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Blut, Schweiß und Tränen

Kurzbeschreibung
GeschichteFreundschaft, Schmerz/Trost / P12 / Gen
Elphaba Thropp Glinda/Galinda Upland of the Upper Uplands
24.06.2012
24.06.2012
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Blut, Schweiß und Tränen



Galinda stürzte ins Zimmer, atemlos, ein kleines Päckchen an die Brust gedrückt. Elphaba blickte von ihrer Aufgabe, einem Exzerpt aus „Vergleichende Anatomie der Menschen, Tiere und THIERE. Warum wir anders sind" auf.

Galinda strahlte über das ganze Gesicht.

„Elphie, du rätst nicht, was ich bekommen habe, oh oh oh!“ Sie drehte sich einmal um sich selbst. Ganz offensichtlich freute sie sich sehr.

„Du wirst es mir gleich verraten, nehme ich an?“, meinte Elphaba und klappte das Buch zu, nicht ohne vorher sorgfältig die Stelle mit einem Lesezeichen zu markieren.

Galinda nickte und wickelte dann ganz vorsichtig, als handele es sich um ein rohes Ei, eine kleine Schachtel aus dem Packpapier. Sie warf das Papier achtlos zur Seite und öffnete ganz sachte den Deckel. Es war, als halte sie etwas Lebendiges in der Hand, das man beschützen müsste, fand Elphaba. Wenn sie ehrlich war, war sie tatsächlich gespannt, was es sein würde, das Galinda so in Entzücken versetzte.

Auf gelbem Samt lagen ein Paar goldene Ohrringe, mit glitzernden roten Steinen besetzt.

„Es sind echte!“, flüsterte Galinda dann, als dürfe man den besonderen Moment nicht mit lauter Sprache zerstören. „Echte Rubine. Ich hab sie noch niemandem gezeigt.“, fuhr sie dann lauter fort und sah Elphaba glücklich an. „Du bist die allereinzigste. Weißt du, was die kosten?“

Elphaba konnte nicht verhindern, dass sich etwas in ihrer Brust zusammenschnürte. Sie hatte nur zu oft zu genau gesehen, wieviel Blut, Schweiß und Tränen diese Rubine die Menschen des Landes kosteten, in dessen Boden sie gefunden wurden. Unschöne Bilder aus ihrer Kindheit tauchten vor ihrem geistigen Auge auf, Kolonnen von Zwangsarbeitern, Stacheldrahtzäune und hin und wieder Leichen im Straßenschlamm oder im schmutzigen Wasser der Flüsse. Sie schüttelte den Kopf, um die Bilder loszuwerden.

Galinda schien das zu missverstehen. „Sie sind sehr, sehr teuer.“, erklärte sie. „Nur Smaragde sind noch wertvoller.“ Eine Weile lang betrachteten beide stumm den Schmuck, Galinda andächtig staunend und Elphaba kummervoll.

„Wer hat sie dir geschenkt?“, wollte sie schließlich wissen.

„Meine Eltern haben sie mir geschickt. Als Geburtstagsgeschenk! Oh, ist das nicht einfach unglaublich?“ Sie erhob sich wieder und drehte sich im Kreis, die Schachtel an die Wange gedrückt wie ein Kind es mit einem Kätzchen tun würde.

Elphaba fand das eigentlich nicht so unglaublich. Galinda hatte seit einem Vierteljahr jedem, der es hören wollte (und auch denen, die nicht) in den Ohren gelegen, wie sehr sie sich welche wünschte und dass es für modebewusste junge Damen heute einfach dazugehörte. Und die meisten Eltern schienen ihren Töchtern gern Geschenke zu machen. Jedenfalls den meisten Töchtern. Sie vermutete, dass, wenn etwa Nessa um solche Ohrringe bäte (es war ausgeschlossen, dass Elphaba es tat), sie sie wahrscheinlich auch bekommen würde, selbst wenn sie teuer waren.

Galinda riss sie aus ihren Überlegungen. „Elphie?“

„Ja?“

„Oh, ich will nicht warten bis zu meinem Geburtstag – ich will sie gleich heute abend tragen! Dann wird Fanny beim Essen Augen machen … und Milla! Und Shenshen – die bildet sich soviel auf ihre ein, und dabei sind es nur welche ohne Steine!“ Galinda rümpfte missbilligend die Nase.

„Mein dunkelrotes Kleid wird gut dazu passen oder das schwarze, wenn ich eine rote Schleife dazu…“

„Galinda…“, unterbrach Elphaba. „Vergisst du nicht eine Kleinigkeit? Du hast doch gar keine Ohrlöcher. Willst du denn jetzt noch zum Apotheker gehen, es ist doch schon…“

Galinda sah sie mitleidig an. „Oh, ich werde dafür ganz gewiss nicht zu einem Apotheker gehen! Wie stellst du dir das denn vor, allein mit einem Mann im Hinterzimmer?! Wenn der die Sache ausnutzt…! Und selbst wenn nicht, denk nur, was das für meinen Ruf bedeuten könnte!“ Galinda sah entrüstet aus, wie Elphaba so etwas vorschlagen konnte.

„Dann willst du also lieber, dass es Muhme Schnapp es macht?“

„Oh nein.“, gab Galinda sehr ernst zurück. „Lieber nicht. Wenn ich mir ansehe, wie ungleichmäßig sie mir letztens das Hemd geflickt hat – das könnte ich niemals jemandem zeigen! Sie wird wirklich langsam alt, die Gute… weißt du, ich traue ihr nicht so recht zu, dass sie es gleichmäßig hinbekommt. Und wie schrecklich, stell dir vor, wenn die Ohrlöcher ungleichmäßig werden würden! Da hätten die Mädchen was, um über mich zu lachen! Nicht auszudenken.“ Galinda schaute angemessen erschrocken bei dieser Vorstellung. Dann fuhr sie belehrend fort:

„Und aus dem gleichen Grund ist es natürlich auch völlig unmöglich, dass ich Fanny oder Shenshen darum bitte. Die würden sich mit Absicht keine Mühe geben und mir vielleicht noch weh tun! Nein.“ Galinda hockte sich mit verschwörerischem Blick wieder vor Elphaba hin und lächelte sie an.

„Elphiiiie…

Elphaba erschrak. „Oh nein! Galinda – nein! Das mache ich ganz sicher nicht.“

„Aber Elphie! Ich kann niemanden anderen fragen! Und selber machen kann man sowas nicht. Du bist doch meine Freundin! Ich vertrau dir.“ Galinda sah enttäuscht aus.

„Ganz genau deswegen!“

„Das verstehe ich nicht.“

Elphaba seufzte schwer. „Galinda, bitte. Ich will das nicht.“ Es brauchte eine Weile, bis sie es sagen konnte. „Ich will dir nicht wehtun müssen!“

Galinda schüttelte die blonden Locken. „Aber das tut nicht weh, glaub mir. Ich hab mich genau erkundigt. Man tut das hier drauf…“, sie sprang auf, kramte eine Weile in ihrem Nachtschrank herum und kam mit zwei Fläschchen wieder. „Hier!“, sie zeigte es. „Nelkenöl. Fanny hat es mir genau erklärt. Also, man tut das drauf und dann tut es nicht weh. Man muss nur aufpassen, dass man die Nadel vorher in Alkohol taucht“, sie hielt das zweite Fläschchen hoch, das Wundalkohol enthielt,  „damit es sich nicht entzündet. Alles ganz einfach.“ Sie nickte bekräftigend.

Elphaba zögerte.

„Wirklich, Elphie. Pass auf!“ Galinda schraubte die Flasche mit dem Nelkenöl auf. Dann schüttete sie ein paar Tropfen auf ihren Zeigefinger, nahm Elphabas linke Hand und verrieb das Öl vorsichtig darauf. Elphaba wollte zuerst zurückzucken, aber Galinda hielt ihre Hand fest. Ein angenehmes Gefühl entstand auf Elphabas Haut. Das Öl fühlte sich kühl an und roch würzig. Und ja, wenn Galinda jetzt mit ihrem Finger daraufstupste, war die Stelle ein bisschen taub geworden.

Elphaba sah auf. „Naja, wenn du wirklich meinst…? Wenn es wirklich nicht weh tut…“

„Also ist das abgemacht? Du hilfst mir?“ Galinda strahlte sie an.

Elphaba brachte es nicht übers Herz, es ihr abzuschlagen und nickte niedergeschlagen. Sie hielt es immer noch für eine ausgesprochen dumme Idee von Galinda, sich freiwillig körperlich zu verletzen, nur damit irgendwelche Rubinspekulanten vielleicht noch reicher wurden und noch mehr Quadlinger unterdrücken konnten und nur damit irgendwelche Schnepfen etwas zum Neidischsein hatten. Und darüber hinaus war es vor allem deshalb eine dumme Idee, weil Galinda das gar nicht nötig hatte. Sie brauchte doch keine Bewunderung von den dummen Puten wegen einem Paar Ohrringe – sie war doch nicht nur zehnmal hübscher als die alle zusammen, mit oder ohne Schmuck, sie war auch soviel klüger! Meistens jedenfalls.


„Oh, Elphie, vielen, vielen Dank!“ Galinda umarmte sie stürmisch. „Wir machen es gleich, ja?“

Das war Elphaba nur recht. Besser, sie hatten es schnell hinter sich. Sie bereute jetzt schon, zugestimmt zu haben.

„Ich weiß, wo Muhme Schnapp ihre Nadeln und das Flickzeug hat. Holst du Taschentücher?“

Elphaba räumte ihre Bücher und Aufzeichnungen vom Tisch, nahm ein paar Taschentücher aus der Schublade ihres Nachtschränkchens, die von Ämmchen mit ihrem Monogramm bestickt worden waren, und legte sie neben die Medizinfläschchen und die Schachtel mit den unschuldig glänzenden Ohrringen. Galinda kam mit dem Nadelheft zurück, schloss die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel im Schloss um.

„Besser, wir schließen zu, oder? Ich weiß nicht so recht, was Muhme Schnapp dazu sagen würde, oder Oz bewahre! eine von den Mädchen, wenn sie sehen…“

„Dass dich das grüne Scheusal mit einer Nähnadel absticht?“ Obwohl ihr gar nicht so zumute war, musste Elphaba grinsen.

„Ach, hör schon auf!“ Galinda verdrehte übermäßig theatralisch die Augen. Offenbar wurde es ihr selbst ein wenig mulmig.


Verschwörerisch beugten sie sich dann über das Nadelheft. Welche Nadel war wohl die richtige für dieses Unterfangen?

„Die hier vielleicht?“ Elphaba zeigte auf eine lange und dünne. Galinda war anderer Meinung. „Nein… ich glaube, man muss eine nehmen, die nicht so dünn ist. Schließlich muss ja der Ohrring durch das Loch passen. Mehr so eine.“ Schließlich entschieden sie sich für eine – Elphabas Meinung nach erschreckend groß und dick aussehende – Stopfnadel.

„Du musst noch einen Faden durchziehen! Den braucht man, damit man dann das Loch findet, wenn man den Ohrring durchstecken will.“

Während Elphaba den Faden anleckte und durch das Öhr fädelte, konnte sie nicht umhin, mit einem Gefühl zwischen Bewunderung und Entsetzen einzugestehen, dass Galinda das Ganze tatsächlich geradezu generalstabsmäßig geplant hatte. Sie fragte sich grimmig, seit wann sie selbst Teil dieses Planes war, ohne etwas davon zu ahnen. Wenn sie ehrlich war, fand sie es allerdings auf eine seltsame Art beruhigend, dass Galinda so genau Bescheid zu wissen schien.  Trotzdem würde sie froh sein, wenn alles vorbei wäre, das war sicher.

Galinda stand mittlerweile vor ihrem Spiegel, die Zunge am linken Mundwinkel und versuchte konzentriert, mit Feder und Tinte anzuzeichnen, wo genau das Ohrloch sitzen sollte. Immer wieder schüttelte sie den Kopf und wischte den falsch gesetzten Punkt mit Spucke wieder fort. Endlich schien sie zufrieden.

„Sieh mal, Elphie“, sie strich sich die Haare hinter die Ohren und hielt sie dort fest. „Ist es so gleichmäßig?“ Sie drehte den Kopf nach rechts und links. Elphaba fand nichts zu bemängeln.

„Gut.“, Galinda rückte ihren Stuhl ganz nah an Elphaba heran, so nahe, dass sich ihre Knie berührten. „Dann los!“ Sie schloss die Augen.

Elphaba seufzte und öffnete das Nelkenölfläschchen. Sie goss etwas von der aromatischen Flüssigkeit auf ihre Finger und rieb sie kräftig zunächst in Galindas linkes, dann in ihr rechtes Ohrläppchen. Galindas Ohrläppchen fühlten sich besonders zart und weich und … schutzlos? an, aber das bildete sie sich vielleicht auch ein. Wahrscheinlich fühlten sich alle Ohrläppchen so an. Trotzdem. Sie wiederholte den Vorgang lieber noch einmal. Galinda saß mit geschlossenen Augen vor ihr und ließ es geschehen.

Elphaba hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Ihr war zum Heulen zumute. Hier saß Galinda und verlangte, dass sie sie mit einer Nadel durchbohrte, nur damit sie Rubine tragen konnte, die schon soviel Leid angerichtet hatten. Es war, als würde Elphaba gezwungen, sich selber die Hände schmutzig zu machen an all dem Blut, dem Schweiß und den Tränen; an all dem Schlechten, das der Rubinhandel mit sich brachte. Und das Ganze aus reiner, purer Freundschaft! Was ist das nur für eine Welt, dachte sie. Das werde ich nie verstehen.

Schließlich räusperte sie sich vernehmlich. „Spürst du noch was?“

Galinda öffnete die Augen und befühlte ihre Ohrläppchen. Sie kniff sich probehalber vorsichtig hinein. „Hmmmm… ich weiß nicht - schwer zu sagen. Ein bisschen schon.“

„Lass es lieber noch eine Weile einwirken. Ich reib solange schon mal die Nadel mit dem Alkohol ein.“

„Gut.“ Galindas Stimme war ziemlich leise geworden. Lag das daran, dass sie nicht wollte, dass jemand auf dem Flur vielleicht hörte, was sie hier trieben? Elphaba schüttete eine nicht zu kleine Menge Alkohol aus dem zweiten Fläschchen auf ein Taschentuch und rieb die Nadel mit aller Kraft ein. Sie schüttete noch einmal nach, weil sich die Flüssigkeit so schnell verflüchtigte. Hoffentlich reichte es. Wenn sich die Löcher entzündeten, müsste Galinda ihretwegen Schmerzen leiden. Also war Sorgfalt geboten. Sie goss noch ein drittes Mal nach.

Schließlich ließ es sich nicht länger rechtfertigen, es noch weiter hinauszuzögern.
„Bist du so weit, Galinda?“

„Ja. Ich glaub schon.“ Ihre Stimme war erstaunlich leise.

„Und du bist dir auch wirklich ganz sicher, dass du das willst?“, vergewisserte sich Elphaba ein letztes Mal. Sie schluckte. Ihr Mund war plötzlich erstaunlich trocken und ihr Herz klopfte bis zum Hals.

„Ja, Elphie. Ich vertrau dir.“ Galinda kniff gottergeben ihre Augen zusammen und faltete die Hände in ihrem Schoß. Elphaba atmete tief durch, fasste ihr rechtes Ohr vorsichtig zwischen drei Finger und setzte dann die Nadel an.


Dafür, dass Galindas Ohrläppchen keine geringe Ähnlichkeit mit dem Aussehen von zarten Rosenblättern aufwiesen, setzte es sich erstaunlich hartnäckig gegen das Durchstechen zur Wehr. Elphaba wand mehr Kraft auf. Vielleicht musste man die Nadel drehen?

Galinda stöhnte unterdrückt.

„Hat Fanny auch gesagt, ob es einen Trick gibt beim Stechen?“

Galinda presste etwas Undeutliches zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch. Ganz offensichtlich tat das Nelkenöl nicht, was es sollte. Und die Nadel auch nicht. Man hätte sie vielleicht schärfen müssen, schoss es Elphaba durch den Kopf. Nun ja, dafür war es inzwischen zu spät.

Sie mühte sich redlich. Schließlich gab die Haut mit einem unschönen Geräusch, das fast wie ein leises Knacken klang, nach und die Nadel drang durch das Fleisch. Galinda wimmerte. Elphabas Magen verkrampfte sich bei dem Ton. Sie riss sich zusammen und zog die Nadel ganz hindurch, was das Wimmern verstärkte. Schließlich tastete sie wie blind nach den gottverfluchten Rubinohrringen auf dem Tisch und versuchte, mit zitternden Fingern den Haken durch das Loch zu stecken, das der Faden markierte. Es war eine knifflige und darüberhinaus auch ziemlich blutige Angelegenheit. Erst nach mehreren Anläufen gelang es ihr, den Ohrring hineinzubekommen und zuzuhaken.

Sie setzte sich auf und schluckte. Ihr war schlecht und schwindelig von all dem Blut an ihren Fingern. Aber als sie Galinda ansah, wurde es nur noch schlimmer. Galinda liefen Tränen übers Gesicht.

„Ich hasse Fanny! So eine Lügnerin.“, schluchzte sie laut. Elphaba pflichtete ihr aus ganzem Herzen bei. Sie hätte Fanny in diesem Moment gern persönlich den Hals umgedreht.

„Also hören wir auf?“, fragte sie, halb hoffnungsvoll.

Galinda schluchzte. „Oh, nein, Elphie, das geht nicht!... Ich kann doch so nicht… die anderen würden… würden so…“

Wenn sie ehrlich war, war es Elphaba herzlich egal, was die anderen würden – sie sah sich außerstande, Galinda noch einmal so etwas anzutun. Es war schrecklich, zuzusehen, wie sie vor Schmerzen weinte und genau zu wissen, dass man selbst dafür verantwortlich war. Es war einfach grauenhaft. Sie hätte am liebsten mitgeheult, wenn sie sich das Weinen nicht schon vor langer Zeit abgewöhnt hätte.

„Ich glaube, ich kann das nicht. Nicht nochmal. Tut mir leid.“ Sie legte Galinda etwas linkisch die Hand auf die Schulter und streichelte sie ganz vorsichtig.

Galinda schniefte und versuchte sich zu beruhigen. „Es… es geht schon wieder…“ Sie blickte Elphie mit Tränen in  den Wimpern an. „Elphie, du musst weitermachen, bitte! Sonst… sonst mache ich mich auch noch lächerlich, mit einem einzigen Ohrring! Ich versprech auch, ich stell mich nicht wieder so an… Ja?“ Sie nahm Elphabas Hand, von ihrer Schulter und umfasste sie mit ihrer. „Bitte. Ich trau mich nicht zu jemandem anderen. Du musst es machen.“

Bei Galindas Blick fühlte Elphaba sich, als ob ihr Blei im Magen läge. Aber was blieb ihr übrig? Sie seufzte tief.

„Gut. Ich mach’s.“

Sie gab sich große Mühe, ihre zitternden Hände zu beherrschen, als sie erneut nach dem Alkoholfläschchen griff. Es war schwierig, mit ihren mittlerweile schweißnassen Fingern den Verschluss aufzuschrauben, aber schließlich gelang es. Als sie mit dem Desinfizieren fertig war, bemerkte sie, dass ihr Herz bei der Vorstellung, das Ganze noch einmal zu tun, raste. Wenn nur Galinda nichts merkt, dachte sie.

„Kann ich?“

„Ja, Elphie.“ Galindas Stimme erschien ihr soviel ruhiger als die eigene. „Mach. Du schaffst das schon. Ich vertrau dir.“

Und Elphaba stach zu.  Es schien beim zweiten Mal besser zu gehen. Ob weniger schmerzhaft, war schwer zu sagen, denn auch diesmal wimmerte Galinda besorgniserregend – aber schneller jedenfalls, vielleicht, weil Elphaba jetzt wusste, wieviel Druck man aufwenden musste. Es blutete auch weniger stark. Sie hatte in der Aufregung vergessen, einen Faden durchs Öhr zu ziehen, aber irgendwie gelang es ihr auch so, den Ohrring durch das Ohrläppchen zu fädeln. Aber als sie endlich fertig war und die Nadel beiseite legte, wurde ihr plötzlich schwarz vor Augen. Sie klammerte sich im letzten Moment noch am Tisch fest.


„Elphie?“ Die Stimme schien von weit her zu kommen. Vor ihren Augen tanzten Sterne.

„Elphie??? Alles in Ordnung?“ Galinda rüttelte sie sanft an der Schulter. Elphaba blinzelte.

„Jaaa.“, brachte sie dann gedehnt heraus. „Alles in Ordnung.“ Das Blut rauschte ihr in den Ohren und es fiel schwer, sich auf Galindas Stimme zu konzentrieren.

„Oh Elphie, das stimmt ja gar nicht. Du zitterst am ganzen Leib.“ Das stimmte tatsächlich. Ihr war eiskalt und sie zitterte wie Espenlaub. Sogar ihre Zähne klapperten, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Sie fühlte sich hundeelend.

Galinda holte eine Decke aus ihrem Bett und legte sie fürsorglich um sie. Dann wischte sie ihr mit einem der übriggebliebenen, noch unblutigen Taschentücher den kalten Schweiß von der Stirn (sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie schwitzte) und brachte ihr eine Tasse Tee. Die warme Flüssigkeit ließ Elphaba langsam wieder zu sich kommen.

„Tut mir leid“, murmelte sie in ihre Tasse, als sie sah, wie Glinda sich eines der Tücher ans rechte Ohr hielt, um das Bluten zu stillen. „Ich wollte dir nicht wehtun.“

„Oh, Elphie“, Galinda sah sie treuherzig an. „Mir tut es leid, dass ich mich so angestellt habe!“

„Aber du hast dich gar nicht angestellt! Es hat doch wirklich weh getan! Fanny ist eine gemeine Lügnerin, wenn sie erzählt, es täte nicht weh.“

„Eine gemeine, gemeine Lügnerin.“, nickte Galinda ernst, lächelte aber dann. „Trotzdem werde ich auch jedem erzählen, dass es gar nicht weh getan hätte. Und du verrätst mich nicht, ja, dass ich geweint habe?“

„Nein.“ Wer würde mich auch danach fragen, dachte Elphaba.

„Siehst du, deswegen wollte ich unbedingt, dass du es machst. Weil du es nicht rumerzählen würdest.“

„Also hast du gewusst, dass es doch wehtut?“

„Naja, was heißt gewusst.“, Galinda betupfte ihre Ohren jetzt sorgfältig mit einem alkoholgetränkten Taschentuch und zog kurz die Stirne kraus, als es brannte. „Sagen wir mal, ich hatte Grund, Aussagen von Fanny zu misstrauen. Aber…“, sie beugte sich zu Elphaba herab, bis sie ihr genau in die Augen sehen konnte. „…du hättest es niemals gemacht, wenn ich dir erzählt hätte, dass es vielleicht weh tun könnte.
Danke, Elphie.“ Sie lächelte.

Elphaba schüttelte missbilligend den Kopf. „Versprich mir nur eins: Verlang sowas nie wieder von mir!“

Galinda wischte sich die letzten Tränenspuren aus dem Gesicht.
„Abgemacht, Elphie. Und, hat es sich wenigstens gelohnt? Gefalle ich dir?“ Sie legte die Finger hinter ihre Ohrläppchen und zeigte stolz ihre neugeschmückten Ohren.

Elphaba nickte trübsinnig, und ihr „ja“ war ehrlich gemeint, aber das lag keineswegs an den Rubinohrringen.
Im Gegenteil.

Sie hasste Rubine und sie würde sie immer hassen. An ihnen klebten Schmerzen und Leid. Blut, Schweiß und Tränen.  


ENDE.


Und, was sagt ihr? Ich freu mich über ein Review. ;)
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