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Beautifully Tragic

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Freundschaft / P16 / Gen
Elphaba Thropp Fiyero Tigelaar/Tiggular Glinda/Galinda Upland of the Upper Uplands
28.02.2013
19.11.2016
25
90.896
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28.02.2013 3.377
 
So gut schuf die Natur meine liebe Schwester nur


Keuchend drückte sie einen Arm in den Unterleib, beugte sich vornüber. Sie streckte den anderen Arm fort, streckte die Finger auf der Suche nach Halt, in der Hoffnung den Schmerz so ersticken zu können, der sie wie loderndes Feuer durchfuhr. Elphaba kniff die Augen zu Schlitzen, presste die Lider fest zusammen, sodass sich tiefe Furchen rund um die Augen in ihre blassgrüne Haut gruben. Für kurze Zeit wagte sie kaum zu atmen, aus Angst, das Heben und Senken ihres Brustkorbs könnte den grässlichen Flammen zur Rückkehr verhelfen. Schließlich schnappte sie nach Luft und entspannte ihre Züge. Der Schmerz war vergangen. Ebenso schnell, wie er sie niedergeworfen hatte, hatte er sie auch wieder freigegeben. Achtsam richtete Elphaba sich auf und zwang sich benommen auf ihre zitternden Beine. Sie taumelte auf die Wand zu, sie stürzte unsanft dagegen und bemühte sich verzweifelt um Gleichgewicht. Ihr Kopf pochte und ihr Blick war getrübt von Schemen und nebelhaften Schleiern. Behutsam stieß Elphaba sich von der Wand fort. Sie war kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Doch als sie feststellte, dass ihr Schritt nun wieder aufrechter und sicherer war, strebte sie unaufhaltsam zurück in Richtung des Klassenzimmers, aus welchem Madame Akaber sie geholt hatte. Doch nein, Elphaba wurde ein weiteres Mal aufgehalten. Diesmal von einem hohlen, tiefen Klang, der in ihrer Stirnhöhle dröhnte und vibrierte und der Lärm schien anzuschwellen, statt zu verklingen. Elphaba zog die Schultern an ihre Ohren und kniff ein weiteres Mal die Augen zu Schlitzen. Ehe sie den Saal betreten konnte, fand sie sich inmitten einer Woge aus Studenten wieder, die ungehemmt schwatzend das Klassenzimmer verließen, und sie wurde von ihr fortgespült.

Galinda drehte mit spitzen Fingern ihren Übungsstab zwischen den Daumen. Die Buchstaben vollführten vor ihren Augen frohe Tänze, als sie versuchte, die Sprüche in ihrem Zaubereibuch zu entschlüsseln. Doch in ihrem Kopf tobte eine wilde Schlacht. Die Vernunft suchte sich durchzusetzen, wurde jedoch übertrumpft von Sorge und Schuld. Noch immer peinigte Galinda der Gedanke, sie hätte des Morgens bloß hartnäckiger sein brauchen, hätte bloß schlagfertigere Argumente anbringen müssen und sie hätte Fräulein Elphaba vielleicht sogar dazu bewegen können, in der Stube zu bleiben. Doch nein, sie hatte Elphaba ziehen lassen. Sie hatte nachgegeben, wie so oft! Und nun litt sie; ihretwegen. Nein! Nicht ihretwegen! Elphaba hatte selbst wie versessen darauf bestanden, den Unterricht zu besuchen! Sie hatte selbst entschieden, sie fühle sich wohl genug dazu – obwohl ihr diese Entscheidung doch selbst zweifelhaft erscheinen musste! Galinda schüttelte energisch den Kopf. Sie wollte ihrer Vernunft zum Sieg verhelfen, wollte Stille in ihrem Kopf beschwören. Doch es gelang ihr nicht. Elphaba war nicht wieder in die Literaturwissenschaftsvorlesung zurückgekehrt... Wo befand sie sich nun? Ging es ihr gut? Galinda hatte vage miterlebt, wie Madame Akaber – deren Stimme eben wie schwere, träge Regentropfen gegen ihren Kopf prasselte – Elphaba aus dem Saal geführt hatte. Wohin hatte sie sie gebracht? Schließlich hielt Galinda es nicht mehr aus. Sie hob den Arm und unterbrach Madame Akaber somit in ihrer Demonstration eines Schwebezaubers.
»Madame...?«, fragte Galinda zögerlich.
»Was gibt es, Fräulein Galinda?« Die Stimme der Schulleiterin war wie ein Gewitter. Es erschien Galinda, sie habe nicht bloß eine Stimme, sondern hunderte und in ihrer Brust tobte ein mächtiger Sturm.
»Eine Frage...«, setzte Galinda vorsichtig an.
»Ja bitte?«, bohrte Madame Akaber, als Galinda schwieg.
»Wo ist Fräulein Elphaba?«
Madame Akaber hob eine Braue. Bei der Erwähnung von Elphabas Namen ging für Sekunden ein Ruck durch ihren Körper, der ihre Armreifen und Ohrringe erzittern ließ.
»Wo Fräulein Elphaba ist...?«, gab Madame Akaber zurück. Es schien, sie hätte nicht die geringste Ahnung, weshalb Galinda ihr eine solche Frage stellte.
»Wo soll sie denn sein? Vermutlich dort, wo sie donnerstags um diese Uhrzeit immer ist... Was für eine Frage...«
Das Ende des Satzes war kaum mehr als ein Murmeln und es war Galinda, Madame Akaber hatte ihr sachte unter ihren Brillengläsern hervor zugezwinkert. Ihr graute vor dieser Frau. Ihr graute schlicht vor ihr. Galinda starrte herab in ihr Buch und schwieg. Madame Akabers Antwort hatte ihr Missbehagen bloß verschlimmert. Und die Sorge zerfraß sie, obwohl sie sich immer und immer wieder befahl, sie zu ignorieren.

Die ganze Stunde hindurch gelang ihr dies allerdings eher schlecht als recht, und selten hatte sie sich mit ihrem Zauberstab in der Hand so unsicher gefühlt wie heute – als wäre der Stab nicht ein einfaches Stück Holz, das ihr helfen sollte, ihre Energie zu bündeln, sondern eine entsicherte Waffe, mit der sie nicht umzugehen wusste. Ihre Konzentration hatte sich schon lange verabschiedet und war auf Wanderung gegangen – vermutlich spazierte sie zusammen mit Elphabas körperlicher (und, so dachte Galinda bei sich, ihrem irrationalen Verhalten nach zu schließen, womöglich auch geistiger) Gesundheit irgendwo den Selbstmordkanal entlang, gefährlich nahe am Rand.
Mit diesem Gedanken wedelte sie ihren Zauberstab vage in die Richtung des kleinen Kieselsteines, den sie eigentlich mit Magie dazu bringen sollte, sich von ihrem Tisch zu erheben. Sie fokussierte das Objekt mit ihren Augen, als wollte sie sich als Hypnosekünstlerin versuchen, doch es zeigte sich keinerlei Wirkung. Frustriert ließ sie ihre Schultern fallen und wollte es gerade noch einmal versuchen, als von dem Platz vor ihr ein erschrockenes Kreischen ertönte. Reflexartig blickte sie auf und sah, wie Fräulein Valena, eine ihrer weniger beliebten Klassenkameradinnen, ihren albernen kleinen Hut von ihren braunen Zotteln riss. Zu Galindas Entsetzen loderten Flammen aus diesem, und, Fräulein Valenas zornbebendem Blick nach zu urteilen, war Galindas Zauberstab die Quelle des Unheils. Doch Galinda war unfähig, sich zu rühren. Regungslos, mit unattraktiv geöffneten Lippen, starrte sie die Flammen an, die ohne Zweifel einen deutlichen Grünstich aufwiesen.

Nach der Stunde, nachdem die Flammen gelöscht und auch Hut und Besitzerin weitgehend wiederhergestellt waren – ein paar Rußflecken mehr vielleicht – fand Galinda sich sogleich umringt von ihren Freundinnen, die offenbar den ganzen Tag schon auf eine Gelegenheit warteten, ihre Fragen zu stellen. Somit fand sie sich nur wenig später selbst auf einem Spaziergang entlang des Selbstmordkanals wieder.

***


Elphaba hatte einen Moment benötigt, um zu registrieren, was die plötzliche Schülerschar um sie her zu bedeuten hatte. Sie hatte so gehofft, die Stunde noch beenden zu können, wenigstens ihrem Professor erklären zu können, dass alles auf einem Irrtum beruhte, doch diesen Plan musste sie nun fürs Erste aufgeben, denn die wogende Masse der Studenten schwemmte sie gnadenlos mit sich fort, als wäre sie ein loses Blatt auf einem reißenden Fluss. Elphaba hatte schlicht nicht die Kraft, sich dagegen zu wehren, obwohl sie es zunächst versuchte. Schließlich ging sie erschöpft dazu über, sich treiben zu lassen, bis der Strom sich auflöste und sie in irgendeinem Gang wieder ausspie.
Es schien ihr unmöglich, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Eine Weile lehnte sie einfach nur an der Wand, die Augen geschlossen, und bemühte sich, ihren bebenden Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sie gestand sich ein, dass sie sich womöglich übernommen hatte, oder zumindest nahe dran gewesen war. Sie war erschöpft. Sie wusste nicht, was zuvor passiert war, sie konnte sich nur erinnern, furchtbar wütend geworden zu sein, doch offensichtlich hatte dieser Wutausbruch sie zusätzlich einiges an Kraft gekostet. Hinter ihrer Stirn schien eine Art Pudding ihr Denkvermögen ersetzt zu haben.
Vage konnte sie sich daran erinnern, noch etwas vorgehabt zu haben... natürlich. Sie musste ihrer Schwester noch einen Besuch abstatten. Sie hatte noch immer Galindas Worte vom vorigen Abend im Ohr, und bei der Erinnerung fühlte sie erneut Zorn in sich aufsteigen, vermischt mit schwesterlicher Sorge um Nessarose. Sich wappnend, schloss sie kurz die Augen und nahm einen tiefen Atemzug, den sie allerdings in einem keuchenden Husten sofort wieder ausstieß. Unwillkürlich presste sie eine schmerzende Handfläche auf ihren Brustkorb, der sich viel zu eng anfühlte. Als sie sich wieder gefangen hatte, machte sie sich stolpernd auf den Weg zu Madame Akabers Gemächern, die um diese Uhrzeit für gewöhnlich bis auf Nessa leer waren.

Elphaba straffte die Schultern. Sie hob den Kopf und sie nahm einen tiefen Atemzug, den sie beinah sogleich wieder in Form eines heftigen Hustenanfalls ausgestoßen hätte. Mit langen Schritten eilte sie den Gang entlang und fluchte leise über dessen Steigung. Dieser Flügel der Universität war auf einem sanften Hügel erbaut worden, und obgleich dieser Umstand im Normalfall niemandem je auffiel, so bedeutete für Elphaba heute jeder Millimeter Höhenunterschied eine Anstrengung nie gekannten Ausmaßes. Doch sie fasste sich und sie stieg weiter, als erobere sie einen nie bezwungenen Gipfel und als sie schließlich die höchste Erhebung desselben – in diesem Falle wohl schlicht das Ende des Ganges – erreicht hatte, stürzte sie mit einem Keuchen gegen die steinerne Wand, die sie barmherzig auffing und verhinderte, dass sie unsanft zu Boden fiel. Schließlich richtete Elphaba sich auf. Sie hob die Schultern, sie ließ sie fallen und sie zog an ihren Fingern. Und ohne sich noch weiter mit Formalitäten oder Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten, stieß sie die Tür auf und trat ungeladen in dem Raum.

»Wir müssen uns unterhalten, junges Fräulein!«
Ein heftiges Zucken durchfuhr Nessarose‘ Körper und sie erstarrte, als wäre sie im selben Augenblick zu Stein geworden. Sie wagte nicht sich zu rühren und sich somit aus der eigentümlichen Starre zu lösen, in welcher sie sich befand. Sie saß da in ihrem Rollstuhl und hielt den Atem an. Die Augen starrten herab in ein Buch, die Schultern hielt sie erhoben, als wolle sie mit ihnen ihren freiliegenden Hals schützen.
Elphaba hatte inne gehalten. Fast hatte sie ebenso vergessen, dass sie ab und an die Augenlider niederschlagen musste. Als sie schließlich wieder blinzelte, schien es, sie sei aus einem Traum erwacht, der sie eingenommen und bewegt hatte. Zögernd lenkte sie ihren Schritt auf die im Rollstuhl kauernde Gestalt ihrer Schwester zu. Sie beugte sich zu ihr nieder und ergriff die kleine, zarte Hand, die sich krampfend um die Armlehne ihres Rollstuhls geschlungen hatte.
»Entschuldige... Habe ich dich erschreckt...?«, sagte Elphaba. Behutsam strich sie über den Handrücken ihrer Schwester. Nessarose entspannte ihre versteiften Glieder. Sie ließ die Schultern langsam herabsinken, doch ihr Blick sah weiterhin leer und stur geradeaus. Sie wollte Elphaba nicht ansehen. Sie brauchte sie nicht anzusehen.
»Was willst du?«, sagte Nessarose.
Elphaba fixierte das Gesicht ihrer Schwester, das keine Miene zog, nichts als Leere vermittelte. Es schien ihr, sie würde selbst kaum blinzeln. Ihre Augen hatten einen fremdartigen Glanz; den Glanz der Unschuld, so dachte Elphaba bei sich.
»Du bist gestern Abend fort gewesen«, murmelte Elphaba und empfand ihre Stimme dabei Nessarose‘ Zügen nach; ruhig und ausdruckslos.
»Wer hat dir das erzählt?«, sagte Nessarose und plötzlich blickte sie herab auf Elphaba. Herab auf ihre Schwester, die neben ihrem Rollstuhl auf dem Boden kniete und ihre Hand hielt, wie eine ergebene Sklavin.
»Das ist jetzt nicht von Belang, nicht wahr?«, erwiderte Elphaba. »Sag du es mir! Bist du gestern Abend fort gewesen?«
Nessarose' Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Und wenn es so wäre... Was kümmert es dich...«, gab sie zurück. »Hättest du uns gerne begleitet?«
Nun erhob Elphaba sich. Nessarose musste zu ihr aufsehen, musste ihren Kopf zu ihr erheben, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Elphaba stemmte die Hände in die Hüften und runzelte die Stirn.
»Wer ist ›uns‹?«, fragte sie und zog eine fordernde Grimasse.
»Ach Elphaba! Was bist du nur immer so misstrauisch?« Nessarose tat eine wegwerfende Gebärde. »Es hat doch Spaß gemacht!«
»Ich hätte im mindesten von dir erwartet, dass du mir Bescheid sagst...«, sagte Elphaba.
Nessarose griff nach den Rädern ihres Rollstuhls und drehte sich um, sodass sie Elphaba nun direkt gegenüber war. Und während ihre Züge immer mehr erhärteten, klang sie sehr überzeugt während sie sprach:
»Meinst du nicht, ich bin längst alt genug um selbst entscheiden zu können, was ich tue und lasse? Du nimmst das ein wenig streng. Ich bin kein Säugling mehr, auf den man andauernd ein Auge haben muss! Sieh mich nicht so an!«
Elphaba zog die Brauen zusammen: »Alt genug ist nicht die Voraussetzung, auch vernünftig genug zu sein, um dieses Privileg verantworten zu können...«
Nessarose presste die Lippen zu einer dünnen, schwarzen Linie und sie fuhr mit den Fingern durch ihr langes, dunkles Haar. Sie drehte die Haarspitzen um die Finger und sie biss sich auf die Lippe um Elphaba bloß keine unwirsche Bemerkung entgegen zu werfen.
»Hör auf damit, Elphaba!«, rief sie entrüstet. »Was ist denn dabei? Was kann mir schon passieren? Ich habe einen netten Abend mit ein paar Bekannten verbracht... Nicht mehr...«
Elphaba hob ihre linke Augenbraue und sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ach, bloß ein paar Bekannte waren es auch noch? Nicht einmal Freunde?«, entgegnete sie.
»Nenn es, wie du willst!«, rief Nessarose. »Aber nein, einige von ihnen habe ich erst an diesem Abend kennen gelernt, wenn du es genau wissen willst...«
Nessarose senkte den Blick nicht. Sie starrte in Elphabas Gesicht und verlieh ihrem eigenen dabei beinah Abscheu.  Sie rührte sich nicht. Sie verharrte in dieser Miene, in dieser Position, in diesem Blick. Einzig die Augenlider bewegten sich, wenn sie sie zum Blinzeln niederschlug.
»Mit wem bist du fort gewesen?«, fragte Elphaba und beugte sich ein wenig an ihre Schwester heran.
Deren Züge hellten sich sogleich auf. Der jugendliche Glanz in ihren Augen ließ vermuten, die Augen würden jeden Moment Funken sprühen und sie schlug die Hände zusammen, faltete sie, fast wie im Gebet.
»Boq hat mich eingeladen!«, sang sie. »Boq! Ist das nicht reizend von ihm? Er ist einfach nur hinreißend! Und so elegant! Ach, du hättest ihn sehen müssen! Er sah ganz anders aus als sonst! So adrett in seinen samtenen Hosen...«
Sie schien noch einen Augenblick in ihren herrlichen Gedanken zu schwelgen. Die Augen leuchteten zumindest weiterhin und sie schmiegte ihr Gesicht an die Handrücken und wiegte den Kopf darin.
»Wo du hinschaust...«, unterbrach Elphaba sie prompt. »Hör dich doch an! So ›adrett in seinen samtenen Hosen‹...«
Wieder senkten sich Nessarose' Brauen.
»Lass das! Du bist bestimmt bloß neidisch, weil dich keiner gefragt hat!«
Sie drehte sich fort. Voll Trotz kreuzte nun sie die Arme vor der Brust.
»Neidisch? Ich?«, Elphaba lachte, »Ich bitte dich! Was sollte ich auf einer solchen Feier? Ich bin dort ebenso unpassend und gewiss auch unerwünscht wie ein Quadlinger auf einem Ballabend im Gillikin.«
Nessarose wandte einzig den Kopf zu ihrer Schwester um.
»Also welchen Grund hast du, dich derart aufzuspielen? Ich habe fast den Eindruck, du verstehst nicht, was Spaß und Vergnügen bedeutet!«, sagte sie bestimmt.
»Ich verstehe es sehr wohl, Nessa«, erwiderte Elphaba und sie tat einen weiteren Schritt in Nessas Richtung. »Erinnerst du dich, was Vater über den Einfluss des Freudenkults sagte? Erinnerst du dich an seine Warnworte? Möchtest du so enden?«
Während Elphaba gesprochen hatte, hatte Nessarose ihre Stirn immer mehr in zweifelnde Furchen geschlagen. Sie war so weit als irgend möglich in ihrem Rollstuhl zurückgewichen und sie hatte kopfschüttelnd und starr den Boden fixiert.
»Elphaba! -- Ach, Elphaba! --«, sagte sie und es war Elphaba, als höre sich ihre Schwester fast weinerlich an. »Das – war doch bloß ein einziger turbulenter Abend! Solches Vergnügen kann damit einfach nicht gemeint sein!« Wieder schüttelte Nessarose heftig den Kopf, als wolle sie sich selbst überzeugen.
»Jede Art von Vergnügen ist damit gemeint...«, sagte Elphaba.
Nessarose' Augen weiteten sich.
»Das glaube ich nicht! Seit wann kümmerst du dich überhaupt darum, was Vater über den Freudenkult sagt? Dir war das doch alles immer herzlich gleichgültig!«
Nessarose hob die Hände an die Schläfen und sie schloss die Augen, als versuche sie ein furchtbares Trugbild loszuwerden.
»Ich deute deine Entrüstung dahingehend, dass du letzten Abend doch auch Vergnügen hattest, das vielleicht weniger angemessen war...«, mutmaßte Elphaba.
»Warum willst du das beurteilen können?!«, fragte Nessarose und öffnete ihre Augen wieder, es wirkte fast, als bereite es ihr Schmerzen. Elphaba seufzte.
»Ich sehe die Dinge durch andere Augen, Nessa«, sagte sie. »Ich sehe sie anders, darum beurteile ich sie anders. Du magst es vielleicht nicht zugeben, aber ich weiß, was du fühlst. Du siehst nur die Farben; die Schattenseiten sind dir verborgen. Ich sehe auch die Dunkelheit.«
Nessarose drehte sich weiter fort:
»Manchmal erweckst du in mir den Eindruck, du wärst völlig eingenommen und besessen von der Dunkelheit!«, rief sie und schnaubte abschätzig.
Elphaba stockte kurz und erwiderte spöttisch: »Oh, mein ach so frommes Fräulein Nessarose! Was für eine Unterstellung!«
Sie gab ein lautloses Kichern von sich. Bloß ein Seufzen, das den Charakter eines Lächelns hatte.
Nessa allerdings wusste momentan Elphabas sarkastische Art absolut nicht zu schätzen. Ihre Hände krallten sich um die Armlehnen ihres Rollstuhls.
»Ich verliere langsam die Geduld mit dir, Elphaba!«, fauchte sie, die Augen zu Schlitzen verengt. Leider sah das auf Nessarose' filigranem Gesicht ganz und gar nicht bedrohlich aus, und als Elphaba sich auf die Lippe biss, um ein amüsiertes Schnauben zurückzuhalten, rollte sie sich abrupt eine Strecke vorwärts, wie zu einem Angriff, doch Elphaba stolperte zurück und riss die Augen auf.
»Woah, beruhige dich! Kein Grund, tätlich zu werden!«
Nessa schüttelte nur den Kopf und drehte sich zur Seite, bewusst in eine ganz andere Richtung blickend.
»Wenn das der einzige Grund ist, warum du hergekommen bist«, erklärte sie bestimmt, »dann kannst du auch gleich wieder gehen. Ich werde mir doch von dir hier keinen Tadel bieten lassen. Ich bin durchaus alt – und vernünftig – genug, selbst auf mich Acht zu geben!«
»Diesen Eindruck habe ich aber nicht.«
Elphaba fand es schwer, ihrer Schwester in die Augen zu sehen. Sie mochte es nicht, mit ihr zu streiten... aber sie machte sich nun einmal Sorgen! Warum konnte Nessa das nicht sehen? Sie tat es doch nicht, um sie zu ärgern! Sie hatte Frex doch versprochen, sich gut um Nessarose zu kümmern...
Diese schien dafür aber immer weniger Begeisterung zu zeigen.
»Mir ist egal, was du für einen Eindruck hast!« Zornröte stieg ihr ins Gesicht und verlieh ihren blassen Wangen Farbe. »Ich weiß, was ich tue, und ich weiß, dass ich nichts getan habe, was dein Verhalten mir gegenüber rechtfertigt! Wofür hältst du dich – für meine Gouvernante? Meinen Gefängniswärter?« Elphaba dachte, dass Sarkasmus Nessie nicht gut zu Gesicht stand. Ihre Schwester legte mit jedem Wort an Lautstärke zu. »Nun, ich will dir etwas sagen, Elphaba: Das bist du nicht! Ich bin ein freier Mensch, und ich kann selbst entscheiden, was ich tue und lasse, ozv-« Im letzten Moment schluckte sie den Fluch herunter, der ihr auf der Zunge gelegen hatte. Zornig blickte sie ihre blassgrüne Schwester an, die vor ihr stand und mit mühsam unterdrücktem Ärger auf sie hinunter blickte. Ihre Hände, die in schwarzen Handschuhen steckten, zuckten, als würden sie sich jeden Moment zu Fäusten ballen.
»Du weißt nicht, was du redest, Nessie.« Die Ruhe in ihrer Stimme war so schlecht gespielt, dass Nessa nur die Augen verdrehte.
»Ach was«, zischte sie. »Ich war immerhin dabei, im Gegensatz zu dir. Ich weiß, was ich getan habe und was nicht, und ich will gar nicht wissen, was du denkst, dass ich getan habe! Aber weißt du was, es ist mir auch egal! Es ist mein Leben, und du brauchst dich nicht ständig einzumischen! Ich komme auch ohne dich klar!«
Nessas laute, harte Worte dröhnten in ihrem Kopf und schienen ihr gleichzeitig direkt ins Herz zu stechen. Elphaba schluckte und merkte, wie Wut in ihr hochstieg, die den Schmerz über die Worte ihrer Schwester überdeckte.
»Na schön!«, schrie sie mit sich fast überschlagender Stimme. »Du brauchst mich nicht! Ich hab es verstanden, wofür solltest du mich schon benötigen? Jedenfalls kannst du ja selbst entscheiden, was du machst und mit wem du es machst, ungeachtet, ob du überhaupt eine Ahnung hast, was du da redest! Lass dich von mir dabei nur nicht aufhalten, ich bitte dich! Aber wenn du dann irgendwann die Konsequenzen spürst, sobald der erste dich ausgenutzt und dir das Herz gebrochen hat – komm nicht jammernd zu mir gekrochen! Ich habe dich gewarnt!«
Die letzten Worte klangen so heiser, dass Elphaba sie selbst kaum noch verstand. Ihre Kehle brannte, als stünde sie in Flammen, und kaum war sie, so schnell ihre Beine sie trugen, aus dem Zimmer gestürmt und hatte die Tür mit einem Fußtritt hinter sich zugeschlagen, musste sie sich an der Wand abstützen, während ihr Körper sich unter einem qualvollen Hustenanfall zusammenkrümmte. Ihr Kopf pochte und fühlte sich an, als sei er mit Gas gefüllt wie ein Heißluftballon, als sie sich schließlich mit stark eingeschränktem Sichtfeld doch endlich auf den Weg zurück in den Schlafsaal begab, wo sie mit ihren Hausaufgaben beginnen wollte.
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