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Beautifully Tragic

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Freundschaft / P16 / Gen
Elphaba Thropp Fiyero Tigelaar/Tiggular Glinda/Galinda Upland of the Upper Uplands
28.02.2013
19.11.2016
25
90.896
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13.08.2016 6.211
 
Galindas Spiegel


Fiyero befreite Elphabas Hand aus ihrer eigenen Umklammerung, die ungeachtet ihres Zustandes fest war wie die Ketten um die Handgelenke eines unglücksseligen Verurteilten. Sie schnappte nach Luft und sie fixierte strikt den Boden, als hielte er ein Geheimnis für sie verborgen, dass nur darauf zu harren schien, freigestarrt zu werden. Ihr Atem ging in zitternden Stößen und ihr Körper zitterte mit, obgleich ihre Stirn in Schweiß zerfloss. Fiyero drückte seine Daumen in Elphabas Arm, bis er den Puls fühlte, der sanft gegen seine Fingerkuppen schlug. Viel zu schnell, so erkannte er. Fast als wären es Fäuste, die wie von Sinnen gegen eine ihnen verschlossene Tür hämmerten und um Einlass flehten – oder, die eingeschlossen waren und die Freiheit erbettelten? Als er Elphaba anblickte, hatte diese die zweite Faust an den Mund gepresst. Ihr Kopf zitterte so heftig, dass ihr Haar dabei tanzte wie die vom Winde bewegten Köpfe der Gräser im tausendjährigen Grasland. Ihre Lider flogen auf und nieder, als ob sie jemand auf den Hinterkopf schlagen würde und sie selbst starrte immer noch so unentwegt zu Boden, dass es aussah, wie eine eigentümliche Trance. Fiyero bettete ihren Arm schließlich in ihrem Schoß und nahm die zweite Hand zärtlich von ihren bebenden Lippen um ihr den ledernen Handschuh auszuziehen. Sie sah auf und ließ einen stimmlosen Schreckenslaut vernehmen. Ihre tiefen Augen blickten Fiyero an; er sah keinen Grund – wie bei einem Brunnen – er sah keine Emotion, nur die Erschöpfung, die geheimnisvolle Krankheit unter der sie zu leiden schien. Vielleicht war da ein glühender Funke, der von Wut und Empörung zeugen hätte können, vielleicht war da ein eisiger Glanz, der Schmerz hätte bedeuten können – doch weder dem einen noch dem anderen war Fiyero sich sicher. Er spürte ihre Hand in seiner, er spürte, dass sie noch immer zitterte als stünde sie inmitten eines regen Schneesturms. Und schließlich sah er hinab und studierte die Linien in ihrer Handfläche, die Falten, die Musterungen, die Kerben, die Narben, die Wunden…
Noch ehe er dazu kam, die tiefen, rätselhaften Wunden in Fräulein Elphabas Handfläche intensiver zu studieren, wurde er von dem dumpfen Knall einer sich schließenden Tür aus seiner Konzentration gerissen.
»Junker Fiyero!«, ließ sich eine erschrockene, hohe Stimme vernehmen, und hätte Galinda sich nicht zu fassen gewusst, sie hätte mit Sicherheit ihre Handtasche fallen gelassen und den kleinen Handspiegel, den sie aus Gewohnheit bei sich trug und nun in der anderen Hand hielt gleich mit dazu.
»Was tun Sie denn hier?« Es fiel ihr nur schwer zu verbergen, wie wenig Gefallen sie daran fand, dass Junker Fiyero in ihrem Schlafsaal auf dem Boden hockte. Dass er vor Fräulein Elphabas Bett hockte, dass er ihre Hand hielt, dass er den Kopf gerade so zu ihr herum drehte, dass es ihr schien, er hätte eben darin inne gehalten, Fräulein Elphabas verletzte, grüne Handflächen mit hauchfeinen Küssen zu überfluten. Fiyero legte Elphabas Hand in ihren Schoß zurück, faltete ihre Bettdecke darum und erhob sich; er errötete leicht. Es schien fast, als hätte Galinda ihn eben dabei ertappt, wie er Fräulein Elphabas Handgelenk verstohlen geküsst hatte. Elphaba rührte sich nicht. Um ihre Wangen spielte keine Röte, die ihre Vermutungen bestätigt hätte. Sie saß da, wie aus Marmor, wie eine Büste; doch ihr fehlte der hoheitsvolle, herrische Gesichtsausdruck. Sie war noch immer leichenfahl und Stirn und Wangen waren von zahlreichen roten Flecken übersät, die fast eigenartig gefärbte Sommersprossen hätten sein können. Fiyeros Stiefel zeichneten immer größer werdende Kreise auf den Fußboden. Galinda trat langsam näher.
»Was ist passiert?«, fragte sie, wobei Misstrauen ihre Stimme zierte. »Wie geht es Fräulein Elphaba?« Sie benutzte bewusst die formelle Anrede.
»Warum sind Sie nicht im Unterricht, Fräulein Galinda?«, fragte Fiyero und wich dabei Galindas Fragen aus. Was ihn noch mehr in Verdacht brachte, etwas Unanständiges getan zu haben.
»Dasselbe könnte ich ja wohl Sie fragen!«, rief Galinda, wobei ihr ein wenig ihr Temperament entglitt. Sie holte tief Luft und drängte sich, sichtlich um Fassung bemüht an Fiyero vorbei an Elphaba heran, die immer noch gleichsam bewegungslos wie bewegungsunfähig an die Bettkante geklemmt saß, in einer Position, die keineswegs komfortabel sein konnte.
»Ich habe Mittagspause«, erklärte Galinda schließlich, wobei ihre Stimme ein wenig zu überheblich klang, als dass sie noch freundlich hätte sein können.
Fiyero trat einen Schritt zurück. Wohl war er darauf bedacht, die Mädchen in ihrer stillen gegenseitigen Betrachtung sich selbst zu überlassen und gleichsam bemüht, Abstand zu Elphaba zu wahren, damit nicht doch noch ein flüchtiger Kuss seinen Lippen entschlüpfte.
»Elphie, wie geht es dir?«, flüsterte Galinda. »Ich wollte nach dir sehen.«
Vorsichtig klemmte sie eine dunkle, glänzende Haarsträhne hinter Elphabas Ohr, wobei sie mit aller Macht tat, als ob es Fiyero nicht gäbe. Elphaba erwiderte nichts. Als wäre sie noch immer in ihrer schlafähnlichen Trance. Erst als Galindas Hände an ihrer heißen Stirn entlang glitten, gab sie ein erschrockenes Zischen von sich und fuhr so rasch zurück, dass ein Ziehen ihren Unterleib peinigte und sie sich sanft nach vorne beugte, jedoch versucht ihre Schmerzen nicht zur Schau zu tragen. Sie biss sich auf die Lippe.
»Was ist das, Elphie?«, hörte sie Galinda fragen.
Und dann sah sie, dass auch Fiyero sich wieder vor ihrem Bett auf dem Boden niederließ. Galinda warf ihm einen scheelen Blick zu. Immerhin besaß Junker Fiyero den Anstand, sich nur neben das Bett zu setzen, auch wenn es ihm schwerzufallen schien. Oder bildete sie sich das nur ein in ihrer Eifersucht? Denn, so sehr sie auch verabscheute, es sich eingestehen zu müssen – eifersüchtig war sie. Sie konnte es kaum ertragen, Fiyero auch nur mit einem anderen weiblichen Wesen sprechen zu sehen, und die Art, wie er mit Fräulein Elphaba umging und sich um sie sorgte, brachte sie beinahe dazu, sich ihres Lippenstifts mit den Zähnen zu entledigen. Sie hielt sich zurück. Es wäre einer jungen Dame aus Gillikin nicht angemessen, und zudem gewiss kein schöner Anblick.
Sie selbst als Elphabas Stubenkameradin brauchte sich nicht gar so viele Gedanken zu machen, und so ließ sie sich vorsichtig neben ihr auf der Bettkante nieder. Elphaba schwankte leicht hin und her, die Augen halb geschlossen, doch sie fing sich rechtzeitig wieder.
»Elphie?«, wiederholte sie nachdrücklich. »Was hast du da...?« Wie ein Seidentuch glitten ihre Finger an einer blassgrünen Wange entlang, doch trotz aller Vorsicht zuckte Elphaba zusammen und sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Immerhin schien sie dieses Mal Galindas Frage registriert zu haben.
»N-nichts«, murmelte sie mit einem unterdrückten Husten und drehte den Kopf leicht zur Seite, um ihr Gesicht zu verbergen. Galinda legte einen Augenblick lang die Stirn in Falten, und auch Fiyero schien alles andere als überzeugt. Er griff nach Elphabas spitzem Kinn und drehte ihren Kopf vorsichtig wieder herum, ohne auf ihre schwachen Proteste zu achten. Galinda war versucht, ihm die Hand wegzuschlagen – zum einen, weil sie nun wirklich nicht dabei zusehen wollte, wie er ihre Kameradin so zwanglos berührte, zum anderen aber, weil Elphaba sich sofort versteifte und dasaß, als fürchtete sie, Junker Fiyero würde ihr den Kopf zu weit herumdrehen oder ihr auf andere Art Schmerzen zufügen wollen. Schuldbewusst ließ er auch seine Hand wieder sinken, sobald ihr Gesicht wieder zu erkennen war. Elphaba senkte den Blick und starrte auf ihre Fußspitzen, ließ aber ihren Kopf diesmal, wo er war.
Galinda biss die Zähne zusammen, als sie die runden, rötlichen Brandwunden erblickte. Sie konnte es sich zwar immer noch nicht erklären, aber sie glaubte, ziemlich genau sagen zu können, wo diese neuen Verletzungen herrührten. Zu deutlich stand ihr noch die Erinnerung an die letzten Tage vor Augen; Elphaba, die sich mit einer viel zu dünnen Decke vor dem Wasser zu schützen versuchte, die ihre Verletzungen verbergen und herunterspielen wollte und nur ausweichend auf Fragen antwortete und die dann in Panik vor einem nassen Apfel zurückwich.

»Du bist nicht im Zimmer geblieben, nicht wahr?« Elphaba konnte Galindas Tonfall nicht deuten. Beinahe war es, als wäre in ihrer Stimme gar kein Tonfall vorhanden. Sie sah, wie Galinda resigniert den Kopf schüttelte und sich halb abwandte, doch in der nächsten Sekunde drehte sie sich wieder herum, und diesmal war ihr Ton kaum misszuverstehen.
»Ich kann dich einfach nicht verstehen, Elphie«, rief sie aus, und Elphaba verzog schmerzlich das Gesicht, woraufhin Galinda allerdings ihre Stimme nur unbedeutend senkte. »Ich will gar nicht wissen, was diesmal alles passiert ist... aber deinem jetzigen Zustand nach zu urteilen, warst du gewiss nicht imstande, selbst wieder zurückzukehren!« Sie warf einen fragenden Blick zu Fiyero, offenbar, um sich ihre Vermutung bestätigen zu lassen. Dieser wandte sich ein wenig und vermied es, Elphaba anzusehen, was für Galinda offenbar Bestätigung genug war. »Wie kann ein einzelner Mensch nur derart unvernünftig sein!«, schimpfte sie. »Und das bei diesem Unwetter! Elphie, es hätte wer weiß was passieren können... Sieh nur dein Gesicht an, hast du denn wirklich geglaubt, diesem Regen entgehen zu können?«
Elphaba schluckte trocken. Galindas wütende, schrille Stimme schien ihr Gehirn wegätzen zu wollen, und zudem befürchtete sie, sich nicht mehr lange in einer aufrechten Position halten zu können. Unsicher tastete sie mit einer Hand hinter sich. Galinda setzte gerade zu weiteren Vorwürfen an, als sie plötzlich ein leises »Oh« ausstieß und vom Bett aufsprang.
»Meine Pause ist fast vorüber – ich kann nicht bleiben, ich muss wieder in den Unterricht... schlaf ein wenig, Elphaba, und wenn ich wieder zurück bin, sprechen wir uns noch einmal!« Selten hatte eine Aussage aus dem Mund einer zierlichen Blondine so bedrohlich geklungen. Es dauerte nur ein paar Herzschläge lang, dann war Galinda auch schon wieder verschwunden, wobei sie ihren kleinen Spiegel auf Elphabas Bett zurückließ.

Elphaba schloss entkräftet die Augen und ließ Junker Fiyeros besorgtes Gemurmel an sich vorüberziehen. Vage fühlte sie, wie er sie stützte und ihr half, sich wieder zurückzulehnen, mit einigen Kissen in ihrem Rücken, um ihr das Atmen zu erleichtern. Allerdings schien er zu vergessen, danach ihren Arm wieder loszulassen. Elphaba war zu müde um zu widersprechen.

Sie wirkte so schwach... es tat ihm im Herzen weh, die sonst so starke Studentin in einem solchen Zustand zu sehen. Unwillkürlich strichen seine Finger an ihrem Arm entlang, bis er ihre Hand hielt.
Ihre Haut war viel zu warm, und auch ohne danach zu suchen konnte er den stolpernden, flatternden Puls darunter spüren. Sein eigener Herzschlag beschleunigte sich, als wollte er sich dem von Fräulein Elphaba anpassen. Mit dem Daumen fuhr er sacht über ihren Handrücken und beugte sich näher heran, fasziniert von dem Kontrast, den ihre grüne Haut zu seiner eigenen bildete, die ja auch nicht dem Durchschnitt entsprach mit ihrem dunklen Braunton. Schon bald konnte er die winzigen Poren erkennen, die ein sanftes, einladendes Muster in das Grün zeichneten, und ehe er wusste, was er tat, hatte er seine Lippen ganz leicht darauf gelegt – vorsichtig, wie der Hauch eines vorbeifliegenden Schmetterlings. Seine Lippen kribbelten, nahmen ihren Puls noch viel deutlicher wahr als seine Hand, doch die Empfindung währte nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor Elphaba erschrocken die Augen aufriss und ihre Hand reflexartig und mit einem Schmerzenslaut zurückzog. Er wich ebenfalls zurück und sah nervös zur Seite, sodass er nicht sehen konnte, was sie tat. Ein angespanntes Schweigen entstand zwischen den beiden, das nur von Fräulein Elphabas keuchendem Atem unterbrochen wurde – und von dem Geräusch seines eigenen Herzens, das ihm mit einem Mal entsetzlich laut und ungehobelt erschien. Fiyero räusperte sich. Er hatte es vermeiden wollen, doch es schien ihm, irgendetwas musste diese unangenehme Stille füllen. Er richtete sich auf, wobei seine Glieder ein weiteres Mal knackten, als ob sie sich beschweren wollten. Er drehte sich herum um ihr nicht länger in das leidende Gesicht sehen zu müssen – in das schöne Gesicht. Noch nie hatte er sich in so bedachtsamer Betrachtung darin verloren. Er hatte sich stets dem Glauben hingegeben, der Überzeugung, es sei zu abstoßend, zu eigentümlich um es länger als nötig anzublicken. Nie hatte er erwartet von solchem Zauber umfangen zu werden, wenn er sich in der Betrachtung ihres Gesichts so sehr verlor, wie eben. Avaric hatte sie spöttisch als Hexe bezeichnet. Er hatte gesagt, in Wahrheit studiere Fräulein Elphaba – die Hexe – gar keine Geschichts- oder Psychologiebände sondern die längst vergessene Jahrhunderte alte, gebrechliche Sprache der Zauberei und der Hexenkunst. Er hatte wohl schlicht nicht begreifen können, dass Geschichts- und Psychologie- und Biologiebücher, Bücher über den Namenlosen Gott, den Lurlinismus, die Kultur – oder die Wildnis – Quadlingens so interessant sein sollten, dass man sich tagelang dahinter vergraben konnte. Konnte es sein, dass Avaric keinen Schabernack getrieben hatte; nur dieses eine Mal nicht? Fiyero hatte fast den Eindruck, eine verborgene Macht würde durch Elphabas Adern rauschen, in ihrem Herzschlag dröhnen, in ihren Augen glühen, in ihrem Haar knistern. Sie war als gesamtes Wesen so von Geheimnissen umwoben, so einzigartig – eigenartig. Er hatte das Gefühl, sie hatte ihn tatsächlich mit einer finsteren Macht belegt, mit einem Zauber; sie hatte ihn verhext. Fiyero schüttelte den Kopf. Elphaba hatte die Augen geschlossen. Tatsächlich hatte er sie noch nie so regungslos gesehen. So still und kraftlos. Und trotzdem, so dachte er, war sie stark. Sie war temperamentvoll, sie war stur und durchsetzungsfähig und sie lebte nach ihrem eigenen Kopf; ganz so, wie ihr der Sinn stand. Und dabei ignorierte sie nicht nur die Meinung anderer, sondern oft auch ihre eigene. Sie sprühte vor Ehrgeiz und sonst strotzte sie auch nur so vor Energie und der Wissensdrang schien selbst schon wie eine eigene Krankheit; ein fanatischer Wahn. Und wenn sie nun, so sah Fiyero, die Ruhe gefunden hatte, die sie schon den ganzen Tag über benötigt hätte, wenn sie nun still lag und nicht mehr fähig war, sich zu bewegen und doch den ganzen vergangenen und heutigen Tag über mit derselben Krankheit, die wie ein Todesengel auf ihren Schultern gehockt und sie niedergedrückt hatte, hektisch umhergehastet war, als wäre ihr ein Rudel Jagdhunde auf den Fersen, dann bewunderte er das. Sie hatte die Krankheit auf ihre eigene Weise bezwungen – so lange sie es vermocht hatte. Nun war sie daran zerbrochen. Sie war eine Kämpfernatur. Sie hatte gekämpft, bis zum letzten Atemzug. Was für eine famose Kriegerin sie abgeben würde! Wenn sie bloß, so dachte Fiyero, keine Frau wäre… Selbst dem Tod würde sie davonlaufen können. So schnell, dass er sie noch ewig nicht einholen könnte, selbst, wenn er sich Jahrzehnte an ihre Fersen heften würde.
Fiyero wandte sich endgültig ab. Und weil Elphaba nichts sagte, sagte auch er nichts. Er ließ ihr ihre Ruhe, ließ ihr den Schlaf, in den sie nun gefallen war, ohne das Zutun eines anderen. Der Schlaf hatte sie überfallen und ihr war das wohlgesonnen. Sie verdiente den Schlaf; sie brauchte den Schlaf. In zittrigen aber tiefen Atemzügen hob und senkte sich ihre Brust und ab und an unterbrach ein schwaches Husten den unsicheren Rhythmus wieder.
Fiyeros Blick fiel nun auf die Tür zum Badezimmer. Auf den offenen Torbogen, der eben keine Tür barg. Doch nicht so wie das letzte Mal, als sein Blick in das Badezimmer gefallen war, war es nun ordentlich und gewohnheitsgemäß aufgeräumt. Das Wasser war aufgewischt, die Spiegel waren gesäubert, die Badewanne von Schaum und ebenso von Wasser befreit. Fiyero betrat den kleinen Raum. Auf dem Boden vor der Wanne lag ein flauschiger, pinkfarbener Frotteeteppich. Er gehörte ganz gewiss Fräulein Galinda – oder ganz gewiss, hatte Fräulein Galinda ihn dort hingelegt. Die meisten Kästchen, Anrichten und Regale wurden von Fräulein Galindas Make-up-Kollektionen in Anspruch genommen. Sie waren ein Meer aus verschiedenen, lieblichen Blau-, Lavendel- und Zartrosatönen daneben lagen Gesichtscremetuben und Schwämmchen, standen Nagellackfläschchen, – türkis, hellblau, pink, violett, sonnengelb, ziegelrot – gläserne Parfümfläschchen, die den Raum mit ihrem verführerischen Duft zu füllen schienen, und allerlei Schatullen aus denen schillernde Schmuckstücke ragten. Nur ein einziges, unscheinbares Regal war nicht von Parfüm- und Nagellackfläschchen bedeckt. Es war ein schlichtes, hölzernes Brett an der Wand, sonst wohl hinter der Tür versteckt. Darunter stand ein Hocker, auf welchem fein säuberlich einige, kleine Handtücher zusammengelegt waren. Auf dem Regal – auf dem Brett – lag eine Bürste. Zwischen ihren Borsten glänzte ein einzelnes, langes, rabenschwarzes Haar. Und darum herum reihten sich Glasfläschchen in verschiedensten Größen und Formen, die alle weder ein Etikett noch sonst irgendeine Erkennungsmöglichkeit besaßen. Sonderbar, so dachte Fiyero. Höchst sonderbar. Kurz entschlossen – obwohl er wohl wusste, dass man nicht in den Habseligkeiten einer Dame herumschnüffelte…aber Fräulein Elphaba war ja keine Dame…oder? – griff er sich eines der Glasfläschchen, zog den Deckel ab und roch daran. Er schloss die Augen. Herrlich. Als stünde er unter einer Kokospalme… Wenig später besann er sich, stöpselte die Flasche fachmännisch zu und stellte sie zurück an ihren Platz. Was hatte er denn eigentlich tun wollen? Ach richtig, die Tür… Sie lehnte an der Wand, wie eine Leiter. Ja, wie die Leiter zum Apfelbaum im Obstgarten, so dachte Fiyero schelmisch. Er hob die Tür auf, fuhrwerkte ein wenig an den Türangeln herum, bis sie wieder ordnungsgemäß darin hing. Nicht schwer war das gewesen. Türscharniere mit halbem Stift, so sagte er sich. Fiyero klatschte in die Hände, wie ein Baumeister, der soeben eine Ziegelmauer errichtet hat. Dann öffnete er die Tür, wie um zu prüfen, ob Elphabas Regal wirklich dahinter verschwand, wenn man sie nach innen aufdrückte. Tatsächlich. Als er die Tür wieder schloss, entdeckte er auch das schwer mitgenommene Türschloss und glaubte bald den Grund erraten zu können, weshalb die Tür aus den Angeln gehoben wurde. Wer hatte das getan? Fräulein Elphaba? Dem Türschloss fehlten einige Muttern, doch um sie wieder anzubringen, würde er Werkzeug benötigen. Ob er sich wohl aus der Werkstatt im Stadtzentrum von Shiz, die oft an Steinen zerschellte Droschkenräder wieder an den Droschkenwägen anbrachte und andere kleine Reparaturarbeiten erledigte, einen Schraubenschlüssel würde leihen dürfen?

Als Elphaba sich in ihren Decken stöhnend regte, drehte Fiyero sich erschrocken nach ihr um.
»Fräulein Elphaba?«, fragte er. »Ist Ihnen nicht wohl?«
Elphaba wälzte sich in ihrem Bett. Sie starrte die Wand an, die trostlose, graue Tapete. Sie sah die Risse darin und die Falten und sie dachte verbissen, wie wenig gewissenhaft sie an der Wand angebracht worden sein musste.
»Nein«, sagte sie heiser. »Ich habe geträumt, ein reißender Sturzbach strömt auf mich ein.« Das sollte wohl sarkastisch klingen, doch ausnahmsweise verfehlte Fräulein Elphaba ihren Sarkasmus dieses eine Mal.
Fiyero kam auf sie zu.
Elphaba fixierte noch immer die Wand mit einem Blick, als wäre diese Schuld an sämtlichen Problemen in Oz, an ihren eigenen ganz besonders. Deshalb bemerkte sie Fiyero erst, als er direkt hinter ihr stand und erneut zum Sprechen ansetzte. Bei seinen ersten Worten stieß sie einen leisen, erschrockenen Schrei aus und drehte sich hastig zu ihm herum, woraufhin er sich unterbrach und seine dunklen Augen sich weiteten.
»Entschuldigen Sie«, stammelte er hastig, als er ihre Reaktion sah. Natürlich hatte sie ihn nicht kommen sehen können, mit dem Gesicht zur Wand... wie sollte sie denn je Ruhe finden, wenn er sie derart erschreckte?, schalt er sich selbst lautlos. Elphaba benötigte einen Moment, bis sie ihren Atem wieder unter Kontrolle hatte, doch dann gab sie sich alle Mühe, ihren Schrecken zu überspielen.
»Was machen Sie denn überhaupt noch hier, Junker Fiyero?«, fuhr sie ihn mit kratziger Stimme unwirsch an. »Gewiss haben Sie selbst jetzt ebenso Unterricht wie Fräulein Galinda, Sie haben gar nicht die Zeit, untätig in einem Mädchenschlafsaal herumzusitzen...«
Mit einem gewissen Grad an Erleichterung stellte er fest, dass Fräulein Elphaba ihre Stimme wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte und nicht mehr mitten im Satz oder gar mitten im Wort unterbrechen musste, um nach Atem zu ringen. Dennoch wollte er ihren indirekten Vorwurf nur ungern auf sich sitzen lassen.
»Das habe ich in der Tat nicht«, bestätigte er ernst und blickte sie an. Ihre Augen waren halb geschlossen, als müsste sie gegen eine unsichtbare Kraft ankämpfen, die ihre Lider beständig wieder nach unten zwang. Nichtsdestotrotz hob sie zweifelnd eine Augenbraue. Mit einem Nicken deutete er zum Badezimmer.
Elphaba folgte seinem Blick, konnte aber im ersten Moment nichts Ungewöhnliches entdecken. »Die Tür?«, half ihr Fiyero vorsichtig auf die Sprünge, aus irgendeinem Grund besorgt, wie sie darauf reagieren würde. Tatsächlich stockte sie eine Sekunde lang, den Blick starr auf die Tür gerichtet. Dann fing sie sich wieder.
»Nun«, murmelte sie, »es scheint, Sie haben tatsächlich etwas getan, während ich... geschlafen habe.« Sie verabscheute den Gedanken, dass er sie womöglich beobachtet hatte, während sie in einer solch schwachen, verletzlichen Lage gewesen war. Im Schlaf war man so grässlich angreifbar. Das war der Grund, weshalb sie so ungern schlief – besonders, wenn sich noch jemand anders im Zimmer befand. In den ersten Nächten in Shiz war sie einen Großteil der Zeit wachgelegen, immer in der Befürchtung, Fräulein Galinda könnte auf ungute Gedanken kommen. Zu oft hatte sie schon davon gehört, wie gerne man unbeliebten Mitschülern und Kameraden beispielsweise des Nachts die Hände in lauwarmes Wasser tauchte... darauf konnte sie nun wirklich beileibe verzichten.
»Vielen Dank also für das Reparieren der Tür.« Sie schüttelte die Gedanken entschlossen aus ihrem Bewusstsein. »Da Sie damit ja allerdings nun fertig zu sein scheinen, steht Ihrem Verlassen des Zimmers wohl nichts mehr im Wege, wenn ich nicht irre.«
»Oh, Sie irren durchaus, so Leid es mir tut, Ihnen das sagen zu müssen«, behauptete Fiyero. Wieder einmal ließ er sich neben ihrem Bett auf die Hacken nieder. Fräulein Elphaba setzte zu einer zweifellos wenig freundlichen Erwiderung an, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen. Er befürchtete, sie würde so lange mit ihm diskutieren, bis er seine eigenen Argumente nicht mehr begriff; er hatte gehört, dass sie dafür ein ungeheures Talent hatte – und nach allem, was er wusste, bezweifelte er es nicht.
»Ich habe noch anderes hier zu tun«, erklärte er und hoffte, dass er dabei nicht allzu merklich errötete.

Elphaba gab sich alle Mühe, ihn durch den Schleier aus Müdigkeit, der ihren Kopf umgab und ihre Glieder schwer wie Blei werden ließ, böse anzufunkeln. Dieses Vorhaben wurde erheblich durch die leichte Röte erschwert, die auf einmal seine Wangen überzog, und die ihr in ihrem benebelten Zustand beinahe niedlich vorkam.
Erst als ihre Lungen zu brennen begannen, fiel ihr auf, dass sie unbewusst den Atem angehalten haben musste. Keuchend schnappte sie nach Luft, woraufhin Fiyero besorgt seine Hand auf ihre Schulter legte und sie nicht wieder fortnahm, bis sie wieder frei atmen konnte. Mit einem leisen, halb unterdrückten Stöhnen ließ sie sich wieder in die Kissen zurücksinken und gestattete ihren Augen, sich für ein paar Sekunden auszuruhen. Als Fiyero vorsichtig nach ihrem Arm griff und einen Daumen auf ihren Puls drückte, ließ sie ihn widerstandslos gewähren. Die Finger seiner anderen Hand strichen dabei mit langsamen, fließenden Bewegungen über ihr Haar, das völlig verknotet neben ihr ausgebreitet lag. Kurz spannte sie sich bei der Berührung an, doch der ruhige Rhythmus löste schon bald ihre Muskeln aus ihrer Verkrampfung.

Ein leises Seufzen kam über ihre Lippen. Fiyero ließ ihre Hand nicht los, obgleich er ihren Herzschlag längst deutlich genug wahrgenommen hatte und ihn noch immer spüren konnte. Immer noch hastig, immer noch unregelmäßig, aber ausgeglichener als zuvor. Er beobachtete sie stumm und registrierte, wie sie sich abquälte, um nicht wieder ihrer Erschöpfung nachzugeben.
»Ruhen Sie sich aus, Fräulein Elphaba«, sagte er leise, aber bestimmend, und fuhr mit dem Daumen in langsamen Kreisen über ihren Handrücken. »Sie können ganz unbesorgt sein, niemand wird Sie stören... und Sie brauchen den Schlaf.«
Schwach schüttelte sie den Kopf und zog ihre Hand ein Stück zurück, ließ sie aber in seiner. »Ich bin nicht müde«, behauptete sie. Auf seinen vielsagenden Blick hin gab sie ein unwirsches Geräusch von sich. »Zumindest nicht so müde, dass ich zwingend schlafen müsste«, korrigierte sie sich und versuchte, jedes Anzeichen von Ermattung aus ihrer Stimme zu verbannen. Fiyero antwortete nicht. Er fuhr fort, ihre Hand zu streicheln, und drückte letztlich erneut einen sanften Kuss darauf, den sie kaum wahrzunehmen schien. Er dachte daran, dass Galinda gewiss bald zurückkehren würde, und bedauerte, dass sie offenbar keinen ihrer männlichen Altersgenossen für wichtig genug empfand, dass sie sich von ihm noch eine Weile aufhalten lassen würde.

Doch schließlich verfiel sie wieder in einen Schlaf, der ebenso ein Trancezustand hätte sein können. Sie rührte sich kaum und ihr Atem war so ruhig, dass er auch nicht hätte vorhanden sein können. Fiyero legte ihre Hand behutsam nieder, die er die ganze Zeit über gehalten hatte. Er stand auf, er setzte sich wieder. Er erhob sich ein weiteres Mal, doch er ließ sich wieder auf das Parkett fallen. Seine Glieder zuckten, er wollte aufstehen, fortlaufen, die Tür schließen – er wollte dieses Gesicht nicht weiter ansehen müssen. Gleichzeitig wusste er, dass er sich gänzlich selbst betrog, wenn er behauptete, ihr Gesicht nicht mehr sehen zu wollen; zu können. Er drehte sich zu ihr um und er stellte sich vor, wie er seine Finger durch ihr seidiges Haar gleiten ließ, durch die Pracht, durch das pechschwarze Meer, das glänzte wie das Gefieder einer Nebelkrähe. Er stellte sich vor, wie er ihr Gesicht küsste, wie er seine Lippen an ihrer Ohrmuschel herab gleiten ließ, wie er weiter wanderte, ihr kantiges Kiefer herab, ihre Wangen herauf, die Nasenspitze wieder hinunter, bis sein Mund den ihren fand. Er fasste wieder nach ihrer Hand. Er bettete sie zwischen seine Hände und er rieb sie warm. Er küsste ihre Fingerspitzen. Den Zeigefinger, den Mittelfinger, den Ringfinger – nur den Daumen und den kleinen Finger erreichten seine Lippen nicht. Er hielt ihr Handgelenk und als ihre Hand im Schlaf erschlaffte, tippte er mit seinen Fingerkuppen auf die ihren, spürte, wie die Musterungen in seinen Fingern sich mit den Mustern in ihren Fingern vereinten. Er küsste ihre Fingernägel. Er küsste ihre Handfläche. Er küsste die kleinen Knochen, die sich vom Handrücken abhoben wie eine grüne Hügellandschaft. Nur die Handfläche küsste er nicht. Er fürchtete, sie zu verletzen und er fürchtete, sie zu wecken. So sehr es ihn auch in Ekstase versetzte, feine Küsse auf ihre Finger zu hauchen, er hatte doch Angst, dass sie selbst diese gehauchten Küsse aus dem Schlaf reißen konntenkönnten. Er erhob sich wieder, er ging ins Badezimmer zurück, er legte die Handtücher, die auf dem Hocker zusammengefaltet lagen behutsam in die Waschschüssel und er trug den Hocker neben Elphabas Bett und setzte sich darauf. Er blieb eine Weile still sitzen, er überschlug die Füße, er kam sich damenhaft vor, er stellte beide Füße fest auf den Boden, er fühlte sich wie ein Richter an seinem Pult im Gericht – beide Füße auf dem Boden, das gab solche Ernsthaftigkeit. Er stützte seinen Kopf in die rechte Hand, er stützte seinen Kopf in die linke Hand. Elphaba bewegte sich nicht. Fiyero fuhr sich durch das Haar. Elphabas Brust hob und senkte sich und die Bettdecke und der schwarze Pechfluss ihrer Haare hob und senkte sich mit ihr. Fiyero beugte sich vor – und gleich wieder zurück. Doch als er sich ein zweites Mal über sie beugte, küsste er ihre Stirn. Und weil nichts geschah küsste er ihre Stirn noch einmal. Es war herrlich! Herrlich, herrlich, herrlich! Fiyero küsste ihre Nasenspitze. Einmal, zweimal, dreimal. Und weil es ihm solche Befriedigung bereitete, küsste er sie noch ein viertes Mal. Gerade, als er sich erlauben wollte, ihr Kinn zu küssen, drehte Elphaba sich mit einem Stöhnen um. Fiyero ließ sich zurücksinken.

»Ach du liebe Güte«, sagte Elphaba und verbarg mit beiden Händen ihr Gesicht.
»Was haben Sie denn?«, fragte Fiyero sanft. Er fühlte sich ungeheuer fehl am Platz. Es war ihm, seine Küsse hätten tiefe Gräben in Elphabas Haut hinterlassen. Und ebenso war es ihm, diese Gräben wollten ihn schelten und an seine Manieren und seinen Anstand erinnern. Doch alle Sitten schienen vergessen, wenn er ihr nahe war. Elphaba. Seine Lippen formten ihren Namen. E-L-P-H-A-B-A. Das »Fräulein« ließ er bewusst aus. Elphaba beschirmte die Augen mit einer Hand, mit der anderen reichte sie Fiyero einen kleinen, rosafarbenen Handspiegel.
»Dieses Bild wird für immer darin gefangen sein«, sagte sie.
Fiyero nahm den Spiegel entgegen.
»Welches Bild?«, fragte Fiyero und warf einen Blick hinein.
»Das Bild, das ich im Spiegel sah, als ich hinein blickte. Ich sehe es immer. Immer, immerfort, wenn ich hinein blicke.«
Fiyero drehte den filigranen Spiegel in seiner Hand, sodass er ihn letztendlich richtig herum hielt. Seine Finger wirkten riesig um den dünnen, hellrosa glänzenden Griff.
»Wo kommt er denn her, dieser Spiegel?«, fragte Fiyero.
»Wo er herkommt?«, erwiderte Elphaba weiterhin ohne sich umzudrehen. Sie sprach mit der Wand, mit der unordentlich bearbeiteten, grauen Tapete. »Was fragen Sie mich? Ich habe mich wohl Versehens darauf gelegt... Und dann habe ich den Fehler begangen, direkt hinein zu schauen.«
Fiyero sah nun selbst in den Spiegel. Er sah sein eigenes Gesicht. Er sah die kunstvollen, blauen Karos, die sein Gesicht musterten, doch heute erschienen sie ihm wie Pfeilspitzen auf seiner dunklen Haut. Das halblange, kastanienbraune Haar, das sein Gesicht flankierte, schlug am Ansatz zarte Ringellöckchen, ebenso über den Ohren und diese Locke über der Braue, die sich wie eine Schnecke über seine Stirn zog – er hatte sie schon immer gehasst. Ein schändlicher, unanständiger Lüstling sah ihm da entgegen. Nein, er konnte sich gar nicht anschauen! Er senkte den Spiegel und legte die Handgelenke an seine Knie.
»Was sehen Sie denn, wenn Sie in den Spiegel blicken?«, fragte Fiyero.
Einen Augenblick blieb es still. So lange, bis Elphaba sich umdrehte und Fiyero ansah, als hätte sie nicht recht gehört.
»Was ich sehe?«, fragte sie und es klang fast, als spiele etwas wie Empörung mit ihrer schwachen, heiseren Stimme, die immer noch fremd klang; nicht wie Elphaba.
»Ich sehe bestimmt nicht dasselbe, wie Sie. Ein Spiegel zeigt jedem ein anderes Bild. Ein Spiegel lügt nie. Drum sagen Sie mir, was sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel sehen? Was zeigt er Ihnen?«
Elphaba schien die Frage noch immer nicht recht zu verstehen. Sie war absurd. Wie konnte man eine absurde Frage beantworten?
»Er zeigt mir, wie ich aussehe. Mein Gesicht. Das, was er eben jedem zeigt. Bloß das Gesicht. Mit den Augen, dem Haar, der Nase, dem Mund...«
Fiyero schüttelte den Kopf. Er beugte sich wieder vorsichtig an Elphaba heran und hielt ihr den Spiegel vor das Gesicht. Er selbst sah auch hinein.
»Was sehen Sie?«, fragte er noch einmal. Elphabas Züge verzerrten sich. Ihre Stirn schlug tiefe Furchen, ihre Lippen zitterten, ihre Nasenflügel bebten und sie presste die Augen zu dünnen Linien zusammen, gerade so, als ob sie gegen Tränen ankämpfen würde. Sie schob Fiyeros Hand weg.
»Sie müssen hinsehen«, sagte Fiyero.
»Ich muss gar nichts«, sagte Elphaba.
»Möchten Sie wissen, was ich gesehen habe? Ich habe hingeschaut«
Elphaba blieb still. Und weil sie still blieb, fuhr Fiyero schließlich fort.
»Ich habe Augen gesehen. Braune Augen. Die haben gesprüht vor Kämpfergeist und doch lag auf ihnen ein Schleier; ich kann nicht genau sagen, woher er kommt. Und das Gesicht, zu dem die Augen gehörten, war --«
»Nein!«, rief Elphaba, »Kein Wort mehr! Ich will es nicht hören!«
Fiyero hob mit leiser Überraschung seine Augenbrauen, und sofort musste er daran denken, wie oft er diese Geste schon bei Elphaba gesehen hatte. Im Moment allerdings waren die ihren nicht gehoben, sondern vielmehr herabgesenkt und eng zusammengezogen über ihren dunklen Augen, die dadurch tief in ihren Höhlen verschwanden. Es war, als wollten ihre Augen sich vor ihm zurückziehen, sich vor seinem suchenden Blick verbergen, ihm nichts preisgeben über die Gedanken ihrer Inhaberin aus Angst, er könnte ihre Geheimnisse in den Schmutz ziehen.
»Sie wissen doch gar nicht, was ich sagen wollte«, bemerkte er leise, ohne sich anmerken zu lassen, dass ihr glühender Blick ihn durchaus ein wenig beeindruckte, den sie auch jetzt noch nicht einstellte.
»Ich will es auch gar nicht wissen«, fauchte sie und versuchte, ihm den Spiegel wieder wegzunehmen. Er hob den Arm, und mit einem frustrierten Stöhnen gab sie das Unterfangen auf. »Verschwinden Sie einfach«, murmelte sie resigniert und machte Anstalten, ihr Gesicht wieder zur Wand zu drehen. Fiyero schüttelte den Kopf und legte einen Finger auf ihr Kinn, was sie veranlasste, mitten in der Bewegung innezuhalten. Obwohl ihre Haut noch immer fiebrig heiß war, lief ihm ein kühler Schauer den Rücken hinab. Er musste sich beherrschen, um seinen Finger nicht über ihr ganzes Gesicht streichen zu lassen.
Elphabas Kiefer spannte sich an. Unwillkürlich drückte sie sich ein bisschen tiefer in ihre Kissen, um Fiyeros Berührung zu entgehen. Sie sah ihn an. »Was?«
»Lassen Sie mich ausreden«, bat er. »Nur dieses eine Mal.«
Er beobachtete, wie sie einen Moment lang die Augen schloss, als könnte sie seinen Anblick nicht mehr ertragen. Da sie ihm die Antwort schuldig blieb, nahm er an, dass er die Erlaubnis hatte, fortzufahren. Ob Fräulein Elphaba ihm allerdings auch tatsächlich zuhören würde, stand naturgemäß auf einem anderen Blatt.
Seine Stimme klang belegt. »Das Gesicht, das der Spiegel mir zeigte...« Er schluckte. Oz, dass es so schwer sein konnte, seine eigenen Gedanken auszusprechen! Und er konnte auch nicht sagen, dass Elphaba mit ihrem finsteren Starren es ihm leichter zu machen versuchte. »Es war grün«, erklärte er schließlich und sprach schnell weiter, um jedweden sarkastischen Kommentar zu unterbinden. »Aber das ist nicht alles. Es war ein ausdrucksvolles Gesicht, und zugleich geheimnisvoll... es zeigte nur das, was andere sehen sollten, alles andere lag tief verborgen in den braunen Augen, wie der sanfte Schimmer eines fernen unterirdischen Sees. Und es zeigte Willensstärke und Kraft und... Leidenschaft... Es war wunderschön«, endete er fast unhörbar.

Beide schwiegen daraufhin. Von draußen drang leise das Lachen und Rufen von den Studenten herein, die sich auf den Weg in ihre nächste Vorlesung machten, oder deren Dozenten sie ein paar Minuten früher entlassen hatten. Fiyero verlor sich in Elphabas Augen; ihm war, als wären sie tatsächlich Seen, große, dunkle Seen von nie gekannter, unerforschter Tiefe, und er hatte sich zu weit vorgewagt und wurde nun gnadenlos von ihnen verschlungen – ohne ihrem Geheimnis auch nur einen winzigen Schritt näher gekommen zu sein. Zu dunkel waren sie, zu wenig Tageslicht erreichte ihren Grund. Er ertrank darin, doch nie hatte er etwas Süßeres gespürt.
Doch dann brach Elphaba die Stille mit einem verächtlichen, abschätzigen Schnauben, und er wurde wieder näher zur Oberfläche gerissen. »Sie haben ganz offensichtlich ein Problem mit den Augen«, erklärte sie, doch ihre Stimme bebte und ihr gleichgültiger Sarkasmus klang erzwungen. »Vielleicht wollen Sie einmal meine Brille versuchen?« Fiyero ging nicht darauf ein.
»Versuchen Sie es«, flüsterte er, so eindringlich, dass sie ein Stück zurückzuckte. »Sehen Sie hinein, ohne Vorbehalte. Nur ein einziges Mal.« Erneut hielt er ihr die kleine, runde Fläche vor die Augen, und sie wandte wütend den Blick ab. Konnte er denn nicht begreifen, wie sehr er sie damit quälte? Jeder körperliche Schmerz, den sie in den letzten achtundvierzig Stunden erfahren hatte, schien zu einem unbedeutenden Nichts zusammenzuschrumpfen im Vergleich zu dem, was sie verspürte, wenn sie in den Spiegel sah. Es war abstoßend. Das Gesicht, das ihr entgegenblickte, war eine unmenschliche, grüne, widerwärtige bleiche Fratze, mit Augen, die tief in ihren Höhlen brannten und ihr ein Loch ins Herz schmelzen wollten. Es war nur das äußere Zeichen für die gräuliche Unvollkommenheit, die ihr gesamtes Wesen ausmachte. Niemals würde sie gut genug sein können, gut genug, um in den Spiegel sehen zu dürfen, ohne den Hass fürchten zu müssen, der ihr daraus entgegenschlug. Den Hass der anderen um sie herum, den Hass ihrer Familie, ihres Vaters, und ihren eigenen. So mied sie Spiegel, wo sie nur konnte. Und nun besaß er die Grausamkeit, sie zum Hineinblicken zwingen zu wollen?
»Lassen Sie es«, murmelte sie schwach, ohne die Augen zu öffnen. Sie spürte einen Kloß in ihrer Kehle, in ihrer Brust stach es, und obgleich sie atmete, schien es nicht auszureichen. Eine Hand fuhr ihr übers Haar, und sie erschauerte.
»Bitte.« Fiyero gab nicht nach. Elphaba atmete kurz und heftig aus und riss schließlich die Augen auf.
»Na schön!«, rief sie mit heiserer, sich fast überschlagender Stimme. »Sie wollen wissen, was ich sehe? Wollen Sie das wirklich? Denn offenbar sehen Sie tatsächlich jemand anderen als ich; das einzige, was die beiden Gesichter gemeinsam haben, ist die Hautfarbe, denn diese ist in der Tat grün! Und der Rest ist noch verabscheuungswürdiger als diese verfluchte Farbe! Ich sehe nichts als ein Gesicht von abgrundtiefer Bosheit. Die Wangen sind eingefallen wie bei einer Leiche, und Nase und Kinn sind so spitz, dass man sich daran verletzen könnte, wenn irgendjemand den Mut hätte, nah genug heranzukommen, während der Mund zusammengekniffen ist und selbst beim Lächeln einen grausamen Zug aufweist, der bar jeder Menschlichkeit ist. Es ist einfach nur... grauenhaft.« Schwer atmend versuchte sie, ihren Zorn hinunterzuschlucken, der wie flüssiges Feuer durch ihre Adern floss. Mit einem leisen, wütenden Schrei richtete sie sich in einem Kraftakt auf und schlug Fiyero den erbarmungslosen Spiegel aus der Hand, in der Absicht, ihn auf dem Boden zu zerschmettern. Doch nicht einmal das bekam sie hin, stattdessen fiel er zurück auf ihre Matratze und lag still, spiegelte auf pathetische Weise die Decke wieder. Frustriert schloss sie die Augen und drehte sich wieder zur Wand. Diesmal hielt Fiyero sie nicht zurück.

Lange sah er sie an, während die verschiedensten Emotionen über sein Gesicht tanzten.
»Das stimmt so nicht«, sagte er schließlich leise, fast zu sich selbst. Elphaba erstarrte. »Das ist nicht Ihr Bild, das kann es nicht sein... Das ist das Bild, das andere Ihnen zeigen. Shenshen, Avaric. Es ist der Spiegel, den Galinda Ihnen vorhält, oder bis vor kurzem vorgehalten hat... Galindas Spiegel. Nicht nur im wörtlichen Sinn«, fügte er hinzu, denn gewiss war dieses rosafarbene Gerät nichts, was Elphaba selbst sich zulegen würde.
»Sie müssen nur Ihren eigenen Spiegel finden, einen Spiegel, der Ihnen nicht das verzerrte Bild zeigt, das andere von Ihnen sehen wollen...«
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