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Beautifully Tragic

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Freundschaft / P16 / Gen
Elphaba Thropp Fiyero Tigelaar/Tiggular Glinda/Galinda Upland of the Upper Uplands
28.02.2013
19.11.2016
25
90.896
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Dieses Kapitel
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26.06.2016 3.895
 
AN: Man mag sich wundern, warum hier nach geraumer Zeit wieder etwas zu lesen ist. Die Toten regen sich wieder, die stummen Glocken klingeln wieder, der Sturm braust wieder – was lange begraben war ist nun durch ein einziges Review ans Tageslicht befördert worden. Und nach Jahren der Stille, entdeckten wir, dass es noch einige Kapitel dieser Geschichte gibt, die noch unerzählt in unserem Archiv schlummerten. Obwohl die Geschichte kaum eine Chance hat, je zu ihrem Ende zu finden, was uns aufrichtig leid tut, haben wir nun beschlossen, unseren lang vernachlässigten Leser/innen eine letzte Freude zu bereiten und die noch ausstehenden Kapitel zu enthüllen. Hiermit wünschen wir allen, die noch Interesse daran haben viel Spaß beim Lesen!

***


Bei allen Büchern in meinem Regal



»Galinda Arduenna«, flüsterte Elphaba. Ihre Stimme bebte vor Zorn, und Galinda wich halb krabbelnd noch ein Stück zurück, wobei sie fast das Gleichgewicht verlor. Elphaba schien ihre Schwäche für den Augenblick vollkommen vergessen zu haben. Sie griff nach Galindas Arm und zerrte sie unsanft wieder auf die Füße. Galinda spürte die raue Haut ihrer Handflächen und erschauderte ein bisschen. Sie wagte nicht, Elphaba in die Augen zu sehen.
Dieser schienen zum ersten Mal, seit sie sie kannte, tatsächlich die Worte ausgegangen zu sein. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder, schnappte vor Wut nach Luft. Sie sah aus, als würde sie Galinda schlagen wollen. Ihre Hände krümmten sich zu Fäusten, und sie schüttelte den Kopf, als hielte sie sich mit aller Macht davon ab, diese zu heben.
»Elphie«, wisperte Galinda verängstigt, »bitte, es tut mir Leid – ich wollte nicht, ich habe nicht nachgedacht, ich wollte doch nur – ich wollte doch nur dein Bestes!« Tränen liefen ihr über die Wangen – noch mehr Wasser, wie sie unbewusst registrierte. Würde es Elphaba davon abhalten, ihr näher zu kommen...? »Elphie, Elphaba, bitte h-hör auf... du – du machst mir Angst!« Verstört presste Galinda sich mit dem Rücken an die Wand. Elphabas Augen fesselten die ihren, ließen nicht zu, dass sie sich aus ihrem Bann befreite und zur Seite sah. In den dunklen Tiefen schien es zu glühen, als würde sich in Elphabas Innerem ihr Zorn verstofflichen und jeden Moment ausbrechen wie ein aktiver, todbringender Vulkan. Ihr langes, schwarzes Haar schien zu zittern, als wäre es elektrisch aufgeladen, und wäre es kürzer, Galinda hätte geschworen, dass es von ihrem Kopf abstehen würde. Ein leises Knistern lag in der Luft.
»Elphie...?«
»Hör auf damit!«, fauchte Elphaba. Ihre Augen sprühten Funken. »›Elphie‹, etwas dämlicheres konnte dir wohl nicht mehr einfallen, was?«
Von über dem Waschbecken her ertönte ein leiser Knall. Galindas Kopf zuckte herum, während Elphaba sich so gut wie nicht bewegte. Der Spiegel, der dort an der Wand hing, hatte einen Sprung – als hätte jemand einen winzigen Kieselstein dagegen geworfen. Ein kleines Loch, nahe der oberen rechten Ecke, von dem aus sich feine Verästelungen über das Glas zogen, wie ein zartes Spinnennetz. Die kleinere der Studentinnen sah die Reflexion ihrer Mitbewohnerin darin, die hauchdünnen Risse liefen über ihr Gesicht hinweg, warfen Schatten, wo keine waren, und ließen den Eindruck entstehen, als würde die grüne Haut aufspringen und nichts als tiefste Schwärze offenbaren.
Galinda zitterte am ganzen Körper. Sie warf einen zaghaften Blick zu der Waschschüssel, in der ein dunkler Fleck fröhlich vor sich hin einweichte, und ließ ihre Augen sogleich wieder zurückzucken. Elphaba allerdings war ihrem Blick gefolgt. Sie schien außer sich vor Zorn, doch zugleich schien sie mit einem Mal wieder klarer zu denken. Die Hände noch immer zu kleinen Kugeln verkrampft, senkte sie ihre Lider, gab sich Mühe, ihren stoßartigen, keuchenden Atem zu beruhigen. Galinda biss sich nervös auf die Lippe und zuckte dann mit einem Schreckenslaut zusammen, als Elphaba unerwartet ein lautes, zorniges, beinahe schon wahnsinniges (wortloses) Kreischen von sich gab und ihre Arme in die Luft warf, bevor sie nach einigen Sekunden wortloser, angespannter Stille stöhnend rückwärts taumelte.

Ihr Kopf fühlte sich an wie ein Wattebausch. Nicht einmal Wut war mehr darin zu finden, nur noch... Watte. Flauschige, fluffige Watte ohne jeden sinnvollen Inhalt, und Elphaba hatte nicht gewusst, dass Worte wie »fluffig« überhaupt zu ihrem aktiven Wortschatz gehörten. Sie konnte nicht mehr, sie fühlte sich, als wäre sie ein meilenweites Wettrennen gelaufen, nur um kurz vor der Ziellinie überholt zu werden und nur als zweite ins Ziel zu gehen. Besiegt. Antriebslos. Entkräftet. Sie bekam durch halb geöffnete Lider mit, wie Galinda sich ihr zögerlich näherte, und ließ es teilnahmslos zu. Sie hatte ihr Angst gemacht, das wusste sie, und sie wusste nicht einmal genau, wie. Der schwarze Stoffklumpen im Wasser erschien ihr wie eine Metapher für sie, Elphaba, selbst; vollgesogen mit Erschöpfung, viel schwerer als normal, kaum fähig, sich zu rühren. Galindas Tränen, die ihr noch immer über die Wangen rannen, wirkten nicht gefährlicher als ein Glas Milch, sie ließen ihre Glieder nur noch schwerer werden.
»Elphie?« Der Versuch, gefasst und ruhig zu klingen, scheiterte kläglich, doch Elphaba rührte sich kaum. Galinda stützte sie, fest entschlossen, sie zurück auf ihr Bett zu bugsieren, solange sie es noch geschehen ließ. »Ich weiß, ich hätte das nicht tun dürfen«, seufzte sie dabei, »aber ich wusste nicht mehr weiter mit dir... Du bist so dickköpfig! Und egal, wie vernünftig du im Normalfall sein magst, wenn es zu deinem eigenen Wohlergehen kommt...« Stumm schüttelte sie den Kopf. Sie war nicht einmal sicher, ob Elphaba ihre Worte hörte. Von einem Moment auf den anderen hatte sich ihr Verhalten grundlegend geändert – Galinda sah den Zorn in ihren Augen noch vor sich, die Funken, die um ihre Finger zu zucken schienen... Die unerträgliche Hitze, die auf einmal von ihr ausgegangen war.
»Ich werde bei deinen Professoren nach deinen Hausaufgaben fragen«, erklärte sie, während sie ihre Freundin unter die Bettdecke zwang. »Und du wirst hier liegenbleiben!«


Nur wenig später trat Galinda auf den Gang hinaus. Noch nie war sie zu so früher Stunde allein in den dunklen Korridoren des Universitätsgebäudes unterwegs gewesen. Für gewöhnlich hatte sie Milla und Shenshen an der Tür zu ihrer gemeinsamen Stube getroffen und war mit ihnen in die Kantine gegangen um nach Belieben Kaffee oder Tee zum Frühstück zu nehmen, bevor sie fröhlich schwatzend miteinander in ihre Klassenräume gegangen waren. Heute wäre es ihr albern erschienen, zu sehen, was ihre Freundinnen gerade taten. Ob sie schon ihre Kleider zurechtstrichen, oder erst dabei waren, sich gegenseitig das Haar zu bürsten. Zudem waren sie vielleicht noch nicht einmal aus ihren Betten aufgestanden. Soeben war Galinda wieder eingefallen, dass sie ja noch viel früher unterwegs war als sonst, immerhin war sie an diesem Morgen gemeinsam mit Elphaba aufgestanden und erst, nachdem diese bei all den Büchern in ihrem Regal geschworen hatte, dass sie die nächste Zeit im Bett zubringen würde, hatte Galinda sich selbst zurecht gemacht und hatte die Stube verlassen.
Der melancholisch schwere Regen tauchte die Arkadengänge der Universität in grauen, trostlosen Nebel. Ab und an fegte eine kalte Frühlingsbrise Galinda einige Regentropfen ins Gesicht und sie schlug den Kragen ihrer Jacke hoch, um ihr Haar davor zu schützen durch den Regen aus der Form gebracht zu werden. Die Wolken verdeckten die Sonne, sodass nirgendwo ein herrlicher, goldgelber Sonnenaufgang zu sehen war. Galinda schnaubte verärgert. Nun war sie so früh in den Arkaden, unterwegs zu dem Klassenraum für Musik, und der Regen erdreistete es sich, ihr den Genuss eines Sonnenaufgangs zu verwehren! Aber, so sehr, wie dieser momentan wütete, wie dieser momentan auf den Boden einschlug, als ob er ihn fortschieben wollte, würde er doch gewiss Hindernis genug für Elphaba sein, als dass diese sich tatsächlich gezwungen sah, den Tag in der Stube zu verbringen – oder?
Als Galinda schließlich die Tür zum Musikklassenraum erreicht hatte, zögerte sie einen Moment. Es war so still darin, dass man das Husten einer Maus hätte hören können, wenn man einen Augenblick den Atem anhielt. Oder gar eine Familie von MÄUSEN, die sich leise unterhielt? Gerade überlegte sie, ob es nicht besser wäre, sie würde doch in der Kantine sehen, ob ihre Freundinnen dort bereits beim Frühstückskaffee zusammen saßen, als ihre Musiklehrerin, die überaus junge und zu allem Überfluss auch noch äußerst attraktive Madame Famina, den Korridor entlang auf sie zu kam.
»Fräulein Galinda?«, sie klang überrascht. Sie hatte vermutlich nicht erwartet, Galinda so früh schon vor dem Klassenzimmer anzutreffen.
»Guten Morgen, Madame«, grüßte Galinda halbherzig. Sie konnte Madame Famina nicht besonders gut leiden, nicht zuletzt, weil sie sich viel zu oft dabei ertappte, wie sie sie um ihren wohlgeformten Busen und ihre sinnlichen Lippen beneidete. Und um die nussbraunen, langen Locken, die fast ähnlich seidig waren, wie die Elphabas. Heute trug sie diese allerdings streng und sorgfältig zurück gesteckt. Bestimmt war ihr Madame Akaber dahinter gekommen, dass sie ihr Haar stets offen trug, so dachte Galinda. Und sie wusste, wie viel Wert Madame Akaber darauf legte, dass ihre Lehrkräfte sich angemessen zurechtmachten und kleideten. Sie sah es nicht gern, wenn besonders die weiblichen Professoren ihre Haarpracht nicht bändigten.
»Warum sind Sie denn schon hier? Zu solch früher Stunde?«, fragte Madame Famina, während sie sich an Galinda vorbei schob und die Tür zum Klassenzimmer aufschloss.
»Ich…« Galinda beschloss, nichts zu erwidern. Madame Famina hatte es nicht zu interessieren, weshalb Galinda ein einziges Mal nicht deutlich später sondern zur Abwechslung deutlich früher zum Unterricht erschien!
Tatsächlich sah sie das wohl selbst ein, denn sie fragte nicht nach. Stattdessen begann sie, die Notenblätter auf dem Klavier zu sortieren und bat Galinda freundlich, sich zu ihr zu setzen.
»Sie hatten doch ein Menuett vorbereitet, wenn ich mich recht erinnere?«, sagte sie und bedeutete Galinda, ihre Finger auf die Klaviertasten zu legen. »Möchten Sie spielen?«
Galinda deutete ein Nicken an. Sie stellte ihre Tasche ab und begann zu spielen. Dabei schloss sie selbst die Augen. Sie hielt die Pausen im Stück besonders lang und sie machte fließend schaukelnde Bewegungen mit den Händen. Madame Famina sollte beeindruckt sein! Als sie geendet hatte, ließ sie das Stück ausklingen, ehe sie sanft in die Hände klatschte und Galinda lobte. Galinda nahm die Komplimente nur halbherzig entgegen. Fast, als ob sie wusste, dass sie großartig gespielt hatte. Wie konnte es anders sein?

Nach einem Blick auf die Uhr an der Wand im Klassenzimmer, hatte Galinda sich flüchtig entschuldigt, mit dem Vorwand, sie müsse Pfannee aus der Kantine abholen und sie zum Unterricht begleiten. Es wäre Galinda selbst höchst absonderlich erschienen, wäre sie schlicht still und zu allem Überfluss auch noch als einzige im Klassenzimmer gesessen und hätte stumm dabei zugesehen, wie die Studenten jeweils in lebhafte Gespräche vertieft den Saal betraten. Darum betrat sie den Klassenraum zur rechten Uhrzeit ein weiteres Mal, diesmal mit Pfannee an ihrer Seite.
Galinda hörte Pfannee dabei zu, wie sie mit glockenheller Stimme das Lied zum Besten gab, das sie für die heutige Unterrichtsstunde geübt hatte. Doch sie konnte sich kaum auf den Inhalt dieses Liedes konzentrieren, nicht auf die Melodie, nicht auf den Rhythmus, den sie dazu auf dem Klavier spielte. Unwillkürlich hatten ihre Gedanken den Weg zurück zu Elphaba gefunden. Hätte sie nicht besser bei ihr bleiben sollen, anstatt in den Unterricht zu gehen? Wie konnte sie wissen, dass sie ihr Versprechen auch hielt? Zudem: Von welchem Wert konnte ein Versprechen, das sie Galinda gegeben hatte, für Elphaba sein? Galinda seufzte. Wäre es denn ihre Schuld, wenn Elphaba etwas zustoßen würde? Obgleich sie energisch den Kopf schüttelte, um ihre wirren Gedanken zu ordnen, es gelang ihr bis zum Ende der Stunde nicht.


Kaum hatte Galinda den Raum und Elphaba hinter sich gelassen, wurde diese unruhig. Die Decke, die schwer auf ihrem Körper ruhte, erschien ihr einmal zu heiß und dann wieder zu kalt, und sie rutschte darunter herum, unfähig, eine halbwegs angenehme Position zu finden. Sie hatte beschlossen, der leisen, nagenden Stimme der Vernunft irgendwo in ihrem Kopf nachzugeben, die ihr beharrlich befahl, zu schlafen und sich auszuruhen. Sie versuchte es. Sie versuchte es wirklich! Und dennoch wollte der Schlaf sich nicht einstellen. Durch das Fenster gab es zwar keinen Sonnenaufgang zu sehen, aber trotz der dicken, grauen Wolken drang mehr und mehr Licht in den Schlafsaal hinein, wühlte sich mühsam durch die düsteren Berge aus kondensiertem Wasser hindurch und fiel ihr in die Augen, wodurch es effektiv verhinderte, dass Elphaba Ruhe fand.
Nach einem Blick auf die Uhr befand sie, dass sie ohnehin genug Zeit im Bett verbracht hatte. Sie hatte es versprochen, hatte es versucht und war gescheitert, somit hatte sie nun wohl jedes Recht, ihren eigenen Plänen nachzugehen. Die Vernunft verzog sich in irgendeinen unerforschten Winkel von Elphabas Gehirn und schmollte.
Mit fest zusammengepressten Augenlidern krallte sie ihre dünnen, knochigen Finger um die Bettkante, als sie endlich auf ihren Füßen stand. Ganz Oz schien heute Gefallen daran zu finden, sich um sie herum zu drehen, entlang jeder auffindbaren Achse, sodass sie kaum mehr wusste, wo denn nun oben war. Minutenlang verharrte sie in dieser Haltung und ignorierte bei ihren Bemühungen um ihr Gleichgewicht alles andere: Dass sie vielleicht doch besser in ihr Bett zurückkehren sollte, dass ihr Kopf pulsierte, als jagte jemand zu experimentellen Zwecken Stromstöße durch ihr Gehirn, dass es dem Apfel, den sie gestern mit Müh und Not hinuntergezwungen hatte, in ihrem Magen nicht mehr so recht zu gefallen schien, dass sie aufgrund des Regens, der draußen immer noch wie aus Eimern gegossen prasselte, ohnehin kaum Aktionsspielraum hatte...
Schließlich öffnete sie zögernd ihre Augen und blinzelte einige Male. Das Dämmerlicht draußen erschien ihr wie der gleißend helle Strahl der Mittagssonne. Dennoch tat sie ein paar unsichere Schritte, bis nur noch eine Glasscheibe zwischen ihr und dem Wasser stand, das beim Herabstürzen bedrohlicher aussah, als das Fallbeil einer Guillotine es je vermocht hätte. Kleiner gläserne Kristalle schlugen gegen das Fenster und zerbarsten daran, vervielfachten sich und brachen das Licht auf grausam schöne Art und Weise. Wenn man genau hinsah, konnte man vielleicht Millionen von winzig kleinen Regenbögen erspähen... doch Elphabas Augen schmerzten, wenn sie es versuchte, und fast glaubte sie, sie würde bereits schielen vor Anstrengung.
Die Kristalle liefen das kalte Glas hinab, stockten auf halbem Wege, setzten ihre Reise fort, wenn sich ein zweiter mit ihnen vereinte, ihnen mehr Gewicht verlieh, das von der Gravitationskraft angezogen werden konnte. Sie pressten sich an das Fenster, wurden vom Wind dagegengepeitscht und klammerten sich mit eisigen, klammen Fingern daran fest, blickten zu ihr herein, verlangten danach, das Glas zu durchdringen, gierten nach ihrer grünen, verwundbaren Haut, hungerten nach ihr, danach, sie zu schmelzen, aufzulösen, sich mit ihr zu vereinen... mit ihr davonzufließen, nicht mehr durchsichtig und klar, sondern grün; schillernde, flüssige Smaragde... Welch angenehme Vorstellung, wie schön musste es sein, sich als kleiner Tropfen selbst zu verlieren, fortzufließen ohne Reue, alles hinter sich zu lassen...
Sie fuhr zurück, als hätte sie sich verbrannt. In ihren Handflächen, die sie gegen die Scheibe gepresst hatte, spürte sie noch die Kälte des Glases. Keuchend schüttelte sie den Kopf und verscheuchte die Gedanken, die sich zu einer wirren Versammlung zusammengefunden hatten. Der Regen schien sich über sie lustig zu machen, und sie wich hastig zurück, stolperte dabei und konnte sich gerade noch am Schreibtisch festhalten. Unwillkürlich warf sie dem Fenster einen misstrauischen Blick zu, bevor sie hastig den Kopf abwandte. Bewusst lenkte sie ihre Überlegungen in andere Bahnen, als sie sich erschöpft auf den Stuhl sinken ließ; schwer atmend und mit dem Gefühl einer drohenden Panikattacke, das sie entschlossen zurückzwang. Ihre Hände bebten mehr als je zuvor, als sie wahllos ein Buch öffnete und nach einer Feder griff. Sie hatte noch immer Hausaufgaben zu erledigen, und es war ja nicht so, als hätte sie gerade etwas besseres zu tun.

Zwei Stunden später starrte sie mit tränenden Augen auf verschwimmende Sätze und zwang die Worte, zumindest so lange stillzuhalten, bis sie ihre Bedeutung aufgenommen hatte. Nur noch ein paar Absätze musste sie zu Papier bringen, dann hätte sie es geschafft. Auch wenn sie befürchtete, dass sie ihren Aufsatz noch einmal komplett überarbeiten musste, wenn sie ihn bei klarem Kopf noch einmal durchlesen würde. Konzentriert zog sie noch ein paar Linien, strich ein paar unpassende Worte durch und ersetzte sie durch andere und setzte schließlich hinter den letzten Satz einen Punkt, der beinahe ein Loch in das Papier stach. Ein kurzer Blick zum Fenster – die schweren, klatschenden Tropfen waren kleineren gewichen, einem Sprühregen, der weit harmloser wirkte, obgleich Elphaba wusste, dass er stechen würde wie tausende von haarfeinen Nadeln. Sie wandte sich wieder ab, rieb sich die Schläfen und drehte sich zur Seite, als ein Husten sie schüttelte. Eine Weile ließ sie es zu, dass ihre Lider herabsanken, und gönnte ihren überanstrengten Augen ein wenig Erholung, bevor sie sie plötzlich wieder aufriss und hastig nach dem Buch griff, in dem sie gerade noch gelesen hatte. Das kleine Kärtchen, das vorne zwischen der ersten Seite und dem Deckel steckte, bestätigte ihre Befürchtungen: Das Buch stammte aus der Bibliothek von Shiz, und es lag schon eine ganze Weile in ihrem Zimmer. Und länger durfte es dort nicht liegen bleiben, weil sie dann die Leihfrist überziehen würde... und in diesem Punkt hatte Elphaba noch nie mit sich reden lassen. Wenn es jemanden gab, mit dem sie auf keinen Fall auf Kriegsfuß stehen wollte, dann waren es diejenigen, die für Nachschub an Büchern auf ihrem Tisch sorgten.
Elphaba schob vorsichtig ihre zitternden Finger zwischen die Seiten des Buches. Sie hörte, wie es knisterte - es schien sie zu schelten, es schien sie zurechtweisen zu wollen. Es wollte sie daran erinnern, dass sein rechtmäßiger Platz in den Regalen der Bibliothek war und dass es lange genug auf Elphabas Schreibtisch und zwischen den Schulbüchern in ihrem Kleiderschrank - oder Bücherschrank, welchen Namen auch immer man ihm geben wollte - gelegen hatte. Mit einem leisen Zischen zog Elphaba ihre Hände wieder zwischen den Seiten des Buches hervor. Sie stützte die rechte Hand auf dem Buchdeckel ab und hob die linke bedachtsam an ihr Gesicht während sie gegen den Schreibtischstuhl gepresst dastand. Und sie besah sich ihre Wunden mit prüfendem Blick. Wie Messerschnitte sahen sie aus, wie tiefe Narben, wie aufgeplatzte Nähte, wie -- Elphaba senkte die Hand. Sie beschloss, ihre Hände später einer sorgfältigen Ölbehandlung zu unterziehen. Doch nun hielt sie zielstrebig auf ihren sogenannten - oder auch nicht sogenannten - Kleiderschrank zu und öffnete eine Schublade, die ein grässliches Quietschen vernehmen ließ, als Elphaba sie aufzog, fast so, als ob ein kleines, schlafendes Tier - oder TIER - darin läge, das sich beschwerte, dass Elphaba es geweckt hatte. Diese wühlte vorsichtig in dem in Grau-, Schwarz- und dunklen Rottönen gehaltenen Meer aus Kleidungsstücken, bis sie ein vollständiges Paar Handschuhe erspähte. Galinda hatte doch wohl nicht gedacht, dass Elphaba bloß ein einziges Paar Handschuhe besaß! Zwar waren diese hier aus hartem Leder, das sich kaum verformen ließ und sie waren beinah etwas zu klein für Elphabas lange, dünne Finger, (Die, die nun im Waschbecken trieben, waren ein Geschenk von Ämmchen gewesen. Sie hatte - obschon sie wusste, dass sie nicht die geschickteste war, wenn es zur Handarbeit kam - sie für Elphaba gestrickt und sich dabei an den nachgezeichneten Umrissen ihrer Hand orientiert, weshalb sie ihr ohne weiteres passten, wie fast kein anderes Paar Handschuhe in ganz Oz), doch aus Mangel an Alternativen streifte sie die dunkelroten Lederhandschuhe schließlich über. Sie suchte nach einem zweiten Paar Strümpfe, doch leider blieb sie erfolglos. Eines der beiden befand sich in der Schmutzwäsche, das andere schwamm im Wasser der halb gefüllten Waschschüssel. Schals - Schals besaß Elphaba in Hülle und Fülle. Ob gestrickt, gehäkelt oder gebraucht gekauft, an Schals fehlte es ihr nicht. An einige hatte sie sogar fleißig selbst Hand gelegt, weshalb die ein oder andere Masche etwas unordentlich gefädelt war - aber was machte das schon aus? Elphaba griff sich also drei ihrer Schals. Zwei davon wickelte sie fest um ihre Waden, so fest, dass sie schließlich blieben, wo sie bleiben sollten. Den dritten warf sie sich vorerst über die Schulter. Sie schob die wenigen Kleider, die sie besaß auseinander, dass die Reibung der Kleiderbügel auf der Stange wieder ein fürchterliches Quietschen gab, und entschied sich schließlich für ein dickes, graues, wollenes Kleid, dass vor lauter Stoff auch vor Gewicht nur so strotzte. Elphaba war erstaunlich langsam, als sie sich das Nachthemd über den Kopf zog und stattdessen das Wollkleid überstreifte. Sie stöhnte bei jeder Bewegung auf, bei jedem Armheben, beim Schlüpfen aus und in die Ärmel. Schließlich lastete das Gewicht des Wollkleides schwer auf ihren Schultern und der raue Stoff rieb zusätzlich an ihren Wunden. Elphaba schob ihr Haar in den Kragen des Kleides und wickelte den Schal um ihrem Kopf – sie sah aus wie ein altes Weiblein, das zum Schneefegen ging. Doch sie kümmerte sich nicht darum. Sie sah lediglich zu, dass die Lederhandschuhe auch gut in den Ärmeln ihres Kleides steckten, ehe sie sich zu dem Gewicht des Kleides noch einen schweren, schwarzen Mantel überwarf, der aussah, wie die Uniform, die der Kapitän eines Sturmtrupps tragen würde – nur war Elphabas Mantel beinah bodenlang. Sie knöpfte ihn zu - alle Knöpfe bis zum Kragen, und den Kragen schlug sie hoch bis an die unter dem Schal versteckten Ohren. Dann griff sie nach der Tasche, in die sie die Bücher gepackt hatte, die sie gedachte in die Bibliothek zurück zu bringen. Sie holte tief Luft, als sie den Regenschirm geschultert die Zimmertüre aufschloss. Der Regen hatte nun so weit nachgelassen, dass sie ohne weiteres den Marsch zur Bibliothek wagen konnte. Sie setzte einen Fuß - der in einem Lederstiefel steckte, so dick, hart und braun wie Lehm - auf den Gang und als der Wind die Tür der Stube für sie zustieß, zuckte sie in sich zusammen und erstickte ein Husten in dem dicken Gewebe ihres Mantels. Sie schluckte; schluckte den Husten hinunter. Der Regen war nunmehr ein sanftes Nieseln und der Wind kaum mehr als eine leichte Brise. Jetzt oder nie.

Den Regenschirm in einer eisernen Umklammerung, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie hielt den Kopf gesenkt, starrte durch ihre Brillengläser hindurch, die von ihren Atemzügen immer wieder leicht beschlugen, auf den unregelmäßigen, nassen Boden. Ihre Augen hatte sie zu schmalen Schlitzen verengt, um das schwache Licht auszusperren, das sie zum Tränen bringen wollte. Die Tasche mit dem Buch und ein paar anderen Dingen darin lastete schwer auf ihrer Schulter, und die steifen, zu kleinen Handschuhe rieben mit jeder Regung ihre Handfläche auf.
Ihre Schritte wirkten wie die eines gehetzten, verwundeten REHS. Der noch immer sanft fallende Regen veranlasste ihr Hirn, Paniksignale durch ihren ganzen Körper zu jagen. Zudem machten sie die Fenster der Klassenräume nervös, an denen sie vorbeikam. Sie kamen ihr vor wie riesige, finstere, weit aufgerissene Augen, die sie drohend und anklagend beobachteten, wie sie dem Unterricht fernblieb und stattdessen zur Bibliothek schlenderte, als hätte sie nicht Vorlesungen zu besuchen, und Hausaufgaben zu erledigen, und für die nächsten Prüfungen zu lernen. Schaudernd wandte sie sich wieder der Betrachtung des Untergrundes zu und hoffte, dass niemand auf das Gelände blicken und sie erkennen würde.
Als sie schlussendlich das Bibliotheksgebäude erreicht hatte, stützte sie sich zunächst mit einer Hand neben der Tür ab und schloss die Augen, bis sie wieder zu Atem gekommen war. Das Bauwerk war dunkel, aber nicht auf unangenehme Art – es wirkte warm und einladend, wie das Kaminfeuer eines alten, aus dunklem Holz erbauten Bauernhauses. Elphaba bildete sich gerne ein, dass sie schon von außen den schweren, geheimnisvollen Duft der alten Bücher darin erahnen konnte, die nur darauf warteten, von ihr zur Hand genommen zu werden und ihr ihre Mysterien zu offenbaren. Die glückliche Vorfreude, die sie wie immer bei diesem Gedanken empfand, ließ sie ihre Schwäche schnell überwinden, und mit einem unterdrückten Husten stieß sie die schwere Tür auf.
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