Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Das Ende vom Tag

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P16 / Gen
02.10.2012
15.10.2012
6
10.786
 
Alle Kapitel
10 Reviews
Dieses Kapitel
3 Reviews
 
 
02.10.2012 1.675
 
Diese Serie hat es schon wieder geschafft, mich vor Verzweiflung und Wut zum Heulen zu bringen!! Ein bisschen AU, weil Ed hier nicht angeschossen wird…







Nein.

Mehr konnte ich nicht denken, als ich blindlings durch die Straßen fuhr.

Nein. Das kann er nicht getan haben. Das kann er nicht gewollt haben. Das kann nicht seine Schuld sein!

Wenn du deine Gedanken weinen hörst, weißt du, dass du einen schlechten Tag hast.

Das ist nicht wahr.

Es ist bemerkenswert, wie sehr Menschen sich an ihre Vorstellungen und Einbildungen festklammern können. Die ganze Psychologie, alles, was wir über Profiling lernen, alle Arten, jemanden rhetorisch zu Fall zu bringen – manchmal nützt es nichts. Manchmal sind die Leute zu tief versunken in dem, was sie sich erbaut haben. Sie brauchen ihre kleine, für uns unsichtbare Welt, die nicht mit der großen, sichtbaren zusammenpasst. Und jeder, der sie bedroht, warum auch immer, der wird eliminiert. Ich weiß das. Jeder hier weiß das. Lou ist gestorben, weil Rafer Alston sich in seiner kleinen, kaputten Welt so bedroht gefühlt hat, dass er unter die Bomben Landminen gelegt hat.  Und wir leiden darunter, jeden Tag, immer noch, und Spike am meisten und ich wette, Toth hat ihn damit fertiggemacht. So, wie er mich mit Sam fertiggemacht hat.

Das kann er nicht gewollt haben.

Jetzt weinen nicht mehr nur meine Gedanken, und das heißt, ich sollte definitiv nicht mehr autofahren. Aber was soll ich sonst tun? Nach Hause fahren? In eine Wohnung, die ich mit Hilfe meiner Kollegin eingeräumt und mit Hilfe meines Exfreundes gestrichen habe? Eine Wohnung, in der sieben Fotos von meinem Team hängen? – Und eines von meiner Familie. Aber meine Eltern wohnen drei Stunden von Toronto entfernt, und meine Brüder sind entweder noch nicht ausgezogen oder wohnen noch länger weg. Ich liebe sie, aber ich sehe sie nicht oft, und das ist okay für mich. Ich habe meine Familie hier. Dachte ich.

Der Wagen stoppt, ohne dass ich weiß, warum. Scheint, als hätte ich endlich die Bremse gefunden. Und das ist auch gut so, denn jetzt sehe ich gar nichts mehr vor lauter Tränen, alles bricht über mir los: Meine Eltern, Lou, Toth, Ed, Sophie, die ich irgendwie verstehe und auf die ich trotzdem so wütend bin, Wordy, Spike, Sam, immer wieder Sam,… ich versuche, nicht an den Serge zu denken, aber es geht nicht. Er kommt wieder. Der Gedanke kommt wieder, das Wissen, dass er es war, der Toth gerufen hat, und ich kann es nicht verstehen! Ich will es nicht verstehen. Ich will, dass dieser Tag nie stattgefunden hat.

Irgendwann höre ich doch auf, zu weinen. Ich war noch nie ein Mensch, der lange weinen konnte. Außerdem bin ich immer noch Polizistin. Und das will ich sein und bleiben, bis mich eine Kugel trifft. Ich bin ein Vorbild für andere, also muss ich jetzt aussteigen.

Ich bin bei Sam gelandet. Das ist so verrückt, dass ich nochmal weinen könnte, wenn ich noch Tränen übrig hätte. Läuft es darauf hinaus? Läuft alles in meinem Leben auf Sam hinaus?

Ich liebe ihn. Ich habe es lange verdrängen können, aber es ist wahr. Ich liebe Sam. Ich liebe Sam. Ich liebe ihn leider wirklich. Und wie auch immer die Beurteilung ausfällt, ich kann und will es nicht mehr verleugnen. Und das sollte ich Sam endlich sagen.

Ich sollte ihm sagen, dass ich ihn brauche. Und dass ich bereit bin, für was auch immer.

Einfach reingehen. Ich ertappe mich dabei, wie ich „SRU“, rufen will, bevor ich klopfe. Als würde ich einen besonderen Grund brauchen. Aber vielleicht brauche ich den. Was ist, wenn Sam seine Meinung geändert hat? Ich weiß, wie viel ihm das Team bedeutet.

Aber ewig hier stehen kann ich auch nicht. Ich bin immer noch Polizistin. Also klopfe ich an. Und warte drei gefühlte Ewigkeiten. Vielleicht ist Sam gar nicht da. Aber wo soll er sein? Wir haben alle einen gemeinsamen Zufluchtsort. Die SRU. Und da können wir nicht mehr hin.

Mein Gott, Sam, bitte sei da! Bitte lass mich nicht allein.

Er macht die Tür auf. „Jules!“ Ich bin so erleichtert, dass ich nichts sagen kann. Es gibt keine Worte für alles, was in mir vorgeht, als er die Tür noch eine  kleinen Spalt weiter öffnet.  Ich sehe in Sams Augen, ich sehe die Verwunderung darin, die Trauer, die er immer mit sich herumträgt, und die ich ihm so gerne abnehmen würde. Ich würde ihm so gerne helfen. Aber im Moment bin ich es, die Hilfe braucht, ich brauche ihn, und deshalb sage ich nichts. Ich warte. Ich warte und frage mich, ob es zwischen uns immer noch dieses stumme Verständnis gibt, dieses Einanderbegreifen, für das wir keine Worte brauchen. Die Tür geht weiter auf, und jetzt lächelt Sam. „Komm rein!“ Ein sinnloser Kommentar, wenn man bedenkt, dass ich schon in der Wohnung bin. Es ist alles noch so wie vor einem Jahr. Es steckt alles noch voller Erinnerungen. „Jules?“ Seine Stimme tut gut. Die Sorge darin, die Wärme, alles, was ich am Anfang so gehasst habe – es tut einfach gut. Und ich weiß, dass Sam mich respektiert. Ich weiß, dass er weiß, wie stark ich bin. Normalerweise.

Wenn niemand meine kleine Welt bedroht, oder einreißt, oder mein Sergeant, der für mich immer wie ein Vater ist, und nicht nur für mich, sondern für uns alle, plötzlich an den Teufel verkauft!

Ich schließe die Augen, um nicht wieder zu weinen. Ich kann mich nicht zu Sam umdrehen, auch, wenn er eine Antwort verdient hat.

„Hey!“ Er steht hinter mir, nah genug, dass ich mich einfach in seine Arme fallen lassen könnte, wenn ich es nur schaffen würde, ihn anzusehen, und seine Stimme wird immer eindringlicher. Unsere Welt zerbricht, und er weiß es auch. Er hat es schon einmal erlebt.

Einer muss es aussprechen. Dass es wieder so ist wie bei Lou. Dass die Welt eigentlich wieder stehenbleiben müsste. Dass wir gegen die Wand rennen und jetzt einfach umdrehen und zurückrennen müssen, dass es so, wie es jetzt ist, kein Weitergehen gibt.

Ja, auf eine gewisse Weise ist es genauso, wie es bei Lous Tod war, und ich muss wieder an Spike denken.

„Jules!“ Er legt mir die Hände auf die Schultern und dreht mich um, so dass ich ihn ansehen muss. Ich weiß nicht, was er in meinem Blick erkennt, aber ich sehe die Angst in seinen Augen lodern. So verwirrt und verängstigt ich bin, er hat noch mehr Angst.

„Ist schon gut“, flüstere ich, obwohl gar nichts gut ist. Er hält mich immer noch fest, und ich weiß, dass es kein Zurück gibt, wenn ich jetzt schwach werde.

Oder ist es ein Schwachwerden? Ich streichle Sam über die Wangen, streichle die Tränen weg, die ich in seinen Augen zu sehen glaube, fahre durch sein Haar und frage mich, wie es falsch sein kann, was wir tun. Wie kann es falsch sein, dass ich diese Traurigkeit verschwinden lassen will? Wie kann es falsch sein, jemanden zu finden, dem man alles anvertrauen kann?

Und wenn er mich auch im Stich lässt?

Ich erstarre, und natürlich merkt Sam es. „Jules, was hast du? Was ist passiert?“ Sofort ist die Angst wieder da, aber in mir ist nur noch Wut. Verzweifelte, rasende Wut.

„Es war Parker“, zische ich, „das ist passiert, es war Parker, er hat Dr. Toth geschickt, er hat ihm alle Unterlagen gegeben, nicht nur die offiziellen Protokolle, sondern alles, er hat ihm alles gegeben! Ich habe ihm vertraut, ich habe…“, verdammt, ich heule ja doch. Tief durchatmen. Ich bin zu wütend, um zu weinen. Zu wütend und zu enttäuscht. Ich habe mich noch nie im Leben so betrogen gefühlt. So dumm.

Sam kennt meine Ausbrüche zu gut, um zurückzuweichen. Er hält mich fest, während ich nach den richtigen Worten und um Fassung ringe, er hält mich einfach fest, bis ich ruhig genug bin, um das wichtigste zu sagen, das, was mich wohl hierher geführt hat.

„Ich habe… uns aufgegeben, um das Team zu schützen, Sam. Für dich, für mich… ich wollte nicht, dass einer von uns gehen muss. Ich habe ihm vertraut. Parker hat gesagt, wenn es zwischen uns aus ist, dann sieht er kein Problem. Und dass er weiß, wie professionell wir beide sind.“ Meine Stimme ist so bitter geworden, dass sie mir im Mund wehtut. Wenn ich es nicht bald sage, das weiß ich, dann schaffe ich es nie. „Und dann verrät er uns an Toth. Wieso? Wieso muss er von allen externen Psychiatern unbedingt ihn nehmen? Wie soll ich ihm vertrauen und auf seine Weisungen hören, wenn er uns nicht vertraut?  Ich weiß nicht mehr genau, was richtig und was falsch ist, Sam. Ich weiß nur…“ Ich beiße mir auf die Lippen. Letzte Chance, dann gibt es kein Zurück. Kann ich Sam vertrauen?

Er streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, so zärtlich, dass ich zittere. Es gibt kein Zurück mehr. Schon lange nicht mehr.

„Ich weiß nur, dass sich das hier richtig anfühlt. Mit dir. Wir beide. Ich liebe dich, Sam. Ich liebe dich, und ich kann und will nicht länger ohne dich leben.“

Jetzt fühle ich ihn erstarren. Das ist der Moment. Ich schaue ihn an, bereit für jede Antwort, die er gibt. Er schaut mich an, schaut mich endlos lange mit diesen himmelblauen Augen an. Bis ich die Stille nicht mehr aushalte, die jetzt ihn umgibt.

„Sam…“

Seine Antwort ist kein Wort, und Worte brauche ich auch nicht. Seine Lippen auf meinen, das ist es, was ich brauche, seine Arme um mich, seine Haut auf meiner, seine Hände an meiner Hose, die ich nicht öffnen kann, weil ich zu beschäftigt damit bin, ihn auszuziehen.

Farbschlieren sind wir, ein Körper, der sich immer wieder teilt, aber nur kurz, zwei Schatten einstmals stolzer Menschen, die verschmelzen. Für einen Moment versinkt die Welt in Sams Armen, unser Atem übertönt die Zweifel in meinem Kopf, und zum ersten Mal an diesem grauenvollen Tag fühle ich mich sicher. Endlich sicher. Sams glühender Körper wärmt mich, ein Feuer, das alles in mir verbrennt und mich wieder auferstehen lässt, immer wieder, immer neu, und es ist nie genug.
Review schreiben
 
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast