Chesapeake Ripper
von Shoplifterette
Kurzbeschreibung
Die junge FBI-Agentin Clarice Starling wird zum "Chesapeake-Ripper"-Fall hinzugezogen. Ihr Auftrag: Dem Hauptverdächtigen, dem Psychiater Dr. Hannibal Lecter, einmal gehörig auf den Zahn zu fühlen. Ist sie der Aufgabe gewachsen? AU
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P18 / Gen
Clarice Starling
Hannibal Lecter
07.06.2012
07.06.2012
6
13.238
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07.06.2012
2.732
Disclaimer: Alle Charaktere, die euch bekannt vorkommen, gehören nicht mir, sondern Thomas Harris.
Als Clarice Starling in ihrem Mustang über den Highway nach Baltimore fuhr, ließ sie sich die Ereignisse der letzten Stunden noch einmal sorgfältig durch den Kopf gehen. Ihr war klar, dass sie sich für die Begegnung mit dem Mann, der nach Crawfords Ansicht für mindestens neun Morde verantwortlich war, gut vorbereiten musste. Trotzdem war sie unsicher. Sie fragte sich, welchen Grund ein renommierter Psychiater wie Dr. Lecter haben könnte, Menschen zu ermorden. Sie selbst hatte einige Artikel von ihm gelesen, die ihr wegen ihrer Brillianz noch heute glasklar in Erinnerung waren. Keine Frage, Dr. Lecter war auf seinem Gebiet eine Experte. Nur war sie sich auch allzu sehr bewusst, dass ein hoher gesellschaftlicher Standard und eine überragende Intelligenz beileibe kein Ausschlusskriterium für einen echten Psychopathen sein müssen. Sie dachte an Ted Bundy und den berüchtigten BTK-Killer, die beide die Behörden gerade aufgrund ihrer Cleverness jahrelang erfolgreich an der Nase herumgeführt hatten. Und während all dieser Zeit führten sie nach außen hin ein völlig normales Leben.
Starling seufzte. Es machte keinen Sinn, über vergangene Fälle nachzudenken. Die unsäglichen Verbrechen des Chesapeake-Rippers waren in der jüngeren Vergangenheit beispiellos. Die meisten Serienmörder, mit denen sich das FBI herumschlagen musste, hatten ein sexuelles Motiv. Täter, bei denen dies nicht der Fall ist, waren deshalb wesentlich schwerer zu fangen. Lecters Motiv – sollte er denn der Täter sein – lag völlig im Dunkeln.
Starling schüttelte kurz den Kopf, als sie die Ausfahrt herunterfuhr und an der Kreuzung links abbog. Sie beschloß, sich bei ihrem Gespräch mit dem Doktor auf ihr Bauchgefühl zu verlassen. Da Crawford und Graham beide überzeugt waren, in Lecter den richtigen Mann gefunden zu haben, musste sie vorsichtig vorgehen – schließlich galt Grahams Instinkt innerhalb der Mauern von Quantico als legendär. Besser auf Nummer sicher gehen, auch wenn sie nicht glaubte, dass ein Mann von Lecters Intelligenz es riskieren würde, eine FBI-Agentin, die ihn befragen sollte, in seiner Praxis anzugreifen. Trotzdem war sie beunruhigt. Wenn der Doktor tatsächlich der Täter sein sollte, dachte sie unruhig, dann war er zweifelsfrei wahnsinnig.
„Besser du sagst ihm gleich zu Beginn, dass Crawford dich geschickt hat und weiß, wo du dich aufhältst“, murmelte sie leise vor sich hin. „Ein bischen Vorsicht kann nicht schaden.“
Clarice parkte ihren Wagen auf einem privaten Parkplatz gegenüber eines Delikatessen-Geschäftes. Der Platz war für Patienten Lecters reserviert, aber im Moment waren dort nur drei andere Fahrzeuge geparkt: Ein gelber Sportwagen, ein alter Ford und ein schwarzer Bentley, von dem sie wusste, dass er dem Doktor gehörte. Der Wagen wirkte schlicht und elegant. Starling fragte sich unwillkürlich, ob er ihn jemals in Zusammenhang mit einer seiner Taten benutzt hatte. Sie blieb eine Weile hinter dem Steuer ihres Wagens sitzen und beobachtete die Straße, ärgerlich über ihre Nervosität. Schließlich, so dachte sie, hatte sie schon oft mit Verbrechern zu tun gehabt. Und bei Dr. Lecter war es nicht einmal sicher, ob er sich überhaupt etwas getan hatte.
Sie blinzelte einmal kurz und erhob sich aus ihrem Sitz, als sie den Wagen verließ. Aufmerksam betrachtete sie das Gebäude, in dem sich die Praxis des Psychiaters befand. Es war ein schöner, gepflegter Altbau in einem der gehobeneren Stadtteile von Baltimore. Obwohl sie selber niemals wohlhabend gewesen war, fiel ihr die klassische Eleganz des Gebäudes sofort ins Auge. Starling gefiel es sehr – und der Teil von ihr, der noch immer durch ihre Erziehung in dem lutheranischen Waisenhaus geprägt war, schämte sich ein wenig dafür. Seine Patienten müssen reich sein, dachte Clarice, als sie sich langsam auf den Weg zum Gebäudeeingang machte.
Die Hand schon über dem messingfarbenen Klingelknopf erhoben, entschloss sich Starling kurz vorher, mit ihrem Besuch noch ein wenig zu warten. Sie wollte erst ein Gefühl für den Mann bekommen, dem sie in wenigen Minuten gegenüber stehen würde. Scheinbar abwesend schlenderte sie über die Straße und wandte sich einem Zeitungsstand in der Nähe einer Kreuzung zu. Sie blätterte in einem Magazin, klemmte sich eine Zeitung unter den Arm und wandte sich dann dem Verkäufer zu. Es war ein freundlicher, älterer Herr, der sie warm anlächelte. „Hallo, meine Dame“, begrüßte er sie. „Nur die Beiden?“
„Ja, genau“, entgegnete Clarice, während sie in ihrer Handtasche nach ihrem Geldbeutel suchte. „Ich habe einen Termin bei Dr. Lecter und weiß nicht, wie lange ich im Wartezimmer festsitzen werde. Da wollte ich mich lieber vorher noch mit etwas Lesestoff eindecken.“ Sie schenkte dem Mann ein Lächeln. Ob er den Doktor wohl kannte?
Der Zeitungsverkäufer lachte vergnügt auf. „Oh, ich denke da machen Sie sich umsonst Sorgen. Dr. Lecter hasst unfreundliche Menschen fast genauso sehr wie billigen Wein. Wenn Sie einen Termin haben wird er Sie nicht warten lassen“, sagte der Mann, während er ihr das Wechselgeld reichte. „Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Ist es ihr erster Termin? Ja? Machen Sie sich keine Sorgen. Ich treffe ständig auf Menschen, die vor einem Termin bei ihm nervös sind – seine spitze Feder, mit der er Theateraufführungen und Konzerte auseinander nimmt, ist hier in der Gegend berüchtigt. Aber ich versichere Ihnen, ich habe den Doktor noch nie anders erlebt, als zuvorkommend und höflich. Wie sagt man doch so schön: Hunde die bellen, beißen nicht.“ Der Zeitungsverkäufer schien sich köstlich über seinen eigenen Witz zu amüsieren.
Starling lachte höflich, fragte sich aber insgeheim, ob das Sprichwort wohl auch auf Dr. Lecter zutreffen würde. Falls er wirklich unser Mann ist, dachte sie, dann beißt er wohl ganz gerne. Die Autopsieberichte waren in dieser Hinsicht erschreckend eindeutig.
Clarice winkte dem Zeitungsverkäufer kurz zu und ging dann wieder über die Straße. Sie wollte ihren Besuch nicht noch länger aufschieben. Schließlich erwartete Crawford bereits am Abend einen telefonischen Bericht über das Gespräch. Warum er sie in dieser Sache so drängte, erschloss sich Clarice nicht ganz. Schließlich war es mehr als unwahrscheinlich, dass der Doktor, nachdem er den Lügendetektortest bestanden und gegenüber Graham und Crawford jede Beteiligung an den Morden geleugnet hatte, plötzlich von Schuldgefühlen übermannt und ein volles Geständnis ablegen würde. Die Vorstellung amüsierte sie, und so trug sie ein Lächeln, als sie den Klingelknopf drückte.
Keine fünf Sekunden später öffnete sich die Tür. Eine gepflegte Dame mittleren Alters begrüßte sie und führte sie in die Praxis. Starling mochte sie gleich auf den ersten Blick „Guten Tag, mein Name ist Rosemary Bells. Was kann ich für sie tun? Haben Sie einen Termin bei Dr. Lecter?“
„Nein, nicht direkt“, antwortete Starling während sie ihren Mantel abnahm. „Mein Name ist Clarice Starling, FBI. Mr. Crawford hat mich geschickt, um noch einmal mit dem Doktor zu sprechen.“
Die Miene der Frau, die vorhin noch so sympathisch gewirkt hatte, verdüsterte sich. „Ich kann es ja nicht glauben, dass Sie ihn immer noch verdächtigen“, murmelte Mrs. Bells, und warf Clarice einen finsteren Blick zu, während sie hinter der Rezeption nach dem Telefon griff. „Ich werde Dr. Lecter sofort informieren, dass Sie da sind.“
Starling nickte ihr kurz zu und sah sich in der Praxis um. Die Einrichtung wirkte edel, selbst für ihre ungeübten Augen. In der Ecke neben der Tür stand ein bequemer Sessel. Starling wollte sich gerade darauf niederlassen, als Mrs. Bells sie erneut ansprach. „Das wird nicht nötig sein, Ms. Starling. Der Doktor wird Sie jetzt empfangen. Wenn Sie mir bitte folgen würden.“ Ihr Tonfall klang gezwungen höflich.
Clarice ging der Frau nach, die sie zu einem Zimmer am Ende des Ganges führte. Sie lächelte der Rezeptionistin freundlich zu und klopfte an die Tür.
„Kommen Sie bitte herein“, erklang eine Stimme von der anderen Seite der Tür. Die Stimme klang angenehm dunkel, mit einem leicht metallischen Unterton. Keine Stimme, die Clarice sofort an Gefahr denken ließ. Sie öffnete die Tür und trat ein.
Dr. Lecter saß am anderen Ende des Raumes in einem dunklen Ledersessel. Sein Rücken war ihr zugewandt, offensichtlich führte er gerade ein Telefongespräch. Ohne sich umzudrehen hob er entschuldigend die Hand. „In Ordnung, Mr. Jacobs. Ich werde daran denken. Vielen Dank, ich werde mich später noch einmal bei Ihnen melden. Auf Wiederhören“, sagte der Doktor zu der Person am anderen Ende der Leitung, bevor er den Hörer auflegte. Dann wandte er sich um und erhob sich aus seinem Sessel.
Starling war überrascht. Der Mann sah weder aus wie ein typischer Gelehrter, noch wie ein gefährlicher Mörder. Dr. Lecter war schlank, dunkelhaarig und sehr gepflegt. Er wirkte elegant und grazil; ein Eindruck, der dadurch verstärkt wurde, dass er sehr klein war, vielleicht kaum zwei Zentimeter größer als Clarice selber. Seine Kleidung war außergewöhnlich gut gewählt. Unwillkürlich blickte Starling auf seine Hände, sie waren schön und gepflegt. An seiner linken Hand hatte der Doktor sechs Finger. Clarice sah auf und blickte ihm in die Augen. Der Doktor musterte sie aufmerksam und reichte ihr dann seine Hand.
„Guten Tag, Ms. Starling. Es ist mir eine Freude, sie kennenzulernen – auch wenn ich zugeben muss, dass der Anlass weniger erfreulich ist“, begrüßte er sie, während der Anflug eines spöttischen Lächelns seine Mundwinkel umspielte. „Bitte, setzen Sie sich doch. Ich nehme an, Sie wollen mit mir über diese scheußliche Mordserie sprechen?“ Er deutete einladend auf einen Sessel vor seinem Schreibtisch. Der Doktor wirkte ausgesprochen gelassen.
Clarice erwiderte seinen Gruß, lächelte ihm knapp zu und ließ sich dann auf dem Sessel nieder. „Sie haben Recht was den Grund meines Besuchs angeht, Dr. Lecter. Mr. Crawford hat mich geschickt, um noch einmal mit Ihnen zu sprechen“, sagte Starling. Ihre Stimme schien ruhig. Gut.
Dr. Lecter, der sich inzwischen wieder hingesetzt hatte, faltete seine Hände und sah sie belustigt an. „Mr. Crawford scheint mir ein sehr hartnäckiger Mann zu sein, Agent Starling. Dabei hat der Haftrichter doch bereits festgestellt, dass keinerlei Verdachtsmomente gegen mich vorliegen. Nun gut. Aber bevor wir mit unserem Gespräch fortfahren, muss ich Sie doch bitten, mir ihren Ausweis zu zeigen. Schließlich könnten Sie auch eine Reporterin sein.“ Sein amüsiertes Lächeln ließ seine kleinen, weißen Zähne kurz aufblitzen.
Starling warf ihm einen undeutbaren Blick zu und griff nach ihrer Handtasche, um ihren Ausweis hervorzuholen. „Natürlich, Dr. Lecter. Nur einen Augenblick.“
Sie wusste nicht Recht, was sie von Hannibal Lecter halten sollte. Er wirkte ausgesprochen höflich, aber seine unnatürliche Ruhe brachte Starling ein wenig aus der Fassung. Etwas an ihm erschien ihr beunruhigend. Trotzdem übte er eine gewisse Faszination auf sie aus. Er war zweifellos ein Mann, der mit sich völlig im Reinen war und niemals von kleinlichen Unsicherheiten geplagt wurde. Trotzdem konnte Clarice verstehen, warum Crawford und Graham ihn verdächtigten. Etwas an ihm wirkte seltsam unwirklich – vielleicht war es sein durchdringender Blick, den er nicht von ihr abgewandt hatte, seit sie den Raum betreten hatte.
Starling nahm ihren Ausweis aus ihrer Tasche und blickte auf. Noch immer ruhte der Blick des Doktors auf ihr, diesmal meinte sie allerdings eine gewisse Neugier hinter seinen rotbraunen Augen erkennen zu können. Sie überkam die unangenehme Gewissheit, dass er sich völlig darüber im Klaren war, worüber sie gerade nachgedacht hatte.
Als Dr. Lecter den Ausweis von ihr entgegen nahm, lächelte er sie an. Starling schauderte unwillkürlich, was den Doktor allerdings nicht zu stören schien. Sein Lächeln wurde noch breiter. „Vielen Dank, Agent Starling. Ich sehe jetzt, dass Sie mir die Wahrheit gesagt haben. Kann ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken anbieten, bevor wir fortfahren? Wirklich nicht? Nun denn, wie kann ich Ihnen denn dann behilflich sein? Ich glaube kaum, das Mr. Crawford Sie zu mir geschickt hat, um eine Entschuldigung für seine haltlosen Anschuldigungen zu übermitteln?“
Starling hielt seinem amüsierten Blick stand und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. „Nein Dr. Lecter, ich denke nicht, das Agent Crawford vorhat, sich bei Ihnen zu entschuldigen.“ Mit gespielter Überraschung hob Lecter eine Augenbraue. Sie fuhr unbeirrt fort. „Ich möchte lieber noch einmal auf Ihre Beziehung zu den zwei Mordopfern zu sprechen kommen.“
Dr. Lecter lehnte sich interessiert nach vorne und neigte seinen Kopf leicht zur Seite. „Nun, ich bin mir nicht sicher ob ich in diesem Zusammenhang von einer Beziehung sprechen würde. Mr. Raspail war ein Patient von mir, das stimmt. Wir hatten insgesamt sechs Sitzungen. Um ehrlich zu sein war Raspail ein recht langweiliger Patient mit einem Hang zur Dramatik. Aber man soll ja nicht schlecht von den Toten sprechen nicht wahr?“ Lecter zwinkerte ihr kurz zu und fuhr dann fort.
„Den Mann, den die Presse als den „Wundenmann“ bezeichnet kannte ich nur flüchtig, ich habe ihn vor vielen Jahren mal in der Notaufnahme behandelt. Ein äußerst ungehobelter junger Mann, aber harmlos. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, warum ich ihm etwas anhaben sollte. Unhöflichkeit alleine scheint mir doch ein recht schwaches Tatmotiv zu sein“, sagte Lecter. Sein Lächeln erinnerte sie an ein Krokodil. „So bedauerlich diese beiden Todesfälle auch sein mögen, Agent Starling, ich fürchte, ich kann Ihnen in diesem Fall nicht behilflich sein.“
Starling musterte den Psychiater eindringlich. Er war attraktiv, sicher, und er hatte einwandfreie Umgangsformen. Trotzdem war er ihr unbehaglich. Die Art, wie er gewisse Worte betonte und die Tatsache, dass es ihm sichtlichen Spaß zu machen schien, sie aus der Ruhe zu bringen, verfehlten ihre Wirkung nicht. Wieder kam ihr der Gedanke, dass die Verdächtigungen von Crawford und Graham nicht ganz unverständlich waren. Normalerweise würde ein Mann, den man in einer Morduntersuchung verhört, Unruhe zeigen. Bei Lecter war das Gegenteil der Fall: Er gab ein Bild völliger Gelassenheit ab und schien mit der Situation keine Probleme zu haben. Starling war misstrauisch.
„Es tut mir Leid, Sir, aber ihr Bedauern scheint mir ein wenig unaufrichtig“, wandte Clarice sich schließlich wieder an ihn. Lecters Augen schienen zu lachen. „Warum machen Sie es mir nicht leichter, Ihnen zu glauben und erzählen mir, wo Sie in den Mordnächten waren?“
Nun schien Hannibal Lecter erst recht amüsiert zu sein. Er gab ein leises, kaum hörbares Lachen von sich. Starling war überrascht festzustellen, dass ihr sein Lachen gefiel. „Oh, Clarice! Darf ich Sie Clarice nennen? Sehr schön. Ich muss zugeben, dass es eine wahre Freude ist mit Ihnen zu sprechen. So erfrischend ehrlich und unverblümt. Und so herrlich manipulativ. Bravo, Clarice!“
Lecter sah sie eindringlich an und lächelte. „Was meinen Aufenthaltsort während der Morde angeht, so kann ich Ihnen da aus dem Stehgreif leider nicht weiterhelfen. Ich bin ein sehr beschäftigter Mann, meine Hobbies nehmen mich ziemlich in Anspruch.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause und zwinkerte ihr wieder zu. „Aber wenn ich dran denke, werde ich meinen Terminkalender mal überprüfen. Vielleicht sollten Sie in ein Paar Tagen noch einmal wiederkommen, Clarice?“
Starling warf ihm einen irritierten Blick zu. „Es freut mich, dass sie so außergewöhnlich kooperationsbereit sind, Dr. Lecter“, sagte sie mit deutlich wahrnehmbarer Ironie in der Stimme. „Aber warum können Sie das nicht gleich überprüfen? Ich habe die Daten gleich hier in meiner Tasche, und Ihr Terminkalender liegt direkt vor Ihnen.“
Dr. Lecter schien erfreut zu sein. „Ah, bissig sind Sie auch noch. Wirklich entzückend“, sagte der Doktor, während er sich mit einer Hand kurz über den Mund fuhr, um ein Lächeln zu verbergen. „Ich würde Ihnen ja wirklich gerne weiterhelfen, Clarice, aber ich bin leider heute zeitlich etwas eingespannt. In wenigen Stunden gebe ich ein Dinner für das Baltimorer Philharmonie Orchester. Das Fleisch, das ich heute Abend servieren möchte, ist recht schwierig zu handhaben und schnell ruiniert. Deshalb muss ich zeitig zu Hause sein – sonst muss ich eventuell noch selber auf die Jagd gehen, um für Ersatz zu sorgen“, fuhr der Doktor in seinem freundlichsten Plauderton fort. Sein Lächeln wirkte seltsam bedrohlich.
Starling dachte kurz nach. Vielleicht war es gar nicht das Schlechteste, den Doktor in ein Paar Tagen noch einmal aufzusuchen. Sollte er wirklich der Täter sein, überlegte sie, wäre es gut, wenn er sich beobachtet fühlen würde. Das könnte ihn zu einem Fehler verleiten.
Clarice nickte ihm freundlich zu. „In Ordnung, Dr. Lecter. Da dies ja kein formelles Verhör ist, steht es Ihnen natürlich frei, unser Gespräch auf ein anderes Mal zu verschieben. Im Laufe der Woche werde ich mich einfach erneut bei Ihnen melden – auch wenn ich noch nicht genau sagen kann, wann das sein wird. Ich hoffe, Sie werden einen schönen Abend mit Ihren Gästen verbringen, Doktor!“ Starling erhob sich und Griff nach Ihrer Handtasche. Auch Dr. Lecter stand auf und ging zur Tür, die er für die junge Agentin aufhielt.
„Vielen Dank für Ihr Verständnis, Clarice. Ich werde Sie noch zu Ihrem Auto begleiten, wenn es Ihnen Recht ist“, sagte Dr. Lecter zuvorkommend.
Als Clarice wieder in ihrem Wagen saß und sich auf dem Weg nach Quantico befand, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, etwas wichtiges übersehen zu haben.
Als Clarice Starling in ihrem Mustang über den Highway nach Baltimore fuhr, ließ sie sich die Ereignisse der letzten Stunden noch einmal sorgfältig durch den Kopf gehen. Ihr war klar, dass sie sich für die Begegnung mit dem Mann, der nach Crawfords Ansicht für mindestens neun Morde verantwortlich war, gut vorbereiten musste. Trotzdem war sie unsicher. Sie fragte sich, welchen Grund ein renommierter Psychiater wie Dr. Lecter haben könnte, Menschen zu ermorden. Sie selbst hatte einige Artikel von ihm gelesen, die ihr wegen ihrer Brillianz noch heute glasklar in Erinnerung waren. Keine Frage, Dr. Lecter war auf seinem Gebiet eine Experte. Nur war sie sich auch allzu sehr bewusst, dass ein hoher gesellschaftlicher Standard und eine überragende Intelligenz beileibe kein Ausschlusskriterium für einen echten Psychopathen sein müssen. Sie dachte an Ted Bundy und den berüchtigten BTK-Killer, die beide die Behörden gerade aufgrund ihrer Cleverness jahrelang erfolgreich an der Nase herumgeführt hatten. Und während all dieser Zeit führten sie nach außen hin ein völlig normales Leben.
Starling seufzte. Es machte keinen Sinn, über vergangene Fälle nachzudenken. Die unsäglichen Verbrechen des Chesapeake-Rippers waren in der jüngeren Vergangenheit beispiellos. Die meisten Serienmörder, mit denen sich das FBI herumschlagen musste, hatten ein sexuelles Motiv. Täter, bei denen dies nicht der Fall ist, waren deshalb wesentlich schwerer zu fangen. Lecters Motiv – sollte er denn der Täter sein – lag völlig im Dunkeln.
Starling schüttelte kurz den Kopf, als sie die Ausfahrt herunterfuhr und an der Kreuzung links abbog. Sie beschloß, sich bei ihrem Gespräch mit dem Doktor auf ihr Bauchgefühl zu verlassen. Da Crawford und Graham beide überzeugt waren, in Lecter den richtigen Mann gefunden zu haben, musste sie vorsichtig vorgehen – schließlich galt Grahams Instinkt innerhalb der Mauern von Quantico als legendär. Besser auf Nummer sicher gehen, auch wenn sie nicht glaubte, dass ein Mann von Lecters Intelligenz es riskieren würde, eine FBI-Agentin, die ihn befragen sollte, in seiner Praxis anzugreifen. Trotzdem war sie beunruhigt. Wenn der Doktor tatsächlich der Täter sein sollte, dachte sie unruhig, dann war er zweifelsfrei wahnsinnig.
„Besser du sagst ihm gleich zu Beginn, dass Crawford dich geschickt hat und weiß, wo du dich aufhältst“, murmelte sie leise vor sich hin. „Ein bischen Vorsicht kann nicht schaden.“
Clarice parkte ihren Wagen auf einem privaten Parkplatz gegenüber eines Delikatessen-Geschäftes. Der Platz war für Patienten Lecters reserviert, aber im Moment waren dort nur drei andere Fahrzeuge geparkt: Ein gelber Sportwagen, ein alter Ford und ein schwarzer Bentley, von dem sie wusste, dass er dem Doktor gehörte. Der Wagen wirkte schlicht und elegant. Starling fragte sich unwillkürlich, ob er ihn jemals in Zusammenhang mit einer seiner Taten benutzt hatte. Sie blieb eine Weile hinter dem Steuer ihres Wagens sitzen und beobachtete die Straße, ärgerlich über ihre Nervosität. Schließlich, so dachte sie, hatte sie schon oft mit Verbrechern zu tun gehabt. Und bei Dr. Lecter war es nicht einmal sicher, ob er sich überhaupt etwas getan hatte.
Sie blinzelte einmal kurz und erhob sich aus ihrem Sitz, als sie den Wagen verließ. Aufmerksam betrachtete sie das Gebäude, in dem sich die Praxis des Psychiaters befand. Es war ein schöner, gepflegter Altbau in einem der gehobeneren Stadtteile von Baltimore. Obwohl sie selber niemals wohlhabend gewesen war, fiel ihr die klassische Eleganz des Gebäudes sofort ins Auge. Starling gefiel es sehr – und der Teil von ihr, der noch immer durch ihre Erziehung in dem lutheranischen Waisenhaus geprägt war, schämte sich ein wenig dafür. Seine Patienten müssen reich sein, dachte Clarice, als sie sich langsam auf den Weg zum Gebäudeeingang machte.
Die Hand schon über dem messingfarbenen Klingelknopf erhoben, entschloss sich Starling kurz vorher, mit ihrem Besuch noch ein wenig zu warten. Sie wollte erst ein Gefühl für den Mann bekommen, dem sie in wenigen Minuten gegenüber stehen würde. Scheinbar abwesend schlenderte sie über die Straße und wandte sich einem Zeitungsstand in der Nähe einer Kreuzung zu. Sie blätterte in einem Magazin, klemmte sich eine Zeitung unter den Arm und wandte sich dann dem Verkäufer zu. Es war ein freundlicher, älterer Herr, der sie warm anlächelte. „Hallo, meine Dame“, begrüßte er sie. „Nur die Beiden?“
„Ja, genau“, entgegnete Clarice, während sie in ihrer Handtasche nach ihrem Geldbeutel suchte. „Ich habe einen Termin bei Dr. Lecter und weiß nicht, wie lange ich im Wartezimmer festsitzen werde. Da wollte ich mich lieber vorher noch mit etwas Lesestoff eindecken.“ Sie schenkte dem Mann ein Lächeln. Ob er den Doktor wohl kannte?
Der Zeitungsverkäufer lachte vergnügt auf. „Oh, ich denke da machen Sie sich umsonst Sorgen. Dr. Lecter hasst unfreundliche Menschen fast genauso sehr wie billigen Wein. Wenn Sie einen Termin haben wird er Sie nicht warten lassen“, sagte der Mann, während er ihr das Wechselgeld reichte. „Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Ist es ihr erster Termin? Ja? Machen Sie sich keine Sorgen. Ich treffe ständig auf Menschen, die vor einem Termin bei ihm nervös sind – seine spitze Feder, mit der er Theateraufführungen und Konzerte auseinander nimmt, ist hier in der Gegend berüchtigt. Aber ich versichere Ihnen, ich habe den Doktor noch nie anders erlebt, als zuvorkommend und höflich. Wie sagt man doch so schön: Hunde die bellen, beißen nicht.“ Der Zeitungsverkäufer schien sich köstlich über seinen eigenen Witz zu amüsieren.
Starling lachte höflich, fragte sich aber insgeheim, ob das Sprichwort wohl auch auf Dr. Lecter zutreffen würde. Falls er wirklich unser Mann ist, dachte sie, dann beißt er wohl ganz gerne. Die Autopsieberichte waren in dieser Hinsicht erschreckend eindeutig.
Clarice winkte dem Zeitungsverkäufer kurz zu und ging dann wieder über die Straße. Sie wollte ihren Besuch nicht noch länger aufschieben. Schließlich erwartete Crawford bereits am Abend einen telefonischen Bericht über das Gespräch. Warum er sie in dieser Sache so drängte, erschloss sich Clarice nicht ganz. Schließlich war es mehr als unwahrscheinlich, dass der Doktor, nachdem er den Lügendetektortest bestanden und gegenüber Graham und Crawford jede Beteiligung an den Morden geleugnet hatte, plötzlich von Schuldgefühlen übermannt und ein volles Geständnis ablegen würde. Die Vorstellung amüsierte sie, und so trug sie ein Lächeln, als sie den Klingelknopf drückte.
Keine fünf Sekunden später öffnete sich die Tür. Eine gepflegte Dame mittleren Alters begrüßte sie und führte sie in die Praxis. Starling mochte sie gleich auf den ersten Blick „Guten Tag, mein Name ist Rosemary Bells. Was kann ich für sie tun? Haben Sie einen Termin bei Dr. Lecter?“
„Nein, nicht direkt“, antwortete Starling während sie ihren Mantel abnahm. „Mein Name ist Clarice Starling, FBI. Mr. Crawford hat mich geschickt, um noch einmal mit dem Doktor zu sprechen.“
Die Miene der Frau, die vorhin noch so sympathisch gewirkt hatte, verdüsterte sich. „Ich kann es ja nicht glauben, dass Sie ihn immer noch verdächtigen“, murmelte Mrs. Bells, und warf Clarice einen finsteren Blick zu, während sie hinter der Rezeption nach dem Telefon griff. „Ich werde Dr. Lecter sofort informieren, dass Sie da sind.“
Starling nickte ihr kurz zu und sah sich in der Praxis um. Die Einrichtung wirkte edel, selbst für ihre ungeübten Augen. In der Ecke neben der Tür stand ein bequemer Sessel. Starling wollte sich gerade darauf niederlassen, als Mrs. Bells sie erneut ansprach. „Das wird nicht nötig sein, Ms. Starling. Der Doktor wird Sie jetzt empfangen. Wenn Sie mir bitte folgen würden.“ Ihr Tonfall klang gezwungen höflich.
Clarice ging der Frau nach, die sie zu einem Zimmer am Ende des Ganges führte. Sie lächelte der Rezeptionistin freundlich zu und klopfte an die Tür.
„Kommen Sie bitte herein“, erklang eine Stimme von der anderen Seite der Tür. Die Stimme klang angenehm dunkel, mit einem leicht metallischen Unterton. Keine Stimme, die Clarice sofort an Gefahr denken ließ. Sie öffnete die Tür und trat ein.
Dr. Lecter saß am anderen Ende des Raumes in einem dunklen Ledersessel. Sein Rücken war ihr zugewandt, offensichtlich führte er gerade ein Telefongespräch. Ohne sich umzudrehen hob er entschuldigend die Hand. „In Ordnung, Mr. Jacobs. Ich werde daran denken. Vielen Dank, ich werde mich später noch einmal bei Ihnen melden. Auf Wiederhören“, sagte der Doktor zu der Person am anderen Ende der Leitung, bevor er den Hörer auflegte. Dann wandte er sich um und erhob sich aus seinem Sessel.
Starling war überrascht. Der Mann sah weder aus wie ein typischer Gelehrter, noch wie ein gefährlicher Mörder. Dr. Lecter war schlank, dunkelhaarig und sehr gepflegt. Er wirkte elegant und grazil; ein Eindruck, der dadurch verstärkt wurde, dass er sehr klein war, vielleicht kaum zwei Zentimeter größer als Clarice selber. Seine Kleidung war außergewöhnlich gut gewählt. Unwillkürlich blickte Starling auf seine Hände, sie waren schön und gepflegt. An seiner linken Hand hatte der Doktor sechs Finger. Clarice sah auf und blickte ihm in die Augen. Der Doktor musterte sie aufmerksam und reichte ihr dann seine Hand.
„Guten Tag, Ms. Starling. Es ist mir eine Freude, sie kennenzulernen – auch wenn ich zugeben muss, dass der Anlass weniger erfreulich ist“, begrüßte er sie, während der Anflug eines spöttischen Lächelns seine Mundwinkel umspielte. „Bitte, setzen Sie sich doch. Ich nehme an, Sie wollen mit mir über diese scheußliche Mordserie sprechen?“ Er deutete einladend auf einen Sessel vor seinem Schreibtisch. Der Doktor wirkte ausgesprochen gelassen.
Clarice erwiderte seinen Gruß, lächelte ihm knapp zu und ließ sich dann auf dem Sessel nieder. „Sie haben Recht was den Grund meines Besuchs angeht, Dr. Lecter. Mr. Crawford hat mich geschickt, um noch einmal mit Ihnen zu sprechen“, sagte Starling. Ihre Stimme schien ruhig. Gut.
Dr. Lecter, der sich inzwischen wieder hingesetzt hatte, faltete seine Hände und sah sie belustigt an. „Mr. Crawford scheint mir ein sehr hartnäckiger Mann zu sein, Agent Starling. Dabei hat der Haftrichter doch bereits festgestellt, dass keinerlei Verdachtsmomente gegen mich vorliegen. Nun gut. Aber bevor wir mit unserem Gespräch fortfahren, muss ich Sie doch bitten, mir ihren Ausweis zu zeigen. Schließlich könnten Sie auch eine Reporterin sein.“ Sein amüsiertes Lächeln ließ seine kleinen, weißen Zähne kurz aufblitzen.
Starling warf ihm einen undeutbaren Blick zu und griff nach ihrer Handtasche, um ihren Ausweis hervorzuholen. „Natürlich, Dr. Lecter. Nur einen Augenblick.“
Sie wusste nicht Recht, was sie von Hannibal Lecter halten sollte. Er wirkte ausgesprochen höflich, aber seine unnatürliche Ruhe brachte Starling ein wenig aus der Fassung. Etwas an ihm erschien ihr beunruhigend. Trotzdem übte er eine gewisse Faszination auf sie aus. Er war zweifellos ein Mann, der mit sich völlig im Reinen war und niemals von kleinlichen Unsicherheiten geplagt wurde. Trotzdem konnte Clarice verstehen, warum Crawford und Graham ihn verdächtigten. Etwas an ihm wirkte seltsam unwirklich – vielleicht war es sein durchdringender Blick, den er nicht von ihr abgewandt hatte, seit sie den Raum betreten hatte.
Starling nahm ihren Ausweis aus ihrer Tasche und blickte auf. Noch immer ruhte der Blick des Doktors auf ihr, diesmal meinte sie allerdings eine gewisse Neugier hinter seinen rotbraunen Augen erkennen zu können. Sie überkam die unangenehme Gewissheit, dass er sich völlig darüber im Klaren war, worüber sie gerade nachgedacht hatte.
Als Dr. Lecter den Ausweis von ihr entgegen nahm, lächelte er sie an. Starling schauderte unwillkürlich, was den Doktor allerdings nicht zu stören schien. Sein Lächeln wurde noch breiter. „Vielen Dank, Agent Starling. Ich sehe jetzt, dass Sie mir die Wahrheit gesagt haben. Kann ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken anbieten, bevor wir fortfahren? Wirklich nicht? Nun denn, wie kann ich Ihnen denn dann behilflich sein? Ich glaube kaum, das Mr. Crawford Sie zu mir geschickt hat, um eine Entschuldigung für seine haltlosen Anschuldigungen zu übermitteln?“
Starling hielt seinem amüsierten Blick stand und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. „Nein Dr. Lecter, ich denke nicht, das Agent Crawford vorhat, sich bei Ihnen zu entschuldigen.“ Mit gespielter Überraschung hob Lecter eine Augenbraue. Sie fuhr unbeirrt fort. „Ich möchte lieber noch einmal auf Ihre Beziehung zu den zwei Mordopfern zu sprechen kommen.“
Dr. Lecter lehnte sich interessiert nach vorne und neigte seinen Kopf leicht zur Seite. „Nun, ich bin mir nicht sicher ob ich in diesem Zusammenhang von einer Beziehung sprechen würde. Mr. Raspail war ein Patient von mir, das stimmt. Wir hatten insgesamt sechs Sitzungen. Um ehrlich zu sein war Raspail ein recht langweiliger Patient mit einem Hang zur Dramatik. Aber man soll ja nicht schlecht von den Toten sprechen nicht wahr?“ Lecter zwinkerte ihr kurz zu und fuhr dann fort.
„Den Mann, den die Presse als den „Wundenmann“ bezeichnet kannte ich nur flüchtig, ich habe ihn vor vielen Jahren mal in der Notaufnahme behandelt. Ein äußerst ungehobelter junger Mann, aber harmlos. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, warum ich ihm etwas anhaben sollte. Unhöflichkeit alleine scheint mir doch ein recht schwaches Tatmotiv zu sein“, sagte Lecter. Sein Lächeln erinnerte sie an ein Krokodil. „So bedauerlich diese beiden Todesfälle auch sein mögen, Agent Starling, ich fürchte, ich kann Ihnen in diesem Fall nicht behilflich sein.“
Starling musterte den Psychiater eindringlich. Er war attraktiv, sicher, und er hatte einwandfreie Umgangsformen. Trotzdem war er ihr unbehaglich. Die Art, wie er gewisse Worte betonte und die Tatsache, dass es ihm sichtlichen Spaß zu machen schien, sie aus der Ruhe zu bringen, verfehlten ihre Wirkung nicht. Wieder kam ihr der Gedanke, dass die Verdächtigungen von Crawford und Graham nicht ganz unverständlich waren. Normalerweise würde ein Mann, den man in einer Morduntersuchung verhört, Unruhe zeigen. Bei Lecter war das Gegenteil der Fall: Er gab ein Bild völliger Gelassenheit ab und schien mit der Situation keine Probleme zu haben. Starling war misstrauisch.
„Es tut mir Leid, Sir, aber ihr Bedauern scheint mir ein wenig unaufrichtig“, wandte Clarice sich schließlich wieder an ihn. Lecters Augen schienen zu lachen. „Warum machen Sie es mir nicht leichter, Ihnen zu glauben und erzählen mir, wo Sie in den Mordnächten waren?“
Nun schien Hannibal Lecter erst recht amüsiert zu sein. Er gab ein leises, kaum hörbares Lachen von sich. Starling war überrascht festzustellen, dass ihr sein Lachen gefiel. „Oh, Clarice! Darf ich Sie Clarice nennen? Sehr schön. Ich muss zugeben, dass es eine wahre Freude ist mit Ihnen zu sprechen. So erfrischend ehrlich und unverblümt. Und so herrlich manipulativ. Bravo, Clarice!“
Lecter sah sie eindringlich an und lächelte. „Was meinen Aufenthaltsort während der Morde angeht, so kann ich Ihnen da aus dem Stehgreif leider nicht weiterhelfen. Ich bin ein sehr beschäftigter Mann, meine Hobbies nehmen mich ziemlich in Anspruch.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause und zwinkerte ihr wieder zu. „Aber wenn ich dran denke, werde ich meinen Terminkalender mal überprüfen. Vielleicht sollten Sie in ein Paar Tagen noch einmal wiederkommen, Clarice?“
Starling warf ihm einen irritierten Blick zu. „Es freut mich, dass sie so außergewöhnlich kooperationsbereit sind, Dr. Lecter“, sagte sie mit deutlich wahrnehmbarer Ironie in der Stimme. „Aber warum können Sie das nicht gleich überprüfen? Ich habe die Daten gleich hier in meiner Tasche, und Ihr Terminkalender liegt direkt vor Ihnen.“
Dr. Lecter schien erfreut zu sein. „Ah, bissig sind Sie auch noch. Wirklich entzückend“, sagte der Doktor, während er sich mit einer Hand kurz über den Mund fuhr, um ein Lächeln zu verbergen. „Ich würde Ihnen ja wirklich gerne weiterhelfen, Clarice, aber ich bin leider heute zeitlich etwas eingespannt. In wenigen Stunden gebe ich ein Dinner für das Baltimorer Philharmonie Orchester. Das Fleisch, das ich heute Abend servieren möchte, ist recht schwierig zu handhaben und schnell ruiniert. Deshalb muss ich zeitig zu Hause sein – sonst muss ich eventuell noch selber auf die Jagd gehen, um für Ersatz zu sorgen“, fuhr der Doktor in seinem freundlichsten Plauderton fort. Sein Lächeln wirkte seltsam bedrohlich.
Starling dachte kurz nach. Vielleicht war es gar nicht das Schlechteste, den Doktor in ein Paar Tagen noch einmal aufzusuchen. Sollte er wirklich der Täter sein, überlegte sie, wäre es gut, wenn er sich beobachtet fühlen würde. Das könnte ihn zu einem Fehler verleiten.
Clarice nickte ihm freundlich zu. „In Ordnung, Dr. Lecter. Da dies ja kein formelles Verhör ist, steht es Ihnen natürlich frei, unser Gespräch auf ein anderes Mal zu verschieben. Im Laufe der Woche werde ich mich einfach erneut bei Ihnen melden – auch wenn ich noch nicht genau sagen kann, wann das sein wird. Ich hoffe, Sie werden einen schönen Abend mit Ihren Gästen verbringen, Doktor!“ Starling erhob sich und Griff nach Ihrer Handtasche. Auch Dr. Lecter stand auf und ging zur Tür, die er für die junge Agentin aufhielt.
„Vielen Dank für Ihr Verständnis, Clarice. Ich werde Sie noch zu Ihrem Auto begleiten, wenn es Ihnen Recht ist“, sagte Dr. Lecter zuvorkommend.
Als Clarice wieder in ihrem Wagen saß und sich auf dem Weg nach Quantico befand, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, etwas wichtiges übersehen zu haben.