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Thranalis Weg

Kurzbeschreibung
GeschichteFantasy, Sci-Fi / P16 / Gen
01.11.2012
14.11.2012
10
53.258
2
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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01.11.2012 4.046
 
Prolog:
Die Erforschung der Centauri-Sternengruppe barg eine mehr als ungewöhnliche Überraschung für Captain John Caldham und die Crew der Pax Terra. Ihre Forschungsmission mit dem ersten wissenschaftlich hochgerüsteten, sprungfähigen Fernraumschiff der Menschheit traf wie zu erwarten gewesen war in der Sternengruppe nicht auf für Menschen bewohnbare Planeten, wohl aber auf Leben. Auf ziemlich eigensinniges, rechthaberisches und besitzergreifendes Leben, das sich darin manifestierte, dass die Pax Terra gewaltsam gestoppt, aufgebracht und geentert worden war, und das von einigen Wesen, denen eigentlich nur ihr ruppiges, ja, brutales Vorgehen gemein war. Ansonsten unterschieden sie sich so sehr voneinander, dass nicht einmal zwei von ihnen der gleichen Spezies angehören zu schienen. Das war, gelinde gesagt, ein kultureller Schock ohnegleichen. Zwar hatten die klugen Köpfe, die die Mission von Captain Caldham ausgetüftelt hatte, durchaus damit gerechnet, dass man auf Spuren von Leben oder gar das Leben selbst treffen konnte, allerdings nur in Maßen, denn die Galaxis war verdammt noch mal zu groß, als das es logisch gewesen wäre, in direkter kosmischer Nachbarschaft der Erde auf eine weitere raumfahrende Zivilisation zu treffen. Zumindest auf keine bewohnten Planeten in einem Radius von zwanzig Lichtjahren, und schon gar nicht im Alpha Centauri-System.
Nun, die klugen Köpfe hatten natürlich nicht außer Acht gelassen, dass man auf eine andere Raumschiffsmission treffen könnte, die Wahrscheinlichkeit dafür aber für gering gehalten, ebenso wie die Chance, dass es sich um eine feindliche Spezies handeln könnte - oder derer mehrere. Daher war weder der Pax Terra, noch der Besatzung militärische Bewaffnung zugesprochen worden. Zudem war das Forschungsschiff nicht gerade schnell, verglich man es mit den neuen Systemgebundenen Kriegskorvetten, aber irgendwo musste der Platz für den Sprungantrieb ja schließlich hergekommen sein, und das waren die Maschinenräume für den Antrieb und die Waffenversorgung gewesen.
Die Pax Terra hatte sich also nicht verteidigen können, und sie hatte auch nicht weglaufen können. Und nachden ihre für kosmische Strahlung vollkommen ausreichenden Schutzschilde unter dem wütenden Waffenfeuer ihres Gegners ausgefallen war, war das Schiff auch schutzlos gewesen.
Die dreiundvierzig Crewmitglieder und einundsechzig Fachwissenschaftler waren äußerst ruppig zusammengetrieben und in der zentralen Messe eingesperrt worden. Es hatte die Menschen mehr als verwundert, das die anschließende Befragung auf Englisch erfolgt worden war - ein sicheres Anzeichen dafür, dass diese Wesen mehr über sie wussten, als es den Menschen lieb sein konnte. Und ein recht sicheres Anzeichen dafür, dass ihr Zusammentreffen mit dem feindlich gesinnten Schiff nicht gerade zufällig gewesen war.
Nachdem man die Offiziere und die Abteilungsleiter von den anderen getrennt hatte, waren sie über einen durchsichtigen, aber stabilen und mit Atemluft gefüllten Verbindungstunnel in das fremde Schiff gebracht worden. Zuerst die einfachen Crewleute und die Wissenschaftler, danach und in großem Abstand die Führungscrew der Pax Terra. Ihnen kamen Dutzende Wesen in erheblich feineren Raumanzügen entgegen als sie selbst je entwickelt hatten. Und diese Wesen waren... Menschen. Zumindest hatten sie zwei Arme und Beine, Kopf und Rumpf in einer Proportion und Länge, wie sie von Menschen zu erwarten gewesen war. Ein kluger Schachzug der Fremden. Dies war die Prisenmannschaft, die das geenterte Schiff fortan steuern würde. Es war nur logisch, dass dies Wesen übernahmen, die über eine möglichst ähnliche Anatomie wie die Menschen verfügten. Die hatten es wesentlich leichter, auf für Menschen gemachte Sessel Platz zu nehmen und für Menschen konzipierte Konsolen zu bedienen.
An Bord des fremden Schiffs, das die Pax Terra an Volumen um das Dreifache übertraf - und das, obwohl das Schiff auf der Zelle einer Einstein-Korvette aufgebaut worden war, dem größten militärischen Raumschiff der Menschheit - wurden Crewmen und Wissenschaftler vollends von der Führungscrew getrennt. Man führte die Anführer der Besatzung tiefer ins Schiff, weit fort vom gemeinen Besatzungsmitglied.
Hier wurden sie erneut getrennt, in Wissenschaftler und in Offiziere. Anschließend trennte man die Männer von den Frauen und brachte sie einzeln vor allerlei fremde Wesen, die sie interessiert musterten und anschließend weiterschickten.
Das Leben war erstaunlich, und man konnte kaum glauben, welche teils bizarren Formen die Natur ihren intelligenten Geschöpfen mitgegeben hatte. Kopffüßler, Vierbeiner, Echsen, Säugetiere, große Amöben, Staatenbildende Gemeinschaftsintelligenzen, es schien alleine an Bord dieses Schiffes alles vertreten sein, was in diesem Universum die Raumfahrt erlernt haben konnte. Und dennoch waren sich die Männer sehr sicher, dass sie hier, an Bord ihres Kaperers, an einer Oberfläche kratzten, die nur ein Bruchteil dessen war, was tatsächlich möglich, was tatsächlich geschehen war.

Schließlich und endlich war Captain Caldham allein. Sein letzter Bewacher, eine kleine Echsengestalt mit zwei riesigen Knochenkämmen, die sich über seinen Schädel bis über den Rücken gezogen hatten, brachte ihn in ein sehr weitläufiges Zimmer, das nach menschlichen Maßstäben möbliert war, ohne selbst einzutreten. Nun, wenn schon nicht nach menschlichem Geschmack, so doch zumindest nach menschlichen Proportionen. Also, wenn dies eine Gefängniszelle war, dann sicher die komfortabelste, die John Caldham je gesehen hatte.
Seine Einsamkeit dauerte nicht lange. Jemand betrat den Raum durch eine weitere Tür, die er bisher noch nicht entdeckt hatte. Auf den ersten Blick war dies eine menschliche Frau, aber Caldham hatte nicht umsonst vor dem Start der Mission tonnenweise Literatur von Asimov, Darlton, McMaster-Bujold und Lem gelesen, um dem Fehler zu verfallen, die Gestalt, die den Raum betrat, als wäre er ihrer, nach menschlichen Maßstäben zu messen. Gut, die etwa ein Meter achtzig große Person hatte unter der einfarbigen beigen Kombinationen die Rundungen und Formen einer gut ausgestatteten Frau. Aber wer sagte ihm, dass die Wölbung über dem Brustkorb tatsächlich ein weiblicher Busen war? Gut, ihre kurzgeraspelten schwarzen Haare waren eitel aufgegelt, aber war es wirklich Gel, oder entstand der Effekt durch verborgene Drüsen, und war das Haar wirklich aus Horn, wie bei den Menschen? Gut, die samtigbraune Haut, die vollen Lippen und die hohen Wangenknochen ließen dieses Wesen nach einer Frau ausschauen. Aber selbst auf der Erde musste man manchmal zweimal nachsehen, um auf Nummer sicher zu gehen.
Das Wesen lächelte amüsiert, als sie Caldhams Musterung über sich ergehen ließ. "Enttäuscht, mein lieber Captain?", fragte sie mit einer rauchigen Stimme in akzentbeladenem Englisch.
John Caldham zuckte zusammen, obwohl er die englische Sprache hätte erwarten müssen, wenn er nach dem bisherigen Geschehen ging.
"Enttäuscht worüber, Ma'am?", erwiderte er mit seinem klaren Bariton.
"Enttäuscht darüber, einen Menschen vor sich zu haben, und kein schleimiges Tentakelmonster." Sie setzte sich in Bewegung, kam auf ihn zu. "Würden Sie sich gerne davon überzeugen, dass ich ein Mensch bin, mein lieber Captain?"
"Oh, ich bin keinesfalls enttäuscht. Ich bin im Gegenteil froh, dass Sie eben kein schleimiges Tentakelmonster sind. Wobei ich keinesfalls Vorurteile gegen schleimige Tentakelmonster hege, Ma'am."
Sie musterte ihn mit einem Gesichtszug, den man bei einer menschlichen Frau mit Wohlwollen beschrieben hätte. Vereinzelt meinte er auch, so etwas wie fiebrige Erwartung in ihrem Blick zu sehen. Caldham, der schon das Schlimmste für sich und seine Leute befürchtet hatte, begann zu ahnen, dass es zumindest eine Chance auf Überleben gab, wenn schon nicht auf die Freiheit oder die Chance, die Erde vor dieser Veränderung zu warnen. Obwohl, versuchen musste er es so oder so. Dazu war er laut der Statuten seiner Diensteinheit verpflichtet. Aus Gefangenschaft ausbrechen und zu den eigenen Linien zurückkehren, und so weiter, auch wenn dies ein Sonnensystem weiter doch sehr euphorisch klang. "Darf ich fragen, was mit uns passiert ist und noch mit uns passieren wird?" Er räusperte sich vernehmlich. "Captain?"
Erstaunt zog sie die Augenbrauen hoch. Zumindest interpretierte Caldham es als die menschliche Geste des Erstaunens. "Touché, mein lieber Captain. Ich bin die Kapitänin der Sorgwarin. Und ja, Sie dürfen fragen."
"Nun, Skipper", begann er, und wählte bewusst das Jargonwort für den kommandierenden Kapitän eines Schiffs, um sie zu testen, "was ist genau mit uns geschehen? Wir sind eine friedliche, unbewaffnete Forschungsmission. Wenn wir fremdes Territorium beeinträchtigt haben, möchte ich hiermit im Namen meiner Kameraden und meiner Regierung mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen. Ich hoffe, wir können das Thema mit Diplomatie regeln. Denn Waffen haben wir, wie Sie sicher bemerkt haben, Skipper, keine an Bord."
"Was ich für eine sehr große Fahrlässigkeit der Europäischen Groß-Union halte. Man hätte Ihnen zumindest Handfeuerwaffen zugestehen sollen", sagte sie in einem tadelnden Tonfall. "Und sei es nur, um sich bei der Enterung den Respekt meiner Leute zu verdienen, anstatt wie eine Horde tumber Kaalais zur Schlachtung zusammengetrieben zu werden." Sie lachte, als sein Gesicht Entsetzen zeigte. "Keine Sorge, mein lieber Captain, wir schlachten keine Tiere, und gewiss auch keine Menschen. Unser Fleisch kommt aus Proteinzuchtbänken und ist äußerst schmackhaft, wie ich Ihnen versichern kann."
"Nun, das beruhigt mich. Was aber meine Frage angeht, Ma'am..."
"Sie wurden geentert, Caldham. Sie und Ihre Leute sind nun, ah, die Leibeigenen meiner Offiziere und meiner Wenigkeit. Was schwierig genug war, denn aufgrund Ihrer Kläglichkeit hat es kaum Interesse daran gegeben, Ihre Leute in den Dienst zu nehmen. Auch die Tatsache, dass die Pax Terra waffenlos ist, hat nicht viel dazu beigetragen. Im Gegenteil. Einer meiner Leutnants, Pevvri Ota Kerladis, hat sich offen darüber beschwert, dass Sie ihm nicht einmal Ihr Karate vorgeführt haben. Er hatte sich sehr darauf gefreut, diese waffenlose Kunst kennenzulernen, und Sie haben ihn enttäuscht, obwohl Sie ein Schwarzgürtel des Zweiten Dan sind." Ihre Stimme klang dabei vorwurfsvoll.
Er räusperte sich. "Angesichts der ungewissen Situation hielt ich es für besser, zugunsten meiner Leute auf Widerstand zu verzichten, egal was ich selbst gerne getan hätte. Aber Sie können Ihrem Leutnant gerne ausrichten, dass ich zu einem Randori jederzeit bereit bin. Sofern Sie als meine Herrin dem zustimmen, natürlich."
"Respekt." Ihre Augen leuchteten erfreut. "Sie adaptieren schnell. Dann ist Ihr Intelligenzquotient von einhundertdreiundvierzig also nicht nur eine Medien-Ente."
"Meine Intelligenz reicht vollkommen aus, um zu erkennen, in welcher Situation ich mich befinde. Es ist aber mein Selbsterhaltungstrieb, der mich sich unterordnen lässt." Er kniff kurz die Augen zusammen. Er war plötzlich so müde, so erschöpft. Wahrscheinlich ließ die interne Versorgung mit körpereigenem Adrenalin nach, das ihn seit dem ersten Schuss vor zwei Tagen durchpeitscht hatte. Nun forderte der Körper seinen Tribut.
"Gut. Das erspart es mir, Überzeugungsarbeit zu leisten." Sie lächelte ihn abschätzend an. "Sie werden zu Ihren Leuten sprechen und ihnen klarmachen, dass sie nun meine Leute sind. Zu ihrem eigenen Besten. Wir werden für eine sehr lange Zeit zusammenbleiben, und wenn es Ihnen nicht gelingt, sich zu bewähren, vielleicht sogar für immer. Und machen Sie sich keine Hoffnung, Terra sehen Sie so schnell nicht wieder."
"Was mich zur Frage bringt, was nun mit uns passieren wird."
"Ich werde Ihnen das erklären. Weil ich mich nicht unnötig wiederholen will. Und ich erwarte auch, dass Sie das Ihren Leuten übermitteln." Sie ließ ihn stehen und setzte sich auf das Äquivalent einer Couch. Lässig legte sie beide Arme über die Lehne. "Etwas zu trinken. Dabei redet es sich leichter. Dort drüben, im schwarzen Schrank."
Caldham reagierte augenblicklich und öffnete den Schrank. Dort standen ein paar exotisch anmutende Gläser, aber auch vertrautere Versionen. Mehrere farbige und in unverständlichen Schriften markierte bauchige Flaschen mit Flüssigkeiten in Dutzenden Farben rundeten das Bild ab. Die Notration des Kapitäns, wie es schien.
"Die kleinen blauen Flaschen", sagte die Kapitänin der Sorgwarin. "Nehmen Sie sich auch eine. Es ist ein relativ schwach alkoholisches Getränk aus vergorenem Getreide, Ihrem Bier nicht unähnlich. Man dreht den Verschluss ab."
Caldham zog zwei der blauen Flaschen, die etwas einen Viertel Liter fassen mochten, drehte mit dem Uhrzeigersinn bei beiden den Deckel ab und trat damit vor die Frau. "Wir haben Alkoholverbot auf der Pax Terra gehabt. Ich hoffe, das wird mich jetzt nicht umwerfen", scherzte er.
Sie nahm die Flasche aus seiner Hand entgegen und trank einen kurzen Schluck. "Haben Sie derzeit eine Beziehung, John?", fragte sie geradeheraus. "Nicht, das etwas in dieser Art in Ihrer Akte stehen würde, aber man kennt das ja, Fernflug, Männer und Frauen an Bord, und eines ergibt das andere..."
Caldham versteifte sich merklich, und feiner Schweiß trat auf seine Stirn. "Nein, ich habe an Bord keine Beziehung geführt, wenngleich ich mit Major Lu, meiner Stellvertreterin, ein herzliches Verhältnis pflege. Des Weiteren habe ich eine feste Freundin auf der Erde, aber..."
Das ließ die Frau lächeln. "Gut. Ich hätte es für sehr unvorteilhaft empfunden, hätte ich mich um jemanden kümmern müssen, der mir Ihre Aufmerksamkeit stielt. Sagen Sie das auch Ihren Leuten, also meinen Leuten jetzt. Die alten Beziehungen gelten nicht mehr, außer, sie können sich das Recht dazu erkämpfen. Aber das hängt von ihren neuen Herren ab. Zu Ihrer Beruhigung, es sind kaum Menschen darunter, sodass die Wenigsten von ihnen wohl das fordern werden, was ich von Ihnen erwarte."
"Ach, kommen Sie, Skipper. Das ist doch ein wirklich übles Klischee, das Sie mir hier auftischen. Wollen Sie mich wirklich zu Ihrem Betthäschen machen?", fragte der Captain ungläubig.
"Nun, nicht nur zu meinem Betthäschen, wie Sie sich ausdrücken. Eher zu meinem Leibeigenen. Zumindest solange Sie dies wünschen, oder bis Sie sich frei arbeiten. Wobei Sie sich die Trennung von mir erst wünschen können, nachdem Sie sich freigearbeitet haben."
"Sie verwirren mich."
"Nichts anderes habe ich erwartet. Um Ihre verfahrene Situation aufzuklären, möchte ich ihnen, ha, ha, etwas erklären. Zuallerst, ich bin tatsächlich ein Mensch. Und, falls Sie sich da unsicher sind, eine Frau. Nach terranischen Maßstäben gerechnet bin ich, Zeitdilatationen durch Raumflüge abgezogen, biologisch einhundertundsieben Jahre alt."
"Respekt. Sie sehen keinen Tag älter aus als achtundzwanzig."
"Danke. Ich mache Pilates." Sie gluckste leise bei dem leicht verstörten Gesicht ihres Gegenübers, bevor sie fortfuhr. "Wissen Sie, vor etwa elftausend Jahren ist ein Raumschiff der Okeaniden auf der Erde, heute Terra, notgelandet. Sie wurden von unseren primitiven Vorfahren als Götter verehrt und reichlich mit allem beschenkt, was die Okeaniden brauchten, um ihr Schiff wieder flottzubekommen. Zumindest die Rohstoffe. Die Feinverarbeitung soll hingegen Jahre gedauert haben, bevor das Schiff wieder abheben konnte. Dies alles geschah in Ruhe und in Frieden, denn die Okeaniden sind im Gegensatz zu uns, den Expansionisten, ein friedliches Volk von Forschern. Die Okeaniden nennen sich selbst auch jene, die den Ozean der Sterne durchqueren. Nun, besagte Okeaniden verbreiteten ihre Erlebnisse, die zu achtzehn Jahren Verspätung geführt hatten, in ihrer Zivilisation, und von dort kam es auch den Expansionisten zu Ohren. Diese hatten nichts Besseres zu tun, als eine Expedition zur Erde zu schicken. Dort trafen sie auf nichts Besonderes, und so begannen sie, sich an den Rohstoffen gütlich zu tun. Dies ging etwa fünf Jahre Terra-Zeit gut, und die damaligen Menschen halfen ihnen so gut sie konnten, bis eine unbekannte Macht den Rohstoffabbau unmöglich machte. Mehr noch, diese Macht begann die Siedlungsgebiete der Expansionisten anzugreifen und auszulöschen. Als die Verluste ein unannehmbares Maß angenommen hatten, beschlossen ihre Anführer, die nun unwirtliche Welt zu verlassen. Dabei aber nahmen sie jene Menschen mit, die ihnen bisher so sehr geholfen hatten. Dies geschah nicht aus Gründen des Selbstnutzes, sondern weil sie befürchteten, die unbekannte Macht würde sie als Kollaborateure töten wollen. Damals starteten aus einem Gebiet, das Sie heute als Irak kennen, über zwanzigtausend Menschen mit zu den Sternen. Männer, Frauen, Kinder. Ein ganzer Landstrich wurde auf einen Schlag nahezu entvölkert, was für die ohnehin schwache damalige Population der Menschheit einen enormen Rückschritt bedeutete. Zivilisation, wie wir sie anerkennen würden, begann sich erst dreitausend Jahre später zu entwickeln, nachdem der enorme Aderlass an Menschen und Kultur ausgeglichen wurde. Diese Menschen waren meine Vorfahren und die meiner humanoiden Leute. Wir wurden nach Clatral gebracht, der Hauptwelt der Expansionisten, und dort erkämpften sich jene meiner Leute, die sich dazu berufen fühlten, ihre eigenen Positionen in Militär, Raumfahrt, Kultur, Politik und Gesellschaft; durch unsere Fruchtbarkeit und die sehr gute medizinische Versorgung vermehrten wir uns rascher, als es uns auf der Erde möglich gewesen wäre, und schnell nahmen Menschen wichtige Positionen ein. Auch begannen sie, auf andere Welten der Expansionisten auszuwandern, was gerne als Mittel genommen wird, um Monopolismus durch ein einzelnes Volk zu verhindern. So verbreiteten wir uns in den elf Jahrtausenden nach und nach auf das ganze Raumgebiet der Expansionisten, und nach und nach sorgten wir für die nächsten Expansionswellen, die das Raumgebiet unserer Interessengemeinschaft beinahe verdoppelten. Man kann sagen, neben Xrah und Verpiden sind wir das wichtigste Volk geworden, das die Expansionisten haben. Jetzt, in diesem Moment, leben schätzungsweise eine Miliarde Menschen in ihrem Raumgebiet. Das erscheint nicht viel bei einer Population von siebenhundert Milliarden Intelligenzen, verteilt auf über zweihundert Sonnensysteme, aber wir erobern uns im ehrlichen Wettstreit unsere Positionen."
Sie nippte an ihrem Bier und seufzte behaglich. "Unsere Gesellschaft ist im höchsten Maße gerecht. Jeder kann so weit kommen, wie er es sich erkämpfen kann." Ihr Blick sagte bereits, dass sie eine bestimmte Reaktion erwartete. Caldham hatte nicht vor, sie zu enttäuschen. "Das Faustrecht?"
"Sie unterschätzen uns, John", sagte sie tadelnd. "Wir klären unsere Positionen in der Gesellschaft nicht mit Waffengewalt. Gut, okay, die Soldaten tun das manchmal. Aber für die anderen vier Säulen unseres Systems, die Raumfahrt, die Kultur, die Politik und die Gesellschaft, gilt das nicht. Der Politiker schlägt den anderen Politiker politisch, nicht militärisch. Der eine Künstler dominiert den anderen Künstler durch Kunst, und der erste Gesellschaftsvertreter ist für mehr Individuen zuständig als der andere. So bauen wir unsere Gesellschaft auf. Und so sorgen wir dafür, dass die Fähigsten und Gewillten die besten Positionen erreichen und bestreiten, bis bessere kommen." Sie machte eine weit auslandende Geste. "Sehen Sie mich an, John. Ich bin die uneingeschränkte Kapitänin und Besitzerin dieses sprungfähigen Sternenschiffs, eines privaten Explorers, der schon so manches neue Sonnensystem besucht und viele wichtige Erkenntnisse gewonnen hat."
"So. Heißt das, Sie gehören nicht zum Militär?", fragte Caldham. "Sie sind aus der Privatwirtschaft?"
"So kann man es ausdrücken", sagte sie amüsiert. "Wollen Sie Ihr Bier nicht?"
Gedankenverloren nahm der Kapitän der Pax Terra einen Schluck. Es war malzig und süß. Frauenbier. Vom Alkohol war nichts zu schmecken. Dennoch konnte man es gut trinken. Caldham fragte sich, ob ihm auch die anderen Sachen an Bord schmecken würden. Ob ihm sein Schicksal schmecken würde. Nun, sie war attraktiv, und er war weit weg von Zuhause. Weiter als je ein Terraner in seiner Position bevor. "Danke. Schmeckt", stellte er fest.
"Das freut mich. Und um Sie zu beruhigen, ich habe einen offiziellen Kaperbrief. Ich bin also dazu berechtigt, fremde Schiffe, egal ob Forschungsschiff oder Kampfeinheit, aufzubringen und gegen Zahlung eines Kapergelds zu vermarkten. Ohnehin ist der Rat sehr begierig darauf zu erfahren, wie Sie und Ihre Crew sich in unserem System machen werden, mein lieber Captain. Und ich hoffe, Ihre Leute werden den Abstand zu unserem Standard schnell schließen können, damit sie wertvoll für uns werden. Vieles hängt davon ab, weshalb wir uns dazu entschlossen haben, ein Fernraumschiff zu wählen, das wohl mit den Besten der Besten besetzt sein würde. Ich hoffe, wir behalten Recht."
"Also haben Sie uns gezielt aufgelauert", murmelte Caldham und trank einen weiteren Schluck.
Sie klopfte neben sich auf das Polster der Couch. "Setzen Sie sich, mein lieber Captain, und sagen Sie Reatan zu mir."
Da er sich zu bewusst war, in was für einer ausweglosen Lage er steckte, folgte er ihrer Geste und setzte sich. "Hat Reatan auch einen Nachnamen?"
"Sorgwarin", erwiderte sie lächelnd.
"Und was, Reatan Sorgwarin, ist der Gedanke hinter dieser Aktion der Expansionisten?"
"Können Sie sich das wirklich nicht denken?" Sie lachte und deutete in eine Ecke des Raums, in der ein mannshoher Spiegel stand. Genau dort bildeten sie sich ab, die große, gut gebaute Frau in der einteiligen Kombination, und er, der britische Navy-Pilot und Raumfahrer in der bei terranischen Raumfahrern üblichen Kombination aus weißer Hose und weißem Jersey, auf dessen Schultern die vier Balken des Navy-Captains prangten. Gekrönt wurde dieser Anblick durch sein dunkelbraunes, männlich-herbes Gesicht, das seine afrikanischen und pakistanischen Vorfahren verriet, während die blauen Augen auf den einen oder anderen Ausreißer aus Skandinavien hindeutete. Neben ihm wirkte die Kapitänin der Sorgwarin beinahe... Blass. "Sie wollen neues Blut?"
"So in etwa. Sehen Sie, meine Vorfahren stammen aus dem Mittleren Osten. Die heutige arabische Welt besteht aus jenen Zeitgenossen meiner Leute, die nicht mit evakuiert wurden. Der Großteil der Menschheit jedoch besteht aus Weißen, Schwarzen und Gelben. Zudem sind Sie zwölf Milliarden, also zwölfmal mehr als wir. Was meinen Sie, wie weit wir expandieren können, wenn wir unsere Fraktion mit diesen zwölf Milliarden aufgestockt haben? Ich sage es Ihnen: So weit wir immer wollen."
Sie knuffte ihm gegen die Schulter, als er missmutig dreinschaute. "John, ach, kommen Sie. In unserer Gesellschaft erreicht jeder die Position, die er sich verdienen kann. Sie als Raumfahrer haben durchaus die Chance, eines Tages ein eigenes Schiff führen zu können."
"Aber zuvor muss ich frei werden, richtig?", fragte er mürrisch.
"Freiheit erwirbt man sich durch Leistung. Leistung ist alles in unserer Gesellschaft. Und Ihre Leistung als mein Leibeigener wird es sein, auf unseren gesellschaftlichen Stand zu klettern, unser Wissen zu erwerben und dem ganzen Konglomerat zu beweisen, wie wertvoll Ihr Terraner sein werdet. Natürlich werden auch sie als Leibeigene beginnen, wie Sie und Ihre Leute, John, aber jeder kriegt seine Chance. Und ein unendlich weites Universum wartet darauf, von zwölf Milliarden Terranern in Besitz genommen zu werden. Und nein, sie werden dazu nicht nach ihrer Meinung befragt. Es gibt nichts, was Terra aufbieten könnte, um uns aufzuhalten." Sie dachte einen kurzen Moment nach. "Selbst wenn Sie sich verweigern, John, wenigstens einer Ihrer Leute wird es nicht tun und damit beweisen, dass wir Recht haben. Danach werden wir Terra schnell unterworfen und ins Konglomerat der Expansionisten geholt haben. Und wer sollte uns dann noch aufhalten? Nein, John, hier und jetzt heißt es nur, möglichst gut abzuschneiden, um möglichst viel für sich selbst zu sichern."
"So wie Sie, indem Sie mich zu Ihrem Betthäschen machen?"
Sorgwarin lachte erneut. "Sie waren von Anfang an mein Ziel, John. Seit ich gehört habe, wer die Expedition kommandiert. Seit ich Ihre Bilder kenne, Ihre Biographie, Ihre Herkunft, will ich Sie. Und jetzt, wo ich Sie habe, will ich alles von Ihnen. Nun tun Sie nicht so, als wäre es Ihnen unangenehm. Letztendlich sind Sie auch nur ein Mann. Und selbst wenn Sie Ihre Instinkte bezähmen können, Ihre Rationalität werden Sie nicht beiseite schieben, oder? Wenngleich..." Zum ersten Mal, seit sie miteinander sprachen, berührte sie ihn und streichelte ihm über sein Gesicht. "Wenngleich ich nicht glaube, dass ich Ihnen nicht gefalle.
Caldham spürte eine Gänsehaut auf seinen Unterarmen. Nein, das Gefallen war nicht das Problem. Und seine Rationalität gab ihm durchaus zu verstehen, dass er sehr gut damit verfuhr, wenn er dem Willen dieser Frau folgte - vorerst zumindest. Und davon abgesehen war er ein Mann, und sie war eine attraktive, paarungswillige Frau. Da gab es keine zwei Fragen. Er beugte sich zu ihr herüber und sog ihren Duft ein. Es war ein prickelnder Geruch, geschwängert mit ihren Hormonen. Wenn er zuvor noch Zweifel an ihrer Geschichte gehabt hatte, dann waren sie nun ausgeräumt. Dies war wirklich eine menschliche Frau. Die ihn wollte, die er wollte.
Sie kam seinen Gesicht nahe. Er konnte ihren Atem schmecken. Ihre Augen waren für einen Moment unsicher, und John erkannte, dass sie trotz allem, was sie wahr, trotz allem, was sie besaß, genau in diesem Moment schüchtern wurde. Also strich er seinerseits über ihre Wange, über ihre zarte Haut. Dies war der Auftakt zu einem ersten Kuss, zur ersten Stufe einer sexuellen Nötigung, wie jener Teil in ihm feststellte, der streng logisch dachte. Er schob ihn beiseite und ließ die Situation auf seine Libido wirken. Dass Terra in Gefahr war, dass die Menschheit in größter Gefahr war, das schob er alles beiseite, für den Sex mit dieser Frau, von dem er sich und seinen Leuten Vorteile versprach. Als sie sich gegenseitig entkleideten, schossen am äußersten Rande seiner noch vorhandenen Rationalität einige ihrer Worte durch seinen Verstand. Es gab nichts, was Terra aufbieten konnte, um die Expansionisten aufzuhalten. Nichts. Rein gar nichts.
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