The Permission To Die
von Mikie
Kurzbeschreibung
[Nikki Sixx; Mötley Crüe] Selbstzerstörung fing damit an, dass man sich selbst nicht mehr im Spiegel erkannte und zu einem Schatten der eigenen Existenz wurde. Doch dieses Level hatte der Bassist schon lange überschritten und deswegen galt es kaum noch, etwas zu beweisen. Auf der Höllenfahrt ins trostlose Nichts hatte ihm nur immer sein Wunsch nach dem schönen Leben geholfen, der gleichauf wog mit dem zu sterben und die gedachte Tatsache, dass ohnehin niemand um ihn trauern würde, sollte er umkommen. Aber: Er wusste es nicht. Nicht wirklich. Wusste nun aber noch viel weniger, als er neben seinem leblosen Körper stand und auf sich selbst hinab sah.
GeschichteDrama, Mystery / P18 / Gen
25.11.2011
25.11.2011
1
3.337
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Fuer Fabi.
- - -
Um Heroin aufzukochen, bedurfte es nicht viel. Ein kleiner Teelöffel und ein Feuerzeug reichten für gewöhnlich vollkommen aus. Dazu ein paar Tropfen Zitronensaft und das ganze Gemisch mit dem halluzinogenem Pulver erhitzen und man war auf dem besten Wege, wieder einmal der Realität entfliehen zu können. Manchmal verglich er es mit dem Kaufen eines Zugtickets, wenn er aus Los Angeles raus fuhr, um den Kopf frei zu bekommen. Obwohl nichts auf ihn wartete, nichts irgendwie auch nur ansatzweise besser werden würde, bereitete ihm allein das Kaufen des Tickets Freude. Löste ein angenehmes Kribbeln in seinen Fingerspitzen aus, wenn er über das steife Papier fuhr und verspielt versuchte, die gedruckten Buchstaben wegzukratzen.
Wenn es gelang, war es Realität.
Wenn nicht, hatte er ein Delirium.
Wenn nur ein Buchstabe verschwand, dann hatte er ein Delirium in der Realität und saß bereits im Zug. Mit Druckerschwärze unter dem Fingernagel. Starrte auf die Landschaften, die an seinem Auge vorbei rasten und dennoch keinen Sinn ergaben, ihm nicht sagten, wo er sich befand. Die Horizontlinie verschob sich mit jedem Kilometer mehr und er wusste, es würde nicht mehr lange dauern, und das Grün, dieses leuchtende Grün der Wiesen, würde sich auftun, wie eine eitrige Wunde und platzend in den Himmel ergießen. Vielleicht war das auch so. Vielleicht ging die Sonne abends nicht unter, sondern einzig das Auge der Welt lief aus, tropfend und verdunkelte alles.
Für ihn ergab das Sinn.
Klirrend fiel der Löffel zu Boden, laut und scheppernd. Auf den Fließen unter sich hatte er kaum Halt mit seinen Füßen und deswegen lehnte er sich an die Rückwand des Küchentresens. Er könnte es auch in seinem Schlafzimmer aufkochen, aber er hatte Angst, jemanden durch das offen stehende Fenster anzulocken. Erst gestern hatte er wieder jemanden in seinem Garten gesehen, hinter den Büschen. Funklende Augen, die ihn anstarrten, Schritte auf der trocknen Erde. Sie wollten ihn ausrauben, umbringen vielleicht auch - er kannte ihre Beweggründe nicht. Er hatte sein Geld in der Decke im Zweiten Stock versteckt. Es hatte lange gedauert, bis er sich überhaupt dazu aufraffen konnte, es aus seinem ursprünglichem Versteck zu holen, aber die aktuellen Umstände und die ständigen Einbrecher ließen ihm keine andere Wahl.
Wenn er es suchte, um Jason zu bezahlen, dann musste er zuerst die Lampe abnehmen, die verstaubt und voller Spinnenkadaver war. Die Glühbirne in der Fassung war schon lange kaputt. In dem Glaskörper flogen die restlichen Metallstücken umher und wenn die Lampe dann endlich abgebaut war, befand sich in der Decke ein Loch.
Groß genug für seine Hand, die er dann nur nach links bewegen musste, manchmal ein empörtes Quieken der Ratten hören konnte, wenn seine Finger wie Pilger das Plastik entfernten und er hoffte sogar, sie würden ihn beissen. Ihm die Pest oder ähnliches schenken. Es geschah nur nie.
Der Duft von Zitronentee lag in der Luft.
Jason hatte ihm erzählt, dass er früher das Kokain mit Zitronenpulver gestreckt hatte. Das bilige Zeug aus der Apotheke, was abartig sauer schmeckte und man wahrlich keinen Unterschied merkte. Das Geschäft war besser gelaufen, als mit den üblichen Streckmitteln, doch irgendwann gab es den Tee nicht mehr und ihn zu importieren war zu teuer. Eine andere Sorte hatte sich schlecht verkauft, seine Kunden waren misstrauisch geworden und er hatte wieder den Umschwung zum Backpulver gewagt.
Seitdem Jason ihm das erzählt hatte, traute er ihm nicht mehr; hatte aber noch größere Angst davor, von ihm nichts mehr zu bekommen.
Seine Finger fuhren durch die erhitzte Flüssigkeit und sofort schnellte eine Salve an Schmerz durch seinen Körper. Verbrüht, schoss es ihm durch den Kopf, wie dieses ganze, abgefuckte, beschissene Dasein. Er kicherte wie im Wahn, warf nun das Feuerzeug neben sich und langte nach dem kleinen Stoffbeutel.
Ein Türklopfen ließ ihn aufschrecken. Seine Muskeln verkrampften sich kurz.
"Nikki?"
Die Klingel wurde gedrückt; er konnte es hören, doch es folgte kein Klingeln. Nur das Betätigen war vernehmbar.
Er sagte nichts, hörte nun wieder das leise Brodeln des Zitronensaftes und des Heroins. Gelblich aber dennoch transparent.
Heroin war umgangssprachlich; ein griechisches Kunstwort. Hatte er zumindest gelesen, in einem dieser Magazine, die Vanity ihm manchmal daließ und anscheinend hofte, ihn damit ein wenig zu beschäftigen. Er hatte irgendwann seine Handfeuerwaffe unter den Stapel gelegt, als sie die alten Magazine wieder austauschen wollte und seitdem gab es keine neuen Zeitungen mehr.
"Gott verdammt, mach auf, Nikki! Ich weiß, dass du da bist!"
Langsam glitten seine Finger unter den weichen Stoff und umfassten nun einen länglichen, zylindrischen Gegenstand. Glas war es, welches kalt von seinen Fingerspitzen berührt wurde und nichts an Wärme erhielt. Vorsichtig zog er die Spritze nun heraus, musterte die glänzende Spitze, starrte fast wie hypnotisiert darauf und drückte auf den Kolben.
"Ich hasse dich. Hörst du das? Ich hasse dich!"
Die Luft entwich nur langsam, aber mit einem vertrautem Zischen. Der Duft von Zitrone ließ nach und nun kamen wieder kleine olfaktorische Eindrücke auf ihn zu. Fauliger Tee, alter Kaffeesatz auf dem Boden, auf dem er saß. Irgendwo klebte süßer Sirup von dem Tage, als er sich Pancakes hatte machen wollten und versehentlich die Flasche mit in die Bratpfanne geworfen hatte. Er hatte gedacht, es würde schneller gehen und zu seinem Glück war er ins Wohnzimmer gegangen, denn wenig später war die Flasche explodiert.
Er hatte die dennoch gegessen, für Vanity ein paar aufgehoben und sie hatte danach Blut gespuckt, während er Magenkrämpfe bekommen hatte und wusste, es kam von den Glassplittern im Teig.
"Nikki... mach auf... bitte...." Sie war zu einem Flehen übergegangen, welches nicht ungehörter bleiben konnte.
Die Spritze füllte sich mit der Flüssigkeit und als er auf den Inhalt starrte, spürte er seine Hand zittern. Dann beruhigte sie sich wieder und ein rasches Lächeln huschte über seine Lippen.
Vorfreude.
Sie erfüllte alles in ihm, ließ sein Blut abwechselnd schnell und langsam fließen und Spucke in seinem Mund zusammen laufen. Seine Unterlippe bebte, wurde von seinen Zähnen zerbissen und tief Luft holend, schloss er die Augen für einen Moment.
"Blödes Arschloch!"
Er wollte ihr entgegen schreien, sie solle verschwinden. Doch dann entsann er sich daran, noch gar nichts gesagt zu haben und deswegen wollte er es dabei belassen. Hatte er heute überhaupt schon gesprochen? Jason hatte ihm gestern Abend das Heroin gebracht. Gestern hatte er nur Kokain zu sich genommen und einen dämlichen Film im Nachtprogramm gesehen. Vanity war kurz da gewesen, hatte sich eine Nase voll Koks geholt und wieder verschwunden.
Nicht, ohne ihn zu beschimpfen. Ihn zu küssen. Ihm gegen den Kopf zu schlagen, so dass er auf den Couchtisch geknallt war und für einen Augenblick sogar echten Schmerz empfunden hatte, der das kleine, leichte Delirium für den Moment verschwinden ließ. An seiner Schläfe war eine Kerbe voll Blut, aufgekratzte, nahezu aufgeklappte Haut, die wieder zu bluten begonnen hatte. Sie hatte ihn nochmals geküsst, dann grob im Schritt gepackt und er hatte sie angespuckt und angebrüllt.
Verschwinde!
Hau ab! Geh weg, verdammt!
Irgendwo im Wohnzimmer klingelte das Telefon.
Lasst mich.
"Ich gehe! Ich komme nie wieder!" Wieder klang sie wütend und er hörte sie gegen die Tür treten. Im Inneren des Hauses bebte es.
Fahr zur Hölle, Dreckstück.
Findig drückte er nun die Spritze auf die Ader und leerte den Kolben in wenigen Sekunden. Bereits jetzt fing seine Haut Feuer, erboste sich aufgrund der offensichtlichen Misshandlung. Grob stach die Spitze durch die Epidermis, ergoß den Inhalt in seine Venen und nun brannte auch sein Arm.
Als hätte er sich Lava in die Adern gepresst, begann alles in ihm zu brodeln. Er konnte die Spur des Heroins verfolgen, wie es durch seinen Körper preschte, nahezu jagte und wie von einer haltlosen Zerstörungswut gepackt, ihn nun nach hinten fallen ließ. Sein Körper wurde schwer, gab dem Gefühl des Fallens nach und ein grollendes Geräusch bildete sich in seinem Rachen. Zuerst hörte er es nur in seinem Kopf, doch er wusste - es war Gelächter.
Unter seinen Fingern, die nun die Spritze fallen gelassen hatten, lungerte noch mehr Dreck. Kaffeepulver, alte Schokolade, verschimmeltes Brot und ein weiches Stück Stoff einer blutverkrusteten Mullbinde. Er versuchte sich auf den an dem Mull klebenden Eiter zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht.
Er fiel.
Fiel, obwohl er eigentlich nicht mehr tiefer fallen konnte. Er schlug hart auf den steinernen Boden, hörte einen Satz Zähne in seinem Kiefer locker schlagen, spürte ein vertrautes Pochen in seinem Schädel; wie aus einer Narkose erwacht und konnte das Blut in seinen Kopf pulsieren spüren. Laut tropften einige rote Tränen auf den Stein. Er spuckte, spie, aber kein Laut entdrang seiner Kehle.
Nicht einmal lachen konnte er noch.
"Versager."
Hektisch drehte er sich um, konnte Tommy hören, aber nichts richtig verstehen. Oder aber, er wollte es einfach nicht verstehen. Sein Kopf dröhnte noch immer, in seinem Mund lungerte der Geschmack von Metall. Als seine Finger über den Boden huschten, trafen sie plötzlich auf die Spritze.
Er wusste, er war nicht gefallen. Aber er wollte es.
Wieder drückte er sich die Spritze in den Arm, verfehlte die Ader und traf auf den Muskel. Der Beuger zuckte auf, presste die Nadel noch tiefer in seine Vene, die nun aufplatzte und Blut seinen Arm hinab beförderte. Nass und kalt wurde es, ihm wurde ein wenig anders und dennoch wuchs die Panik, war noch immer da. Er war sich irgendwie sicher, zu sterben. Genau jetzt, genau hier. Mit dem Heroin hätte er schon lange aufhören sollen, denn es zerstörte sein kaputtes Dasein nur noch mehr. Riss ihn von den Füßen, beförderte ihn schon seit einer geraumen Zeit nicht mehr auf einen Trip ins Glück und in die Sorglosigkeit. Eher glich jede Fahrt seiner persönlichen Hölle, ausgeschmückt mit warnenden Fanfaren, dunklen Schatten in den Ecken und dem Geruch vom Tod in der Nase.
"Du bringst dich um. Das weisst du, nicht wahr?"
Er erkannte die Stimme nicht, aber wusste, dass die Worte nicht aktuell waren. Durch seinen vernebelten Geist schwammen sie, wie ein Regenwurm in einer dicken Suppe aus Schlamm und er schluckte. Spürte, wie die unsichtbaren Rasierklingen seine Luftröhre aufschnitten und immer weniger Luft zum leben blieb.
Im Gleichzug vermischt dem dem Wunsch, wirklich zu sterben. Bitter und süß zu gleichen Teilen. Ein Hämmern in seinem Hinterkopf, welches ihn warnen sollte. Die Fanfaren brüllten ihm ins Ohr, doch trotz all der Hilfe, sank er nach hinten.
Fiel nun wirklich in unsagbar dunkles Nichts.
Keine Bewegung, keine Luft.
Er war sich sicher, tot zu sein.
-
Nikki erinnerte sich an Abende, an denen er mit Vince und Tommy getrunken hatte. Gläser zerschellten auf dem Boden, als er sich tanzend erhob und brüllte, er wolle Party. Feiern, bis zum Umfallen. Eine Hand hatte ihn gepackt und grob wieder in die weichen, ausgefranzten Polster der Couch gezogen, die wie ein Käse von Brandlöchern überdeckt war. Wachs hatte er von einer Ecke gekratzt und dabei manisch gekichert. Vince hatte ihm irgendwann einen Becker voll Wasser gegeben, aber er spuckte alles auf den Boden. Schrie ihn an, ihm den guten Whiskey nicht zu verbergen und taumelte dann durch das Zimmer von Vince.
Sie hatten im Wohnzimmer gesessen, den Couchtisch voller leerer Flaschen, schimmligen, alten Plastikbechern mit nicht mehr definierbarem Inhalt und bei jedem Windstoß umher fliegende Blätter. Einige wiesen Kaffeeringe auf, Coladosen lungerten auf dem Boden herum und leere Jack Daniel's Flaschen schliefen in den Ecken. Unzählige Shirts und Hosen mit zerfetzten, abgelaufenen Hosenbeinen lagen verstreut im kompletten Raum und der Gestank von Erbrochenem, Urin und altem Schweiss, gemischt mit Ethanol und schlechtem Atem. Ein Mensch mit Ästhetik hätte sich vermutlich angewidert umgedreht und wäre davon gelaufen - doch sie rochen alle gleich. Nach innerlicher Verwesung, seelischem Verfall und einer unscheinbaren, stinkenden Verzweiflung, die ihre Gehirne schmelzen ließ.
Er war durch die Diele gestolpert, immer wieder hoch lachend und gegen den Türrahmen geknallt. Seine Armbeuge tat weh, aber in dem Moment wusste er nicht, weswegen und lief einfach weiter. In der Küche dann, stellte er sich an die Spüle und drehte das Wasser auf. Hinter sich konnte er Tommy durch den Flaschendschungle laufen hören, kurze Worte von Vince folgten.
"Eh, Nikki... was' machst'n?" Der Drummer kam mit verschleiertem Blick in der Küche an, sah zu ihm und blinzelte mit einem süffisantem Lächeln auf den Lippen. Dann rülpste er und kicherte nun auch, spuckte auf den Boden.
Nikki starrte in das Becken, sah, wie es sich mit Wasser füllte und wartete darauf, dass es über den Rand kam.
"Tommy, kannst du schwimmen?"
"Huh?"
"Kannst du schwimmen, man?"
Nachdenklich fuhr Angesprochener sich durch das Gesicht, überlegte scheinbar kurz. "Keine Ahnung, man... noch nie probiert. Warum?"
"Ich auch nicht." Er sah nun die erste Flut über das Becken fließen. "Wir könnten also ertrinken." Laut plätscherte das Wasser auf den Boden und fragend hatte nun auch Vince sich erhoben. Stand wenig später im Türrahmen und fauchte wütend zu dem Bassisten, der in einer immer größer werdenden Pfütze stand und auf die Spüle starrte.
"Spinnst du, Nikki? Stell das verfluchte Wasser ab!", brüllte er dann, versuchte an Tommy vorbei zu kommen, der irgendwie diagonal im Türrahmen hing und nun still war. Doch Nikki bewegte sich nicht, starrte noch immer abwesend auf das Wasser und grinste ein wenig.
"Wir könnten so leicht sterben, Vince. So leicht, weil wir nicht einmal wissen, ob wir schwimmen können..." Seine Worte verloren sich und wie hypnotisiert starrte er auf das Wasser. Sein Bandkollege lachte nur, abfällig und trocken.
"In der verdammten Spüle?!" Ein Kopfschütteln und er presste sich nun an dem Drummer vorbei, ging zur Spüle und stellte das Wasser ab. Sah nun zu seinem Freund, von Alkohol im Blut keine Spur mehr. "Verpiss' dich, Nikki."
"Los, komm!", meinte dieser jedoch und langte nach dessen Arm, zog ihn mit auf den Boden. Das Gesicht in den nassen, aufgeschwemmten Teppich gedrückt, ein kurzes Keuchen und dann lautes Fluchen.
Doch er hörte es nicht. Spürte die Kühle an seinen Wangen und hatte das Gefühl, auf dem Wasser zu liegen.
Er würde ertrinken, wenn er sich bewegte.
Es war ein Nervenkitzel. Ein Spiel, erdacht mit seinen Regeln. Er war seine eigene Spielfigur.
Die Würfel waren schon vor langer Zeit gefallen und Stück für Stück, Feld für Feld, trabte er auf den Abgrund zu.
-
Das Aufwachen aus dem Delirium war mitunter das Schlimmste. Der Kopf drehte kleine Filme, die keinen kausalen Zusammenhang hatten, im Magen tanzten Spinnen mit spitzen Füßen abartige Stile, die ihn würgen ließen. Sein Hals schien wie angeschwollen, die Schlagader trat aus dem Aderbett und wirkte wie angeklebt. Die Venen pochten so laut, dass er es in seinem Kopf hören konnte. Immer wieder.
Du-dum. Du-dum.
Es konnte bis zu einer Stunde dauern, bis er in der Lage war, sich zu erheben. Manchmal auch länger, besonders, wenn er sich abends etwas gespritzt hatte und dabei vergaß, zu essen. Dann lagen in seinem Schoß die Reste eines rohen Hühnchens, die mit ehemaligen Federbetten und Talg gesprenkelte Haut des Tieres und einzelne, rote Muskelfasern. Abgezogene Federstücken, Knochen und dennoch hatte er nicht viel gegessen. Ihm war übel, jedes Mal und mit einem Knurren und einem Grollen erhob er sich. Jedes Körperteil schmerzte auf, jaulte vor Pein auf. Die Fingernägel waren blutig gebissen oder gekratzt und wenn er zur Wand starrte, wusste er, es war letzteres.
So war es bisher gewesen. Oft.
Doch nun schien er nicht erwachen zu können.
Sein Kopf war schwer, wie mit Blei gefüllt und ihm war, als würde etwas sein Gehirn durch einen Mixer drehen. Runde für Runde, ihm dabei die besten Plätze reserviert zu haben.
Wieder folgte ein Klopfen. Er hatte das Gefühl, es war nicht das erste.
Mit tränenden Augen sah er auf, starrte zur Tür und konnte dennoch keinen Ton sagen. Er schmeckte Blut auf seinen Lippen, getrocknet. Dann war es plötzlich wieder weg. Nie da gewesen.
"Nikki? Hey, buddy... alles okay?" Tommy.
Kein Ton entwich ihm und er hatte das Gefühl, sich fremd zu sein. Neben sich zu stehen.
"Nikki ich... hier ist ein Co-... Polizist und der bricht deine Tür gleich auf, wenn du nicht von selbst aufmachst. Du bist schon seit drei Tagen da drin, man." Ein Stimmengewirr vor der Tür, ein paar Schritte, die sich entfernten und wieder ein Flehen.
Er wollte antworten. Wollte schreien 'Hey, Tommy! Ich bin hier! Ich kann nur gerade nicht aufstehen', aber nicht einmal das konnte er. Seine Zunge war gelähmt, sein Körper steif. Er spürte kein Kribbeln in den Fingerspitzen, gar nichts. Nur eine drückende Leere, die in seinem Kopf begann und in den Zehenspitzen endete.
Ein ungutes Gefühl oder eine Vorahnung beschlich ihn.
"Nikki, nun mach schon..."
"Gehen Sie beiseite!"
"Warten Sie, er wird schon noch aufmachen!"
Würde er nicht.
Konnte er nicht.
Denn er stand plötzlich wirklich neben sich, starrte auf seinen leblosen, mageren Körper hinab, der an dem Küchentresen lehnte. Irgendwie deplatziert, wie eine Art Dreckklumpen umgeben von schönen Blumen. Die Augen weit aufgerissen, leer und ein Speichelfaden hing von seinem Kinn hinab, pendelte zu seinem Shirt, welches übersät war von Flecken. Seine Arme lagen neben ihm, wie die Glieder einer Stoffpuppe - schräg verzerrt und abstrakt und sein Kopf ruhte ein wenig auf der Schulter, fast schon den Eindruck vermittelnd, er würde einfach nur schlafen.
Wäre da nicht dieser leblose, traurige Ausdruck in seinen Augen, der so echt wirkte.
Nikki sah seinen eigenen Tod. Stand neben sich und starrte auf sich hinab.
Die Tür wurde nun mit einem lauten, brachialem Stoß aufgemacht. Das Schloss zersprang in seine Einzelteile und im ersten Moment wollte er schreien, sie sollten verschwinden, aber er konnte nicht.
"Nikki?" Wieder Tommy's Stimme, die sich suchend durch das Wohnzimmer schlich und nur noch wenige Schritte von der Küche entfernt war. Er wusste nicht, ob er unsichtbar war, ob er wirklich existierte, so... neben sich stehend, aber er wusste eines:
Es war zu spät.
"Hey, Nik. Was..." Die Distanz zwischen seinem leblosen Körper und Tommy's wurde kleiner. In Sekunden hatte der Drummer sich neben ihn gehockt und schien zu schreien. Aus Leibeskräften, zerrte an seinem Arm und riss an seinem Shirt. Die Spritze neben seinen Füßen und das Feuerzeug wurden von seinen schweren Schritten getreten und hinter ihm tauchte der Polizist auf. Er starrte regungslos, nahezu unberührt auf den Körper, der noch immer so deplatziert schien, neben Tommy aber eine Art komplettes Gebilde wurde.
Kaputt.
Irgendwie einfach nur kaputt.
Nikki konnte nichts hören. Der Ton war abgestellt und verwandelte sich in ein beständiges Rauschen, welches durch sein Haus dröhnte.
Tommy saß noch immer auf dem Boden. Sein Gesicht nun auf der Brust des Bassisten liegend. Seine Schultern bebten, er warf immer wieder den Kopf in den Nacken und brüllte aus Leibeskräften - aber noch immer konnte er keinen Ton hören. Der Polizist sprach etwas in sein riesiges Funkgerät, trat dann auf Tommy und seinen Körper zu und erhielt ein abwehrendes Händeschlagen von ihm. Es war bizarr, es war echt.
Die Trauer war so real, dass Nikki fast schon lachen wollte. Schreien wollte, wie wenig Tommy ihn doch gemocht hatte.
Heuchler!
Aber er schwieg und hätte wahrscheinlich ohnehin nichts sagen können.
Dann plötzlich, brach helles Licht über ihm zusammen, schien ihn zu verschlingen und er versuchte sich zu schützen.
Vergebens.
Etwas hinter seiner Magenwand riss an seinem Bauchnabel und zog ihn durch ein winziges Loch. Seine Arme schlugen wie Äste völlig steif an seinen so unscheinbar, unecht erscheinenden Körper und er schien sich zu drehen. Um sich selbst, über Kopf. Alles war verwirrend, aber ohne Farbe. Eine Spirale, die ins grenzenlose Nichts führte und ihm nahezu entgegen spie, ihn in das Dunkel zerrte, wovor er solche Angst hatte ...
tot.
Tot.
Versager, du bist tot, tot, tot...
-
„I feel the pressure letting go
From the very bottom of my soul
Flash your bone from the past
Light the ashes in the rain
And fade away ...“ *
- - -
(*)Dope - „My funeral“
- - -
The Permission To Die
Um Heroin aufzukochen, bedurfte es nicht viel. Ein kleiner Teelöffel und ein Feuerzeug reichten für gewöhnlich vollkommen aus. Dazu ein paar Tropfen Zitronensaft und das ganze Gemisch mit dem halluzinogenem Pulver erhitzen und man war auf dem besten Wege, wieder einmal der Realität entfliehen zu können. Manchmal verglich er es mit dem Kaufen eines Zugtickets, wenn er aus Los Angeles raus fuhr, um den Kopf frei zu bekommen. Obwohl nichts auf ihn wartete, nichts irgendwie auch nur ansatzweise besser werden würde, bereitete ihm allein das Kaufen des Tickets Freude. Löste ein angenehmes Kribbeln in seinen Fingerspitzen aus, wenn er über das steife Papier fuhr und verspielt versuchte, die gedruckten Buchstaben wegzukratzen.
Wenn es gelang, war es Realität.
Wenn nicht, hatte er ein Delirium.
Wenn nur ein Buchstabe verschwand, dann hatte er ein Delirium in der Realität und saß bereits im Zug. Mit Druckerschwärze unter dem Fingernagel. Starrte auf die Landschaften, die an seinem Auge vorbei rasten und dennoch keinen Sinn ergaben, ihm nicht sagten, wo er sich befand. Die Horizontlinie verschob sich mit jedem Kilometer mehr und er wusste, es würde nicht mehr lange dauern, und das Grün, dieses leuchtende Grün der Wiesen, würde sich auftun, wie eine eitrige Wunde und platzend in den Himmel ergießen. Vielleicht war das auch so. Vielleicht ging die Sonne abends nicht unter, sondern einzig das Auge der Welt lief aus, tropfend und verdunkelte alles.
Für ihn ergab das Sinn.
Klirrend fiel der Löffel zu Boden, laut und scheppernd. Auf den Fließen unter sich hatte er kaum Halt mit seinen Füßen und deswegen lehnte er sich an die Rückwand des Küchentresens. Er könnte es auch in seinem Schlafzimmer aufkochen, aber er hatte Angst, jemanden durch das offen stehende Fenster anzulocken. Erst gestern hatte er wieder jemanden in seinem Garten gesehen, hinter den Büschen. Funklende Augen, die ihn anstarrten, Schritte auf der trocknen Erde. Sie wollten ihn ausrauben, umbringen vielleicht auch - er kannte ihre Beweggründe nicht. Er hatte sein Geld in der Decke im Zweiten Stock versteckt. Es hatte lange gedauert, bis er sich überhaupt dazu aufraffen konnte, es aus seinem ursprünglichem Versteck zu holen, aber die aktuellen Umstände und die ständigen Einbrecher ließen ihm keine andere Wahl.
Wenn er es suchte, um Jason zu bezahlen, dann musste er zuerst die Lampe abnehmen, die verstaubt und voller Spinnenkadaver war. Die Glühbirne in der Fassung war schon lange kaputt. In dem Glaskörper flogen die restlichen Metallstücken umher und wenn die Lampe dann endlich abgebaut war, befand sich in der Decke ein Loch.
Groß genug für seine Hand, die er dann nur nach links bewegen musste, manchmal ein empörtes Quieken der Ratten hören konnte, wenn seine Finger wie Pilger das Plastik entfernten und er hoffte sogar, sie würden ihn beissen. Ihm die Pest oder ähnliches schenken. Es geschah nur nie.
Der Duft von Zitronentee lag in der Luft.
Jason hatte ihm erzählt, dass er früher das Kokain mit Zitronenpulver gestreckt hatte. Das bilige Zeug aus der Apotheke, was abartig sauer schmeckte und man wahrlich keinen Unterschied merkte. Das Geschäft war besser gelaufen, als mit den üblichen Streckmitteln, doch irgendwann gab es den Tee nicht mehr und ihn zu importieren war zu teuer. Eine andere Sorte hatte sich schlecht verkauft, seine Kunden waren misstrauisch geworden und er hatte wieder den Umschwung zum Backpulver gewagt.
Seitdem Jason ihm das erzählt hatte, traute er ihm nicht mehr; hatte aber noch größere Angst davor, von ihm nichts mehr zu bekommen.
Seine Finger fuhren durch die erhitzte Flüssigkeit und sofort schnellte eine Salve an Schmerz durch seinen Körper. Verbrüht, schoss es ihm durch den Kopf, wie dieses ganze, abgefuckte, beschissene Dasein. Er kicherte wie im Wahn, warf nun das Feuerzeug neben sich und langte nach dem kleinen Stoffbeutel.
Ein Türklopfen ließ ihn aufschrecken. Seine Muskeln verkrampften sich kurz.
"Nikki?"
Die Klingel wurde gedrückt; er konnte es hören, doch es folgte kein Klingeln. Nur das Betätigen war vernehmbar.
Er sagte nichts, hörte nun wieder das leise Brodeln des Zitronensaftes und des Heroins. Gelblich aber dennoch transparent.
Heroin war umgangssprachlich; ein griechisches Kunstwort. Hatte er zumindest gelesen, in einem dieser Magazine, die Vanity ihm manchmal daließ und anscheinend hofte, ihn damit ein wenig zu beschäftigen. Er hatte irgendwann seine Handfeuerwaffe unter den Stapel gelegt, als sie die alten Magazine wieder austauschen wollte und seitdem gab es keine neuen Zeitungen mehr.
"Gott verdammt, mach auf, Nikki! Ich weiß, dass du da bist!"
Langsam glitten seine Finger unter den weichen Stoff und umfassten nun einen länglichen, zylindrischen Gegenstand. Glas war es, welches kalt von seinen Fingerspitzen berührt wurde und nichts an Wärme erhielt. Vorsichtig zog er die Spritze nun heraus, musterte die glänzende Spitze, starrte fast wie hypnotisiert darauf und drückte auf den Kolben.
"Ich hasse dich. Hörst du das? Ich hasse dich!"
Die Luft entwich nur langsam, aber mit einem vertrautem Zischen. Der Duft von Zitrone ließ nach und nun kamen wieder kleine olfaktorische Eindrücke auf ihn zu. Fauliger Tee, alter Kaffeesatz auf dem Boden, auf dem er saß. Irgendwo klebte süßer Sirup von dem Tage, als er sich Pancakes hatte machen wollten und versehentlich die Flasche mit in die Bratpfanne geworfen hatte. Er hatte gedacht, es würde schneller gehen und zu seinem Glück war er ins Wohnzimmer gegangen, denn wenig später war die Flasche explodiert.
Er hatte die dennoch gegessen, für Vanity ein paar aufgehoben und sie hatte danach Blut gespuckt, während er Magenkrämpfe bekommen hatte und wusste, es kam von den Glassplittern im Teig.
"Nikki... mach auf... bitte...." Sie war zu einem Flehen übergegangen, welches nicht ungehörter bleiben konnte.
Die Spritze füllte sich mit der Flüssigkeit und als er auf den Inhalt starrte, spürte er seine Hand zittern. Dann beruhigte sie sich wieder und ein rasches Lächeln huschte über seine Lippen.
Vorfreude.
Sie erfüllte alles in ihm, ließ sein Blut abwechselnd schnell und langsam fließen und Spucke in seinem Mund zusammen laufen. Seine Unterlippe bebte, wurde von seinen Zähnen zerbissen und tief Luft holend, schloss er die Augen für einen Moment.
"Blödes Arschloch!"
Er wollte ihr entgegen schreien, sie solle verschwinden. Doch dann entsann er sich daran, noch gar nichts gesagt zu haben und deswegen wollte er es dabei belassen. Hatte er heute überhaupt schon gesprochen? Jason hatte ihm gestern Abend das Heroin gebracht. Gestern hatte er nur Kokain zu sich genommen und einen dämlichen Film im Nachtprogramm gesehen. Vanity war kurz da gewesen, hatte sich eine Nase voll Koks geholt und wieder verschwunden.
Nicht, ohne ihn zu beschimpfen. Ihn zu küssen. Ihm gegen den Kopf zu schlagen, so dass er auf den Couchtisch geknallt war und für einen Augenblick sogar echten Schmerz empfunden hatte, der das kleine, leichte Delirium für den Moment verschwinden ließ. An seiner Schläfe war eine Kerbe voll Blut, aufgekratzte, nahezu aufgeklappte Haut, die wieder zu bluten begonnen hatte. Sie hatte ihn nochmals geküsst, dann grob im Schritt gepackt und er hatte sie angespuckt und angebrüllt.
Verschwinde!
Hau ab! Geh weg, verdammt!
Irgendwo im Wohnzimmer klingelte das Telefon.
Lasst mich.
"Ich gehe! Ich komme nie wieder!" Wieder klang sie wütend und er hörte sie gegen die Tür treten. Im Inneren des Hauses bebte es.
Fahr zur Hölle, Dreckstück.
Findig drückte er nun die Spritze auf die Ader und leerte den Kolben in wenigen Sekunden. Bereits jetzt fing seine Haut Feuer, erboste sich aufgrund der offensichtlichen Misshandlung. Grob stach die Spitze durch die Epidermis, ergoß den Inhalt in seine Venen und nun brannte auch sein Arm.
Als hätte er sich Lava in die Adern gepresst, begann alles in ihm zu brodeln. Er konnte die Spur des Heroins verfolgen, wie es durch seinen Körper preschte, nahezu jagte und wie von einer haltlosen Zerstörungswut gepackt, ihn nun nach hinten fallen ließ. Sein Körper wurde schwer, gab dem Gefühl des Fallens nach und ein grollendes Geräusch bildete sich in seinem Rachen. Zuerst hörte er es nur in seinem Kopf, doch er wusste - es war Gelächter.
Unter seinen Fingern, die nun die Spritze fallen gelassen hatten, lungerte noch mehr Dreck. Kaffeepulver, alte Schokolade, verschimmeltes Brot und ein weiches Stück Stoff einer blutverkrusteten Mullbinde. Er versuchte sich auf den an dem Mull klebenden Eiter zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht.
Er fiel.
Fiel, obwohl er eigentlich nicht mehr tiefer fallen konnte. Er schlug hart auf den steinernen Boden, hörte einen Satz Zähne in seinem Kiefer locker schlagen, spürte ein vertrautes Pochen in seinem Schädel; wie aus einer Narkose erwacht und konnte das Blut in seinen Kopf pulsieren spüren. Laut tropften einige rote Tränen auf den Stein. Er spuckte, spie, aber kein Laut entdrang seiner Kehle.
Nicht einmal lachen konnte er noch.
"Versager."
Hektisch drehte er sich um, konnte Tommy hören, aber nichts richtig verstehen. Oder aber, er wollte es einfach nicht verstehen. Sein Kopf dröhnte noch immer, in seinem Mund lungerte der Geschmack von Metall. Als seine Finger über den Boden huschten, trafen sie plötzlich auf die Spritze.
Er wusste, er war nicht gefallen. Aber er wollte es.
Wieder drückte er sich die Spritze in den Arm, verfehlte die Ader und traf auf den Muskel. Der Beuger zuckte auf, presste die Nadel noch tiefer in seine Vene, die nun aufplatzte und Blut seinen Arm hinab beförderte. Nass und kalt wurde es, ihm wurde ein wenig anders und dennoch wuchs die Panik, war noch immer da. Er war sich irgendwie sicher, zu sterben. Genau jetzt, genau hier. Mit dem Heroin hätte er schon lange aufhören sollen, denn es zerstörte sein kaputtes Dasein nur noch mehr. Riss ihn von den Füßen, beförderte ihn schon seit einer geraumen Zeit nicht mehr auf einen Trip ins Glück und in die Sorglosigkeit. Eher glich jede Fahrt seiner persönlichen Hölle, ausgeschmückt mit warnenden Fanfaren, dunklen Schatten in den Ecken und dem Geruch vom Tod in der Nase.
"Du bringst dich um. Das weisst du, nicht wahr?"
Er erkannte die Stimme nicht, aber wusste, dass die Worte nicht aktuell waren. Durch seinen vernebelten Geist schwammen sie, wie ein Regenwurm in einer dicken Suppe aus Schlamm und er schluckte. Spürte, wie die unsichtbaren Rasierklingen seine Luftröhre aufschnitten und immer weniger Luft zum leben blieb.
Im Gleichzug vermischt dem dem Wunsch, wirklich zu sterben. Bitter und süß zu gleichen Teilen. Ein Hämmern in seinem Hinterkopf, welches ihn warnen sollte. Die Fanfaren brüllten ihm ins Ohr, doch trotz all der Hilfe, sank er nach hinten.
Fiel nun wirklich in unsagbar dunkles Nichts.
Keine Bewegung, keine Luft.
Er war sich sicher, tot zu sein.
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Nikki erinnerte sich an Abende, an denen er mit Vince und Tommy getrunken hatte. Gläser zerschellten auf dem Boden, als er sich tanzend erhob und brüllte, er wolle Party. Feiern, bis zum Umfallen. Eine Hand hatte ihn gepackt und grob wieder in die weichen, ausgefranzten Polster der Couch gezogen, die wie ein Käse von Brandlöchern überdeckt war. Wachs hatte er von einer Ecke gekratzt und dabei manisch gekichert. Vince hatte ihm irgendwann einen Becker voll Wasser gegeben, aber er spuckte alles auf den Boden. Schrie ihn an, ihm den guten Whiskey nicht zu verbergen und taumelte dann durch das Zimmer von Vince.
Sie hatten im Wohnzimmer gesessen, den Couchtisch voller leerer Flaschen, schimmligen, alten Plastikbechern mit nicht mehr definierbarem Inhalt und bei jedem Windstoß umher fliegende Blätter. Einige wiesen Kaffeeringe auf, Coladosen lungerten auf dem Boden herum und leere Jack Daniel's Flaschen schliefen in den Ecken. Unzählige Shirts und Hosen mit zerfetzten, abgelaufenen Hosenbeinen lagen verstreut im kompletten Raum und der Gestank von Erbrochenem, Urin und altem Schweiss, gemischt mit Ethanol und schlechtem Atem. Ein Mensch mit Ästhetik hätte sich vermutlich angewidert umgedreht und wäre davon gelaufen - doch sie rochen alle gleich. Nach innerlicher Verwesung, seelischem Verfall und einer unscheinbaren, stinkenden Verzweiflung, die ihre Gehirne schmelzen ließ.
Er war durch die Diele gestolpert, immer wieder hoch lachend und gegen den Türrahmen geknallt. Seine Armbeuge tat weh, aber in dem Moment wusste er nicht, weswegen und lief einfach weiter. In der Küche dann, stellte er sich an die Spüle und drehte das Wasser auf. Hinter sich konnte er Tommy durch den Flaschendschungle laufen hören, kurze Worte von Vince folgten.
"Eh, Nikki... was' machst'n?" Der Drummer kam mit verschleiertem Blick in der Küche an, sah zu ihm und blinzelte mit einem süffisantem Lächeln auf den Lippen. Dann rülpste er und kicherte nun auch, spuckte auf den Boden.
Nikki starrte in das Becken, sah, wie es sich mit Wasser füllte und wartete darauf, dass es über den Rand kam.
"Tommy, kannst du schwimmen?"
"Huh?"
"Kannst du schwimmen, man?"
Nachdenklich fuhr Angesprochener sich durch das Gesicht, überlegte scheinbar kurz. "Keine Ahnung, man... noch nie probiert. Warum?"
"Ich auch nicht." Er sah nun die erste Flut über das Becken fließen. "Wir könnten also ertrinken." Laut plätscherte das Wasser auf den Boden und fragend hatte nun auch Vince sich erhoben. Stand wenig später im Türrahmen und fauchte wütend zu dem Bassisten, der in einer immer größer werdenden Pfütze stand und auf die Spüle starrte.
"Spinnst du, Nikki? Stell das verfluchte Wasser ab!", brüllte er dann, versuchte an Tommy vorbei zu kommen, der irgendwie diagonal im Türrahmen hing und nun still war. Doch Nikki bewegte sich nicht, starrte noch immer abwesend auf das Wasser und grinste ein wenig.
"Wir könnten so leicht sterben, Vince. So leicht, weil wir nicht einmal wissen, ob wir schwimmen können..." Seine Worte verloren sich und wie hypnotisiert starrte er auf das Wasser. Sein Bandkollege lachte nur, abfällig und trocken.
"In der verdammten Spüle?!" Ein Kopfschütteln und er presste sich nun an dem Drummer vorbei, ging zur Spüle und stellte das Wasser ab. Sah nun zu seinem Freund, von Alkohol im Blut keine Spur mehr. "Verpiss' dich, Nikki."
"Los, komm!", meinte dieser jedoch und langte nach dessen Arm, zog ihn mit auf den Boden. Das Gesicht in den nassen, aufgeschwemmten Teppich gedrückt, ein kurzes Keuchen und dann lautes Fluchen.
Doch er hörte es nicht. Spürte die Kühle an seinen Wangen und hatte das Gefühl, auf dem Wasser zu liegen.
Er würde ertrinken, wenn er sich bewegte.
Es war ein Nervenkitzel. Ein Spiel, erdacht mit seinen Regeln. Er war seine eigene Spielfigur.
Die Würfel waren schon vor langer Zeit gefallen und Stück für Stück, Feld für Feld, trabte er auf den Abgrund zu.
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Das Aufwachen aus dem Delirium war mitunter das Schlimmste. Der Kopf drehte kleine Filme, die keinen kausalen Zusammenhang hatten, im Magen tanzten Spinnen mit spitzen Füßen abartige Stile, die ihn würgen ließen. Sein Hals schien wie angeschwollen, die Schlagader trat aus dem Aderbett und wirkte wie angeklebt. Die Venen pochten so laut, dass er es in seinem Kopf hören konnte. Immer wieder.
Du-dum. Du-dum.
Es konnte bis zu einer Stunde dauern, bis er in der Lage war, sich zu erheben. Manchmal auch länger, besonders, wenn er sich abends etwas gespritzt hatte und dabei vergaß, zu essen. Dann lagen in seinem Schoß die Reste eines rohen Hühnchens, die mit ehemaligen Federbetten und Talg gesprenkelte Haut des Tieres und einzelne, rote Muskelfasern. Abgezogene Federstücken, Knochen und dennoch hatte er nicht viel gegessen. Ihm war übel, jedes Mal und mit einem Knurren und einem Grollen erhob er sich. Jedes Körperteil schmerzte auf, jaulte vor Pein auf. Die Fingernägel waren blutig gebissen oder gekratzt und wenn er zur Wand starrte, wusste er, es war letzteres.
So war es bisher gewesen. Oft.
Doch nun schien er nicht erwachen zu können.
Sein Kopf war schwer, wie mit Blei gefüllt und ihm war, als würde etwas sein Gehirn durch einen Mixer drehen. Runde für Runde, ihm dabei die besten Plätze reserviert zu haben.
Wieder folgte ein Klopfen. Er hatte das Gefühl, es war nicht das erste.
Mit tränenden Augen sah er auf, starrte zur Tür und konnte dennoch keinen Ton sagen. Er schmeckte Blut auf seinen Lippen, getrocknet. Dann war es plötzlich wieder weg. Nie da gewesen.
"Nikki? Hey, buddy... alles okay?" Tommy.
Kein Ton entwich ihm und er hatte das Gefühl, sich fremd zu sein. Neben sich zu stehen.
"Nikki ich... hier ist ein Co-... Polizist und der bricht deine Tür gleich auf, wenn du nicht von selbst aufmachst. Du bist schon seit drei Tagen da drin, man." Ein Stimmengewirr vor der Tür, ein paar Schritte, die sich entfernten und wieder ein Flehen.
Er wollte antworten. Wollte schreien 'Hey, Tommy! Ich bin hier! Ich kann nur gerade nicht aufstehen', aber nicht einmal das konnte er. Seine Zunge war gelähmt, sein Körper steif. Er spürte kein Kribbeln in den Fingerspitzen, gar nichts. Nur eine drückende Leere, die in seinem Kopf begann und in den Zehenspitzen endete.
Ein ungutes Gefühl oder eine Vorahnung beschlich ihn.
"Nikki, nun mach schon..."
"Gehen Sie beiseite!"
"Warten Sie, er wird schon noch aufmachen!"
Würde er nicht.
Konnte er nicht.
Denn er stand plötzlich wirklich neben sich, starrte auf seinen leblosen, mageren Körper hinab, der an dem Küchentresen lehnte. Irgendwie deplatziert, wie eine Art Dreckklumpen umgeben von schönen Blumen. Die Augen weit aufgerissen, leer und ein Speichelfaden hing von seinem Kinn hinab, pendelte zu seinem Shirt, welches übersät war von Flecken. Seine Arme lagen neben ihm, wie die Glieder einer Stoffpuppe - schräg verzerrt und abstrakt und sein Kopf ruhte ein wenig auf der Schulter, fast schon den Eindruck vermittelnd, er würde einfach nur schlafen.
Wäre da nicht dieser leblose, traurige Ausdruck in seinen Augen, der so echt wirkte.
Nikki sah seinen eigenen Tod. Stand neben sich und starrte auf sich hinab.
Die Tür wurde nun mit einem lauten, brachialem Stoß aufgemacht. Das Schloss zersprang in seine Einzelteile und im ersten Moment wollte er schreien, sie sollten verschwinden, aber er konnte nicht.
"Nikki?" Wieder Tommy's Stimme, die sich suchend durch das Wohnzimmer schlich und nur noch wenige Schritte von der Küche entfernt war. Er wusste nicht, ob er unsichtbar war, ob er wirklich existierte, so... neben sich stehend, aber er wusste eines:
Es war zu spät.
"Hey, Nik. Was..." Die Distanz zwischen seinem leblosen Körper und Tommy's wurde kleiner. In Sekunden hatte der Drummer sich neben ihn gehockt und schien zu schreien. Aus Leibeskräften, zerrte an seinem Arm und riss an seinem Shirt. Die Spritze neben seinen Füßen und das Feuerzeug wurden von seinen schweren Schritten getreten und hinter ihm tauchte der Polizist auf. Er starrte regungslos, nahezu unberührt auf den Körper, der noch immer so deplatziert schien, neben Tommy aber eine Art komplettes Gebilde wurde.
Kaputt.
Irgendwie einfach nur kaputt.
Nikki konnte nichts hören. Der Ton war abgestellt und verwandelte sich in ein beständiges Rauschen, welches durch sein Haus dröhnte.
Tommy saß noch immer auf dem Boden. Sein Gesicht nun auf der Brust des Bassisten liegend. Seine Schultern bebten, er warf immer wieder den Kopf in den Nacken und brüllte aus Leibeskräften - aber noch immer konnte er keinen Ton hören. Der Polizist sprach etwas in sein riesiges Funkgerät, trat dann auf Tommy und seinen Körper zu und erhielt ein abwehrendes Händeschlagen von ihm. Es war bizarr, es war echt.
Die Trauer war so real, dass Nikki fast schon lachen wollte. Schreien wollte, wie wenig Tommy ihn doch gemocht hatte.
Heuchler!
Aber er schwieg und hätte wahrscheinlich ohnehin nichts sagen können.
Dann plötzlich, brach helles Licht über ihm zusammen, schien ihn zu verschlingen und er versuchte sich zu schützen.
Vergebens.
Etwas hinter seiner Magenwand riss an seinem Bauchnabel und zog ihn durch ein winziges Loch. Seine Arme schlugen wie Äste völlig steif an seinen so unscheinbar, unecht erscheinenden Körper und er schien sich zu drehen. Um sich selbst, über Kopf. Alles war verwirrend, aber ohne Farbe. Eine Spirale, die ins grenzenlose Nichts führte und ihm nahezu entgegen spie, ihn in das Dunkel zerrte, wovor er solche Angst hatte ...
tot.
Tot.
Versager, du bist tot, tot, tot...
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„I feel the pressure letting go
From the very bottom of my soul
Flash your bone from the past
Light the ashes in the rain
And fade away ...“ *
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(*)Dope - „My funeral“
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