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Beredetes Schweigen

von Oki-chan
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama / P12 / MaleSlash
10.10.2011
10.10.2011
1
4.306
 
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Dieses Kapitel
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10.10.2011 4.306
 
Einen schönen, guten Abend an alle, die das hier lesen^^


Titel: Beredetes Schweigen
Autorin: Oki-chan
Beta: Hairspray (Danke, meine Liebe^^)
Projekt: Niemals stattfindende Gespräche (http://forum.fanfiktion.de/t/11715/1)
Genre: Drama
Pairing: Fynn x Leo (OCs)
Rating: P 12-Slash

Summary: [Ausschnitt] „Leo“, erwiderst du kühl und ich lasse die Hand wieder sinken, ein stechender Schmerz in der linken Brustkorbhälfte – und ich habe es verdient, dass ich mich so... scheiße fühle, weil ich einfach verschwunden bin. Das Problem ist nur, auch ein halbes Jahr in den USA hat nichts genutzt, um etwas an dem zu ändern, was ich fühle... „Was willst du?“
„Mit dir reden?“ Keine Aussage, ganz eindeutig eine Frage. Vorsichtig. Herantastend. Unsicher, verdammt unsicher.

Widmung: Diesen OS widme ich meiner Beta Hairspray, die mir immer viel Arbeit gibt ;), und Jamuna, die mich immer wieder mit ihren Ideen motiviert!



Das hier ist, wie man wahrscheinlich unschwer erkennen kann, mein Beitrag zum Projekt "Niemals stattfindende Gespräch" - ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!!!^^



Beredetes Schweigen


Ich klingele an der Haustür. Einmal kurz, zweimal lang und dann noch einmal kurz. Unser Zeichen, ein Überbleibsel unserer vergangenen Kindheit. Lächerlich kindlich, kindisch, aber unser Erkennungszeichen, auch wenn schon so viele Jahre seitdem vergangen sind; es gehört einfach zu uns. Zu dir und mir. Die Jahre konnten daran nichts ändern.
Doch nicht du öffnest mir, stattdessen steht deine Mutter in Schürze und mit einem Kochlöffel bewaffnet vor mir. Ein Lächeln ziert ihr Gesicht, das allerdings nicht ihre Augen zu erreichen vermag, denn Verena ist mir böse. Kein Wunder, denn ich war lange nicht mehr hier, also schenke ich ihr ein entschuldigendes Lächeln. Und sie schließt mich in die Arme, ich winde mich in ihrer Umarmung und schließlich lässt sie mich wieder los.
„Eigentlich sollte ich dir böse sein, weil du dich so lange nicht mehr gemeldet hast“, rügt sie mich liebevoll, streicht mir über die Wange und gibt mir dann frech grinsend einen Klaps auf den Hintern. Doch in ihrer Stimme schwingt auch eine gewisse Melancholie mit... „Geh schon nach oben, der Racker wird dich erwarten...“
Ich nicke und gehe dann an ihr vorbei, nehme immer zwei Stufen auf einmal und wende mich dann nach rechts, die Hand noch immer auf dem Geländer. Die Tür zu deinem Zimmer auf der linken Seite am Ende des Flurs ist nur angelehnt und plötzlich steckt mir ein Kloß im Hals, lässt sich nicht hinunterschlucken, weil du keine sechs Meter von mir entfernt bist – ob es dir wohl gut geht? Aber was denke ich denn da?! Du liest wahrscheinlich staubtrockene Literatur, wie soll es dir da gut gehen?
Der Gedanke allein tut weh, denn ich habe immer gewollt, dass es dir gut ergeht. Doch ich brauchte etwas Abstand. Von unserem Heimatdorf. Meinem eintönigen Leben. Meiner spießigen Familie... und... von dir. Ja, auch von dir, um mir über etwas klarzuwerden, das mir schon lange im Kopf herumspukt: Meine Gefühle für dich.
Ja, wir sind Freunde, die besten sogar und so etwas sollte nicht passieren. Und doch ist es passiert. Ich kann es nicht ändern, denn auch der Abstand, räumlich und zeitlich, hat nichts genutzt. Meine Gefühle haben sich nicht geändert, sind die gleichen geblieben. Ich habe, um ehrlich zu sei, Angst vor ihnen. Angst davor, wie stark sie waren und wie viel stärker sie geworden sind. Niemand hat mich vorgewarnt und jetzt stehe ich hier, erstarrt, als habe man mich an den Boden geklebt. Als sei ich festgefroren. Doch es ist die pure Angst, die mich lähmt, weil ich einen Entschluss gefasst habe, der meine Knie schlottern lässt: Ich will ehrlich zu dir sein – und damit auch zu mir. Es endlich laut aussprechen, um aus der bloßen Fantasie Realität werden zu lassen – bin ich stark genug dafür?
Ich zerre meine Füße förmlich von dem Teppich, der jeden meiner Schritte schluckt, die mir dennoch in den Ohren dröhnen wie ein Hammer, der auf einen Amboss fällt. Doch du könntest mich nicht hören und ich strenge mich an, möchte nicht, dass du mich entdeckst, bevor ich bereit bin... Lächerliche Annahme! Wahrscheinlich werde ich nie bereit sein, die Worte auszusprechen, aber sie müssen heraus. Ich muss sie verbal äußern.
Lautlos atme ich durch. Nur noch ein paar Schritte und dann kann ich durch den Spalt zwischen Rahmen und Tür in dein Zimmer sehen, das mir so vertraut ist. Was du wohl in letzter Zeit daran verändert hast?
Drei... zwei... eins... Ich lege meine linke Hand auf die Klinke, die rechte gegen das Holz, als wolle ich gleich klopfen, doch tue es nicht. Stehe einfach nur da und stoße die Tür schließlich etwas weiter auf, um dich sehen zu können, wie du mit dem Rücken zu mir an deinem Schreibtisch sitzt, den Blick jedoch nicht auf das obligatorische Buch gerichtet. Stattdessen scheinst du mit deinen Gedanken ganz woanders zu sein, du starrst gedankenverloren aus dem Fenster, das Kinn auf die geballte Faust gestützt.
Schließlich klopfe ich doch, obwohl mir das Herz bis zum Halse schlägt, aber du reagierst nicht, also räuspere ich mich vernehmlich. Trotzdem bleibt dein Blick auf etwas gerichtet, das nur du sehen kannst. Was es wohl ist?
„Hey, Fynn“, mache ich mich nach weiteren qualvoll langsam verstrichenen Sekunden bemerkbar. Meine Stimme klingt seltsam rau, heiser, als hätte ich sie schon lange nicht mehr benutzt. „Wie geht' s?“
Du zuckst ziemlich stark zusammen – und im gleichen Augenblick tut es mir auch schon wieder leid, dass ich nicht vorher angerufen habe, wie es sich eigentlich gehört. Ich beiße mir auf die Unterlippe und wünsche mir, dass ich keine Gewissensbisse verspüren würde, doch das ist nun wirklich eine Wunschvorstellung, die gerade nicht der Realität entspricht. Was der Realität jedoch leider entspricht, sind meine feuchten Hände, die ich mir fahrig am rauen Stoff meiner Jeans abwische. Ich hole tief Luft und sehe dir dabei zu, wie du dich zu mir umdrehst.
Ich stopfe meine Hände in meine Hosentaschen, nur um dann unsicher wieder eine hervorzuziehen und damit eine Bewegung auszuführen, die an ein Winken erinnert. Dabei ziert ein bescheuertes Lächeln meine Lippen und eine Schweißperle läuft meine Schläfe hinab, als ich mich schließlich Auge in Auge mit dir befinde. Ein überraschter Ausdruck steht in diesen quecksilberfarbenen Augen, die mich seit jeher in ihren Bann zu ziehen vermögen, doch nach und nach verschwindet er und schließlich ziehst du eine kastanienbraune Braue in die Höhe. Nun ist der Ausdruck fragend, gespickt mit einem Hauch Enttäuschung und bitterem Vorwurf.
„Leo“, erwiderst du kühl und ich lasse die Hand wieder sinken, ein stechender Schmerz in der linken Brustkorbhälfte – und ich habe es verdient, dass ich mich so... scheiße fühle, weil ich einfach verschwunden bin. Das Problem ist nur, auch ein halbes Jahr in den USA hat nichts genutzt, um etwas an dem zu ändern, was ich fühle... „Was willst du?“
„Mit dir reden?“ Keine Aussage, ganz eindeutig eine Frage. Vorsichtig. Herantastend. Unsicher, verdammt unsicher.
„Dann rede“, gibst du diesmal bissig zurück, verschränkst die Arme vor der Brust und musterst mich mit diesem schmerzhaft arroganten Blick.
Mir ist klar, dass ich dein Wohlwollen auch nicht verdient habe – oder einen freundlichen Empfang –, doch ich kann diese Eiseskälte in deinen Augen einfach nicht ertragen. Jedes Mal, wenn du mich auch nur annähernd so angesehen hast, schimmerten sie wie der Himmel an einem klaren, aber eiskalten Wintertag, an dem die Temperaturen selten über minus fünfzehn Grad Celsius klettern. Ich will wegsehen, doch kann mich diesem Grau nicht entziehen, dem Sog nicht widerstehen... Ich möchte, dass du mir ein Lächeln schenkst – dein Lächeln –, doch mir ist bewusst, dass es nicht passieren wird, ich so etwas nicht erwarten kann. Ist es blöd von mir zu hoffen, dass es jemals wieder so wie früher wird?
„Fynn... ich...“, fange ich an und stottere prompt; dein stechender Blick ist mir unangenehm. Mir ist schlecht, ich schlucke, versuche, die Übelkeit zu unterdrücken, zu verscheuchen. Nicht gerade erfolgreich... Ich könnte mich dennoch übergeben – und zwar genau jetzt. Hier. In deinem Zimmer. Vor deinen Füßen.
„Raus mit der Sprache oder geh einfach, Alter“, spuckst du mir förmlich entgegen und drehst dich langsam um, wendest dich ab. „Ich muss lernen – und du stehst nur rum und kriegst keinen zusammenhängenden Satz raus...!“
Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange und blinzele ein paar Mal, bin versucht, mich zu kneifen, um das Unwirkliche aus der Situation verschwinden zu lassen – doch natürlich funktioniert das nicht. Aber, wie vorherzusehen ist, widerstehe ich dem Drang, mich zu zwicken, und schaue stattdessen wieder hoch, in deine Augen, zwinge mich, dich anzusehen, ohne wegzuschauen. Halte dieser Enttäuschung, dieser Arroganz stand – und zittere vor Anspannung.
„Ich... habe dich vermisst“, quetsche ich schließlich heraus und weiche deinem Blick kurz aus, als ich die Worte ausspreche.
„Ach ja?“, fragst du verächtlich und wieder wandert eine Augenbraue hoch, während du dich weiterhin wie in Zeitlupe umdrehst.
„Ja. Und ich habe mich jeden Tag gefragt, wie es dir geht“, flüstere ich und sehe knapp an dir vorbei, um deinen Gesichtsausdruck nicht sehen zu müssen. Am allermeisten möchte ich die Enttäuschung nicht sehen, die doch ganz allein mir gilt.
„Ach ja?“, wiederholst du und klingst dabei seltsam heiser.
„Ja“, sage ich diesmal nur – wo ist nur mein selbstbewusstes Ich geblieben?
„Schön für dich...“, meinst du achselzuckend und wendest dich nun wieder ganz den Büchern auf deinem Schreibtisch zu. Jetzt blicke ich deinen Rücken an und es ist einfach, weil ich diesem starren Ausdruck nicht mehr standhalten muss.
Trotzdem bleibt dieses Gefühl der Übelkeit, die Panik – und natürlich weiß ich, dass die Enttäuschung und Bitterkeit nicht aus deinen Augen verschwunden ist. Du müsstest mich nur wieder ansehen und die Beklemmung wäre wieder allgegenwärtig. Ich presse meine Hände zusammen, balle sie zu Fäusten und öffne sie schließlich wieder, versuche zu entspannen, aber es gelingt mir nicht. Minutenlang schweigen wir und dieses Schweigen ist beredet, gefüllt mit all dem, was wir uns jemals an den Kopf geworfen haben, was wir nicht gesagt haben. Nie. Erfüllt von Geheimnissen, offenen und verborgenen.
Ich möchte etwas sagen, öffne meinen Mund, weil mir die Stille unangenehm ist. Ein Kichern ballt sich in meiner Kehle, unangebracht, doch wenn es zu leise, zu still ist, muss ich immer lachen. Egal, in welcher Situation... Wie auch jetzt: Es gibt nichts, worüber man lachen kann, aber ich spüre es schon in meinem Hals kitzeln und schlucke meinen Tick mühsam hinunter.
„Hast du dich nie gefragt, warum ich so überstürzt weg bin?“, frage ich in die anhaltenden Stille, schlucke die lauernde Belustigung.
„Sollte ich?“, entgegnest du zerstreut und ich beobachte, wie sich deine Nackenmuskulatur anspannt.
„Ich dachte, du wärst mein bester Freund...“, meine ich und alles in mir zieht sich bei dieser Frage zusammen.
Du beachtest mich nicht. Nicht wirklich. „Und ich dachte, du wärst meiner... Wie man sich irren kann, nicht wahr?“ Ich zucke zusammen, so hart, als habe mich eine Peitsche auf die nackte Haut getroffen, und es tut weh, brennt und sticht, als sei ich in ein Feld voller Brennnesseln geraten...
„Ich bin es noch...!“, protestiere ich schwach, schaue dich aber nicht an, sondern mich in deinem Zimmer um. Diesem mir nur allzu vertrauten Raum: Links neben mir dein Bett, die Decke gemacht, das Kopfkissen aufgeschüttelt, an den Wänden ein paar Poster mit leicht bekleideten Frauen, ein Trikot des BVB, schwarze Kritzeleien auf grellem Gelb, sorgfältig aufgereihte Bücher auf einem Regal mit mehreren Böden. Wahrscheinlich ein typisches Zimmer für einen Achtzehnjährigen – ich habe keine Ahnung, denn ich... ich bin nicht normal. Nicht in diesem Sinne normal...
„Und warum spüre ich davon nichts? Warum habe ich nichts davon gespürt?“
Diesmal beiße ich mir vor Unbehagen auf die Unterlippe, denn du hast ja eigentlich recht: Ich war dir in letzter Zeit kein guter Freund – geschweige denn dein bester. Dennoch tut es weh, dich so etwas sagen zu hören. „Es tut mir leid...“
„Das ist auch das Mindeste“, deine Worte klingen hart und ich habe Mühe, mir in Erinnerung zu rufen, dass du schon immer so gewesen bist und wohl immer so bleiben wirst. Trotzdem fällt es mir schwer, jetzt damit umzugehen. „Doch das reicht nicht...“
„Ich weiß“, gebe ich leise zurück und hebe meine Hand, möchte deine Schulter berühren, aber noch immer stehe ich im Türrahmen.
„Dann nenn mir den Grund.“ Du brauchst nicht deutlicher zu werden, nicht zu sagen, was für einen Grund du hören willst. Ich weiß, was du hören möchtest, doch die Worte wollen nicht über meine Lippen, mir fehlt der Mut, sie auszusprechen... „Sag' s mir... wenn du noch mein bester Freund bist.“ Jetzt drehst du dich wieder um, starrst mich beinahe nieder und sofort verhakt sich mein Blick mit deinem; ich bin wieder wie gebannt von diesem Quecksilber.
„Es... ist nicht... so einfach“, presse ich langsam hervor und ringe schon fast um Atem, denn mir ist, als legen sich eiserne Bänder um meinen Brustkorb, zerren ihn zusammen, drücken die Luft aus meinen Lungen.
Du schnaubst. „Was ist los? Du bist doch sonst nicht so auf den Mund gefallen, Leo“, erwiderst du kühl und ziehst erneut eine Augenbraue hoch.
„Was verstehst du an 'nicht so einfach' nicht?“, fauche ich erzürnt und beiße meine Zähne zusammen, als sich plötzlich brodelnde Wut in meinem Innern zusammenbraut. Warum willst du nicht verstehen?! Aber schon im nächsten Augenblick bereue ich meinen Ausbruch...
Der Ausdruck in deinen Augen wird dunkel, noch härter und... verletzt? Doch warum solltest du verletzt aussehen? Warum du, der große Fynn Krieger? Das Ausnahmetalent im defensiven Mittelfeld an unserem Gymnasium? – Auch wenn das nichts mit deinem Empfindungsvermögen zutun hat... „Dann erklär' s mir doch einfach, du Genie!“, sagst du genauso aggressiv und funkelst mich wütend an.
Wut dir gegenüber und bittere Enttäuschung über mich, mein Verhalten füllen meinen Mund wie Magensäure und Galle, ein schaler Geschmack bleibt zurück. Er verschwindet auch nicht, nachdem ich mehrmals geschluckt habe. Wenn schon, dann wird er nur noch intensiver... „Wie kann ich dir das sagen, was mir durch den Kopf geht? Weswegen ich geflohen bin?“, frage ich flehend, kann diesen Unterton nicht unterdrücken, nicht verhindern, dass er in meiner Stimme mitschwingt.
„Sonst sagst du auch geradeheraus, was dir durch den Kopf geht...“, gibst du steif zurück und wieder schlucke ich, um den schalen Geschmack loszuwerden, doch es funktioniert nicht. Er bleibt. So wie dein Blick auf mich gerichtet bleibt. „Warum erkenne ich dich nicht wieder, Leo?“
Ich antworte dir nicht, sehe dich nur wie erstarrt an. Mein Herz schlägt schnell und unnachgiebig hart gegen meinen Brustkorb; es rast und kalter Schweiß bricht auf meiner Stirn aus, läuft auch meinen Rücken hinab, lässt meine Hände feucht werden. Wie kann ich nur meinem besten Freund erklären, dass ich auf ihn stehe? Mich in ihn verliebt habe – und dieses Gefühl einfach nicht verfliegt? Wie kann man so etwas einfühlsam erläutern, ohne mit der Tür ins Haus zu fallen, ohne zu direkt zu sein? Ich weiß es nicht...
Ich zucke mit den Achseln, ratlos, hilflos. Mein Puls rast, mein Herz pocht, als sei ich kilometerweit nonstop gerannt. Ich will Luft holen, doch die Eisenbänder ziehen sich noch enger, rauben mir den Atem. Niemand hat mir gesagt, dass es so schwer sein wird, sich demjenigen zu offenbaren, den man liebt, auch wenn man diesem Menschen schon beinahe sein ganzes Leben kennt... Warum hat das niemand erwähnt?
„Warum sehe ich dich an und erkenne dich nicht wieder?“, wiederholst du dich und mir wird das Herz augenblicklich noch schwerer als ohnehin schon.
Was soll ich darauf antworten, ohne dir sofort reinen Wein einzuschenken? Ich kämpfe mit den Worten, die ätzend wie Säure meine Kehle emporsteigen und dennoch auf ihrem Weg verloren gehen. Die Worte... Sie sind scharfkantige Scherben, deren Ziel es ist, über meine Lippen zu gleiten und mich ausbluten zu lassen, als sei ich einfaches Schlachtgut. Sie sind gefährlich und doch so harmlos zugleich... Schnüren mir die Luft noch weiter ab und ich fühle, wie Tränen in meinen Augen zu brennen beginnen, aber ich blinzele sie fort, denn noch bin ich nicht so weit, dass ich mich ihnen hingeben würde – noch nicht einmal, wenn du der Grund bist...
„Ich bin immer noch ich...“, erwidere ich schließlich so leise, dass du mich kaum verstehst, aber du hast mich gehört, denn deine Stirn legt sich in Falten, dein Blick, ein paar Minuten zuvor noch kalt und starr, wird stumpf, als ob du weit weg seist. „Ich bin vielleicht erwachsener geworden, vielleicht hat sich mein Äußeres verändert, aber hier“, ich klopfe auf die Stelle meines Brustkorbs, unter der mein Herz schmerzhafte Salti schlägt, „bin ich immer noch ich.“
„Und trotzdem hast du Geheimnisse vor mir, die dich betreffen – und wahrscheinlich auch mich“, seufzt du und deine Stimme wird für einen kurzen Augenblick sanft und warm. Jetzt klingst du wieder wie der Jugendliche, den ich schon so verdammt lange kenne.... wie mein bester Freund... wie mein Fynn.
Betretenes Schweigen und doch schlägt das Ungesagte unbarmherzig wie ein Meteoritenschauer auf uns ein. Es brennt und sticht wieder, zieht und reißt, kratzt und beißt – kurzum: Es ist verdammt unangenehm...
„Ja...“, gebe ich dann zu, leise, beinahe zaghaft, aber die Wahrheit; nichtsdestotrotz lasse ich dahingestellt, welchen Teil deiner Aussage ich meine.
„Warum?“ Das Wort hallt in deinem Zimmer wider und es fühlt sich an, als werde ein glühend heißes Messer immer und immer wieder in meinen Rücken gerammt, nur um es dann wieder herauszuziehen. Ich schaue mal wieder weg, kann dich einfach nicht ansehen, weil ich diese Vorwürfe in deinem Blick nicht sehen, nicht ertragen kann...
Ich sage nichts, schweige, weil die Worte, die ich sagen muss, damit du verstehst, in einen kleinen Ball eingeschlossen sind. Fest versiegelt, obwohl ich sie vor dem Spiegel schon so oft ausgesprochen habe – natürlich muss mir ausgerechnet jetzt der Mut versagen... Ich bin doch so ein Feigling! Mir wird übel und ich beiße mir auf die Zunge, kämpfe mit meinem Würgereflex – warum wird mir, wenn ich panisch reagiere, so oft schlecht?
„Warum?“, wiederholst du schärfer und ich zucke wie unter Peitschenschlägen zusammen, hole tief Luft, versuche, den Schmerz in meiner Brust wegzuatmen. Ziemlich erfolglos... „Warum hast du Geheimnisse vor mir, Leo? Warum sagst du mir nicht, warum du gegangen bist? Warum du mich allein gelassen und nun, nach deiner Rückkehr, Geheimnisse vor mir hast?“
Ich schließe die Augen und mein Körper wird von einem Zittern erfasst, mir ist kalt, Schweiß steht mir auf der Stirn, läuft in meinem Nacken hinab. Ich möchte gehen, mich einfach umdrehen, doch das kann ich jetzt nicht. Denn du forderst die Antworten mit diesem harten Blick und Tonfall, dass mich ein Schaudern überläuft. Du forderst die Wahrheit, die ich doch nur vor meinem eigenen Spiegelbild ausgesprochen habe, die niemand sonst kennt, deren Bedeutung niemand anderem bekannt ist... Du forderst und ich kenne mich. Wenn es sich um dich handelt, dann bin ich schwach. Wenn du in diesem Ton Ehrlichkeit von mir forderst, kann ich nicht anders, als dir das, was du haben willst, auch zu geben.
„Ich bin gegangen, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe...“, wispere ich und halte mich am Türrahmen fest, kralle meine Hand schon beinahe hinein und die Worte sprudeln nur so aus mir heraus – es fühlt sich irgendwie wie ein innerer Zwang, von dir allein ausgelöst, an. „Ich konnte nicht mehr mitansehen, wie du mit diesen Mädchen geflirtet hast, während du in mir nur den langjährigen, besten Freund gesehen hast...
Ich wollte, dass du mich auch so ansiehst. Ich war eifersüchtig, maßlos eifersüchtig, ich hielt es nicht mehr aus und ging in die USA, um über das, was ich plötzlich für dich fühlte, nachzudenken. Zu erkennen, was meine blinden Augen nicht sehen konnten, obwohl ich sonst nie so blind war... Ich erkannte, dass ich mich in dich verliebt hatte. In dich, meinen besten Freund. Und wusste, dass das nicht sein durfte...“
Ich sehe, wie dir die Gesichtszüge entgleisen, atme flach und kralle die Nägel meiner anderen Hand, mit der ich mich nicht am Türrahmen festhalte, in die Handfläche, spüre den Schmerz. Fühle den, der den in meinem Innern übertüncht. Will noch mehr sagen, doch du öffnest den Mund, leckst dir über die Lippen und...
… sagst etwas zu mir, doch die Worte kommen von hinter mir. Nicht von dir. Ich blinzele und fühle den Schmerz in meiner Handinnenfläche noch intensiver. Springe fast hoch und gegen den oberen Abschluss des Rahmens, als sich auch noch eine Hand auf meine Schulter legt.
„Leo“, sagt jemand zu mir, doch du bist es nicht.
Wieder blinzele ich und sehe plötzlich auf einen penibel aufgeräumten Schreibtisch, auf dem kein einziges aufgeschlagenes Buch liegt. Der Drehstuhl ist verlassen, Staubkörner tanzen im hereinfallenden Licht. Ich drehe mich langsam um und blicke in Augen, die beinahe so grau sind wie deine. Trotzdem sind sie eher blaugrau.
„Leo, es tut mir leid. Mama glaubt manchmal noch immer, dass Fynn büffelnd in seinem Zimmer sitzt und gleich hinauskommen wird, um etwas zu essen oder zu trinken.“ Die Augen, die zu der Stimme gehören, die etwas heller ist als deine, sehen mich mitfühlend an.
„Markus“, hauche ich und seine Hand drückt meine Schulter kurz, aber fest; der Blick aus diesen blaugrauen Augen wird trauriger und verlagert sich auf eine Stelle knapp oberhalb meines Kopfes. Dein kleiner Bruder sieht dir so ähnlich, ist mittlerweile genauso groß wie du, doch er ist nicht du, wird nie du sein. Dich nie ersetzen können...
„Geh nur hinein, du stehst schon eine ganze Zeit einfach nur hier draußen und starrst auf den Schreibtisch“, meint er und wischt sich verstohlen mit dem Handrücken über die Augen, in dem Moment bemerke ich, dass auch meine Wangen komplett feucht sind – habe ich etwa geweint, ohne es gemerkt zu haben? „Fynn war dir nicht mehr böse. Du warst doch wie ein Bruder für ihn, einfach sein bester Freund. Immer. Für immer.“
Bitterkeit erfüllt mich, denn auch dein Bruder sagt, dass ich nur wie ein Bruder für dich gewesen wäre – wie hätte ich dir erklären sollen, dass ich nicht so fühlte? Nicht so fühle?
Markus schiebt mich mit geringem Kraftaufwand in dein Zimmer, bleibt im Türrahmen stehen, während ich nun mitten drin stehe. Ich zittere wieder und neue, bitter-heiße Tränen laufen mir über die Wangen, nur dass ich sie diesmal bemerke. Bitter-heiß, weil ich nicht bei dir war...
Ich mache ein paar ungelenke Schritte, gehe auf ein Bild zu, das auf deinem Nachttisch stand. Wir beide, Arm in Arm, vierzehn Jahre, als alles noch in Ordnung gewesen ist. Ein wehmütiges Lächeln schleicht sich auf meine Lippen; ich nehme den schweren Bilderrahmen in die Hand und hebe ihn hoch, streiche mit dem Daumen über die raue Oberfläche, denke daran, wie ich dir das Bild samt Rahmen vor fast mehr als zwei Jahren geschenkt habe. Bevor ich gegangen bin...
Ich stelle es wieder hin, spüre Markus' Blick auf mir ruhen, höre ihn leise schniefen. Meine Lider fallen für einen Moment zu, ich atme tief durch und setze mich dann auf das Bett, das sofort unter mir nachgibt. Wie viele Stunden habe ich auf diesem Bett gelegen, während du an deinem Schreibtisch gesessen und gelesen oder was auch immer getan hast?
Wie viele Stunden habe ich einfach nur an die Decke gestarrt, geschwiegen?
Wie viele Stunden haben wir uns über unsere Zukunft unterhalten?
Wie viele Stunden haben wir über das, was wir uns für die Zukunft vorstellten, gelacht?
Ich beiße mir auf die Wangeninnenseite, spüre den Schmerz und schmecke das Blut. Niemand kann dich mir zurückbringen. Nie wieder. Denn es gibt keine Zeitmaschine, um Dinge ungeschehen zu machen, von denen man es am meisten will...
Denn es gibt keinen Zeitumkehrer wie bei Harry Potter, um begangene Fehler zu begradigen...
Denn es gibt keinen Schalter, den man betätigen kann, um Gesagtes ungesagt oder Ungesagtes gesagt zu machen... Auch wenn man sich noch so sehr wünscht, dass es so etwas gebe. Das alles ist nur Fiktion, reine Fiktion – und genau jetzt wünsche ich mir, dass dem nicht so sei, und ich die Zeit trotz allem zurückdrehen könnte. Ich möchte so viel ungeschehen und geschehen machen: Deinen Unfall, meine Unfähigkeit, dir die Wahrheit außerhalb meiner Gedanken zu sagen, doch das geht nicht.
Es gibt keinen zweiten Versuch, nicht, wenn schon alles zu Bröseln unter meinen Fingern geworden ist. Nicht, wenn die Scherben mir schon in die Fußsohlen schneiden, weil ich barfuß durch den Raum gehe, in dem mein Leben in allen Regenbogenfarben, aber zerstört glitzert.
„Ich liebe ihn“, gestehe ich plötzlich, ohne Ankündigung.
Markus setzt sich neben mich, legt mir einen Arm um den Rücken und lehnt seinen Kopf an meine Schulter, genauso wie du es oft getan hast. „Er hat es nie gesehen, weil er es nicht glauben wollte. Eure Freundschaft war ihm heilig, er wollte sie nicht zerstören“, flüstert er und die Worte irren durch meinen Kopf.
„Was?“
„Er hat dich auch geliebt. Auf seine Art“, erwidert er heiser und Tränen tränken den Ärmel meines Oberteils. „Vielleicht nicht so wie du ihn, aber er hat dich geliebt. Es ist kein Tag vergangen, an dem er nicht von dir erzählt hat, obwohl ich doch schon alle Geschichten kannte. Glaub mir, wenn ich sage, dass du der warst, dem er am meisten vertraut hat. Du warst in deinen Augen vielleicht nur wie sein Bruder, aber Liebe ist Liebe, oder?“
Das möchte ich glauben, aber was auf seine Worte folgt, ist beredetes Schweigen. Ein Schweigen, das mir zeigt, wie viele Fehler ich gemacht habe, die ich nie wieder beheben kann, weil du, die Person im Spotlight meiner Fehler, nicht mehr hier bist...
„Ich liebe dich, Fynn“, krächze ich und vielleicht hast du mich ja auch gehört. Dort, wo du jetzt bist. Im Himmel...




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Und, wie hat der OS gefallen?
Am meisten würde mich ja natürlich interessieren, ob irgendwer schon geahnt hat, welche Wende diese Story am Ende nehmen würde - alle mal die Hand hoch, die es geahnt haben, und jetzt alle, die keine Ahnung hatten, bis sie das Ende gelesen hatten^^

Ich würde mich riesig über Kommentare freuen! (Auch über Zwei- oder Dreizeiler^^)

Noch einen schönen Abend,
gglg
&
HEL,
eure Oki-chan
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