Dies Irae
von Maline
Kurzbeschreibung
[post Staffel 3] Sie waren überrannt worden. Von einem Moment auf den anderen war die Hölle ausgebrochen und ehe Daryl es sich versah, stand er wieder alleine da. Alleine, mit Judith. Was gab es schon schöneres in dieser Welt, als sich mit einem schreienden Baby durch einen Wald voller Beißer zu schlagen? Ach ja, doch da gab es ja doch das eine: dabei vom eigentlich toten Bruder verfolgt zu werden, der einem unentwegt saudumme Ratschläge zu geben versuchte.
GeschichteFamilie, Horror / P18 / Gen
Daryl Dixon
Merle Dixon
Rick Grimes
31.05.2013
07.11.2013
12
38.714
16
Alle Kapitel
48 Reviews
48 Reviews
Dieses Kapitel
8 Reviews
8 Reviews
31.05.2013
2.904
oooOOOooo
Oh mein Gott! Es ist vollbracht. Es lebt! Haha, nun ja, so ganz lebt die FF noch nicht, aber ich habe mir ein sattes Kapitelpolster angefuttert und wage mich einfach mal dran, das hier hochzuladen. Solange mich keine jahrelange Schreibblockade packt, dürften wir zügig durchkommen.
Wie immer bei mir: keine Romanzen (schon gar kein Caryl!), sondern nur Daryl, Merle und ausnahmsweise ein Baby. Die FF ist, wie bereits erwähnt, nach Staffel 3 angesiedelt. Man wird sich wundern: Seltsam, Merle ist doch schon tot, aber ich lasse den Kerl nicht vom Haken, ehe er und Daryl ihren Seelenfrieden miteinander gefunden haben. Fertig. Aus.
Der Titel der Geschichte ist (wie manche evtl. wissen) lateinisch und bedeutet Tag des Zorns. Dies Irae ist zeitgleich auch der Anfang eines mittelalterlichen Hymnus vom Jüngsten Gericht und gehörte zur Totenmesse. Ich fand es einfach unheimlich passend.
Daryl ist stinkwütend und Totenmesse … nun ja, wann passt das besser, als während der Zombieapokalypse ;)
Nach diesem reichhaltigen Vorwort nun viel Spaß beim Lesen!
P.S. ich entschuldige mich jetzt schon mal dafür, dass in dieser FF allgemein wenig geredet wird und nicht viel passiert…
oooOOOooo
1. Tag des Zorns
Daryls Herz schlug ihm noch immer bis zum Hals. Das Adrenalin, das zuvor durch seinen Körper gepumpt worden war, löste sich langsam in Wohlgefallen auf und ließ neben seinem rasenden Herzen nur noch Erschöpfung und Müdigkeit zurück.
Dumpf spürte er jetzt seine Rippen pochen. Er hätte den Sturz vermeiden können, wenn er nur die Hände frei gehabt hätte…
Mit dem Handrücken wischte er sich fahrig übers Gesicht. Schweiß lief ihm in die Augen und ließ ihn beinahe ununterbrochen blinzeln, während seine Haare ihm nass an den Schläfen klebten. Für einen kurzen Moment erlaubte er es sich, die Augen zu schließen, den Schweiß Schweiß sein zu lassen, seinen Kopf gegen das Lenkrad zu betten und all den Wahnsinn um sich herum zu vergessen. Wenigstens für einen kurzen Augenblick.
Nach einem gefühlten Herzschlag wurde seine Atempause jäh von einem lautstarken Quäken unterbrochen. Seufzend blickte er abermals auf und lehnte sich zum Beifahrersitz hinüber, auf dem er den Karton abgestellt hatte. Den Karton, der ihnen anfänglich als Babybett gedient hatte.
Als Daryl das Baby im Karton müde anblinzelte, sah die kleine Nervensäge ihn bereits aus erwartungsvollen Augen an und verzog den Mund zu einem beinahe zahnlosen Grinsen. Erneut gab sie dieses quäkende Glucksen von sich, als wäre sie momentan vollkommen zufrieden mit sich und der Welt im Allgemeinen.
Sie wusste nichts von den Beißern, die Menschen in Stücke rissen, wusste nichts von der Welt, die um sie herum zu Grunde ging, oder dem Krieg, den ihr Vater gegen diesen völlig wahnsinnigen Bastard aus Woodbury geführt hatte. Judiths ganze Welt bestand momentan aus ihrem kleinen Karton, oder aber, wenn man ihre Welt um ein kleines bisschen erweiterte, aus dem sicheren Innenraum des altersschwachen Wagens.
Alles andere zählte nicht.
„Na Hauptsache du hast was zu lachen“, brummte Daryl und stupste Judith seinen Zeigefinger in den Bauch. Könnte er die Welt nur ebenso sehen.
Judith neben ihm quietschte vergnügt auf und versuchte mit ihrer kleinen dicken Hand nach Daryls Finger zu greifen. Er ließ es zu, zu müde, um der kleinen Nervensäge ihren Wunsch zu verwehren.
Sie waren überrannt worden. Von einem Moment auf den anderen war die Hölle ausgebrochen und alles, auf das sie sich all die Zeit vorbereitet hatten, schien von einem Moment auf den anderen vergessen gewesen. Wochenlang hatte sie einen Vergeltungsschlag erwartet, waren in angespannter Lauerstellung bei jeder noch so kleinen Regung zusammengezuckt, denn nach wie vor war der Governor, dieser irre Bastard, am Leben und mit einer solchen Niederlage gaben sich so größenwahnsinnige Idioten wie er niemals ab.
Doch als die Rauchgranaten ihnen von einem Moment auf den anderen die Sicht genommen hatten, Schüsse durch die Luft gezischt und Querschläger von Wänden geprallt waren, waren die ehemaligen Woodburybewohner in Panik ausgebrochen wie kopflose Schafe und hatten alle zuvor so geregelten Notfallpläne in den Wind geschossen. Menschen hatten geschrien. Schüsse waren gefallen.
In der heillosen Verirrung, die Rick anfänglich noch irgendwie zu organisieren versucht hatte, waren sie schließlich alle getrennt worden. Zu Beginn waren noch Carl und Maggie bei Daryl gewesen, doch er hatte sie vorausgeschickt, als Judiths Weinen ihn im letzten Moment gestoppt hatte. Er selbst war umkehrt, hatte sich durch den Rauch zurück in ihren Zellenblock geschlagen, den Karton mit dem schreienden Kind unter den Arm geklemmt, der scheinbar in aller Hektik vergessen worden war, und hatte sein Heil in der Flucht gesucht.
Er konnte nicht daran denken, was Beth oder Carol dazu veranlasst haben musste, Judith zu vergessen oder zurück zu lassen.
Carl und Maggie waren verschwunden gewesen, als Daryl schließlich aus dem Rauch hervor gebrochen war. Ebenso wie all die anderen. Als er sich aus dem Gefängnis gestohlen hatte, die ersten Atemzüge frische Luft in seine Lungen saugend, hatte er keine Menschenseele mehr gesehen und Judith hatte nach wie vor geschrien, auch wenn sie mittlerweile seltsam heißer geklungen hatte.
Schüsse waren noch vereinzelt in der Ferne verhallt, doch Daryl hatte nicht gewusst, ob sie angelockten Beißern gegolten hatten, oder aber lebenden Menschen.
Die ehemaligen Bewohner Woodburys waren allesamt Greise, Kinder oder durch Gebrechen sonst irgendwie kampfunfähig gewesen. In seiner pragmatischen Art rechnete Daryl ihnen kaum eine Chance aus, dem Gefängnis und ihrem ehemaligen Governor lebend zu entkommen.
Wenn Daryl das schreiende Kind nicht bei sich gehabt hätte, wäre er vielleicht trotzdem umgekehrt. Vermutlich hätte er versucht, einen der anderen zu finden oder zumindest alle Feinde niederzumachen, die ihm in den Weg gekommen wären, so aber war Daryl Dixon geflohen wie ein Feigling und allein der kleine Funken Hoffnung war ihm geblieben, später irgendjemanden auf der Straße aufgabeln zu können.
Zumindest Carl und Maggie mussten sich gerettet haben. Sie mussten den gleichen Weg wie er hinaus gewählt haben, doch was immer sie dazu veranlasst hatte, nicht auf ihn zu warten, musste ein verdammt guter Grund gewesen sein. Vermutlich hatten sie sich in den Wald geschlagen, um unterzutauchen. Beinahe ohne Waffen und nur mit den Dingen ausgestattet, die sie am Leib trugen.
Es gab eine alte Jagdhütte weiter südlich und einen Tagesmarsch entfernt. Daryl hatte sie schon vor dem Woodburyangriff und dem Verschwinden des Governors zufällig bei einem Jagdausflug aufgestöbert und immer im Hinterkopf behalten, dass die Jagdhütte ein wunderbares Versteck weitab von jeder Zivilisation abgeben würde. Etwas klein vielleicht, aber als Zwischenlösung besser, als unter freiem Himmel zu nächtigen und mit der Angst im Nacken, jeden Moment von Beißern am Lagerfeuer überrascht zu werden.
Blieb nur zu hoffen, dass die anderen sich auch daran erinnerten und sich zu der Hütte durchschlagen würden.
Abermals quäkte der Säugling in seinem Karton und rüttelte an Daryls Finger.
„Was willst du denn, Nervensäge?“ Daryl wischte sich mit der freien Hand den Schweiß von der Stirn, während er den Finger, der in ihrem Griff gefangen war, hin und her wackelte.
Sie grummelte ein paar Laute hervor, ehe sie seinen Finger näher zu sich zog und ihn sich ohne zu zögern in den Mund steckte. Augenblicklich spürte Daryl, wie ihr zahnloser Kiefer darauf herumzukauen begannen.
„Du hast Hunger, was? Natürlich hast du das.“ Ihm selbst hing der Magen irgendwo zwischen den Kniekehlen.
Der Angriff war im Morgengrauen über sie herein gebrochen, viel früher als jedes Frühstück, das ihm jetzt den Magen hätte füllen können.
Selbst mit dem alten Schrottauto würde Daryl nicht bis zur Jagdhütte fahren können. Zu unwegsames Gelände. Zu einsam im Wald gelegen. Einen Marsch durch den Wald mit einem schreienden Kind war hingegen eine regelrechte Selbstmordaktion. Carol musste ihr zwar in der Nacht ein Fläschchen gegeben haben, doch sobald Judith auch nur leichten Hunger verspüren würde, würde sie mit ihrem Schreien ganze Beißerhorden anlocken, so dass Daryl bald nicht mehr wissen würde, um wen er sich zuerst kümmern sollte. Die Beißer oder das schreiende Kind.
Was eine verdammte beschissene Zwickmühle.
Einhändig legte Daryl den Gang ein und löste die Handbremse des Autos. Es gab einen weiteren markierten Treffpunkt auf halber Strecke zur Jagdhütte bei zwei sich kreuzenden Landstraßen. Ziemlich unbewohntes Gebiet und daher beißerfrei. Er würde zwar einen Umweg fahren müssen, der ihnen vielleicht einen halben Tag kostete, aber vermutlich würde er von sich dort einfacher zur Hütte durchschlagen können…
Mit dem Baby im Gepäck.
Der Mittag war noch kaum vorüber, als Judith in ihrem Karton endgültig lautstark zu quengeln begann. Bisher schien sie sich mit Daryls Finger begnügt zu haben, doch nun wurde ihr Quengeln lauter, während sie mit ihren Beinchen gegen den Karton trat und wütend an Daryls Hand rüttelte.
„Hey, was sollen die Randale?“ Daryl nahm den Blick von der Straße und versuchte seinen Finger wieder in Judiths Mund zurück zu schieben. In der letzten Stunde hatte das ihre Quengelei meistens wieder zum Verstummen gebracht, aber jetzt schob sie seinen Finger von sich und schrie unbeirrt weiter. Ihre zarten rosa Wangen waren von verräterisch roten Flecken überzogen, während ihre Augen sich mit Tränen füllten.
„Okay, okay. Kein Grund gleich zu heulen.“
Als sie Daryls Worte hörte, schien Judith ihr Weinen noch eine Oktave höher zu schrauben. Ihr Kartonbett erbebte, als sie sowohl mit Armen und Beinen ihre Umgebung traktierte und versuchte, sich vom Rücken auf den Bauch zu wälzen.
Hatte es zuvor irgendwo hinter Daryls Stirn verhalten gepocht, meldete sich nun eine ausgewachsene Kopfschmerzwelle mit Pauken und Trompeten hinter seinen Schläfen. Stöhnend bremste er den Wagen ab und beugte sich zu dem weinenden Säugling hinüber. „Ach komm schon, Judith, hör auf zu weinen.“
Mit einer Hand griff er hinter ihr Köpfchen, während seine zweite Hand sich unter ihren sich windenden Körper schob und sie schließlich aus ihrem Bettchen hob.
Kaum aus ihrem beengten Karton befreit, fing Judith erneut an, mit Armen und Beinen in der Luft zu rudern, wie ein auf dem Rücken liegender Käfer. Es brauchte kein sonderlich feines Näschen um herauszufinden, dass Judith außer dem Hunger wohl noch einen andern Grund zum Weinen hatte.
„Schsch…“ versuchte Daryl gegen ihr Weinen anzukommen, als er sie sich an die Schulter legte und zögerlich mit der Hand über ihren winzigen Rücken strich. „Scheiße, Nervensäge, ich will dir ja wirklich nicht zu nahe treten, aber der Gestank, von dem was du da ausgebrütet hast, würde uns vermutlich sogar diese beschissenen Beißer vom Hals halten.“ Abermals strich er über ihren Rücken, während ihre winzigen Hände gegen seine Schulter trommelten und sie hartnäckig versuchte, sich wieder von ihm wegzudrücken. „Ach komm schon, Nervensäge. Hör auf zu… AU! Gott verfluchter Scheißdreck!“
Judith hatte es tatsächlich geschafft, eines ihrer winzigen Knie in einer gezielten Bewegung direkt in Daryls ohnehin lädierten Rippen zu rammen.
Mit schmerzverzerrter Miene schälte er ihren winzigen, sich windenden Körper von sich und hielt sie soweit von sich, wie es im beengten Auto möglich war.
Tränenspuren zeichneten sich auf ihren geröteten Wangen, als sie Daryl mit glasigen Augen und zitternde Lippe anstarrte, als hätte er sie gerade persönlich beleidigt. Hatte er das etwa?
Daryl starrte zurück und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie er dieses schreiende Kind nur sicher durch einen Wald voller Beißer transportieren sollte. Nein, eigentlich musste er die Sache anders angehen.
Wie wollte er das schreiende Kind nur irgendwie über die Runden bringen? Natürlich hatte er in den letzten Wochen gelernt, ein Kind zu füttern, notfalls die Winden zu wechseln oder den brabbelnden Säugling auf dem Arm draußen ein wenig Sonnenstrahlen genießen lassen. Von wichtigen Grundlagen war jedoch keine Spur. Das war immer die Aufgabe von Carol oder Beth gewesen. Nicht von ihm.
Und jetzt saß er hier, mit einem vor Hunger schreienden Säugling, der eindeutig die Windeln voll hatte und ihm mit diesem Geheul jeden gottverdammten Beißer jenseits des Mississippi auf den Hals hetzen würde.
Den schreienden Zwerg immer vor sich balancierend legte Daryl abermals einen Gang ein und fuhr los.
„Aber wehe du petzt deinem Dad, dass ich dich unangeschnallt mitgenommen hab“, tönte er über das mittlerweile wimmernde Quäken des Babys hinweg und setzte ihren gepolsterten Windelhintern auf seinen Knien auf. Vielleicht wäre sie so ein bisschen abgelenkt. Die ganze Zeit in ihrer Kiste auf dem Rücken zu liegen und die hässliche Wagendecke anzustarren, war sicherlich auch nicht unbedingt der Traum jeden Babys.
Kurzzeitig schien Daryls Plan tatsächlich Früchte zu tragen, als er den Wagen in nordöstliche Richtung steuerte in der Hoffnung, eine kleine Stadt oder zumindest Dorf mit Lebensmittelgeschäft zu finden.
Judith beschäftigte sich derweil damit, mit ihren Händen nach dem Lenkrad zu greifen, doch als sie erkannte, dass das Lenkrad weder quietschen konnte, noch Grimassen schnitt, war es ebenso schnell wieder für sie gestorben.
Die Straße flimmerte mittlerweile in farbigen Schlieren vor Daryls tränenden Augen, während er versuchte, sich die Erschöpfung irgendwie aus dem Gesicht zu reiben. Mit der rechten Hand versuchte er Judith auf seinem Schoß zu halten, die wieder ein riesiges Theater begonnen hatte und abwechselnd Daryls Schoß und seinen Magen mit ihrem unruhigen Gezappel traktierte, während sie sich gleichzeitig auf den Bauch wälzen wollte, um vermutlich endgültig die Flucht zu ergreifen. Zum Teufel, wer konnte es ihr verübeln?
Seufzend kurbelte Daryl die Scheibe einen Spalt herunter. Vielleicht würde ein wenig frische Luft helfen, seine völlig überspannten Nerven zu beruhigen und vielleicht sogar das Gemüt der kleinen Nervensäge etwas abkühlen.
Tannen zogen links und rechts jenseits der Straße an ihnen vorbei, während die Sonne weiter stieg und von Häusern, oder ehemals bewohnten Gebieten, jede Spur fehlte. Ein Straßenschild hatte eine Ortschaft innerhalb der nächsten 7 Meilen hingewiesen. Laut Autotacho war das aber schon 11 Meilen her.
Noch immer war Judiths Weinen ein ununterbrochenes Wimmern in Daryls Ohren und während er abwechselnd auf ihre tränennassen Wangen hinunter und wieder zu Straße emporblickte, machte sich ein Schuldgefühl in seinem Magen breit, das so schwer und hart wog, als habe er einen Stein verschluckt.
Natürlich wusste er, dass es verdammt schwachsinnig war, sich hier für irgendetwas die Schuld zu geben. Es war ja nicht so, dass der dem Zwerg absichtlich das Essen vorenthielt.
Die ganze Sache wäre erheblich einfacher gewesen, wenn er ihr einfach irgendein Eichhörnchen hätte schießen können. Aber Judith hatte noch nicht mal Zähne! Die Zeiten für einfache Eichhörnchen würden noch lange auf sich warten lassen.
„Scheiße, Nervensäge, hör auf zu heulen. Bitte.“ Er versuchte sie auf seinen Knien probehalber etwas auf und ab zu wippen, wie er es bei Carol gesehen hatte. Sonst immer quietschte der Zwerg vergnügt, sobald sie auf Carols Knien auf und ab geschaukelt wurde, aber weder war Daryl Carol, noch war Judith satt und zufrieden innerhalb der sicheren Gefängnismauern.
Sicher. Pah!
Es hatte sich ja gezeigt, wie sicher die vermeintlich sicheren Mauern und Zäune gewesen waren, die sie vor Beißern hätten beschützen sollen, lebende Menschen aber nicht hatten abhalten können.
Daryl stieß wütend die Luft aus und rieb sich abermals über die Augen. Seine Lider waren mittlerweile so schwer, dass er das Gefühl hatte, sie bald nur noch mit einem Paar Streichhölzern offen halten zu können. Das würde noch als Zuckerguss auf diesem riesigen Haufen Scheiße fehlen: dass er vor Müdigkeit hinter dem Steuer einschlief und den Wagen in den nächstbesten Graben lenkte.
Mit dem unangeschnallten Zwerg auf seinem Schoß, der vermutlich geradewegs einen Abflug durch die Windschutzscheibe machen würde.
„Scheiße!“ Im nächsten Moment stieg Daryl so heftig in die Bremsen, dass Judith trotz seiner Hand unweigerlich vorn über zu kippen drohte. Ihre Hände schossen empor und ruderten durch die Luft, während Daryl sie unweigerlich enger an sich presste. „Scheiße, Nervensäge, du hättest ruhig ein Wort sagen können.“
Den Kopf abwendend, legte er den Rückwertsgang ein und ließ den Wagen ein gutes Stück zurückrollen.
Dort, halb unter Gestrüpp und von einem am Straßenrand entlang taumelnden Beißer verborgen, steckte ein windschiefes Straßenschild.
Daryl drehte seinen Körper halb zum Beifahrersitz, während er versuchte, an dem Beißer vorbei einen Blick auf das Schild zu erhaschen. Leider hatte besagter Untoter im selben Moment Daryls Wagen als neue Beute ausgemacht und torkelte schlingernd auf die Straße zurück. Nach wie vor verbarg er das Schild in seinem Rücken.
„Zum Teufel noch mal. Verpiss dich aus meiner Sicht, du verfluchter Bastard“, knurrte Daryl und ließ den Wagen ein weiteres Stück zurück rollen.
5 Meilen bis zur nächsten Stadt konnte er hinter Ranken aus wucherndem Gestrüpp ablesen, samt einem Pfeil, der zur linken Seite hin wegdeutete. Zwar war auf der linken Straßenseite nach wie vor keine Abzweigung zu erkennen, doch wo ein Straßenschild war, konnte die dazugehörige Straße nicht weit sein. Immerhin etwas.
Ein dumpfer Schlag ließ Daryl vom Schild aufblicken. Der Beißer hatte es tatsächlich zum Auto geschafft und kratzte mit seiner linken Hand an der Windschutzscheibe, während er versuchte, seinen Körper irgendwie auf die Motorhaube zu schieben. Der rechte Arm endete in einem ausgefransten Stumpf.
Der Beißer hatte rein gar nichts mit Merle gemeinsam. Weder vom dürren Körperbau her, noch vom beinahe schulterlange Haar oder dem zerfledderten Hawaiihemd. Und doch konnte Daryl für einen Moment nur auf den Armstumpf starren und an die toten Augen seines Bruders denken, die ihn angestarrt hatten. Ohne Erkennen. Ohne Leben. Ohne einen Funken Hoffnung.
„Fick dich, Idiot!“ Abrupt setzte Daryl das Auto zurück, so dass der Beißer taumelnd vorn über auf die Straße kippte. Im nächsten Moment beschleunigte das Auto wieder und der Beißer verschwand aus Daryls Sicht.
Als die Räder den bereits toten Körper überfuhren und unter sich zerquetschten, rumpelte der Wagen auf und ab, so dass seine Insassen durchgeschüttelt wurden, doch Daryl gab sich nicht damit ab. Er warf einen Blick in den Rückspiegel und sah mit Genugtuung, dass von dem wandelnden Toten nicht mehr übrig war, als ein Haufen Blut und zertrümmerte Knochen auf einer einsamen Landstraße.
oooOOOooo
Oh mein Gott! Es ist vollbracht. Es lebt! Haha, nun ja, so ganz lebt die FF noch nicht, aber ich habe mir ein sattes Kapitelpolster angefuttert und wage mich einfach mal dran, das hier hochzuladen. Solange mich keine jahrelange Schreibblockade packt, dürften wir zügig durchkommen.
Wie immer bei mir: keine Romanzen (schon gar kein Caryl!), sondern nur Daryl, Merle und ausnahmsweise ein Baby. Die FF ist, wie bereits erwähnt, nach Staffel 3 angesiedelt. Man wird sich wundern: Seltsam, Merle ist doch schon tot, aber ich lasse den Kerl nicht vom Haken, ehe er und Daryl ihren Seelenfrieden miteinander gefunden haben. Fertig. Aus.
Der Titel der Geschichte ist (wie manche evtl. wissen) lateinisch und bedeutet Tag des Zorns. Dies Irae ist zeitgleich auch der Anfang eines mittelalterlichen Hymnus vom Jüngsten Gericht und gehörte zur Totenmesse. Ich fand es einfach unheimlich passend.
Daryl ist stinkwütend und Totenmesse … nun ja, wann passt das besser, als während der Zombieapokalypse ;)
Nach diesem reichhaltigen Vorwort nun viel Spaß beim Lesen!
P.S. ich entschuldige mich jetzt schon mal dafür, dass in dieser FF allgemein wenig geredet wird und nicht viel passiert…
oooOOOooo
1. Tag des Zorns
Daryls Herz schlug ihm noch immer bis zum Hals. Das Adrenalin, das zuvor durch seinen Körper gepumpt worden war, löste sich langsam in Wohlgefallen auf und ließ neben seinem rasenden Herzen nur noch Erschöpfung und Müdigkeit zurück.
Dumpf spürte er jetzt seine Rippen pochen. Er hätte den Sturz vermeiden können, wenn er nur die Hände frei gehabt hätte…
Mit dem Handrücken wischte er sich fahrig übers Gesicht. Schweiß lief ihm in die Augen und ließ ihn beinahe ununterbrochen blinzeln, während seine Haare ihm nass an den Schläfen klebten. Für einen kurzen Moment erlaubte er es sich, die Augen zu schließen, den Schweiß Schweiß sein zu lassen, seinen Kopf gegen das Lenkrad zu betten und all den Wahnsinn um sich herum zu vergessen. Wenigstens für einen kurzen Augenblick.
Nach einem gefühlten Herzschlag wurde seine Atempause jäh von einem lautstarken Quäken unterbrochen. Seufzend blickte er abermals auf und lehnte sich zum Beifahrersitz hinüber, auf dem er den Karton abgestellt hatte. Den Karton, der ihnen anfänglich als Babybett gedient hatte.
Als Daryl das Baby im Karton müde anblinzelte, sah die kleine Nervensäge ihn bereits aus erwartungsvollen Augen an und verzog den Mund zu einem beinahe zahnlosen Grinsen. Erneut gab sie dieses quäkende Glucksen von sich, als wäre sie momentan vollkommen zufrieden mit sich und der Welt im Allgemeinen.
Sie wusste nichts von den Beißern, die Menschen in Stücke rissen, wusste nichts von der Welt, die um sie herum zu Grunde ging, oder dem Krieg, den ihr Vater gegen diesen völlig wahnsinnigen Bastard aus Woodbury geführt hatte. Judiths ganze Welt bestand momentan aus ihrem kleinen Karton, oder aber, wenn man ihre Welt um ein kleines bisschen erweiterte, aus dem sicheren Innenraum des altersschwachen Wagens.
Alles andere zählte nicht.
„Na Hauptsache du hast was zu lachen“, brummte Daryl und stupste Judith seinen Zeigefinger in den Bauch. Könnte er die Welt nur ebenso sehen.
Judith neben ihm quietschte vergnügt auf und versuchte mit ihrer kleinen dicken Hand nach Daryls Finger zu greifen. Er ließ es zu, zu müde, um der kleinen Nervensäge ihren Wunsch zu verwehren.
Sie waren überrannt worden. Von einem Moment auf den anderen war die Hölle ausgebrochen und alles, auf das sie sich all die Zeit vorbereitet hatten, schien von einem Moment auf den anderen vergessen gewesen. Wochenlang hatte sie einen Vergeltungsschlag erwartet, waren in angespannter Lauerstellung bei jeder noch so kleinen Regung zusammengezuckt, denn nach wie vor war der Governor, dieser irre Bastard, am Leben und mit einer solchen Niederlage gaben sich so größenwahnsinnige Idioten wie er niemals ab.
Doch als die Rauchgranaten ihnen von einem Moment auf den anderen die Sicht genommen hatten, Schüsse durch die Luft gezischt und Querschläger von Wänden geprallt waren, waren die ehemaligen Woodburybewohner in Panik ausgebrochen wie kopflose Schafe und hatten alle zuvor so geregelten Notfallpläne in den Wind geschossen. Menschen hatten geschrien. Schüsse waren gefallen.
In der heillosen Verirrung, die Rick anfänglich noch irgendwie zu organisieren versucht hatte, waren sie schließlich alle getrennt worden. Zu Beginn waren noch Carl und Maggie bei Daryl gewesen, doch er hatte sie vorausgeschickt, als Judiths Weinen ihn im letzten Moment gestoppt hatte. Er selbst war umkehrt, hatte sich durch den Rauch zurück in ihren Zellenblock geschlagen, den Karton mit dem schreienden Kind unter den Arm geklemmt, der scheinbar in aller Hektik vergessen worden war, und hatte sein Heil in der Flucht gesucht.
Er konnte nicht daran denken, was Beth oder Carol dazu veranlasst haben musste, Judith zu vergessen oder zurück zu lassen.
Carl und Maggie waren verschwunden gewesen, als Daryl schließlich aus dem Rauch hervor gebrochen war. Ebenso wie all die anderen. Als er sich aus dem Gefängnis gestohlen hatte, die ersten Atemzüge frische Luft in seine Lungen saugend, hatte er keine Menschenseele mehr gesehen und Judith hatte nach wie vor geschrien, auch wenn sie mittlerweile seltsam heißer geklungen hatte.
Schüsse waren noch vereinzelt in der Ferne verhallt, doch Daryl hatte nicht gewusst, ob sie angelockten Beißern gegolten hatten, oder aber lebenden Menschen.
Die ehemaligen Bewohner Woodburys waren allesamt Greise, Kinder oder durch Gebrechen sonst irgendwie kampfunfähig gewesen. In seiner pragmatischen Art rechnete Daryl ihnen kaum eine Chance aus, dem Gefängnis und ihrem ehemaligen Governor lebend zu entkommen.
Wenn Daryl das schreiende Kind nicht bei sich gehabt hätte, wäre er vielleicht trotzdem umgekehrt. Vermutlich hätte er versucht, einen der anderen zu finden oder zumindest alle Feinde niederzumachen, die ihm in den Weg gekommen wären, so aber war Daryl Dixon geflohen wie ein Feigling und allein der kleine Funken Hoffnung war ihm geblieben, später irgendjemanden auf der Straße aufgabeln zu können.
Zumindest Carl und Maggie mussten sich gerettet haben. Sie mussten den gleichen Weg wie er hinaus gewählt haben, doch was immer sie dazu veranlasst hatte, nicht auf ihn zu warten, musste ein verdammt guter Grund gewesen sein. Vermutlich hatten sie sich in den Wald geschlagen, um unterzutauchen. Beinahe ohne Waffen und nur mit den Dingen ausgestattet, die sie am Leib trugen.
Es gab eine alte Jagdhütte weiter südlich und einen Tagesmarsch entfernt. Daryl hatte sie schon vor dem Woodburyangriff und dem Verschwinden des Governors zufällig bei einem Jagdausflug aufgestöbert und immer im Hinterkopf behalten, dass die Jagdhütte ein wunderbares Versteck weitab von jeder Zivilisation abgeben würde. Etwas klein vielleicht, aber als Zwischenlösung besser, als unter freiem Himmel zu nächtigen und mit der Angst im Nacken, jeden Moment von Beißern am Lagerfeuer überrascht zu werden.
Blieb nur zu hoffen, dass die anderen sich auch daran erinnerten und sich zu der Hütte durchschlagen würden.
Abermals quäkte der Säugling in seinem Karton und rüttelte an Daryls Finger.
„Was willst du denn, Nervensäge?“ Daryl wischte sich mit der freien Hand den Schweiß von der Stirn, während er den Finger, der in ihrem Griff gefangen war, hin und her wackelte.
Sie grummelte ein paar Laute hervor, ehe sie seinen Finger näher zu sich zog und ihn sich ohne zu zögern in den Mund steckte. Augenblicklich spürte Daryl, wie ihr zahnloser Kiefer darauf herumzukauen begannen.
„Du hast Hunger, was? Natürlich hast du das.“ Ihm selbst hing der Magen irgendwo zwischen den Kniekehlen.
Der Angriff war im Morgengrauen über sie herein gebrochen, viel früher als jedes Frühstück, das ihm jetzt den Magen hätte füllen können.
Selbst mit dem alten Schrottauto würde Daryl nicht bis zur Jagdhütte fahren können. Zu unwegsames Gelände. Zu einsam im Wald gelegen. Einen Marsch durch den Wald mit einem schreienden Kind war hingegen eine regelrechte Selbstmordaktion. Carol musste ihr zwar in der Nacht ein Fläschchen gegeben haben, doch sobald Judith auch nur leichten Hunger verspüren würde, würde sie mit ihrem Schreien ganze Beißerhorden anlocken, so dass Daryl bald nicht mehr wissen würde, um wen er sich zuerst kümmern sollte. Die Beißer oder das schreiende Kind.
Was eine verdammte beschissene Zwickmühle.
Einhändig legte Daryl den Gang ein und löste die Handbremse des Autos. Es gab einen weiteren markierten Treffpunkt auf halber Strecke zur Jagdhütte bei zwei sich kreuzenden Landstraßen. Ziemlich unbewohntes Gebiet und daher beißerfrei. Er würde zwar einen Umweg fahren müssen, der ihnen vielleicht einen halben Tag kostete, aber vermutlich würde er von sich dort einfacher zur Hütte durchschlagen können…
Mit dem Baby im Gepäck.
Der Mittag war noch kaum vorüber, als Judith in ihrem Karton endgültig lautstark zu quengeln begann. Bisher schien sie sich mit Daryls Finger begnügt zu haben, doch nun wurde ihr Quengeln lauter, während sie mit ihren Beinchen gegen den Karton trat und wütend an Daryls Hand rüttelte.
„Hey, was sollen die Randale?“ Daryl nahm den Blick von der Straße und versuchte seinen Finger wieder in Judiths Mund zurück zu schieben. In der letzten Stunde hatte das ihre Quengelei meistens wieder zum Verstummen gebracht, aber jetzt schob sie seinen Finger von sich und schrie unbeirrt weiter. Ihre zarten rosa Wangen waren von verräterisch roten Flecken überzogen, während ihre Augen sich mit Tränen füllten.
„Okay, okay. Kein Grund gleich zu heulen.“
Als sie Daryls Worte hörte, schien Judith ihr Weinen noch eine Oktave höher zu schrauben. Ihr Kartonbett erbebte, als sie sowohl mit Armen und Beinen ihre Umgebung traktierte und versuchte, sich vom Rücken auf den Bauch zu wälzen.
Hatte es zuvor irgendwo hinter Daryls Stirn verhalten gepocht, meldete sich nun eine ausgewachsene Kopfschmerzwelle mit Pauken und Trompeten hinter seinen Schläfen. Stöhnend bremste er den Wagen ab und beugte sich zu dem weinenden Säugling hinüber. „Ach komm schon, Judith, hör auf zu weinen.“
Mit einer Hand griff er hinter ihr Köpfchen, während seine zweite Hand sich unter ihren sich windenden Körper schob und sie schließlich aus ihrem Bettchen hob.
Kaum aus ihrem beengten Karton befreit, fing Judith erneut an, mit Armen und Beinen in der Luft zu rudern, wie ein auf dem Rücken liegender Käfer. Es brauchte kein sonderlich feines Näschen um herauszufinden, dass Judith außer dem Hunger wohl noch einen andern Grund zum Weinen hatte.
„Schsch…“ versuchte Daryl gegen ihr Weinen anzukommen, als er sie sich an die Schulter legte und zögerlich mit der Hand über ihren winzigen Rücken strich. „Scheiße, Nervensäge, ich will dir ja wirklich nicht zu nahe treten, aber der Gestank, von dem was du da ausgebrütet hast, würde uns vermutlich sogar diese beschissenen Beißer vom Hals halten.“ Abermals strich er über ihren Rücken, während ihre winzigen Hände gegen seine Schulter trommelten und sie hartnäckig versuchte, sich wieder von ihm wegzudrücken. „Ach komm schon, Nervensäge. Hör auf zu… AU! Gott verfluchter Scheißdreck!“
Judith hatte es tatsächlich geschafft, eines ihrer winzigen Knie in einer gezielten Bewegung direkt in Daryls ohnehin lädierten Rippen zu rammen.
Mit schmerzverzerrter Miene schälte er ihren winzigen, sich windenden Körper von sich und hielt sie soweit von sich, wie es im beengten Auto möglich war.
Tränenspuren zeichneten sich auf ihren geröteten Wangen, als sie Daryl mit glasigen Augen und zitternde Lippe anstarrte, als hätte er sie gerade persönlich beleidigt. Hatte er das etwa?
Daryl starrte zurück und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie er dieses schreiende Kind nur sicher durch einen Wald voller Beißer transportieren sollte. Nein, eigentlich musste er die Sache anders angehen.
Wie wollte er das schreiende Kind nur irgendwie über die Runden bringen? Natürlich hatte er in den letzten Wochen gelernt, ein Kind zu füttern, notfalls die Winden zu wechseln oder den brabbelnden Säugling auf dem Arm draußen ein wenig Sonnenstrahlen genießen lassen. Von wichtigen Grundlagen war jedoch keine Spur. Das war immer die Aufgabe von Carol oder Beth gewesen. Nicht von ihm.
Und jetzt saß er hier, mit einem vor Hunger schreienden Säugling, der eindeutig die Windeln voll hatte und ihm mit diesem Geheul jeden gottverdammten Beißer jenseits des Mississippi auf den Hals hetzen würde.
Den schreienden Zwerg immer vor sich balancierend legte Daryl abermals einen Gang ein und fuhr los.
„Aber wehe du petzt deinem Dad, dass ich dich unangeschnallt mitgenommen hab“, tönte er über das mittlerweile wimmernde Quäken des Babys hinweg und setzte ihren gepolsterten Windelhintern auf seinen Knien auf. Vielleicht wäre sie so ein bisschen abgelenkt. Die ganze Zeit in ihrer Kiste auf dem Rücken zu liegen und die hässliche Wagendecke anzustarren, war sicherlich auch nicht unbedingt der Traum jeden Babys.
Kurzzeitig schien Daryls Plan tatsächlich Früchte zu tragen, als er den Wagen in nordöstliche Richtung steuerte in der Hoffnung, eine kleine Stadt oder zumindest Dorf mit Lebensmittelgeschäft zu finden.
Judith beschäftigte sich derweil damit, mit ihren Händen nach dem Lenkrad zu greifen, doch als sie erkannte, dass das Lenkrad weder quietschen konnte, noch Grimassen schnitt, war es ebenso schnell wieder für sie gestorben.
Die Straße flimmerte mittlerweile in farbigen Schlieren vor Daryls tränenden Augen, während er versuchte, sich die Erschöpfung irgendwie aus dem Gesicht zu reiben. Mit der rechten Hand versuchte er Judith auf seinem Schoß zu halten, die wieder ein riesiges Theater begonnen hatte und abwechselnd Daryls Schoß und seinen Magen mit ihrem unruhigen Gezappel traktierte, während sie sich gleichzeitig auf den Bauch wälzen wollte, um vermutlich endgültig die Flucht zu ergreifen. Zum Teufel, wer konnte es ihr verübeln?
Seufzend kurbelte Daryl die Scheibe einen Spalt herunter. Vielleicht würde ein wenig frische Luft helfen, seine völlig überspannten Nerven zu beruhigen und vielleicht sogar das Gemüt der kleinen Nervensäge etwas abkühlen.
Tannen zogen links und rechts jenseits der Straße an ihnen vorbei, während die Sonne weiter stieg und von Häusern, oder ehemals bewohnten Gebieten, jede Spur fehlte. Ein Straßenschild hatte eine Ortschaft innerhalb der nächsten 7 Meilen hingewiesen. Laut Autotacho war das aber schon 11 Meilen her.
Noch immer war Judiths Weinen ein ununterbrochenes Wimmern in Daryls Ohren und während er abwechselnd auf ihre tränennassen Wangen hinunter und wieder zu Straße emporblickte, machte sich ein Schuldgefühl in seinem Magen breit, das so schwer und hart wog, als habe er einen Stein verschluckt.
Natürlich wusste er, dass es verdammt schwachsinnig war, sich hier für irgendetwas die Schuld zu geben. Es war ja nicht so, dass der dem Zwerg absichtlich das Essen vorenthielt.
Die ganze Sache wäre erheblich einfacher gewesen, wenn er ihr einfach irgendein Eichhörnchen hätte schießen können. Aber Judith hatte noch nicht mal Zähne! Die Zeiten für einfache Eichhörnchen würden noch lange auf sich warten lassen.
„Scheiße, Nervensäge, hör auf zu heulen. Bitte.“ Er versuchte sie auf seinen Knien probehalber etwas auf und ab zu wippen, wie er es bei Carol gesehen hatte. Sonst immer quietschte der Zwerg vergnügt, sobald sie auf Carols Knien auf und ab geschaukelt wurde, aber weder war Daryl Carol, noch war Judith satt und zufrieden innerhalb der sicheren Gefängnismauern.
Sicher. Pah!
Es hatte sich ja gezeigt, wie sicher die vermeintlich sicheren Mauern und Zäune gewesen waren, die sie vor Beißern hätten beschützen sollen, lebende Menschen aber nicht hatten abhalten können.
Daryl stieß wütend die Luft aus und rieb sich abermals über die Augen. Seine Lider waren mittlerweile so schwer, dass er das Gefühl hatte, sie bald nur noch mit einem Paar Streichhölzern offen halten zu können. Das würde noch als Zuckerguss auf diesem riesigen Haufen Scheiße fehlen: dass er vor Müdigkeit hinter dem Steuer einschlief und den Wagen in den nächstbesten Graben lenkte.
Mit dem unangeschnallten Zwerg auf seinem Schoß, der vermutlich geradewegs einen Abflug durch die Windschutzscheibe machen würde.
„Scheiße!“ Im nächsten Moment stieg Daryl so heftig in die Bremsen, dass Judith trotz seiner Hand unweigerlich vorn über zu kippen drohte. Ihre Hände schossen empor und ruderten durch die Luft, während Daryl sie unweigerlich enger an sich presste. „Scheiße, Nervensäge, du hättest ruhig ein Wort sagen können.“
Den Kopf abwendend, legte er den Rückwertsgang ein und ließ den Wagen ein gutes Stück zurückrollen.
Dort, halb unter Gestrüpp und von einem am Straßenrand entlang taumelnden Beißer verborgen, steckte ein windschiefes Straßenschild.
Daryl drehte seinen Körper halb zum Beifahrersitz, während er versuchte, an dem Beißer vorbei einen Blick auf das Schild zu erhaschen. Leider hatte besagter Untoter im selben Moment Daryls Wagen als neue Beute ausgemacht und torkelte schlingernd auf die Straße zurück. Nach wie vor verbarg er das Schild in seinem Rücken.
„Zum Teufel noch mal. Verpiss dich aus meiner Sicht, du verfluchter Bastard“, knurrte Daryl und ließ den Wagen ein weiteres Stück zurück rollen.
5 Meilen bis zur nächsten Stadt konnte er hinter Ranken aus wucherndem Gestrüpp ablesen, samt einem Pfeil, der zur linken Seite hin wegdeutete. Zwar war auf der linken Straßenseite nach wie vor keine Abzweigung zu erkennen, doch wo ein Straßenschild war, konnte die dazugehörige Straße nicht weit sein. Immerhin etwas.
Ein dumpfer Schlag ließ Daryl vom Schild aufblicken. Der Beißer hatte es tatsächlich zum Auto geschafft und kratzte mit seiner linken Hand an der Windschutzscheibe, während er versuchte, seinen Körper irgendwie auf die Motorhaube zu schieben. Der rechte Arm endete in einem ausgefransten Stumpf.
Der Beißer hatte rein gar nichts mit Merle gemeinsam. Weder vom dürren Körperbau her, noch vom beinahe schulterlange Haar oder dem zerfledderten Hawaiihemd. Und doch konnte Daryl für einen Moment nur auf den Armstumpf starren und an die toten Augen seines Bruders denken, die ihn angestarrt hatten. Ohne Erkennen. Ohne Leben. Ohne einen Funken Hoffnung.
„Fick dich, Idiot!“ Abrupt setzte Daryl das Auto zurück, so dass der Beißer taumelnd vorn über auf die Straße kippte. Im nächsten Moment beschleunigte das Auto wieder und der Beißer verschwand aus Daryls Sicht.
Als die Räder den bereits toten Körper überfuhren und unter sich zerquetschten, rumpelte der Wagen auf und ab, so dass seine Insassen durchgeschüttelt wurden, doch Daryl gab sich nicht damit ab. Er warf einen Blick in den Rückspiegel und sah mit Genugtuung, dass von dem wandelnden Toten nicht mehr übrig war, als ein Haufen Blut und zertrümmerte Knochen auf einer einsamen Landstraße.
oooOOOooo