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Briefe von Logan

Kurzbeschreibung
GeschichteFreundschaft, Liebesgeschichte / P12 / Gen
06.07.2012
22.09.2012
9
27.997
 
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06.07.2012 6.077
 
Hey!
Ich weiß, hat wieder ein bisschen lange gedauert mit dem Up-Date (Hatte zwischendurch mal eine kleine Schreibblockade...). Aber dafür ist das Kapitel diesmal wirklich echt lang.
Hoffe es gefällt euch und viel Spaß beim Lesen!

LG Robin
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9. Die Sache mit Noah

September

Eine Woche früher

Oh mein Gott! Das kann jetzt ja wohl nicht wahr sein! Mit weitaufgerissenen Augen starre ich auf Noahs Gesicht, welches meinem eindeutig zu nahe kommt. Auf einmal scheint alles wie in Zeitlupe abzulaufen und obwohl ich weiß, dass es nur ein gefaketer Theaterkuss werden soll – genauso wie bei der Generalprobe gestern – keimt plötzlich Panik in mir auf. Was wenn es diesmal nicht gefaket ist? Ich meine, nach dem Gespräch vor der Show…

Eine halbe Stunde zuvor

„Na, auch noch ein bisschen frische Luft schnappen bevor es losgeht?“
Überrascht drehe ich mich um und sehe Noah vor mir stehen. Ein breites Grinsen ziert sein Gesicht. „Schon sehr aufgeregt?“, fragt er weiter als ich nicht antworte.
Ich zucke mit den Schultern. „Es ist nur eine dämliche Aufführung – mehr nicht.“
Noah zieht die Augenbraun hoch und schüttelt kaum merklich den Kopf. „Ich glaube, ich werde dich nie verstehen.“
„Keine Sorge – so geht es den meisten Menschen mit mir…“
„Wenn du das Theater und die Schauspielerei so sehr hasst, wieso bist du dann hier?“, fährt Noah fort ohne auf meinen Kommentar einzugehen.
„Weil Tanja krank ist und mein Bruder intrigant.“
Noah lacht. „Ja, Martin kann überaus überzeugend sein…“
Ich schnaube. „Überzeugend? Wohl eher manipulativ.“
Stille kehrt ein. Unbehagliche Stille. So eine Stille die man am liebsten mit irgendetwas Gesagtem durchbrechen will, nur es fällt einem einfach nichts Gutes ein. Ich wünsche mir, dass Noah wieder hineingeht, aber er bleibt wo er ist. Ich wende meinen Blick von ihm ab und beobachte indes das Gesehen auf der Straße vor uns. Langsam trudeln auch noch die letzten Zuschauer ein. Ich werfe einen Blick auf die Uhr auf meinem Handydisplay. Schon fast sieben. Nur noch ein paar Minuten und die Hölle kann beginnen zu brennen…
„Weißt du was ich mich immer gefragt habe?“, durchbricht Noah plötzlich ganz unvermittelt das unbehagliche Schweigen zwischen uns.
Ich widerstehe dem Drang ihn überrascht anzuschauen, sondern starre einfach nur stur geradeaus auf die andere Straßenseite und tue so als ob es dort etwas Hochspannendes zu beobachten gäbe. Dann antworte ich in zu gleichem Teil genervtem und gelangweiltem Ton: „Nein, weiß ich nicht. Schaue ich etwa so aus als ob ich Gedanken lesen könnte?“
Noah lässt sich kein Stück von meiner Bissigkeit beeindrucken. Kein Wunder – niemand von diesen Theaterfreaks lässt sich inzwischen mehr davon beeindrucken. Am Anfang vielleicht noch – aber jetzt, jetzt gehörte es einfach zu mir dazu. Ich bin hier diejenige die stundenlang mit genervtem Blick und einer Regenwolke über dem Kopf durch die Gegend rennen kann. Eine Technik die ich im Laufe eines Jahres an vielen qualvollen Samstagvormittagen mit diesen Freaks bis zur ultimativen Perfektion erlernt habe.  
„Wieso hast du damals überhaupt bei uns mitgemacht, wenn…“
„Ich das ganze Zeug hasse?“, beende ich Noahs Frage an seiner statt und sehe ihm in die Augen. Ich muss mich sehr zusammenreißen um einen klaren Gedanken fassen zu können. Kaum zu glauben – da war ich vor zwei Jahren Hals über Kopf in diesen Bastard verknallt und glaubte mich endlich – nach mehr als zwei Jahren – von dieser Dummheit befreit und dennoch bekomme ich weiche Knie, nur weil ich ihn ansehe. Zugegeben er sieht nicht unbedingt schlecht aus… Naja, ein Brad Pitt oder Hugh Grant oder George Clooney ist er jetzt nicht unbedingt. Und auch kein Zac Efron oder Logan Lerman. Aber er ist Noah Regner und hat etwas an sich, dass ich nicht in der Lage bin zu beschreiben. Er hat einfach eine Ausstrahlung die ihn jenseits jedes Sixpacks oder jenseits jedes perfekten Gesichts so unwiderstehlich anziehend macht. Obwohl, laut Marty bin ich höchstwahrscheinlich die Einzige die so denkt. „Ich bitte dich, Lou! Was willst du mit Noah? Er ist ein Jahr jünger und ganz ehrlich – so gut schaut er nicht aus. Du hast was Besseres verdient – und er auch. So sehr wie du das Theater hasst und so sehr wie er es liebt würdet ihr euch, wenn ihr ein Paar wärt höchstwahrscheinlich doppelt so oft an die Gurgel gehen wie jetzt schon.“
„KLAPPE!“, rutscht es mir da plötzlich unbeabsichtigt raus.
Noah schaut mich verwirrt an. „Ich hab doch gar nichts gesagt.“
Ich schüttle den Kopf. „Dich mein ich doch gar nicht!“
„Wen sonst – außer uns beiden ist niemand mehr hier draußen.“
Ich sehe mich kurz um und stelle fest, dass er recht hat. Nur mehr wir beide. Ich sehe ihn wieder an. Was soll ich drauf jetzt antworten? Damit waren die Stimmen in meinem Kopf gemeint? Ja, ja – klingt überhaupt nicht wie reif fürs Irrenhaus.
„Ich… äh…“, stottere ich herum um Zeit zu gewinnen, aber mir fällt beim besten Willen keine plausible Erklärung für meinen Ausrutscher ein.
Auf einmal ziert ein amüsiertes Lächeln Noahs Lippen. „Doch nervös – hm?“
Obwohl es mein Stolz mir eigentlich verbieten würde zuzugeben nervös oder aufgeregt zu sein, klammere ich mich dankbar an den Rettungsring, den mir Noah unwillentlich (?) zugeworfen hat. Besser nervös als irre. „Äh… ja, vielleicht. Ein kleines bisschen.“
„Naja, ein bisschen Lampenfieber gehört dazu. Ich bin sowieso erstaunt wie ruhig du bist, obwohl du hier in letzter Sekunde als Zweitbesetzung eingesprungen bist.“
Ruhig? Ich? Haha, guter Witz – ich lache später. Meine Nervosität übersteigt gerade alle gesundheitsverträglichen Maße und gepaart mit der wiederaufkeimenden Verknalltheit, die ich zwanghaft zu unterdrücken versuche, müsste ich eigentlich schon ohnmächtig am Gehsteig liegen.
„Bei der Show geht es größtenteils eh nur um Improvisation. Und außerdem war ich ja vorher schon bei zwei Proben dabei. So schwer ist das nicht“, winke ich ab – ohne zu wissen wie sehr ich diesen Kommentar in weniger als einer halben Stunde schon bereuen werde.
Ich sehe wie Noah mich noch etwas fragen will, als plötzlich Alex seinen Kopf bei einer der vier gläsernen Eingangstüren herausstreckt. „Hier seid ihr beiden also! Die Mayer hat schon fast einen halben Herzinfarkt bekommen, weil keiner wusste wo ihr beiden steckt.“ Er macht eine kurze nachdenkliche Pause und mustert uns mit gerunzelter Stirn. „Störe ich gerade bei etwas?“
Ich starre Alex mit weitaufgerissenen Augen entsetzt an und mache vorsichtshalber seinen großen Schritt zurück um Abstand zwischen mich und Noah zu bringen. Im nächsten Augenblick wird mir klar, wie dumm mein Rückzug war. Jetzt würde Alex es so oder so vollkommen falsch interpretieren.
„Was? Nein – du störst bei überhaupt nichts. Wie kommst du bloß auf so ei…“, kann ich nicht umhin zu sagen, werde aber dankenswerterweise von Noah unterbrochen, der mich kurz amüsiert anschaut und sich dann Alex zuwendet.
„Was Lou damit sagen will ist, dass wir beide nur kurz Luft schnappen waren vor dem großen Auftritt. Sie ist ein bisschen nervös – siehst du ja selbst. Ich hab bloß versucht ihr ein bisschen Mut zuzusprechen und sie zu beruhigen“, erwidert Noah mit ruhiger Stimme.
Ja, soviel dazu nicht weitere Missverständnisse aufkommen zu lassen.
„Ich bin nicht nervös!“, verteidige ich mich aus einem Reflex heraus und funkle Noah böse an.
Dieser ignoriert mein böses Funkeln einfach und schickt Alex fort. „Geh nur wieder rein und sag der Mayer, dass wir gleich kommen.“
Alex schaut uns noch einmal skeptisch an, nickt dann aber und verzieht sich wieder. Nachdem er weg ist wendet Noah seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. „Also, du bist mir noch eine Antwort schuldig.“
„Eine Antwort worauf?“, stelle ich mich dumm.
„Auf die Frage, wieso du damals überhaupt bei dieser – wie nennst du es immer so schön? – Freakshow angefangen hast mitzumachen…“
„Freakshow? Das habe ich nie gesagt!“ Naja, zu mindestens nicht in seiner Gegenwart. Nicht soweit ich mich erinnern kann.
„Martin…“
„Dieser miese, kleine Bastard!“, zische ich und hoffe damit der Frage gekonnt ausgewichen zu sein, doch Noah lässt sich nicht so leicht ablenken.
„Also – wieso?“
Äh… weil meine Eltern der Meinung waren ich bräuchte eine bessere Beschäftigung als Schlafen für meine Samstagvormittage und weil mein Bruder so ganz nebenbei mal erwähnt hat, dass du auch mitmachst und ich damals ein klein bisschen verknallt in dich war… Scheiß Antwort – besser lügen.
„Ich hatte damals meine größenwahninnige und masochistische Phase“, antworte ich also selbstsicher und schaue Noah fest in die Augen.
„Ja klar – glaub ich dir sofort“, erwidert Noah mit einer Spur von Sarkasmus. Langsam wird mir noch unbehaglicher in meiner Haut als ohnehin schon. Irgendwie werde ich das seltsame Gefühl nicht los, dass Noah über meine vergangenen Gefühlsverfehlungen Bescheid weiß.
„Gut – wenn das geklärt ist sollten wir die anderen nicht weiter warten lassen…“, meine ich und will mich schon zum Gehen wenden als Noah sich mir unvermittelt in den Weg stellt.
„Was ist noch?“, fahre ich ihn genervt an.
Er schaut mich kurz unschlüssig an, schüttelt dann aber den Kopf und macht den Weg ohne Widerworte wieder frei. „Nichts Wichtiges – das hat auch bis später Zeit.“
Ich mustere ihn kurz mit forschendem Blick. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass hier etwas so rein ganz und gar nicht stimmt. Da ist so eine Spannung in der Luft…
„Jetzt werd aber mal nicht paranoid, Lou!“, flüstere ich mir selbst zu und dränge mich an Noah vorbei zu der nächstliegenden der vier gläsernen Eingangstüren.
„Was?“, höre ich Noah hinter mir verwirrt fragen.
Ich mache die Eingangstür auf und trete ins Foyer ein. Bevor ich die Tür hinter mir schließe drehe ich mich noch einmal zu dem scheinbar verwirrten und etwas unschlüssig wirkenden Noah um und sage: „Nichts. Damit waren nur die Stimmen in meinem Kopf gemeint…“
Ich sehe noch wie Noah mich leicht entsetzt anschaut, bevor ich mich umdrehe und auf den Weg zu den anderen mache. Besser er hält mich für eine Geistesgestörte als dass er noch unnötigerweise auf falsche Gedanken kommt…


Falsche Gedanken? Als ob ein bisschen Verrücktheit jemanden wie Noah von falschen Gedanken abbringen könnte – wo er an meinen überaus wechselhaften Charakter ohnedies gewöhnt ist. Falls er jemals auch nur irgendetwas in die Richtung eines Kusses vorgehabt hatte, jetzt war der perfekte Moment dafür dieses Vorhaben in die Tat um zu setzten. Ich konnte es förmlich an seinem Gesicht ablesen, welches sich meinem noch immer langsam, aber bedenklich näherte. Ein Kuss vor Publikum. Ein Kuss, den sogar das (nichtvorhandene) Drehbuch unseres kleinen Improstücks vorsah. Eine passendere Gelegenheit die Sache am Schopf zu packen gab es nicht. Aus dem Augenwinkel bemerke ich wie Marty mich wissend angrinst und mir kurz zuzwinkert. Nach allem was sie über Noah gesagt hat zwinkert sie mir jetzt zu? Da ist doch eindeutig etwas faul. Ich muss handeln! Und zwar jetzt sofort – bevor es zu spät ist.
Nur was soll ich machen? Mein Improvisationstalent wandert schon in ruhigen, unbedenklichen Momenten gegen Null. Aber jetzt wo mein Stresspegel gepaart mit aufkeimender Panik jegliche Skala überschreitet ist selbst von dem kleinen bisschen an Improvisationstalent nichts mehr zu finden.
Plötzlich hörte ich ein Tellerklappern, als einer der Kellner gerade etwas abräumt. Noahs Lippen sind schon fast bei den meinigen angelangt als ich dem überplötzlichen Reflex nachgebe auf den mich das Tellerklappern unbewusst gebracht hat. Ich verpasse Noah eine saftige Ohrfeige. Und zugegeben – vielleicht war sie ein klein bisschen zu fest, weil man nämlich deutlich einen roten Handabdruck auf seiner rechten Wange sehen kann.  Ich höre wie ein erstauntes Raunen durch die Zuschauermenge geht und sich zu dem Klappern von Besteck dazugesellt. In diesem Moment muss so ziemlich jedes Augenpaar im gesamten Restaurant auf uns gerichtet sein. Prima, toll gemacht Lou! Nur nicht auffallen – um keinen Preis… Hahaha…
„Au! Was zum Teu…“, stößt Noah überrascht hervor und hält sich die schmerzende Wange.
Ich schaue ihn entsetzt und panisch zugleich an. Womit soll ich diese Ohrfeige rechtfertigen? Noch dazu ohne aus meiner Rolle als seine unsterblich in ihn verliebte Verlobte zu fallen… Wobei – Ohrfeige und unsterblich verliebt? Ich bin schon längst aus meiner Rolle gefallen! Verdammt, hätte ich nicht einfach diesen blöden Kuss über mich ergehen lassen können? Gut er hätte nicht unbedingt meinen Vorstellungen eines perfekten ersten Kusses entsprochen – aber dann, wem ist im Leben schon der perfekte erste Kuss vergönnt?
Alles war mir in diesem Moment lieber als das spannungsgeladene Schweigen welches das gesamte Restaurant erfüllt. Und die etwa hundert Augenpaare die mich und Noah neugierig anstarren. Aus dem Augenwinkel sehe ich wie die Mayer, unsere – Verzeihung – die Schauspiellehrerin (sofern man sie überhaupt als solches bezeichnen darf) der Theaterfreaks, mich selig angrinst. Ja – mein persönliches Improvisationsdilemma entspricht wohl einer dramatischen Wende im ganzen (nichtvorhandenen) Stück, die sie sich nicht einmal in ihren kühnsten Träumen vorzustellen gewagt hatte.
Ich werde bestimmt nie, nie, nie, nie, nie und noch eintausend Mal nie wieder bei einem „Dinner & Crime“ mitmachen. Was für eine überaus bescheuerte Idee! Wenn ich Martin nach dem Horror in die Finger kriege… Das heißt, sofern ich diesen Horror überhaupt überlebe…
Ob all dem in mir aufkochendem Ärger wird mir wieder bewusst, dass hier ein kleiner, noch zu lösender Konflikt auf mich wartet. Wieso muss so etwas auch immer nur mir passieren?
Unschlüssig lasse ich meinen Blick unauffällig hin und her wandern, auf der Suche nach einem Ausweg. Schlussendlich bleibt er auf meinem mit Rotwein gefüllten Weinglas hängen. Ohne lange zu überlegen schnappe ich mir das Glas und schütte Noah dessen Inhalt kurzerhand einfach ins Gesicht. Erneut macht ein erstauntes Raunen die Runde und ich stelle mit Zufriedenheit fest, dass jegliche Art von Versuchung aus Noah Gesicht gewichen ist und stattdessen einer wütenden Fratze Platz gemacht hat. Falls da überhaupt jemals so etwas wie Versuchung im Spiel gewesen ist – was solche Dinge angeht kann ich manchmal furchtbar paranoid werden…
So nachdem ich Noah nun eine Ohrfeige und Rotweinflecken für sein weißes Hemd verpasst habe, befinde ich ist es an der Zeit für einen gepflegten, aber dennoch leicht überstürzten Abgang. Vielleicht noch ein paar Worte…
„Wie kannst du nur? Zuerst die Kellnerin und dann auch noch meine Schwester… Du Bastard!“, fahre ich Noah gespielt wütend an und schnappe mir auch noch sein Weinglas um es ihm ins Gesicht zu schütten. Sein Hemd ist ohnehin schon dreckig und es macht schon irgendwie Spaß jemandem grundlos ein Getränk ins Gesicht zu schütten. Außerdem steigert das die Dramatik.
Nachdem ich das Weinglas wieder energisch auf seinen Platz zurückgestellt habe, schnappe ich mir meine Requisiten-Clutch und versuche mich an einem halbwegs würdevollen Abgang Richtung Restaurantausgang, was nicht unbedingt einfach ist, weil ich für meine Rolle High-Heels mit 10 Zentimeterabsatz tragen muss… Ich glaube, ein Storch hätte in diesem Fall einen eleganteren Abgang hingelegt als ich, aber das ist mir im Moment egal. Hauptsache der rettende Ausgang aus dieser Hölle kommt näher. Kaum, dass ich bei der Tür angelangt bin drücke ich diese eilig auf und verschwinde nach draußen auf den Flur in den Halbstock der Stadthalle unseres Nachbarkaffs.
Draußen lehne ich mich gegen die kühle Wand und bin erst mal froh, dass im Moment keiner von der Truppe außerhalb des Restaurants zu tun hat. Kaum zu glauben, dass das ganze Theater, welches ich soeben veranstaltet habe nur ein paar Sekunden in Anspruch genommen hat. Mir sind diese Sekunden eher wie Tage erschienen.
Mir bleibt nicht viel Zeit um durchzuatmen und meinen erhöhten Stresspegel ein bisschen zu senken, ganz zu schweigen von meinem hochkochenden Blutdruck. Nur wenige Momente später taucht plötzlich Noah auf. Er sieht wütend aus. Noch ehe ich irgendetwas sagen kann um mich zu verteidigen, packt er mich am Oberarm und zerrt mich ein Stück zur Seite, fort von der Eingangstür zum Restaurant. Ich muss höllisch aufpassen um mir in den hohen Schuhen keine Verstauchung zuzuziehen. Als Noah sich scheinbar sicher ist außerhalb der Sichtweite der Eingangstür zu sein, sodass niemand der zufällig in diese Richtung schauen würde uns sehen könnte, bleibt er stehen und lässt meinen Arm wieder los.
„Was zum Teufel sollte das Theater da drinnen eben?“, fährt er mich wütend an, versucht dabei aber seine Stimme gedämpft zu halten, damit niemand von drinnen uns hören kann.
„Keine Ahnung… Ich hab einfach Panik bekommen und… naja, vielleicht ein bisschen überreagiert?“, starte ich einen stotternden Erklärungsversuch und ärgere mich über mich selbst, dass ich mich von Noah klein machen lasse.
Ich sehe wie Noah mit seinen braunen Augen unschlüssig mein Gesicht mustert. Die Wut verzieht sich kaum merklich langsam aus seinen Gesichtszügen und auf einmal fährt er sich mit einer Hand durch sein kurzes, hellbraunes Haar und fängt an zu lachen wie jemand der mit der ganzen Absurdität dieser Situation scheinbar überfordert ist. Er geht ein paar Schritte auf und ab, dabei noch immer leise vor sich hin lachend, und ignoriert mich dabei vollkommen. Ich stehe nur da und glaube Zeuge zu werden, wie soeben jemand vollkommen durchdreht. Und dann plötzlich, ganz aus dem Nichts, dreht sich Noah wieder zu mir um, tritt an mich heran, schiebt mir seine Hand in den Nacken, zieht mein Gesicht zu sich heran und küsst mich. Ich bin zu überrascht um mich dagegen zu wehren. Ja, so habe ich mir einen allerersten Kuss definitiv nicht vorgestellt.
Er dauert nicht lange. Gott sei Dank, weil ein paar Sekunden länger und meine Knie wären irreparabel zu Wackelpudding mutiert.
„Den warst du mir noch schuldig“, meint Noah dann einfach und macht unauffällig einen kleinen Schritt zurück, als ob er fürchten würde sich noch eine zweite Ohrfeige an diesem Abend einzufangen.
„Ja weißt du…“, fange ich an und ziehe mir meine High-Heels aus, weil ich befürchte, dass wenn ich mit meinen weichen Knie auch nur einen Schritt damit mache ich mir bestimmt irgendetwas verletzten werde. „Eigentlich war das ganze Theater… naja… Ich… ähm… nun ja… Ich wollte diesen Kuss vermeiden.“
És folgt eine kurze Pause, dann: „Warum?“
Keine Ahnung warum… Vielleicht, weil ich ganz einfach nicht riskieren wollte, dass begraben geglaubte Gefühlsverfehlungen wieder ans Tageslicht befördert werden. Ich zucke hilflos mit den Schultern und lehne mich mit dem Rücken gegen die Wand, weil ich befürchte, dass meine Beine mir schon bald den Dienst versagen werden. „Ich weiß es nicht“, antworte ich also. Es folgt eine kurze Pause, bis mir plötzlich ein Licht aufgeht. „Warum?“
„Warum was?“
„Warum war ich dir den Kuss noch schuldig?“
Noah sieht mich nachdenklich an und ich kann ihm ansehen, dass er nicht so recht mit der Antwort rausrücken will. Aber einfach so mal jemanden küssen der einem eine Ohrfeige und zwei Viertel Rotwein ins Gesicht geschüttet hat geht. Den Jungen soll mal einer verstehen!
Plötzlich geht die Restauranttür auf und Martin erscheint im Flur. Er spielt den Oberkellner in unserem kleinen Stück und ist dafür zuständig Nachrichten zwischen den einzelnen Schauspielern zu übermitteln, falls etwas Unvorhergesehenes passiert und es eine Planänderung geben sollte. Naja, und etwas Unvorhergesehenes war ja auch irgendwie passiert…
„Sorry, wenn ich euch beide bei irgendetwas störe, aber ihr solltet dann mal wieder so langsam den Weg da rein finden“, meint Martin und deutet mit dem Kopf in Richtung Restaurant. Dass er ob all dem Chaos, das ich höchstwahrscheinlich in meiner Panik verursacht habe, so gelassen ruhig ist wundert mich ein wenig. Aber dann, er ist Vollblutschauspieler. Man braucht ihn nur auf eine Bühne vor Publikum zu stellen und nix kann ihn mehr schocken. Nichts lässt ihn jemals aus der Rolle fallen – was mitunter manchmal etwas nervig sein kann, wenn er seinen Text zuhause übt und dann beim Abendessen wie jemand aus einem Shakespeare Stück in Versen redet.
„Du störst uns nicht“, erwidere ich sofort aus Reflex und Noah nickt zustimmend. Ich kann ihm ansehen wie gelegen ihm diese Störung kommt, sodass er sich um eine Antwort auf meine Frage herumdrücken kann. Allerdings gilt dasselbe auch für mich.
„Gut, als dann – the show must go on!“, sagt Martin und verschwindet wieder hinein.
„Ja, ich wünschte bloß sie könnte ohne mich weiter gehen. Ich hätte wohl besser für die Rolle der Leiche einspringen sollen“, seufze ich und ziehe mir wieder die unbequemen High-Heels an. „Apropos Leiche – solltest du jetzt nicht schon längst tot sein?“
„Naja, es gab eine kleine Planänderung. Tödliches Dessert statt tödlicher Schweinsbraten“, erwidert Noah und macht sich auf, zurück in Richtung Hölle.
„Oh, okay. Nur eins bevor wir da wieder reingehen… Wie hast du meinen kleinen… äh… Ausrutscher vorhin bitte erklärt?“, frage ich und kann mir nicht wirklich vorstellen, dass Noah innerhalb von ein paar Sekunden eine gelungenen, ansatzweise glaubhafte Improvisation in Bezug auf diese Sache hinbekommen hat.
„Multiple Persönlichkeitsstörung“, erwidert er knapp.
„Multiple Persönlichkeitsstörung? Echt jetzt?“
„War das erste was mir in den Sinn kam…“
„Auf so etwas würde ich nie kommen.“
„Tja, kann halt nicht jeder so ein Improvisationsgenie sein wie ich…“, meint Noah gespielt prahlerisch und grinst mich an.
„Idiot“, erwidere ich halb lachend und boxe ihn auf den Arm. „Noch irgendein Rollen-Upgrade von dem ich wissen sollte?“
Noah bringt mich schnell auf den neusten Stand in Bezug auf meine Rolle und unser Verhältnis in dem Stück zueinander und dann heißt es: „The show will go on!“

Eineinhalb Stunden später

Keine Ahnung wie ich diesen Abend lebend überstanden habe. Und am Ende war es eigentlich sogar ganz lustig. Martin war großartig in seiner Rolle als Undercover-Polizist der sich als Oberkellner verkleidet hatte und sogar einige Leute aus dem Publikum in den Kreis der Verdächtigen aufnahm und verhörte. Der Abend war ein voller Erfolg und nachdem der vermeintliche Mord an Noah alias Mister Rich (wirklich sehr fantasievoller Name für einen Millionär) aufgeklärt war und somit unsere Aufführung zu Ende, gratulierte uns sogar der Bürgermeister zu unserer gelungenen Darbietung und der Koch-AG für das herrliche Essen. Es wurde sogar beschlossen, dass von nun an jedes Jahr im Herbst so ein kulinarischer Krimiabend stattfinden sollte, bei dem die Kreativakademien des Bezirks zusammenarbeiten sollten.
Die letzten Zuschauer sind gerade am Gehen, während ich mit den anderen von der Schauspielsekte den Leuten von der Koch-AG mit Aufräumen helfe. Es dauert nicht sonderlich lange und schon bald greifen auch ich und Martin zu unseren Jacken und wollen uns auf den Heimweg machen. Unsere Eltern waren schon eine gute Viertelstunde zuvor nach Hause gefahren.
Wir verlassen gerade die Stadthalle, als Noah uns hinterherläuft und sich uns in den Weg stellt. „Kann ich nur kurz mit Lou alleine sprechen?“, fragt er Martin.
Dieser schaut kurz unschlüssig zwischen uns beiden hin und her, nickt dann aber. „Ja gut, aber mach es kurz. Ich bin müde und will nur mehr noch eine warme Tasse Tee und dann ins Bett!“
„So genau wollten wir das gar nicht wissen“, werfe ich ein.
„Auch gut. Ich warte dann im Auto auf dich. Aber beeilt euch, okay?“, erwidert Martin und macht sich auf den Weg zu unserem Auto, welches er und ich uns teilen.
Kaum, dass er außer Hörweite ist fängt Noah an zu reden: „Du wolltest wissen warum…“
„Jetzt wo ich es mir genauer überlege, könnten wir die Sache eigentlich auch auf sich beruhen lassen“, unterbreche ich ihn.
„Ich werde es dir trotzdem sagen.“ Na, auf die Erklärung bin ich aber mal gespannt…
„Tja, dann tu was du nicht lassen kannst…“
„Also Lou, die Sache ist die…“
Jaaaa…?
„Könntest du bitte aufhören mich ständig zu unterbrechen?“
„‘Tschuldigung, ich werd versuchen mich zusammenzureißen.“
„Gut! Also, gestern bei der Generalprobe, wo wir uns… naja, wo wir so getan haben als ob wir uns küssen würden… also unsere Rollen, mein ich jetzt… Ich weiß auch nicht so recht, aber…“
„Aber was?“
„Lou!“
„Sorry…“
„Wo war ich jetzt?“
„Bei: ‚Ich weiß auch nicht so recht, aber…‘
„Ah ja, jedenfalls – Gott weiß wieso, aber plötzlich kam mir die Frage in den Sinn, wie es wohl wäre, wenn wir uns wirklich küssen würden. Klingt das irgendwie nachvollziehbar?“
„Ehrlich gesagt klingt das ein bisschen… äh… wie soll ich sagen? – Seltsam? Ja, es klingt irgendwie seltsam. Es sei denn, dass ist deine Art einem Mädchen zu sagen, dass du sie magst – obwohl, wenn ich‘s mir recht überlege, klingt es dann noch imm…“
Weiter komme ich nicht, denn plötzlich, wie aus heiterem Himmel, überrumpelt Noah mich zum zweiten Mal an diesem Abend mit einem Kuss. Zuerst stehe ich vor Überraschung wieder stocksteif da, doch sobald ich wieder die Kontrolle über meinen Körper erlang habe drücke ich Noah sanft aber bestimmt von mir. „Was sollte das bitte gerade werden?“
„Ich wollte eigentlich bloß, dass du aufhörst du reden…“
„Das habe ich mir bei meinem Englischlehrer vier Jahre lang gewünscht und dennoch bin ich nie aufgestanden und habe ihn deshalb geküsst!“ Allerdings muss man dazu sagen, dass wenn es sich dabei um Martys heißen Lateinlehrer gehandelt hätte ich bestimmt willens gewesen wäre dies zu tun.
„Ja, ich glaube auch nicht, dass irgendeine Frau diesen Mann küssen würde…“, erwidert Noah.
„Ob du’s glaubst oder nicht – aber er hat eine Freundin.“
„Wow, es geschehen also doch noch Wunder…“
„Kann man so sagen.“ Wir schauen uns ein paar Sekunden ratlos an, jeder sich fragend wie wir von einem Kuss zur Debatte über die Freundin meines ehemaligen Englischlehrers kommen konnten.
„Ganz ehrlich – das ganze hier, diese Situation, ist irgendwie absurd“, breche ich schlussendlich das Schweigen.
Noah nickt zustimmend. „Ja irgendwie schon.“
„Tja, und was machen wir jetzt?“
Er zuckt ratlos mit den Schultern. „Keine Ahnung. Diese ganze peinliche Aktion vergessen und begraben?“
„Klingt nach einem vernünftigen Vorschlag“, stimme ich ihm zu und strecke ihm meine rechte Hand zum Abschied entgegen. „Ich muss dann mal langsam gehen, sonst wird Martin noch unleidig.“
Noah zögert kurz, ergreift dann aber doch meine Hand. „Tja, dann will ich dich nicht weiter aufhalten. Es war mir ein Vergnügen heute Abend gemeinsam mit dir spielen zu dürfen.“
„Ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir behaupten…“
Noah grinst mich an, während wir unsere Hände loslassen. „Ach komm, jetzt tu nicht so als ob das Ohrfeigen verteilen und Wein ins Gesicht schütten nicht Spaß gemacht hat.“
Ich schürze meine Lippen und wiege ein bisschen mit dem Kopf hin und her. „Naja, vielleicht ein kleines bisschen…“ Ich schenke ihm zum Abschied noch ein kurzes Lächeln und mache mich dann auf den Weg. Gerade als ich die Straße überquert habe höre ich Noah mir hinterherrufen: „Du bist mir übrigens auch noch eine Erklärung schuldig!“
Ich drehe mich um und rufe grinsend zurück: „Die kriegst du, wenn ich das nächste Mal in meinem Leben schauspielern muss!“ Was nie passieren wird – ergo, Lou ist aus dem Schneider!


8 Tage später

Oktober

Hey, Logan!
Da hat es wohl jemanden wirklich erwischt! Soweit ich das deiner Schilderung nach beurteilen kann scheint Claire ziemlich nett zu sein. Und wie sagt man so schön: Gegensätze ziehen sich an.
Ganz ehrlich, ich würde auch gerne alles über Autos wissen. Ich liebe alte Autos und ärgere mich jedes Mal, wenn ich eines auf der Straße sehe und nicht weiß was für eine Marke es ist und deswegen meinen Bruder fragen muss. Er kennt zwar nicht alle, aber jedenfalls mehr als ich. Genauso wie mein Vater – aber der ist überhaupt ein totaler Fahrzeug-/ Vorbewegungsmittel-Freak. Vor allem Eisenbahnen haben es ihm angetan. Er kann wirklich alle Eisenbahnen mit Nummer und so benennen und immer wenn er das macht, steht der Rest von uns neben ihm mit einem großen Fragezeichen im Gesicht.
Tja, dafür kenne ich mich eben gut mit Filmen aus – wie du ja schon festgestellt hast. Jeder hat eben so seine Talente. Aber eines muss ich schon gestehen – jedes Filmzitat kenne ich nicht. Die berühmtesten schon – und bei den meisten von denen habe ich den Film noch nicht einmal gesehen. Wie zum Beispiel „Casablanca“… Aber ich kann mich einfach nicht dazu überwinden mir den Film anzuschauen, alle sagen, dass der sooooo langweilig ist. Naja, aber irgendwann muss ich ihn mir den trotzdem anschauen. Fürs erste bin ich schon mal froh, dass ich endlich „Braveheart“ geschaut habe. Der Film war nicht schlecht – naja, aber ein bisschen langgezogen hat er sich schon. Das Beste waren sowieso die Iren und die Musik.
Und ich hab mir auch noch „Drachenzähmen leicht gemacht“ angeschaut. Der Film ist so süß! Und der Soundtrack ist echt der Wahnsinn. Überhaupt liebe ich Animationsfilme. Vor allem, weil es da keine miesen Spezialeffekte gibt. Ich hasse schlecht Spezialeffekte. Kennst du den Film „Die Braut des Prinzen“? Alle sagen immer, dass der Film urgut ist und seiner Zeit voraus war. Eine Meinung die ich so ganz und gar nicht teilen kann. Komm schon, als die beiden im „gefährlichen Wald“ (bei dem man voll gesehen hat, dass das nur nachgebaute Kulissen sind) von diesen Rattenviechern angegriffen worden sind, hat man urgesehen, dass die Viecher bloß Stofftiere waren und Westley sich einfach nur mit dem Stofftier auf den Boden geworfen und sich im Dreck gewälzt hat. Ich hab so lachen müssen.
Ich meine, gut der Film stammt aus dem Jahr 1987 – aber bitte, das ist noch lange keine Entschuldigung. Ich meine der erste Teil von „Zurück in die Zukunft“ kam 1985 raus und hatte bessere Spezialeffekte.
Na gut, zugegeben – vielleicht bin ich da ein kleines bisschen voreingenommen. Immerhin gehört „Zurück in die Zukunft“ zu meinen Lieblingsfilmen. Und vielleicht konnte ich „Die Braut des Prinzen“ einfach nicht leiden, weil Buttercup (Was für ein bescheuerter Name ist das bitte?) so ein dummes Blondchen war. Ich meine, da wird die Liebe ihres Lebens gerade von einer Riesenratte fast zerfleischt und sie steht ‘ne halbe Ewigkeit nur dämlich kreischend daneben. Ich hätte mir schon längst einen Stock genommen und dem Rattenviech kräftig eines übergezogen. Wirklich, so ein Aufstand nur wegen dieser dummen Kuh! Ach, ich könnte mich stundenlang darüber auslassen, deswegen wechsel ich jetzt besser das Thema. Ich will dich nicht weiter mit meiner Jammerei nerven.  
Nur noch eine Sache zum Thema Filme. Die Sache mit dem falschen Brief… Wenn ich nicht ganz falschliege spielst du da auf „Abbitte“ an, wo Robbie aus Versehen den falschen, kurzen Brief einsteckt und damit erst das ganze Dilemma ins Rollen kommt. Hab ich recht?
Ach, und was die Filmrechte meiner Fortgehnacht angeht. Wenn du mir ein gutes Drehbuch und einen guten Cast präsentieren kannst, können wir gerne diesbezüglich ins Gespräch kommen. Nur eine Sache wegen dem Titel vorab schon… „Die Nacht in der wir durch Wien gelatscht sind“ klingt nicht schlecht, aber irgendwie würde sich das besser als Titel für irgendeinen Teenie-Horrorfilm eignen. „Lucy’s Night Out“ klingt da schon besser, mach „Lou’s Night Out“ daraus und wir kommen ins Geschäft!
So, und da du dich so brennend für die bösen Machtpläne meines intriganten Bruders interessierst, werde ich dir mal entgegenkommen und dir von seinem letzten Plan erzählen, bei dem ich unglücklicherweise habe mitspielen müssen…
Also, vorab solltest du vielleicht einmal wissen, dass Martin ein totaler Schauspielfreak ist. Das war er nicht immer. Irgendwie ist er in die ganze Schauspielsache mehr so zufällig reingerutscht. Als sie beim „Darstellenden Spiel“, wie der „Drama Club“ an meiner ehemaligen Schule heißt, ein kleines Personalproblem hatten hat Lisa, eine alte Freundin meines Bruders mit der er damals gemeinsam in dieselbe Klasse ging, versucht Martin irgendwie dazu überredet auszuhelfen. Tja, und nach einigen erfolglosen Überredungsversuchen gab Martin dann doch irgendwann nach und stellte im Nachhinein fest, dass es ihm richtig Spaß machte auf der Bühne zu stehen. Und seitdem ist er, naja, ein Schauspielfreak eben. Während er beim Anblick von kleinen, gelben Reclam-Heften ein Glitzern in den Augen bekommt wie kleine Kinder am Weihnachstabend beim Anblick eines großen Geschenkhaufens, mache ich beim Anblick dieser Augenmörder (Wirklich, bei der kleinen Schrift ruiniert man sich früher oder später die Augen! Und meine sind ohnehin schon nicht mehr so gut…) auf dem Absatz kehrt und renne kreischend bis ans Ende der Welt, wenn es sein muss. Naja, vielleicht habe ich auch noch ein kleines Trauma aus dem Deutschunterricht. Oh mein Gott, Goethe! Der Typ hat mir mit seinem „Die Leiden des jungen Werthers“ ein ganzes Wochenende verdorben. Man müsste wohl meinen das 154 Seiten, geteilt auf zwei Tage zu jeweils 77 Seiten, schnell gelesen sind – aber dem ist nicht so. Und ich wusste ohnehin, dass der Typ am Ende Selbstmord begeht. Vom ersten Satz an bis zum letzten habe ich mir nur gedacht: „Nimm endlich die Pistole und erlöse uns beide von unserem Leid! GIB DIR ENDLICH DIE VERDAMMTE KUGEL!!!“
Als ich mit dem Buch fertig war habe ich es gegen die Wand geworfen. Das hat so gut getan, dass ich es noch ein paar Mal wiederholt habe. Klingt das verrückt?
Und weißt du was das Schlimmste war? Marty hat das Buch erst gar nicht gelesen und später auf die Schularbeit wo wir eine Aufgabenstellung dazu hatten eine 1 geschrieben. Sie hat mich immer wieder aufs Neue überrascht. Naja, sie ist eben das Deutsch-Genie von uns beiden, ich bin lediglich beistrichresistent. In 4 Jahren Oberstufe hat sie von den 20 oder mehr Büchern die wir hätten lesen sollen vielleicht 2 wirklich gelesen.
Naja, und ehrlichgesagt habe ich mehr als die Hälfte eigentlich auch nicht wirklich gelesen. Wozu gibt es denn schließlich Wikipedia, hm?
Aber ich schweife sch…


Einen Tag später

…on wieder ab. Also zurück zu Martins Schauspielkarriere und der Erklärung, was das Ganze mit seinem letzten Machtplan zu tun hat. Nachdem die Leidenschaft für die Schauspielerei erst einmal geweckt war leiden wir seitdem alle unter dem Fluch.
Und ich am allermeisten. Ich weiß nicht, ob ich das in einem meiner vorherigen Briefe schon einmal erwähnt habe, aber ich habe vor zwei Jahren einmal ein ganzes Jahr lang fast jeden Samstag die Schauspielakademie in unserem Nachbarkaff besucht (obwohl die Bezeichnung dieser Freakshow als Akademie eine Beleidigung für dieses Wort ist). Gut, ich gebe zu mein Besuch war mehr oder minder freiwillig… Aber das ist eine Geschichte für sich.
Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich war als das Jahr endlich um war – meine Eltern wollten mich nämlich nicht mitten unterm Jahr abmelden („Sie verlassen sich auf dich, Lou! Du kannst nicht so einfach alles hinschmeißen. So geht das im Leben nicht. Man muss die Dinge die man angefangen hat auch zu Ende bringen… blablabla…“). Gott allein weiß wie ich mit meinem nichtvorhandenen Schauspieltalent all diese Samstage überlebt habe. Wahrscheinlich, weil Marty, seit ich sie einmal an einem Samstag mitgenommen habe, Gefallen an dem Ganzen gefunden hatte und ich so wenigstens jemanden (halbwegs) vernünftigen zum Reden hatte.
Jedenfalls die Schauspielfreaks, wie ich sie gerne nenne – Versteh mich jetzt bitte nicht falsch, ich habe nichts gegen Schauspielerei an sich. Ich bin nur nicht gerne Teil davon und ich hasse Theater. Filmschauspielerei und Theaterschauspielerei sind für mich zwei vollkommen verschiedene Paar Schuhe. - … Wo war ich jetzt? Ach ja, die Schauspielfreaks hatten für heuer ein „Dinner & Crime“ geplant gemeinsam mit der Koch-AG. Du kennst das bestimmt aus Filmen, wo in einem Restaurant unter den normalen Gästen Schauspieler sitzen und einen Mord inszenieren. Tja, und unglücklicherweise für mich wurde eine von den Freaks krank zwei Tage vor der Aufführung und intelligent wie die Organisatorin der ganzes ganzen Stücks ist, gab es natürlich keine Zweitbesetzung – für keine der Rollen. Was sich jedoch noch unglücklicher für mich auswirkte war der Fakt, dass ich zweimal bei den Proben anwesend war und daher ein wenig Überblick über das ganze „Stück“ hatte. Da kam meinem geliebten Bruder natürlich sofort die rettende Idee. ICH sollte die ZWEITBESETZNG spielen. ICH!
Er wusste natürlich, dass ich nie im Leben zustimmen würde also überredete er mich quasi mit einer List. Er kam am Tag vor der Generalprobe so irgendwann um 9 Uhr am Vormittag als ich gerade friedlich und nichts ahnend eigekuschelt unter meiner Bettdecke tief und fest schlief in mein Zimmer geschlichen und weckte mich auf.  Er wusste genau, dass ich in meinem halbwachen Zustand nur eines wollen würde und zwar, dass er die Fliege macht und mich in Ruhe weiterschlafen lässt. Und genau in diesem halbwachen Zustand würde ich alles tun um ihn loszuwerden, sogar zustimmen als Zweitbesetzung einzuspringen. Und damit ich das alles im Nachhinein nicht leugnen könnte hat er meine „Zusage“ obendrein noch aufgenommen. Tja, und dann bedurfte es nur mehr noch einer kleinen Erpressung und die Schlinge war mir ausweglos um den Hals gelegt.
Mir blieb also nichts anderes übrig als mitzuspielen und was dann während dem Stück passierte, als ich obendrein auch noch in Windeseile improvisieren musste (auch nicht unbedingt eine meiner Stärken), das ist eine Geschichte für sich. Ich würde sie dir ja gerne erzählen, aber 1. schmerz meine Hand schon von der vielen Schreiberei (Wie habe ich bloß die Deutschmatura und all die Deutschschularbeiten davor ohne Handprothese überlebt?) und 2. Kann ich es nicht wirklich in Worte fassen. Das muss man einfach gesehen haben.
So, nachdem ich mir hier jetzt die Seele aus dem Leib geschrieben habe bist du wieder an der Reihe mit Erzählen. Bin schon gespannt was es bei dir Neues gibt.

Lou

P.S.: Treffe mich morgen mit Paul zum Segeln. Nach langem hin und her haben wir es endlich geschafft uns richtig zu verabreden.
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