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... So leicht wie eine Feder

Kurzbeschreibung
KurzgeschichteDrama, Tragödie / P12 / Gen
08.08.2012
08.08.2012
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1.809
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Ich höre ein Geräusch. Ein Geräusch, das mir sagen soll, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Dass ich jetzt bloß nicht aufgeben soll. Dieses Geräusch kommt aus meinem Magen. Ein Knurren, der mir sagen möchte, dass ich etwas essen soll. Doch ich kann nicht. So gerne ich es auch tun würde, ich kann es nicht. Ich kann meine Ziele einfach nicht so schnell über Bord werfen. Ich muss Stärke zeigen, denn so wird es von mir verlangt. Nur dann bin ich auf dem richtigen Weg, denn nur dann ist Ana stolz auf mich.

Eine Geschichte über Anorexia Nervosa (Magersucht) und Bulimia Nervosa (Bulimie) .....


"Pria? Kommst du runter? Das Essen ist fertig.", höre ich meine Mutter rufen. Jedes mal ruft sie nach mir, wenn wir essen. Aber ich möchte doch nichts essen! Wie soll ich ihr das nur erklären, sie würde es sowieso nicht verstehen und mich in eine Klinik einliefern. Ich brauche aber keine Behandlung, weil ich nicht krank bin! Was ist so schlimm daran, wenn man schlank sein möchte? Wieder dieses Magenknurren. Wie ich das hasse. Versteht mein Körper nicht, dass ich an Gewicht verlieren und nicht noch mehr zunehmen möchte?
"Pria? Wir warten alle auf dich, kommst du mal bald runter?", höre ich meine Mutter erneut rufen. Schweren Herzens stehe ich auf und gehe die Treppen runter. Wenigstens verbrenn ich einige Kalorien beim Hoch- und Runtersteigen. Meine Eltern sitzen schon am Tisch, gemeinsam mit meiner jüngeren Schwester und scheinen auf mich zu warten. Warum können sie nicht mal ohne mich essen?, frage ich mich und spüre die Wut in mir aufsteigen. Nachdem ich mich an den Tisch gesetzt habe, beginnen meine Eltern endlich zu essen.
Meine Schwester erzählt darüber, wie es in der Schule läuft, sie unterhalten sich lautstark, lachen und bemerken gar nicht, dass ich das Essen nicht angerührt habe.
Ich starre auf den Tisch, vor mir liegt ein Teller mit etwas Brokkoli, Kartoffeln und kleingeschnittenen Auberginen. Auf dem Tisch liegt noch zusätzlich eine Schale mit Gurkensalat und eine Schale mit frischen Kirschen als Nachtisch. Bloß nichts anfassen!, rede ich mir ein. Ich darf jetzt nichts essen!
Meine Eltern werden langsam leiser und die Gefahr, dass sie mein unberührtes Essen bemerken wird größer. Denk dir schnell eine Ausrede aus, Pria!, sage ich zu mir selbst.
Und tatsächlich bemerkt meine Mutter das unberührte Essen, starrt erstmal auf den Teller und dann in meine Augen.
"Pria, was ist los? Bist du etwa krank, warum isst du nichts?" Als sie das Stichwort krank anspricht, fällt mir die passende Ausrede ein.
"ich fühle mich nicht so gut, ich habe Bauchschmerzen. Darf ich raufgehen und mich aufs Bett legen?", sage ich mit einem gespielt schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck. "Aber natürlich, Pria. Geh hoch und ruh dich aus. Das Essen lege ich für dich beiseite, damit du später essen kannst."
Ich drehe mich um und während ich die Treppen hochsteige, kann ich nicht verhindern, dass mir ein triumphierendes Lächeln über die Lippen huscht. Klar, sage ich mir in Gedanken, leg nur das Essen beiseite, ich werde es früher oder später sowieso in den Mülleimer werfen.


So leicht wie eine Feder möchte ich sein ...


Am nächsten Morgen knurrt mein Magen lauter denn je. Ich bereite mich zur Schule vor, versuche mich abzulenken, doch das ist gar nicht so einfach. Das Hungergefühl wird immer stärker, bis es fast kaum aushaltbar wird. Das ist der richtige Weg, Pria. Halte durch, gib nicht auf, verlier deine Ziele nicht aus den Augen!, rede ich mir ein. Dieses Hungergefühl ist ein Zeichen von Stärke und Kontrolle. Es zeigt, dass ich die Kontrolle über meinen Körper besitze. Als ich das Haus verlasse, steckt mir meine Mutter mein Essen zu, welches ich kurzerhand in die Mülltonne werfe. Ich gehe absichtlich früher raus, damit ich den längsten Weg nehmen kann, um einige Kalorien zu verbrennen. In der Schule angekommen, kann ich mich kaum auf den Unterricht konzentrieren, so stark wird das Hungergefühl. Aber ich gebe mich nicht so schnell geschlagen und so versuche ich weiterhin, mich auf den Unterricht zu konzentrieren, was kaum möglich ist, aber das ist mir egal. Wieso versteht mich  eigentlich niemand? Ich weiß doch wohl am besten, was gut für mich ist und was nicht. Als es zur Pause klingelt, packe ich schnell meine Sachen zusammen und mache mich auf den Weg nach draußen. Freunde habe ich kaum welche, wahrscheinlich finden mich alle zu dick. Wer weiß, was sie alles über mich sagen und denken. Deshalb möchte ich keine Freundschaften schließen, ich möchte nicht mit Fragen bombadiert werden, ich möchte einfach nur alleine sein.
Kurz bevor die Puse endet, packt mich der Hunger besonders schlimm. Und plötzlich kommt mir eine Idee. Ich packe meine Getränkeflsche aus, schütte den Inhalt in die Toilette, denn sogar einige Orangensäfte haben Kalorien und fülle die Flasche mit Wasser. Dann trinke ich so viel, bis sich mein Magen voll anfühlt und ich wieder in der Lage bin, etwas mehr Konzentration aufzubringen.
Die nächste halbe Stunde verläuft einfach, denn mein Bauch schreit nicht mehr nach Essen. Aber kaum ist die halbe Stunde vergangen, fängt sie schon wieder an zu knurren.
Ich sehe keinen Ausweg mehr, mein Magen zieht sich zusammen, und so sehe ich keinen anderen Ausweg mehr, als den Apfel zu essen, den meine Mutter in die hinterste Ecke meiner Tasche geschmuggelt hat. Ein Biss, zwei Bissen, ich genieße das Gefül von etwas Essbarem im Mund zu spüren, obwohl ich genau weiß, dass ich das nicht darf. Nach drei Bissen packt mich die Reue und so werde ich den Apfel auf den Boden und renne in die Toilette, um mir kurzerhand den Finger  in den Mund zu stecken und alles rauszuwürgen. Verdammt, wie konnte ich so schwach sein?, mache ich mir Selbstvorwürfe. Wieso konnte ich keinen Widerstand leisten? Ana wird sehr enttäuscht von mir sein ....
Nachdem ich den Inhalt meines Magens entleert habe, fühle ich mich besser.
Seit diesem Tag hab ich nie wieder mehr denselben Fehler gemacht.


So leicht wie eine Feder möchte ich sein ...


2 Monate später ...

Nun habe ich meinen Körper voll unter Kontrolle. Kein einziges Mal habe ich den Fehler gemacht mich verführen zu lassen. Keine noch so leckere Mahlzeit hat mir meine Kontrolle genommen.
Das Abendessen nehme ich rauf in mein Zimmer und verspreche meinen Eltern, dort zu essen. Aber das mach ich natürlich nicht wirklich. Wie immer landet alles im Müll. Und falls mal meine Eltern mich doch zwingen, gemeinsam zu essen, erfinde ich irgendeine Ausrede, um bloß nicht essen zu müssen. Das alles ist nun Alltag für mich. Ich habe mich daran gewöhnt, so zu leben und kein Hungergefühl kann mich dazu bringen, diese harte Arbeit einfach so wegzuschmeißen. In der Schule trage ich nur weite Klamotten, damit den anderen mein starker Gewichtsverlust nicht auffällt. Ich rechne jeden Tag die Kalorien aus, die ich zu mir nehme und esse nur so viel, wie es nötig ist, um am Leben zu bleiben. Innerhalb von 2 Monaten hat sich mein Gewicht um 9 kg reduziert. Aber nur weil ich so stark abgenommen habe, heißt es noch nicht, dass ich dünn bin. Ich muss noch mehr abnehmen, man kann nie zu dünn sein. Die Gewichtsabnahme zeigt lediglich nur, wie gut ich meinen Körper unter Kontrolle habe. Ana wäre stolz auf mich ...


Doch leider hat Pria nicht gemerkt, dass sie bereits stark untergewichtig ist und ihre Knochen überall hervorstehen. Sie hat weiter abgenommen, bis sie nur noch aus Haut und Knochen bestand.


So leicht wie eine Feder möchte ich sein ...


Weitere Monate später ...


Ich bin kaum noch in der Lage, auf beiden Beinen zu stehen. Nun haben mich meine Eltern in eine Klinik eingeliefert. Sie haben erst dann mein starkes Untergewicht bemerkt, als meine Haare plötzlich angefangen haben auszufallen. Aber es sind nicht nur einige Haare ausgefallen, nein, ganze Büschel, und nun habe ich noch kaum welche auf dem Kopf. Einige meiner Zähne sind mir inzwischen auch ausgefallen und nun fange ich langsam an, mich zu fragen, ob es das alles wert war.

Ich habe keine Kraft mehr. Ich kann mich nicht ohne Hilfe bewegen, laufen und gehen wie früher ist nicht mehr möglich. Ich möchte nicht jede Sekunde Ärzte um mich herum haben, ich möchte frei sein und das Leben genießen. Doch das kann ich nicht, denn mein Körper möchte nicht mehr mitmachen.

Die Ärzte beschreiben meinen Körper als "leblos". Sie sagen, mein Zustand sei kritisch. Meine Eltern weinen. Sie geben sich die Schuld dafür, dass sie meine Krankheit so spät bemerkt haben. Ich möchte sie trösten, möchte ihnen sagen, dass sie keine Schuld haben, doch ich kann nicht. Mein Körper ist weder in der Lage dazu, aufzustehen, noch kann ich irgendeinen nützlichen Ton rausbringen. Ich kann nur Geräusche von mir geben, denn ich habe nicht die Kraft dazu, richtige Worte rauszubringen. Die Krankenschwestern pflegen mich, wechseln meine Unterwäsche und füttern mich. Ich fühle mich wie ein kleines Kind, das nicht ohne Hilfe leben kann. Ich habe versagt ... denn ich habe die Kontrolle über meinen Körper verloren.


Die Ärzte haben schon seit langem gesagt, dass die Chancen ums Überleben gering sind und nun denke ich, dass die Zeit gekommen ist. 15 % aller Magersüchtigen überleben es nicht, und ich gehöre zu ihnen. Die Ärzte haben alles gemacht, was sie konnten, aber es war bereits zu spät. Ich frage mich, ob das alles diesen hohen Preis wert war. Die Magersucht hat über mich gesiegt.

Ich schließe die Augen und verabschiede mich vom Leben.



Nun bin ich so leicht wie eine Feder ...



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Nachwort

Als ich diese Geschichte geschrieben habe, haben sich meine Augen plötzlich mit Tränen gefüllt. Klar, das Thema ist sehr berührend aber ich hätte trotzdem nicht gedacht, dass ich kurz davor stehen werde, zu weinen. Vielleicht liegt es daran, dass all das vielen Menschen auf dieser Welt passiert ist, oder auch ganz einfach daran, dass dieser Anblick von einem Menschen, der nur noch aus Knochen und Haut besteht einfach herzzerreißend ist. Oder auch beides, ich weiß es nicht. Jedenfalls wollte ich sehr gerne eine Geschichte darüber schreiben, weil vor allem im Internet viele Seiten gegründet werden, die die Magersucht zum Lifestyle machen. Solche Seiten verführen viele Mädchen dazu, einfach aufzuhören zu essen. Die erwähnte "Ana" in dieser Geschichte ist die Abkürzung von Anorexia Nervosa (Magersucht). Auf vielen Pro Ana - Seiten gibt es Briefe von Ana, die einem vorwerfen, dick zu sein. Ana soll deine beste Freundin sein und möchte aus dir ein perfektes Mädchen machen. Und mit dieser Geschichte wollte ich einfach einigen Menschen die Augen öffnen. Magersucht ist kein Lifestyle, sie ist eine Krankheit! Und nehmt euch nicht Stars als Vorbild, es ist für mich manchmal sowieso unglaublich zu sehen, was uns das Fernsehen vorlebt. Lauter magere Models und sobald man sie sieht, fühlt man sich gezwungen, ebenfalls so dünn zu sein. Aber bitte lasst euch nicht beeinflussen, denn Magersucht ist ein lebensbedrohlicher Zustand!
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