Ebenso wie ihr Alchemiekurs bei Lord Elben. Jedoch hatte sie jetzt vier Mal pro Woche eine Doppelstunde praktische Kriegskunst in der Arena. Jeden Abend nach dem Essen hatte Jerrik zudem zwei Stunden für „Privatunterricht bei Lord Akkarin“ reserviert. Es war eine sehr vage Bezeichnung, die alles Mögliche bedeuten konnte. In ihrem Fall bedeutete es jedoch schwarze Magie.

Ein Schauer aus Furcht und Erregung rann Soneas Wirbelsäule hinab. Heute Abend würde sie ihre erste offizielle Stunde in dieser fragwürdigen Disziplin haben. Es war alles so schnell gegangen. Gestern Morgen noch war meine größte Sorge, was die anderen Novizen von mir denken, jetzt wo sie wissen, dass Akkarin und ich heiraten. Ich habe mir keinen einzigen Augenblick Gedanken über die Pläne der Sachakaner gemacht. Und jetzt ist es schon soweit, heute werde ich zum ersten Mal meine neuen Kurse haben.

Soneas erste beiden Stunden an diesem Tag waren Strategie bei einem Lord Daron. Der Name sagte ihr nichts und sie fragte sich, wie ihr neuer Lehrer wohl sein würde. Theoretische Kriegskunst würde sie bei Lord Vorel haben. Das war insofern begrüßenswert, weil sie ihn trotz seiner Strenge mochte. Sie hatten keinen guten Start gehabt, weil Regin ihr einst während seines Unterrichts einen Diebstahl untergeschoben hatte. Vorels Einstellung ihr gegenüber hatte sich jedoch geändert, nachdem sie sich den Respekt der Lehrer und Novizen erarbeitet hatte. Es überraschte sie nicht, dass Geschichte der Kriegskunst bei dem mürrischen Lord Skoran stattfinden würde. Neben Lord Solend war er der zweite Historiker der Gilde.

Danach würde sie wie in den Wochen zuvor bis zum Mittagsessen Alchemie mit Trassia haben. Bei dem Gedanken an ihre Freundin sank Soneas Herz. Inzwischen musste sich die Neuigkeit in der gesamten Universität herumgesprochen habe. Sie wünschte, sie hätte die Möglichkeit gehabt, es Trassia persönlich zu sagen.

„Lord Akkarin, Ihr solltet zur Kenntnis nehmen, dass Sonea in Eurem eigenen Privatunterricht weder Prüfungen ablegen wird, noch werden ihre Leistungen beurteilt“, fuhr Jerrik unsicher fort.

„Das ist mir bewusst, Rektor“, erwiderte Akkarin kühl. „Zumal ihre Leistungen in diesem Kurs nur im Vergleich mit meiner Person beurteilt werden könnten, was reichlich anmaßend wäre.“

Seine Worte schienen Jerrik nur mäßig zu beruhigen. „Natürlich, Lord Akkarin“, sagte er unterwürfig.

Akkarin nahm das mit einem kaum merklichen Nicken zur Kenntnis. „Komm, Sonea“, sagte er. „Der Unterricht beginnt gleich. Ich begleite dich noch zu deiner ersten Stunde.“

Während sie durch die Flure schritten, füllten sich die Flure mit Novizen, die ihnen mit offenen Mündern hinterher starrten. Sonea fühlte sich in ihrer Vermutung bestätigt. Jeder in der Universität wusste, dass sie sich für die Kriegskunst entschieden hatte.

„Bist du nervös?“

Sie wandte den Kopf und sah zu Akkarin auf. „Ein wenig.“

„Einige deiner neuen Klassenkameraden kennst du bereits. Sie werden dir deinen Einstieg erleichtern.“

Sonea runzelte die Stirn und warf ihm einen zweifelnden Blick von der Seite zu. „Wieso sollten sie das?“

„Weil du seit langer Zeit die erste Novizin bist, die Kriegskunst als Disziplin gewählt hat. Sie werden dich respektieren. Noch mehr, als sie es bereits tun.“

Sonea hoffte, er habe damit recht. Glauben würde sie das jedoch erst, wenn dieser Tag vorbei war.

Vor einem Klassenzimmer im zweiten Stock blieben sie stehen.

„Wir sehen uns heute Nachmittag in der Arena“, sagte Akkarin. „Ich wünsche dir einen schönen Vormittag.“

Sonea lächelte. „Vielen Dank, Lord Akkarin“, sagte sie und verneigte sich.

Ein Novize eilte vorbei. „Guten Morgen, Lord Akkarin“, grüßte er. „Sonea.“

Sonea fuhr herum. „Hallo Regin.“

Regin blieb stehen, um sich vor Akkarin zu verneigen. Dann sah er zu Sonea und ein feixendes Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. „Dann werden wir von nun an also wieder erbitterte Feinde sein.“

Sonea musterte ihn kühl. „Sieht ganz so aus. Trotzdem kann ich dich jederzeit in der Arena fertigmachen.“

Etwas Kühles berührte ihre Wange. Akkarin.

- Viel Spaß, wünschte er. Sei nicht zu hart zu Regin.

Sie grinste.

- Er wird nur bekommen, was er verdient, erwiderte sie und sah zu ihm auf.

Akkarins dunkle Augen blitzten. Dann wandte er sich um und schritt mit wallenden Roben davon. Sie starrte ihm hinterher.

Regin schubste sie an. „Wach auf“, sagte er. „Du wirst noch oft genug Gelegenheit haben, ihn anzuschmachten.“

Sonea funkelte ihn an. „Eifersüchtig?“, fragte sie mit betonter Gleichgültigkeit.

Regin zuckte die Achseln. „Selbst wenn, könnte ich mit ihm kaum mithalten.“

Nein, das kannst du nicht, dachte sie. Ihr Herz begann zu rasen und das Gefühl von Unbesiegbarkeit kehrte zurück.

„Komm“, sagte Regin. „Wir haben noch etwas Zeit, bevor Lord Daron kommt.“

Sonea nickte und folgte ihm ins Klassenzimmer. In der vorletzten Reihe entdeckte sie Hal und Benon, die ihr zunickten. Alle Plätze, bis auf einen Fensterplatz in der ersten Reihe und einen Platz ganz hinten waren bereits von anderen Novizen aus der nächsthöheren Klasse belegt, die Sonea nur flüchtig kannte. Entweder sie mussten diesen Kurs wiederholen oder sie hatten sich verspätet für diese Disziplin entschieden.

Als Regin auf den vorderen freien Platz zusteuerte, schritt sie wie selbstverständlich zu dem Platz am anderen Ende des Klassenzimmers. Regin hielt stirnrunzelnd inne.

„Farlend“, herrschte er den rothaarigen Novizen an, der links von dem freien Stuhl in der ersten Reihe saß. „Verzieh dich nach hinten.“

Farlend gehorchte ohne Protest. Er klemmte sich seine Bücher unter den Arm und eilte an Regin vorbei zu dem Platz, auf den Sonea sich hatte setzen wollen. Sonea sah ihm verwundert hinterher und wandte sich dann zu Regin.

„Sonea, neben mir ist noch ein Platz frei“, sagte er. „Du kannst dich dorthin setzen.“

Sie zögerte. „Regin, das geht doch nicht“, begann sie.

Regin verdrehte die Augen. „Sei kein Mädchen!“, rief er. „Du gehörst jetzt zu uns.“

Sonea blinzelte verwirrt und setzte sich dann ohne jeden weiteren Kommentar auf den nun frei gewordenen Platz. Erfreut stellte sie fest, dass sie von hier einen guten Blick auf die Tafel hatte.

„Danke“, flüsterte sie.

Regin zuckte die Schultern. „Du bist jetzt eine Kriegerin. Da ist kein Platz für das Mädchen in dir. Merk dir das.“

Sonea schnaubte. „Mädchen!“, entfuhr es ihr. „Ich wollte nur höflich sein.“

Regin bedachte sie mit einem wissenden Blick. Bevor er jedoch noch etwas erwidern konnte, betrat ein rotgewandeter Mann mit wirren, schlohweißen Haaren das Klassenzimmer.

„Lord Daron“, zischte er ihr zu.

Lord Daron legte die Bücher, die er unter seinen Arm geklemmt hatte, auf sein Pult und warf einen Blick in die Runde. „Guten Morgen meine Herren“, grüßte er.

Die Novizen erhoben sich und verneigten sich vor ihm. So auch Sonea.

„Guten Morgen, Lord Daron.“

Darons Blick fiel auf Sonea. „Ah, ich sehe, wir haben Zuwachs bekommen“, bemerkte er. „Sonea, richtig?“

Sie nickte. „Ja, Mylord.“

„Willkommen in meinem Kurs.“ Die Miene des Kriegers drückte weder Furcht noch Missbilligung aus. Jedoch auch keine übertriebene Freundlichkeit.

Es scheint ihn nicht zu kümmern, wer oder was ich bin, stellte Sonea erleichtert fest. Die wenigsten ihrer Lehrer waren so. Entweder sie fürchteten sie, weil sie eine schwarze Magierin war, oder sie sahen auf Grund ihrer Herkunft auf sie herab, oder sie versuchten ihr zu schmeicheln, weil sie Akkarins Novizin war. Meistens war es sogar eine verwirrende Mischung aus diesen Dreien. Dabei wünschte Sonea sich nichts sehnlicher, als so wie die anderen Novizen behandelt zu werden.

„Nach dieser Stunde bleibst du noch da, damit ich dich über die bisherigen Inhalte dieses Kurses in Kenntnis setzen kann“, sagte Lord Daron. „Ich werde dir außerdem eine Liste von Büchern geben, mit denen wir in diesem Halbjahr arbeiten. Bis dahin teilst du dir ein Buch mit Regin.“

„Ja, Mylord“, wiederholte Sonea.

Der alte Krieger bedeutete seiner Klasse, wieder Platz zu nehmen. Sonea schob ihren Stuhl zu Regins Pult.

„Schlagt eure Bücher bei Kapitel zwölf auf. Wer kann mir sagen, welche Vorteile die Dreieckformation gegenüber der Kreisformation hat?“

Mehrere Novizen meldeten sich, darunter auch Regin. Sonea starrte sie an. Sie hatte keine Ahnung, worum es ging.

„Ja? Farlend?“

„Die Dreiecksformation kann bereits mit drei Magiern gebildet werden“, antwortete der Novize. „Für eine gute Kreisformation benötigt man jedoch mindestens acht Magier. Der Schild ist an jeder Seite des Dreiecks am stärksten, weswegen man am besten vor dort angreift. Allerdings sind die Ecken schwieriger zu schützen und daher anfälliger für einen Angriff.“

„Sehr gut, Farlend.“

Sonea unterdrückte ein Stöhnen. Dieser Unterricht würde alles andere als einfach werden.

„Ich leihe dir meine Notizen, wenn du willst“, raunte Regin ihr zu.

„Danke“, murmelte sie.

Zwei entsetzliche Stunden später waren sie auf dem Weg zu Alchemie. Sonea hatte alles, was im Unterricht besprochen worden war, notiert und versucht es zu verstehen. Inzwischen fragte sie sich jedoch, ob sie nicht doch die falsche Entscheidung getroffen hatte. Wenn jede Stunde Strategie so würde, dann wusste sie nicht, wie sie die Winterprüfungen bestehen sollte.

„Was machst du so ein grimmiges Gesicht?“, fragte Regin, während sie die Treppen in den dritten Stock erklommen. „Die anderen Novizen haben richtige Angst vor dir.“

Sonea betrachtete die Novizen, die ihnen entgegen kamen, und musste wider Willen lachen. Tatsächlich wirkten nicht wenige nervös. Anstatt wie so oft zu tuscheln, wichen sie sogar ohne Soneas alberne Eskorte furchtsam zu den Wänden zurück.

Nachdem ihre Beziehung offiziell geworden war, hatte Sonea darauf bestanden, dass die ständige Begleitung durch Regin und seine Freunde aufhörte. Sie bezweifelte, dass jetzt noch irgendjemand es wagen würde, sie zu schikanieren. Trotzdem schlossen sich Kano und Alend ihnen noch immer an, wenn sich ihnen die Gelegenheit bot. Sonea schwante, sie taten das hauptsächlich, um sich wichtig zu machen.

„Als ob die mich nicht auch sonst fürchten würden“, bemerkte sie.

„Nur weil du Kriegerin wirst, musst du nicht alle noch mehr in Angst und Schrecken versetzen, als du es sonst tust“, sagte Regin. „Also, was ist mit dir?“

Sonea seufzte. „Ich frage mich, wie ich Lord Darons Unterricht überleben soll.“

Regin zuckte die Achseln. „Mach dich nicht wegen des alten Fossils verrückt. Keiner der Novizen findet seinen Unterricht gut und keiner kann ihn wirklich ausstehen. Ich habe ein paar Novizen aus dem fünften Jahr gefragt, die er auch unterrichtet. Sogar sie finden sein Unterricht ist ein effektiveres Schlafmittel, als ein Becher Nemmin. Glaub mir, das Beste an Kriegskunst ist der Unterricht in der Arena.“

Sonea betrachtete Regin zweifelnd. Sie wusste nicht, wie ihr die Gewissheit, dass keiner Lord Daron leiden konnte, dabei helfen sollte, Strategie zu verstehen. Vielleicht würde es besser, wenn sie Regins Notizen des bisherigen Halbjahres durchgearbeitet hatte. Sie durfte nicht erwarten, den Unterrichtsstoff zu verstehen, wenn sie nach zwei Monaten dazustieß.

Trassia war bereits im Alchemieraum. Als sie Sonea erblickte, begann sie über ihr ganzes Gesicht zu strahlen.

„Da bist du ja endlich!“

Sie sprang auf und lief auf Sonea zu.

„Trassia“, begann Sonea mit wachsendem Unbehagen. „Ich weiß, ich hätte dich vorwarnen sollen, aber es kam alles so plötzlich. Gestern Nachmittag hat Akkarin sich mit mir über mein Studium unterhalten und da habe ich meine Disziplin gewählt. Heute Morgen habe ich meinen neuen Stundenplan bekommen und danach hatte ich sofort meine neuen Kurse. Ich hatte keine Chance, es dir zu sagen.“

Ihre Freundin winkte ab. „Ich bin nicht überrascht, dass du dich für die Kriegskunst entschieden hast.“

„Oh“, machte Sonea. „Warum?“

„Weil die Heilkunst nach diesem Sommer nicht mehr das Richtige für dich gewesen wäre.“ Trassia fiel ihr um den Hals. „Nur ohne dich war Heilkräuter so viel langweiliger.“

„Glaub mir, ich habe mich heute Morgen auch sehr gelangweilt“, gestand Sonea.

Trassia machte große Augen. „Du musst mir nachher beim Mittagessen unbedingt alles ganz genau erzählen!“

Regin verdrehte die Augen. „Weiber!“, sagte er verächtlich und schritt zu seinem Platz, von wo aus er ein Gespräch mit Hal und Benon begann, die bereits auf ihren Plätzen saßen.

Sonea und Trassia kicherten.

„Wie hast du das vorhin gemeint?“ Sonea schob ihre Freundin auf Armeslänge von sich, so dass sie einander ansehen konnten. „Woher wusstest du, dass ich die Kriegskunst wähle?“

„Ich wusste es, seit wir uns beim Mittagessen darüber unterhalten haben“, antwortete Trassia. „Mit jeder anderen Disziplin hättest du verraten, wofür ihr gekämpft habt und wofür ihr einsteht.“

Narron und Seno betraten das Klassenzimmer. Als sie die beiden Novizinnen erblickten, die sich noch immer in den Armen hielten, stießen sie einander kichernd an.

Sonea betrachtete sie finster. „Habt ihr ein Problem?“, fragte sie.

„Nein, nein“, sagte Narron schnell, während Seno sie nur verstört anstarrte.

Bevor Sonea eine schlagfertige Erwiderung finden konnte, rauschte Lord Elben in den Raum und forderte die Klasse auf, ihre Plätze einzunehmen.
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