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Chesapeake Ripper

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P18 / Gen
Clarice Starling Hannibal Lecter
07.06.2012
07.06.2012
6
13.238
 
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07.06.2012 2.236
 
Disclaimer: Alle Charaktere gehören Thomas Harris, nicht mir.

Zwei Tage später hatte Clarice das nagende Gefühl, dass ihr etwas wichtiges entgangen war, schon wieder fast vergessen. Sie war viel zu wütend. Der Schuldige dafür war für jeden, der sie kannte, nicht schwer auszumachen. Paul Krendler vom Justizministerium hatte sie heute in ihrem Büro aufgesucht.

Starling war sich sicher, noch nie einen Mann gekannt zu haben, den sie instinktiv so abstoßend fand. Leider schien Krendler ihr jedoch gänzlich andere Gefühle entgegenzubringen. Alleine der Gedanke an sein schmieriges Grinsen und seine völlig unbegründete Überheblichkeit trieb sie beinahe in den Wahnsinn. Jedes Mal wenn sie ihn sah, ließ er anzügliche Sprüche fallen. Wenn er das gerade nicht tat, gab er sich seiner zweiten Lieblingsbeschäftigung hin: Mit allem, was in seiner Macht stand versuchte er, Starlings Karriere zu ruinieren. Kein Wunder also, dass die grauenhafte Berichterstattung im Tattler für ihn ein gefundenes Fressen war. Geschlagene zwei Stunden hatte er ihr gegenüber gesessen und die immer gleichen Vorwürfe wiederholt. „Starling, sie sind zu aufbrausend für das Bureau. Sie sind zu emotional. Sie werden es zu nichts bringen, wenn Sie nicht lernen, Ihre vorlaute Klappe zu halten.“ Der Spaß an der Sache war ihm dabei deutlich anzusehen gewesen.

Starling parkte in der Auffahrt zu ihrem Haus und versuchte den Gedanken an Krendler zu verdrängen. Dieser widerliche Kerl ist es nicht einmal wert, sich über ihn aufzuregen, dachte sie. Bis zu dem Zeitpunkt, als Krendler uneingeladen in ihr Büro schlenderte, war ihr Tag gut gewesen. Seitdem sie zum Chesapeake-Ripper-Fall hinzugezogen wurde, sah sie ihren Beruf wieder mit ganz anderen Augen. Das Gefühl, als Frau im Bureau ständig gegen die etablierten Männercliquen ankämpfen zu müssen, war verschwunden. Clarice war Crawford sehr dankbar für diese Chance. Sie fühlte sich gut, wenn sie an einer Sache arbeitete, die ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Und das war im Fall des Serienmörders, der Baltimore zu seinem Revier auserkoren hatte, ganz sicher der Fall.

Clarice stieg aus ihrem Mustang und ging zur Eingangstür. Sie beschloß, die Arbeit für heute hinter sich zu lassen. Starling öffnete die Tür und sah, das ihre Mitbewohnerin Ardelia Mapp bereits zu Hause war – ihr Mantel hing auf dem Kleiderständer neben dem Eingang. Clarice mochte die ordentliche, bodenständige Mapp und hatte sich bereits am ersten Tag in der FBI-Akademie mit ihr angefreundet. Obwohl die beiden sehr unterschiedlich waren, standen sie sich nah. Starling war froh, sich mit ihr eine Wohnung teilen zu können – sie hasste es, abends alleine in ein leeres Haus zurückzukehren.

Besonders an Tagen wie diesen war Starling sehr glücklich darüber, nicht allein sein zu müssen. Niemand verstand es so wie Mapp, sie aufzuheitern. Und wenn das Mal nicht klappte, hatte sich Ardelia auch als sehr geschickt darin erwiesen, gemeinsam mit Clarice Rachepläne zu schmieden. Am Ende eines solchen „Scharfgerichts“, wie es die Frauen nannten, lagen beide meist Seite an Seite mit einem Glas Whiskey an die Couch gelehnt und lachten sich die Seele aus dem Leib.

„Du darfst nie deine Wut verleugnen“, hatte Ardelia ihr einmal gesagt. „Das ist nicht weniger schlimm, als seine Trauer zu verleugnen. Deine Wut gehört zu dir. Sie ist ein ehrliches Gefühl. Wenn du stinksauer auf irgend so einen Dreckskerl bist, dann bist du verdammt noch mal stinksauer. Ich will nicht noch Mal hören, dass du dich deswegen schlecht fühlst, verstanden?“

Starling hatte verstanden.

„Verdammte Scheiße, Ardelia – wo bist du? Ich muss mit dir reden“, rief Starling über ihre Schulter, als sie ihren Mantel ablegte. „Dieser Paul Krendler war wieder in meinem Büro und hat mir wegen der Sache mit dem Tattler die Hölle heiß gemacht.“

Aus der Küche erklang ein metallisches Geräusch, dann ein lauter Fluch. Starling grinste. Anscheinend war Ardelia selbst etwas angespannt. „Das ist doch mal wieder typisch, Mädchen“, hörte sie Mapp sagen. „So ein verfluchter Scheißtag. Du musst dich mit Krendler rumschlagen und mir tritt Pearsall auf die Füße.“

Erneut war ein lauter Fluch zu vernehmen. Starling hörte Geschirr klappern. „Hey Clarice, warum holst du uns nicht schon mal zwei Gläser raus? Ich könnte heute Abend einen guten Schluck Whiskey vertragen, meinst du nicht auch? Du hast doch auch morgen frei, oder?“
„Verdammt richtig, ich habe frei“, erwiderte Starling, als sie zwei große Gläser aus der Vitrine holte. Sie schob ein Paar Magazine und die Fernbedienung beiseite und stellte sie auf dem Tisch ab. „Was machst du da eigentlich in der Küche, Ardelia?“

Ardelia wählte diesen Moment, um in das Wohnzimmer zu kommen. Den Rücken halb zu Starling gewandt, trat sie mit einem Fuß leicht gegen die Tür, um sie zu öffnen. In ihren Armen trug sie ein dampfendes Blech auf einem Untersetzer. „Aus dem Weg, Mädchen, aus dem Weg“, rief sie Clarice zu. Starling trat schnell zur Seite und räumte den Tisch frei, die Magazine die sie eben noch zur Seite geschoben hatte warf sie achtlos in einen Sessel.
„Danke, Clarice“, sagte Mapp als sie das Tablett vorsichtig auf dem Tisch abstellte. „Das Ding ist wirklich heiß gewesen.“

Neugierig beugte sich Clarice über das dampfende Blech. Mapp hatte Pizza gemacht. Starling grinste und klatschte einmal kurz in die Hände. „Ardelia, du bist einfach unglaublich. Hast du etwa gerochen, dass ich einen furchtbaren Tag hatte? Genau das brauche ich jetzt: Fettiges, ungesundes Essen und einen guten Schluck Whiskey. Du bist ein Engel!“

Ardelia grinste ihr verschmitzt zu und verschwand dann noch einmal in der Küche. Als sie wieder kam, trug sie Besteck in ihren Händen. Starling hatte die Zeit genutzt, um eine Flasche Jack Daniels aus ihrer gemeinsamen Hausbar zu holen. Sie goss beiden einen kräftigen Schluck ein und reichte Ardelia ihr Glas. Die beiden ließen die Gläser kurz gegeneinander klirren und tranken den Alkohol in einem Zug. Mapp schnalzte kurz mit der Zunge und setzte sich dann neben Clarice auf den Boden. „Das habe ich gebraucht. Meinst du, wie schaffen das ganze Blech?“

Starling hob ihre Augenbrauen. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir eine lange Nacht vor uns haben. Ich denke nicht, dass die Pizza das überleben wird.“ Mapp lachte erfreut auf. „Genau mein Reden, Mädchen. Wenn eine Frau nicht mal mehr ein anständiges Frustessen haben kann, dann steht es schlecht um die Welt.“

Clarice schnitt zwei großzügige Ecken Pizza vom Blech und reichte Ardelia ein Stück. Zwei Minuten lang aßen die beiden Frauen in wohliger Stille, dann ergriff Mapp wieder das Wort. „Weißt du Clarice, manchmal glaube ich das der ganze Mist kein Zufall sein kann. Immer der gleiche Dreck, es hört nie auf. Langsam glaube ich wirklich, dass wir als Frauen niemals im Bureau akzeptiert werden. Die ganzen Sesselfurzer auf den höheren Ebenen wissen, dass wir verdammt gute Arbeit leisten. Aber wird uns das angerechnet? Nein“, sagte die dunkelhäutige Frau, während ihre Stimme vor Wut zitterte. „Stattdessen werden wir dafür bestraft. Du kannst von Glück reden, dass wenigstens Crawford ein anständiger Kerl ist. Ich glaube, er ist wirklich der einzige Abteilungsleiter, dem das Geschlecht seiner Agenten völlig egal ist.“

Starling nickte bedächtig. „Crawford ist schon in Ordnung. Ziemlich fair. Nimmt seinen Job sehr ernst, im Gegensatz zu den ganzen anderen Bürohengsten.“ Sie griff erneut nach einem Stück Pizza, nahm einen Bissen und fuhr dann fort. „Aber nun erzähl mal, Ardelia. Was wollte Pearsall den heute von dir? Ging es um die Sache in Anapolis?“

Mapp schnaubte verächtlich und goss den beiden erneut einen Whiskey ein. „Natürlich ging es um Anapolis.“ Sie hielt kurz inne und spielte mit dem Glas in ihren Händen, offenkundig frustriert. Ardelia nahm einen kleinen Schluck und atmete dann tief ein. „Eigentlich sollte man doch meinen, dass mein Boss sich freuen würde, wenn ich einen Waffenschieber wie Lyson verhafte. Aber Pearsall nimmt es mir übel, dass ich den Zugriff unabhängig gemacht habe.“ Wütend zerriss Ardelia eine Serviette zwischen ihren Fingern. „Was hätte ich den machen sollen, warten bis der Kerl in seinen Hubschrauber gehüpft und abgehauen wäre? Ich musste handeln – es war keine Zeit, alles mit Pearsall durchzukauen. Und jetzt will mich der Dreckskerl zum Schreibtischdienst verdonnern, weil ich angeblich zu unberechenbar bin.“

Starling war nicht überrascht – ihr war schon vor Monaten klar geworden, dass harte Arbeit und Einsatz für das Bureau keinen Pfifferling wert war, solange man kein Mann war. Sie hob ihr Glas an ihre Lippen und trank einen Schluck. Der Whiskey brannte in ihrer Kehle. Als sie das Glas wieder absetzte, sah sie Ardelia in die Augen. „Es wäre ja auch zuviel verlangt, wenn er einfach mal sagen würde: Gute Arbeit, Mapp. So ein Mist. Glaubst du, dass sich das jemals ändern wird? Das unsere Leistungen einfach mal gewürdigt werden, anstatt sie uns übel zu nehmen?“

Mapp lächelte traurig und schüttelte ihren Kopf. „Dafür müssten die Kerle ja über einen Funken Selbstkritik verfügen. Das ändert sich nie. Ist doch auch bequemer, wenn sie uns für ihre Fehler verantwortlich machen können. Und uns gleichzeitig unsere Erfolge neiden. Nein, das ändert sich nie.“ Ardelia wirkte resigniert. „Aber genug davon. Krendler war heute bei dir, ja? Hat der alte Widerling sich wieder an dich rangeschmissen?“

Clarice rollte genervt mit den Augen. „Natürlich, was denkst du denn? Als ob er sich die Chance entgehen lassen würde. Hat mir sogar einen charmanten neuen Spitznamen gegeben, weißt du? Maisbrotfotze.“ Starling atmete tief durch und genehmigte sich einen weiteren Schluck Whiskey.

Mapp war nicht amüsiert. „Das hat er doch nicht wirklich gesagt, oder? Das musst du melden. Sag Crawford Bescheid – vielleicht kann der dem alten Lustmolch mal auf die Füße treten.“
Starling schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht, dass das irgendwie helfen wird. Krendler macht ohnehin, was er will. Daran kann auch Crawford nichts ändern. Aber egal. Krendler ist diesmal nicht gekommen, um mich anzumachen. Eigentlich wollte er mir nur die Leviten lesen, wegen dem Tattler-Bericht. Ich schwöre dir, wenn ich Lounds noch einmal sehe, dann drehe ich ihm eigenhändig den Hals um. Als ob ich nicht schon genug Ärger hätte.“ Mapp grinste sie an. „Jedenfalls war das für Krendler ein gefundenes Fressen. Geschlagene zwei Stunden lang hat er mich fertig gemacht – mich wundert, dass ihm dabei nicht langweilig geworden ist. Schließlich hat er sich dauernd wiederholt.“

Ardelia lachte auf. „Das wundert mich gar nicht. Krendler ist ein Vollidiot.“ Sie schlug Clarice leicht auf die Schulter. „Crawford lässt sich davon aber nicht beeindrucken, oder? Er lässt dich weiter am Fall arbeiten?“

Starling nickte. Nach ihrem Gespräch mit Dr. Lecter hatte der Leiter der Abteilung für Verhaltensforschung sie noch einmal bekräftigt, an der Sache dran zu bleiben. „Ja, Crawford will mich immer noch dabei haben, dem Himmel sei Dank. Das ist die Art von Arbeit, wegen der ich mich überhaupt für das FBI entschieden habe. Ich glaube, ich hätte gekündigt wenn ich noch einmal eine Wohnung hätte abhören müssen.“ Clarice lächelte schief und strich sich ihre Haare zurück. „Nächste Woche werde ich wohl noch mal mit dem Verdächtigen sprechen. Ich bin mal gespannt, was Dr. Lecter dann vorzuweisen hat – vielleicht hat er ja sogar ein Alibi.“

Mapp sah sie nachdenklich an, als sie ihre Gläser auffüllte. „Wie ist Lecter denn so? Ich habe im College mal einen Artikel von ihm gelesen – ziemlich starker Tobak. Schwer verständlich, aber brilliant. Glaubst du, dass er der Killer ist?“

Starling spitzte ihre Lippen und dachte nach. Mit ihrer rechten Hand fuhr sie sich kurz über eine Augenbraue und trank dann einen Schluck Jack Daniels. „Ich weiß nicht so recht, Ardelia. Irgendetwas ist komisch an ihm. Aber ob er der Killer ist? Ich habe keine Ahnung. Crawford und Graham sind sich da jedenfalls ziemlich sicher“, sagte sie.

Ardelia musterte sie. „Was hältst du denn von ihm? Ich meine so ganz persönlich?“

Clarice lehnte sich gegen die Couch und schloss ihre Augen. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht so genau. Als ich mit ihm gesprochen habe, war er ausgesprochen höflich; sehr freundlich. Zweifellos ist er extrem intelligent. Es fällt mir ehrlich gesagt etwas schwer, mir ihn als den Chesapeake-Ripper vorzustellen. Er wirkte so gelassen und ruhig. Niemand, dem man auf den ersten Blick zutrauen würde, einfach Leute umzubringen.“ Starling hielt inne und überlegte. „Natürlich muss das nichts heißen – Psychopathen sind berühmt für ihre Fähigkeit, andere manipulieren und in die Irre führen zu können. Und es schien ihm wirklich Spaß zu machen, mit mir zu sprechen. Er kam mir dabei ein wenig wie eine Katze vor, die mit einer Maus spielt – ich habe mich ziemlich unwohl gefühlt. Trotzdem fand ich ihn ziemlich faszinierend. Man wird nicht so recht schlau aus ihm.“

Ardelia nickte ihr zu und trank einen Schluck. Sie zögerte kurz und sah Clarice dann eindringlich an. „Er gefällt dir, oder? Du magst ihn?“ Starling warf ihr einen bösen Blick zu, den Mapp aber grinsend ignorierte. „Sieht er gut aus?“

Starling schnaubte verächtlich. „Ich glaube, diese Frage werde ich einfach ignorieren. Ich bin zwar bereit über vieles mit dir zu sprechen, aber auch ich habe meine Grenzen. Ich werde nicht über irgendein angebliches Interesse, dass ich an einem Verdächtigen in mehreren Mordfällen habe, spekulieren.“

„Das heißt dann wohl ja“, sagte Mapp verschmitzt. Clarice stöhnte entnervt auf. Ardelia lachte. „Ist ja schon gut, ich hör' ja schon auf. Komm schon Mädchen, ich wollte dich doch nur auf den Arm nehmen.“ Mapp hob ihr Glas und sah Clarice in die Augen. „Und jetzt vergessen wir für den Rest des Abends mal die Arbeit, verrückte Serienmörder und sexistische Kollegen. Ich bin dafür, dass wir uns einfach mal ordentlich betrinken und den ganzen Mist vergessen – was meinst du?“

Starling ließ sich nicht zweimal bitten. Für schwermütige Gedanken war auch morgen noch Zeit.
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