Mark Brandis Junior: Eine alte Schuld
von Ender Wiggin
Kurzbeschreibung
Mittlerweile hat auch Mark Brandis Junior die VEGA Akademie durchlaufen und hat sie erfolgreich abgeschlossen. Zum Lieutenant befördert, wurde er dem Projekt Zypro zugeteilt. Als Zweimannjäger konzipiert, sollen sie die Nachfolge der Tauruszerstörer antreten. Auch Steffen, Marks bester Freund, wurde diesem Projekt zugeteilt. Doch nun geht das Projekt seinem Ende zu und auf Mark Junior warten neue Herausforderungen, die ihn diesmal an die Seite seines Vaters führen sollen.
GeschichteAbenteuer / P12 / Gen
John Harris
Mark Brandis
Mark Brandis Junior
Ruth O´Hara
07.10.2011
22.03.2012
9
19.528
07.10.2011
3.033
Kapitel 5: Tests und mehr
Von da an wurde es fast zur Routine, die immer wiederkehrenden Probealarme. Allerdings blieb der Alarm, nur für mich, eine Ausnahme. Dies hatte auch nur funktioniert, da der Commander genau wusste, wo ich mich zu diesem Zeitpunkt befunden hatte.
Dafür gab es keine Situation mehr, die einen vor einem Alarm schützte. Beim Essen, beim Rundgang, sogar beim Duschen konnte er einen ereilen. In letzterem Fall allerdings schlang ich mir ein Handtuch um. So ganz im Adamskostüm wollte ich dann doch nicht auf der Brücke erscheinen.
Manchmal gab es Tadel, manchmal ein grimmiges Lob. Meine Zeit wurde besser, solange ich mich in der relativen Nähe der Brücke befand. Einmal weilte ich im Laderaum 2, als die Glocken losgingen. Das bedeutete, drei Decks zu überbrücken. Atemlos kam ich auf der Brücke an und erntete ein Kopfschütteln des Commanders.
„Das ist inakzeptabel, Captain.“
Erklärungen meinerseits wurden als Ausflüchte abgetan.
„Im Ernstfall zählt jede Sekunde. Wenn Sie nicht auf der Brücke sind und Gefahr für Schiff und Besatzung besteht, muss ich eventuell ein Ausweichmanöver fliegen und dann kann es zu Verletzungen kommen.
Ich erwarte die Klarschiffmeldungen innerhalb von achtzig Sekunden nach ertönen der Alarmglocke.“
Er hatte ja Recht, aber in dieser Zeit alle drei Decks zu überbrücken, war fast unmöglich. Da half nur eines: Üben.
Ich beschloss, in meiner Freizeit die Strecke in der gewünschten Zeit hinter mich zu bringen. Nach einer Woche hatte ich es geschafft.
*** *** ***
Als die Mannschaft es insgesamt geschafft hatte, den Ansprüchen zu genügen, wurden die Alarme seltener. Eine weise Entscheidung, denn irgendwann hätte es passieren können, dass die Männer und Frauen es über hatten und nicht mehr so schnell die Stationen einnahmen. Sollte es sich dann um einen wirklichen Notfall handeln, wären die Folgen katastrophal.
Der Mensch funktionierte also an Bord der Omegron II, was es nun noch zu testen galt, war das Schiff. Hierzu gab es eine Testreihe, die die Ingenieure auf der Erde ausgearbeitet hatten. Diese wurden noch ergänzt durch die Ansprüche des Commanders. So ergab sich ein recht ansehnliches Quantum, das es zu absolvieren galt.
Flugmanöver, Simulationen von Meteoritenstürmen, ZG (Zusätzliche Gravitation), Radarausfall, Maschinenschaden und einiges mehr musste durchgespielt werden. Eines gab es, nachdem die Tests angelaufen waren, nicht mehr: Langeweile.
Ich saß in meinem Sessel, der Commander fütterte den Bordcomputer, während ich meine Instrumente beobachtete. Die Cockpitscheiben vor mir waren zwar ganz nett, aber wirklich helfen konnte der Blick nach außen nicht. Dafür gab es die Anzeigen. Ich war gerade mit meinem Check fertig, als mich der Commander ansprach.
„Captain, schalten Sie die Automatik ab und übernehmen Sie das Steuer. Wir werden einige Tests der Flugeigenschaften durchführen. Ich möchte, dass Sie dabei die wildesten Manöver fliegen. Doch, ich denke, das brauche ich nicht extra zu erwähnen, behalten Sie die Instrumente im Auge. Bevor Sie beginnen, geben Sie Alarm und informieren Sie die Besatzung.“
„Alarm geben und Besatzung informieren, dann freier Flug. Aye, aye, Sir.“
Ich drückte den roten Knopf und umgehend erscholl das durchdringende Geräusch der Alarmglocken. Da wir diesen Test während der regulären Schicht durchführten, bekam ich sehr schnell die Klarschiffmeldungen der einzelnen Stationen. Nur unsere Wissenschaftler ließen sich etwas mehr Zeit. Nachdem auch sie sich gemeldet hatten, drückte ich den Knopf für die Sprechanlage.
„Brücke an Besatzung. Wir führen einige freie Manöver durch. Bitte bleiben Sie angeschnallt.“
Der letzte Satz war auf unsere Weißkittel zugeschnitten. Sie nahmen sich oft die Freiheit, sich wieder loszuschnallen, noch bevor die Genehmigung erteilt worden war.
Aus dem Lautsprecher kam plötzlich die Stimme unseres Kochs.
„Kombüse an Brücke: Dauert es länger?“
Ich sah zum Commander. Dieser drückte selbst den Knopf.
„Kombüse, hier Brücke. Wo liegt das Problem, Sergeant?“
„In einem Apfelkuchen, den ich in der Röhre habe.“
„Dann schlage ich vor, Sie drehen die Temperatur ein wenig herunter.“
„Aber Sir, das tut dem Kuchen gar nicht gut.“
Er bekam keine Antwort von Commander Brandis. Schließlich meldete er sich wieder.
„Temperatur reduzieren, Aye, aye, Sir.“
Wir warteten, dann erklang Sergeant Harris' Stimme.
„Erledigt, Sir. Bin wieder angeschnallt. Danke.“
„Ich denke, er wird auch so ganz toll werden“, versuchte der Commander ihn zu trösten.
„Danke für Ihr Vertrauen, Sir.“
Commander Brandis wandte sich mir zu.
„Also los, Captain, und schonen Sie uns nicht.“
*** *** ***
Ein Ziel zu erreichen, dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. Zuerst einmal der automatische Anflug. Man berechnet die Flugbahn und gibt sie in die Automatik ein. Ab und zu kontrollieren, ob der Kurs noch stimmt, eventuell korrigieren und fertig. Moderne Astronautik.
Die nächste Möglichkeit ist der manuelle Anflug. Langwierig, anstrengend und - langweilig. Man zählt nur die Stunden, bis das Ziel endlich erreicht ist, oder die Ablösung einem das Steuer abnimmt. Dann massiert man sich die steifen Finger und versucht, wieder Leben in sie zu bekommen. Physisch und psychisch eine Tortur. Doch auch das muss ein Pilot meistern.
Dann die Variante Nummer drei: Völlig freies Manöver. Man hat noch immer ein Ziel, aber man hat es nicht eilig, dorthin zu kommen. Man hat die Chance, Manöver durchzuführen, für die ansonsten keine Zeit bleibt, aber auch eine Notwendigkeit besteht. Doch um ein Schiff auf Herz und Nieren zu prüfen, ist dies die einzige Möglichkeit.
Nur in extremen Situationen kann oder muss man dies auf einem regulären Flug. Ausweichmanöver, um einem Meteoritensturm zu entgehen, oder aber man ist in einem Gefecht. Beides ist nicht angenehm und lebensbedrohlich. Kein vernünftiger Mensch will in solch eine Situation kommen. Nur Abenteuerschriftsteller beschwören solche Situationen absichtlich herbei. Seit ich selbst unter den Sternen flog und vor allem seit meinem Dienst auf der MLK, konnte ich den Commander gut verstehen mit seiner Abneigung dem Wort Abenteuer gegenüber.
Aber wenn man Testpilot ist und sozusagen von berufswegen solche Manöver durchführen musste - was sollte es Schöneres geben?
Zuerst riss ich den Steuerknüppel an mich, was zur Folge hatte, dass das Schiff steil in die Höhe flog, um in einem einfachen Salto einen perfekten Kreis zu beschreiben. Kaum war das Schiff wieder in der Horizontalen - dies natürlich im relativen Maßstab, denn im Raum gibt es sowas bekanntlich nicht - ließ ich das Steuer nach Backbord unten schnellen, mit einer ruckartigen Bewegung nach links und rechts. Dies hatte zur Folge, dass die Omegron in Spiralen über den Backbordbug in Richtung Andromeda flog.
Als ich das Schiff wieder in die Horizontale gebracht hatte, wiederholte ich das Ganze über Steuerbord.
Danach kam das BS 4 an die Reihe. Abwechselnd Backbord und Steuerbord mit vier G Beschleunigung. Nach etwa zwei Minuten ergänzte ich das Manöver noch mit einer nach oben und unten führenden Bewegung.
Die Anzeige des Flugschreibers kam kaum nach und der Kurs sah aus, als wäre die Maschine völlig außer Kontrolle.
Schließlich ging ich wieder in einen Spiralflug über, diesmal aber geradeaus, allerdings nicht lange und ich ließ einige Vorwärts- und Rückwärtssaltos einfließen.
Nach dem dritten geschah es dann. Unser künstliches Schwerkraftfeld hatte einen Schluckauf. Das ist bestimmt nicht die korrekte Beschreibung, doch die treffendste, die mir einfiel. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich völlig schwerelos. Dann sackte ich wieder in meinen Sitz, dann war ich erneut schwerelos und es ging weiter mit diesem Schluckauf.
Ich brach das Manöver ab und versuchte das Schiff unter Kontrolle zu bringen. Es dauerte einige Sekunden, doch schließlich flogen wir einen normalen Kurs.
Kaum war dies geschehen, als auch das Auf und Ab nachließ und die künstliche Schwerkraft zur Zufriedenheit arbeitete.
Commander Brandis drückte den Sprechknopf:
„Brücke an TÜ: Was war das?"
Es dauerte einen Augenblick, bis Steffens Stimme aus dem Lautsprecher klang.
„TÜ hier. Ich habe leider noch keine Theorie, Sir."
„Theorien sind auch nicht das, was mich interessiert, Lieutenant. Mich interessieren Fakten und die so schnell als möglich."
„Aye, aye, Sir!"
Steffens Schlucken war deutlich zu hören. So etwas wie Bedauern machte sich in mir breit, doch ich hatte nicht lange Zeit, mich diesem Gefühl hinzugeben.
„Captain, Sie sollten feststellen, bei welchem Flugmanöver genau dieses Verhalten des Schwerkraftfeldes aufgetreten ist."
„Aye, aye, Sir"
Ich studierte schon die Aufzeichnungen. Hatte er dies nicht bemerkt? Doch er hatte, doch das Reglement sah vor, dass er den Befehl zu geben hatte. Und noch etwas musste nun geschehen und der Commander verlor auch keine Zeit.
„Brücke an alle: Bitte die Klarschiffmeldungen und die eventuellen Schäden."
Die Besatzung hatte mitgehört, deswegen wusste Tom Bauer auch, dass das TÜ beschäftigt war. Also begann er mit der Meldung.
„NC an Brücke, keine Schäden. Der Computer funktioniert ohne Beanstandung, der Kurs müsste schon bei Ihnen auf dem Schirm sein."
„Danke, NC."
„RC an Brücke, keine Schäden, keine Kontakte."
„Danke, RC."
„FK an Brücke. Kurzschluss in Lautsprechersystem 2. Beeinflusst allerdings den Betrieb nicht, nach einer kurzen Reparatur ist alles wieder in Ordnung. Ansonsten keine Anfragen, die uns betreffen.“
„Danke, FK, wie lange wird die Reparatur dauern?“
„Etwa zwanzig Minuten, Sir.“
„Dann fangen Sie an.“
„Aye, aye, Sir.“
„Kombüse an Brücke. Mein Ofen hat keinen Strom mehr, der Kuchen ist wohl nicht mehr zu retten. Außerdem ist ein Schrank aufgesprungen und hat etliche Teller freigegeben. Gäste dürfen wir jetzt nicht mehr empfangen und unser Pilot muss sein Schnitzel von einem Suppenteller genießen.“
„Sergeant!“
Die Stimme des Commanders klang streng.
„Entschuldigung, Sir. Ist mir so rausgerutscht.“
Vater seufzte.
„Die Reparatur wird auf sich warten lassen, ich brauche den Bording im TÜ.“
„Aber Sir, da bleibt die Küche kalt.“
„Wir werden es überleben, Sergeant.“
„Aber Sir...“
„Danke, Kombüse.“
Sergeant Harris verstummte. Besser für ihn, denn in solch einer Situation sollte man den Boss nicht zusätzlich reizen.
Ich widmete mich weiter meiner Analyse und wartete auf die Stimme von Professor Adrian. Doch der Lautsprecher blieb stumm.
„Brücke - Labor. Ihre Meldung bitte.“
Der schnarrende Tonfall war wieder da. Oft genug hatte ich davon gelesen, oft genug hatte ich ihn gehört. Anscheinend hatte der Commander in dieser Situation keine Nachsicht mehr mit unseren Wissenschaftlern, oder war noch etwas anderes im Spiel? Sorge vielleicht? Ich sah von meinen Instrumenten auf und direkt in das Gesicht meines Vaters.
Wenn es Sorge war, dann hatte er sich vollkommen unter Kontrolle. Nur ein schwach zuckender Wangenmuskel verriet ihn. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er angestrengt nachdachte und er es nur mit Mühe schaffte, nicht zu explodieren.
„Labor? Hören Sie mich?“
Noch immer keine Reaktion, nicht das leiseste Geräusch kam aus dem Lautsprecher. Nun begannen die Finger des Commanders unruhig zu werden. Ich fragte mich, was ich in dieser Situation tun würde. Zuerst einmal musste man sich Klarheit verschaffen, was im Labor geschehen war. Sollte es eine triftige Erklärung geben, müsste man angemessen reagieren, sollte es die nicht geben, dann musste man ein für alle Mal die Disziplin im Labor wiederherstellen. Mit klaren Worten.
Nun musste der Commander jede Sekunde etwas unternehmen und richtig, kaum hatte ich die Worte zu Ende gedacht, als er den Knopf der Sprechanlage erneut drückte. Diesmal rief er aber nicht das Labor, sondern das Radarcontrollcenter.
„Brücke – RC. Lieutenant Kasprow, sehen Sie bitte nach unseren Weißkitteln! Irgendetwas hält sie von der Klarschiffmeldung ab.“
„RC – Brücke. Weißkittel wecken. Aye, aye, Sir.“
Vaters Stimme hatte sehr ruhig geklungen, als ob er die Uhrzeit abfragte. Aber die Verwendung des Wortes „Weißkittel“ machte jedem klar, dass es mit seiner Gelassenheit nicht weit her war.
Ich rechnete nach, dass der Lieutenant etwa acht Sekunden brauchen würde, von seinem Platz über den Flur zum Labor. Er schaffte es in fünf Sekunden. Wahrscheinlich hatte er schon mit dem Befehl gerechnet.
„Labor an Brücke, hier Lieutenant Kasprow. Es hat einen Unfall gegeben. Ein Schwerverletzter.“
„Brücke hier. Dr. Paulson soll sich darum kümmern.“
„Sir, es handelt sich um Dr. Paulson.“
Wie sich später herausstellte, wollte unsere Biologin ein Instrument sichern und hatte sich abgeschnallt. Genau in diesem Moment kam es zum Versagen des Schwerkraftfeldes. Die schmächtige Frau wurde quer durchs Labor katapultiert und machte eine unsanfte Bekanntschaft mit der Bordwand.
Anstatt dies sofort zu melden, versuchten ihre Kollegen, sie zu versorgen. Dieses Verhalten würde noch ein Nachspiel haben, doch zu allererst war es wichtig herauszufinden, was unserem Genie genau fehlte.
„Was sagt Dr. Bonterrega?“
„Sir, der Doktor ist ratlos. Sein Fachgebiet ist die Botanik und die Ökologie. Mit Säugetieren, so sagt er, hat er sich nie befasst.“
„Sir, ich bin zwar kein Arzt, aber ich habe mehrere Sanitäterschulungen absolviert.“
„Was sitzen Sie dann noch herum, Captain?“
„Aye, aye, Sir.“
Ich erhob mich und eilte den Abgang hinunter. Ich fühlte mich alles andere als qualifiziert, die gesundheitliche Verfassung unserer Biologin zu beurteilen, aber anscheinend war ich der Einzige mit diesen Schulungen.
Ich betrat das Labor und fand unsere beiden unverletzten Wissenschaftler und unseren RC neben Dr. Paulson kniend vor. Jeder mit einem sorgenvollen Gesicht und unschlüssiger Miene. Gerade schlug Professor Adrian vor, die Verletzte erst einmal auf die Notliege zu packen.
„Unterstehen Sie sich, Dr. Paulson zu bewegen. Treten Sie alle einen Schritt zurück.“
Irgendetwas in meiner Stimme musste die Anwesenden beeindruckt haben, denn sie ließen von der am Boden liegenden Frau ab und traten tatsächlich zurück. Mit zwei schnellen Schritten kniete ich neben der Verletzten nieder.
Vorsichtig befühlte ich ihren Puls. Er war schnell und dünn, aber scheinbar gleichmäßig. Ihre Atmung hatte keinerlei Auffälligkeit. Als Nächstes tastete ich vorsichtig die Halswirbel nach etwaigen Verletzungen in diesem Bereich ab. Ich konnte nichts feststellen. Auch an anderen Stellen gab es keine Anzeichen eines Bruches. Was blieb, war die Bewusstlosigkeit. Ich glaubte zu wissen, was der jungen Biologin zugestoßen war. Dazu musste ich aber noch einige Untersuchungen vornehmen.
„Lieutenant, holen Sie bitte den Notfallkoffer aus dem Besprechungsraum!“
„Aye, aye, Sir.“
An mehreren Punkten auf dem Schiff gab es Notfallkoffer. Sie enthielten die wichtigsten Instrumente und Medikamente für den medizinischen Notfall.
Es dauerte nicht lange und unser RC hielt mir den Koffer entgegen.
Ich öffnete ihn und entnahm zuerst das Stethoskop. Wie schon durch die Pulsfühlung festgestellt, konnte ich den schnellen Herzschlag bestätigen. 110 Schläge in der Minute waren viel, aber nicht bedrohlich. Als Nächstes legte ich die Manschette zur Blutdruckmessung an. 97 zu 68. Das Herz schlug schnell, aber mit wenig Kraft.
Ich entfernte die Manschette und nahm die kleine Lampe aus dem Koffer und legte mir den Augenspiegel an. Die Pupillenreaktion war mehr oder minder normal. Der Augenhintergrund ließ keine Anzeichen erkennen, dass es zu einer größeren Schädigung des Gehirns gekommen war.
Als Letztes befühlte ich den Schädelknochen. Außer einer gewaltigen Beule konnte ich nichts feststellen.
Nun fehlte nur noch die Befragung, sobald die Bewusstlosigkeit vorüber war. Für mich stand fest, soweit ich dies beurteilen konnte, unsere Biologin hatte nichts weiter, als eine Gehirnerschütterung. Natürlich wäre es jetzt angebracht, den Kopf zu röntgen, aber zu so etwas fehlte uns die Ausrüstung.
Ich dachte, es verantworten zu können, dass sie vorsichtig transportiert wurde. Als ich hochsah, bemerkte ich die erwartungsvollen Gesichter der Umstehenden.
Ich nickte ihnen allerdings nur zu und wandte mich an den Ökologen und Lieutenant Kasprow.
„Lieutenant, nehmen Sie Dr. Bonterrega und tragen Sie Dr. Paulson in den Besprechungsraum. Keine Angst, es ist wohl nur eine Gehirnerschütterung.“
„Sind Sie sicher?“
Die Stimme von Dr. Adrian klang fast anklagend.
„Sie sind ja schließlich kein Arzt!“
„Nein, ich bin kein Arzt. Ich bin Pilot und Captain. Meine Ausbildung zum Sanitäter war zwar kurz, aber intensiv. Welche Ausbildung haben Sie auf diesem Gebiet?“
„Keine, aber mit einem Sanitätskurs sind Sie nicht weit von ‚keine’ entfernt.“
Ich war in Versuchung, den Commander einzuschalten, aber etwas hielt mich davon ab. Wenn ich es nicht schaffte, dieses Problem alleine zu meistern, dann war es mit meiner Autorität dahin. Aus dem Augenwinkel sah ich sowohl den Ökologen als auch den RC unsere Auseinandersetzung beobachten.
„Nicht weit, aber dennoch bin ich davon entfernt.“
Fast wäre ich erschrocken, als ich meine Stimme hörte. War da nicht der schnarrende Tonfall, dessen sich der Commander bediente? Sollte ich wirklich diese Angewohnheit übernommen haben? Schien so.
„Ich lasse nicht zu, dass Sie...“
Ich unterbrach sie.
„Sie lassen nicht zu? Ich glaube, Sie verkennen ein bisschen Ihre Situation. Sie haben hier nicht zuzulassen oder zu verhindern!“
Während sie nach Luft schnappte, wandte ich mich an Lieutenant Kasprow.
„Hatte ich nicht eben einen Befehl erteilt, Lieutenant?“
„Ja, Sir, hatten Sie. Verzeihung, Sir!“
Er machte sich daran, die bewusstlose Biologin hochzuheben. Dr. Bonterrega half ihm dabei.
„Halt!“
Die beiden Träger verharrten mitten in der Bewegung und ich fuhr zu unserer Völkerkundlerin herum.
„Fassen Sie sie nicht an!“
Ich starrte sie für eine Sekunde nur an. Es war an der Zeit, der Frau Doktor das Reglement auf einem Schiff der VEGA zu erklären.
„Dr. Adrian, nachdem Sie nicht gewillt waren, meine kleinen Anspielungen zu verstehen, will ich Klartext mit Ihnen reden.
An Bord eines Schiffes gibt es Regeln. Klar definiert. Zuerst kommt der Commander, dann der Captain und ganz am Ende die Passagiere. Sie sind Passagier. Sollten Sie nicht Wert darauf legen, den Rest der Reise in Ihrem Quartier zu verbringen, sollten Sie jetzt den Mund halten.“
„Das wagen Sie nicht!“
„Möchten Sie es darauf anlegen? Übrigens, sollten Sie es nicht wirklich verstehen, man kann Ihr Verhalten als Meuterei auslegen. Schlagen Sie ruhig nach: Paragraph 103 des Bordreglements. Und sollten Sie noch einmal meine Befehle anzweifeln, dann werde ich diesen Paragraphen hervorholen. Ist das klar?“
Innerlich klopfte ich mir auf die Schulter, ich war keinen Moment lang laut geworden, sondern hatte ruhig und sachlich gesprochen. Dass meine Knie anfingen zu zittern und ich innerlich bis zum Zerreißen gespannt war, merkte hoffentlich keiner der Anwesenden.
Dr. Adrian biss sich auf die Lippe.
„Ich habe gefragt, ob Ihnen das klar ist?“
Das Geräusch, das sie vernehmen ließ, konnte man kaum wahrnehmen.
„Bitte?“
„Ja!“
„Ja, was?“
„Ja, Sir!“
Es musste sie viel Überwindung gekostet haben, aber mir nicht weniger. Warum musste es solche Auseinandersetzungen geben? War das Leben nicht kompliziert genug?
Die beiden Herren hatten ihr Werk fortgesetzt und die bewusstlose Biologin aufgehoben.
Ich selbst trat zur Bordsprechanlage und drückte den Knopf.
„Labor - Brücke. Captain Brandis hier.“
War da ein leichtes Zittern in der Stimme? Ich glaubte nicht, aber ich war mir nicht ganz sicher.
„Brücke hier, ich höre.“
„Dr. Paulson hat eine Gehirnerschütterung. Ansonsten keine erkennbaren Verletzungen. Ich habe sie in den Besprechungsraum bringen lassen und würde gerne Rücksprache mit einem Arzt halten. Allerdings erst, wenn sie wieder zu Bewusstsein gekommen ist.“
„Brücke hat verstanden. Bleiben Sie erst einmal bei der Frau Doktor. Momentan kann ich Sie hier entbehren.“
„Danke, Sir.“
„Melden Sie sich, wenn sie wieder wach ist.“
„Aye, aye, Sir.“
Von da an wurde es fast zur Routine, die immer wiederkehrenden Probealarme. Allerdings blieb der Alarm, nur für mich, eine Ausnahme. Dies hatte auch nur funktioniert, da der Commander genau wusste, wo ich mich zu diesem Zeitpunkt befunden hatte.
Dafür gab es keine Situation mehr, die einen vor einem Alarm schützte. Beim Essen, beim Rundgang, sogar beim Duschen konnte er einen ereilen. In letzterem Fall allerdings schlang ich mir ein Handtuch um. So ganz im Adamskostüm wollte ich dann doch nicht auf der Brücke erscheinen.
Manchmal gab es Tadel, manchmal ein grimmiges Lob. Meine Zeit wurde besser, solange ich mich in der relativen Nähe der Brücke befand. Einmal weilte ich im Laderaum 2, als die Glocken losgingen. Das bedeutete, drei Decks zu überbrücken. Atemlos kam ich auf der Brücke an und erntete ein Kopfschütteln des Commanders.
„Das ist inakzeptabel, Captain.“
Erklärungen meinerseits wurden als Ausflüchte abgetan.
„Im Ernstfall zählt jede Sekunde. Wenn Sie nicht auf der Brücke sind und Gefahr für Schiff und Besatzung besteht, muss ich eventuell ein Ausweichmanöver fliegen und dann kann es zu Verletzungen kommen.
Ich erwarte die Klarschiffmeldungen innerhalb von achtzig Sekunden nach ertönen der Alarmglocke.“
Er hatte ja Recht, aber in dieser Zeit alle drei Decks zu überbrücken, war fast unmöglich. Da half nur eines: Üben.
Ich beschloss, in meiner Freizeit die Strecke in der gewünschten Zeit hinter mich zu bringen. Nach einer Woche hatte ich es geschafft.
*** *** ***
Als die Mannschaft es insgesamt geschafft hatte, den Ansprüchen zu genügen, wurden die Alarme seltener. Eine weise Entscheidung, denn irgendwann hätte es passieren können, dass die Männer und Frauen es über hatten und nicht mehr so schnell die Stationen einnahmen. Sollte es sich dann um einen wirklichen Notfall handeln, wären die Folgen katastrophal.
Der Mensch funktionierte also an Bord der Omegron II, was es nun noch zu testen galt, war das Schiff. Hierzu gab es eine Testreihe, die die Ingenieure auf der Erde ausgearbeitet hatten. Diese wurden noch ergänzt durch die Ansprüche des Commanders. So ergab sich ein recht ansehnliches Quantum, das es zu absolvieren galt.
Flugmanöver, Simulationen von Meteoritenstürmen, ZG (Zusätzliche Gravitation), Radarausfall, Maschinenschaden und einiges mehr musste durchgespielt werden. Eines gab es, nachdem die Tests angelaufen waren, nicht mehr: Langeweile.
Ich saß in meinem Sessel, der Commander fütterte den Bordcomputer, während ich meine Instrumente beobachtete. Die Cockpitscheiben vor mir waren zwar ganz nett, aber wirklich helfen konnte der Blick nach außen nicht. Dafür gab es die Anzeigen. Ich war gerade mit meinem Check fertig, als mich der Commander ansprach.
„Captain, schalten Sie die Automatik ab und übernehmen Sie das Steuer. Wir werden einige Tests der Flugeigenschaften durchführen. Ich möchte, dass Sie dabei die wildesten Manöver fliegen. Doch, ich denke, das brauche ich nicht extra zu erwähnen, behalten Sie die Instrumente im Auge. Bevor Sie beginnen, geben Sie Alarm und informieren Sie die Besatzung.“
„Alarm geben und Besatzung informieren, dann freier Flug. Aye, aye, Sir.“
Ich drückte den roten Knopf und umgehend erscholl das durchdringende Geräusch der Alarmglocken. Da wir diesen Test während der regulären Schicht durchführten, bekam ich sehr schnell die Klarschiffmeldungen der einzelnen Stationen. Nur unsere Wissenschaftler ließen sich etwas mehr Zeit. Nachdem auch sie sich gemeldet hatten, drückte ich den Knopf für die Sprechanlage.
„Brücke an Besatzung. Wir führen einige freie Manöver durch. Bitte bleiben Sie angeschnallt.“
Der letzte Satz war auf unsere Weißkittel zugeschnitten. Sie nahmen sich oft die Freiheit, sich wieder loszuschnallen, noch bevor die Genehmigung erteilt worden war.
Aus dem Lautsprecher kam plötzlich die Stimme unseres Kochs.
„Kombüse an Brücke: Dauert es länger?“
Ich sah zum Commander. Dieser drückte selbst den Knopf.
„Kombüse, hier Brücke. Wo liegt das Problem, Sergeant?“
„In einem Apfelkuchen, den ich in der Röhre habe.“
„Dann schlage ich vor, Sie drehen die Temperatur ein wenig herunter.“
„Aber Sir, das tut dem Kuchen gar nicht gut.“
Er bekam keine Antwort von Commander Brandis. Schließlich meldete er sich wieder.
„Temperatur reduzieren, Aye, aye, Sir.“
Wir warteten, dann erklang Sergeant Harris' Stimme.
„Erledigt, Sir. Bin wieder angeschnallt. Danke.“
„Ich denke, er wird auch so ganz toll werden“, versuchte der Commander ihn zu trösten.
„Danke für Ihr Vertrauen, Sir.“
Commander Brandis wandte sich mir zu.
„Also los, Captain, und schonen Sie uns nicht.“
*** *** ***
Ein Ziel zu erreichen, dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. Zuerst einmal der automatische Anflug. Man berechnet die Flugbahn und gibt sie in die Automatik ein. Ab und zu kontrollieren, ob der Kurs noch stimmt, eventuell korrigieren und fertig. Moderne Astronautik.
Die nächste Möglichkeit ist der manuelle Anflug. Langwierig, anstrengend und - langweilig. Man zählt nur die Stunden, bis das Ziel endlich erreicht ist, oder die Ablösung einem das Steuer abnimmt. Dann massiert man sich die steifen Finger und versucht, wieder Leben in sie zu bekommen. Physisch und psychisch eine Tortur. Doch auch das muss ein Pilot meistern.
Dann die Variante Nummer drei: Völlig freies Manöver. Man hat noch immer ein Ziel, aber man hat es nicht eilig, dorthin zu kommen. Man hat die Chance, Manöver durchzuführen, für die ansonsten keine Zeit bleibt, aber auch eine Notwendigkeit besteht. Doch um ein Schiff auf Herz und Nieren zu prüfen, ist dies die einzige Möglichkeit.
Nur in extremen Situationen kann oder muss man dies auf einem regulären Flug. Ausweichmanöver, um einem Meteoritensturm zu entgehen, oder aber man ist in einem Gefecht. Beides ist nicht angenehm und lebensbedrohlich. Kein vernünftiger Mensch will in solch eine Situation kommen. Nur Abenteuerschriftsteller beschwören solche Situationen absichtlich herbei. Seit ich selbst unter den Sternen flog und vor allem seit meinem Dienst auf der MLK, konnte ich den Commander gut verstehen mit seiner Abneigung dem Wort Abenteuer gegenüber.
Aber wenn man Testpilot ist und sozusagen von berufswegen solche Manöver durchführen musste - was sollte es Schöneres geben?
Zuerst riss ich den Steuerknüppel an mich, was zur Folge hatte, dass das Schiff steil in die Höhe flog, um in einem einfachen Salto einen perfekten Kreis zu beschreiben. Kaum war das Schiff wieder in der Horizontalen - dies natürlich im relativen Maßstab, denn im Raum gibt es sowas bekanntlich nicht - ließ ich das Steuer nach Backbord unten schnellen, mit einer ruckartigen Bewegung nach links und rechts. Dies hatte zur Folge, dass die Omegron in Spiralen über den Backbordbug in Richtung Andromeda flog.
Als ich das Schiff wieder in die Horizontale gebracht hatte, wiederholte ich das Ganze über Steuerbord.
Danach kam das BS 4 an die Reihe. Abwechselnd Backbord und Steuerbord mit vier G Beschleunigung. Nach etwa zwei Minuten ergänzte ich das Manöver noch mit einer nach oben und unten führenden Bewegung.
Die Anzeige des Flugschreibers kam kaum nach und der Kurs sah aus, als wäre die Maschine völlig außer Kontrolle.
Schließlich ging ich wieder in einen Spiralflug über, diesmal aber geradeaus, allerdings nicht lange und ich ließ einige Vorwärts- und Rückwärtssaltos einfließen.
Nach dem dritten geschah es dann. Unser künstliches Schwerkraftfeld hatte einen Schluckauf. Das ist bestimmt nicht die korrekte Beschreibung, doch die treffendste, die mir einfiel. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich völlig schwerelos. Dann sackte ich wieder in meinen Sitz, dann war ich erneut schwerelos und es ging weiter mit diesem Schluckauf.
Ich brach das Manöver ab und versuchte das Schiff unter Kontrolle zu bringen. Es dauerte einige Sekunden, doch schließlich flogen wir einen normalen Kurs.
Kaum war dies geschehen, als auch das Auf und Ab nachließ und die künstliche Schwerkraft zur Zufriedenheit arbeitete.
Commander Brandis drückte den Sprechknopf:
„Brücke an TÜ: Was war das?"
Es dauerte einen Augenblick, bis Steffens Stimme aus dem Lautsprecher klang.
„TÜ hier. Ich habe leider noch keine Theorie, Sir."
„Theorien sind auch nicht das, was mich interessiert, Lieutenant. Mich interessieren Fakten und die so schnell als möglich."
„Aye, aye, Sir!"
Steffens Schlucken war deutlich zu hören. So etwas wie Bedauern machte sich in mir breit, doch ich hatte nicht lange Zeit, mich diesem Gefühl hinzugeben.
„Captain, Sie sollten feststellen, bei welchem Flugmanöver genau dieses Verhalten des Schwerkraftfeldes aufgetreten ist."
„Aye, aye, Sir"
Ich studierte schon die Aufzeichnungen. Hatte er dies nicht bemerkt? Doch er hatte, doch das Reglement sah vor, dass er den Befehl zu geben hatte. Und noch etwas musste nun geschehen und der Commander verlor auch keine Zeit.
„Brücke an alle: Bitte die Klarschiffmeldungen und die eventuellen Schäden."
Die Besatzung hatte mitgehört, deswegen wusste Tom Bauer auch, dass das TÜ beschäftigt war. Also begann er mit der Meldung.
„NC an Brücke, keine Schäden. Der Computer funktioniert ohne Beanstandung, der Kurs müsste schon bei Ihnen auf dem Schirm sein."
„Danke, NC."
„RC an Brücke, keine Schäden, keine Kontakte."
„Danke, RC."
„FK an Brücke. Kurzschluss in Lautsprechersystem 2. Beeinflusst allerdings den Betrieb nicht, nach einer kurzen Reparatur ist alles wieder in Ordnung. Ansonsten keine Anfragen, die uns betreffen.“
„Danke, FK, wie lange wird die Reparatur dauern?“
„Etwa zwanzig Minuten, Sir.“
„Dann fangen Sie an.“
„Aye, aye, Sir.“
„Kombüse an Brücke. Mein Ofen hat keinen Strom mehr, der Kuchen ist wohl nicht mehr zu retten. Außerdem ist ein Schrank aufgesprungen und hat etliche Teller freigegeben. Gäste dürfen wir jetzt nicht mehr empfangen und unser Pilot muss sein Schnitzel von einem Suppenteller genießen.“
„Sergeant!“
Die Stimme des Commanders klang streng.
„Entschuldigung, Sir. Ist mir so rausgerutscht.“
Vater seufzte.
„Die Reparatur wird auf sich warten lassen, ich brauche den Bording im TÜ.“
„Aber Sir, da bleibt die Küche kalt.“
„Wir werden es überleben, Sergeant.“
„Aber Sir...“
„Danke, Kombüse.“
Sergeant Harris verstummte. Besser für ihn, denn in solch einer Situation sollte man den Boss nicht zusätzlich reizen.
Ich widmete mich weiter meiner Analyse und wartete auf die Stimme von Professor Adrian. Doch der Lautsprecher blieb stumm.
„Brücke - Labor. Ihre Meldung bitte.“
Der schnarrende Tonfall war wieder da. Oft genug hatte ich davon gelesen, oft genug hatte ich ihn gehört. Anscheinend hatte der Commander in dieser Situation keine Nachsicht mehr mit unseren Wissenschaftlern, oder war noch etwas anderes im Spiel? Sorge vielleicht? Ich sah von meinen Instrumenten auf und direkt in das Gesicht meines Vaters.
Wenn es Sorge war, dann hatte er sich vollkommen unter Kontrolle. Nur ein schwach zuckender Wangenmuskel verriet ihn. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er angestrengt nachdachte und er es nur mit Mühe schaffte, nicht zu explodieren.
„Labor? Hören Sie mich?“
Noch immer keine Reaktion, nicht das leiseste Geräusch kam aus dem Lautsprecher. Nun begannen die Finger des Commanders unruhig zu werden. Ich fragte mich, was ich in dieser Situation tun würde. Zuerst einmal musste man sich Klarheit verschaffen, was im Labor geschehen war. Sollte es eine triftige Erklärung geben, müsste man angemessen reagieren, sollte es die nicht geben, dann musste man ein für alle Mal die Disziplin im Labor wiederherstellen. Mit klaren Worten.
Nun musste der Commander jede Sekunde etwas unternehmen und richtig, kaum hatte ich die Worte zu Ende gedacht, als er den Knopf der Sprechanlage erneut drückte. Diesmal rief er aber nicht das Labor, sondern das Radarcontrollcenter.
„Brücke – RC. Lieutenant Kasprow, sehen Sie bitte nach unseren Weißkitteln! Irgendetwas hält sie von der Klarschiffmeldung ab.“
„RC – Brücke. Weißkittel wecken. Aye, aye, Sir.“
Vaters Stimme hatte sehr ruhig geklungen, als ob er die Uhrzeit abfragte. Aber die Verwendung des Wortes „Weißkittel“ machte jedem klar, dass es mit seiner Gelassenheit nicht weit her war.
Ich rechnete nach, dass der Lieutenant etwa acht Sekunden brauchen würde, von seinem Platz über den Flur zum Labor. Er schaffte es in fünf Sekunden. Wahrscheinlich hatte er schon mit dem Befehl gerechnet.
„Labor an Brücke, hier Lieutenant Kasprow. Es hat einen Unfall gegeben. Ein Schwerverletzter.“
„Brücke hier. Dr. Paulson soll sich darum kümmern.“
„Sir, es handelt sich um Dr. Paulson.“
Wie sich später herausstellte, wollte unsere Biologin ein Instrument sichern und hatte sich abgeschnallt. Genau in diesem Moment kam es zum Versagen des Schwerkraftfeldes. Die schmächtige Frau wurde quer durchs Labor katapultiert und machte eine unsanfte Bekanntschaft mit der Bordwand.
Anstatt dies sofort zu melden, versuchten ihre Kollegen, sie zu versorgen. Dieses Verhalten würde noch ein Nachspiel haben, doch zu allererst war es wichtig herauszufinden, was unserem Genie genau fehlte.
„Was sagt Dr. Bonterrega?“
„Sir, der Doktor ist ratlos. Sein Fachgebiet ist die Botanik und die Ökologie. Mit Säugetieren, so sagt er, hat er sich nie befasst.“
„Sir, ich bin zwar kein Arzt, aber ich habe mehrere Sanitäterschulungen absolviert.“
„Was sitzen Sie dann noch herum, Captain?“
„Aye, aye, Sir.“
Ich erhob mich und eilte den Abgang hinunter. Ich fühlte mich alles andere als qualifiziert, die gesundheitliche Verfassung unserer Biologin zu beurteilen, aber anscheinend war ich der Einzige mit diesen Schulungen.
Ich betrat das Labor und fand unsere beiden unverletzten Wissenschaftler und unseren RC neben Dr. Paulson kniend vor. Jeder mit einem sorgenvollen Gesicht und unschlüssiger Miene. Gerade schlug Professor Adrian vor, die Verletzte erst einmal auf die Notliege zu packen.
„Unterstehen Sie sich, Dr. Paulson zu bewegen. Treten Sie alle einen Schritt zurück.“
Irgendetwas in meiner Stimme musste die Anwesenden beeindruckt haben, denn sie ließen von der am Boden liegenden Frau ab und traten tatsächlich zurück. Mit zwei schnellen Schritten kniete ich neben der Verletzten nieder.
Vorsichtig befühlte ich ihren Puls. Er war schnell und dünn, aber scheinbar gleichmäßig. Ihre Atmung hatte keinerlei Auffälligkeit. Als Nächstes tastete ich vorsichtig die Halswirbel nach etwaigen Verletzungen in diesem Bereich ab. Ich konnte nichts feststellen. Auch an anderen Stellen gab es keine Anzeichen eines Bruches. Was blieb, war die Bewusstlosigkeit. Ich glaubte zu wissen, was der jungen Biologin zugestoßen war. Dazu musste ich aber noch einige Untersuchungen vornehmen.
„Lieutenant, holen Sie bitte den Notfallkoffer aus dem Besprechungsraum!“
„Aye, aye, Sir.“
An mehreren Punkten auf dem Schiff gab es Notfallkoffer. Sie enthielten die wichtigsten Instrumente und Medikamente für den medizinischen Notfall.
Es dauerte nicht lange und unser RC hielt mir den Koffer entgegen.
Ich öffnete ihn und entnahm zuerst das Stethoskop. Wie schon durch die Pulsfühlung festgestellt, konnte ich den schnellen Herzschlag bestätigen. 110 Schläge in der Minute waren viel, aber nicht bedrohlich. Als Nächstes legte ich die Manschette zur Blutdruckmessung an. 97 zu 68. Das Herz schlug schnell, aber mit wenig Kraft.
Ich entfernte die Manschette und nahm die kleine Lampe aus dem Koffer und legte mir den Augenspiegel an. Die Pupillenreaktion war mehr oder minder normal. Der Augenhintergrund ließ keine Anzeichen erkennen, dass es zu einer größeren Schädigung des Gehirns gekommen war.
Als Letztes befühlte ich den Schädelknochen. Außer einer gewaltigen Beule konnte ich nichts feststellen.
Nun fehlte nur noch die Befragung, sobald die Bewusstlosigkeit vorüber war. Für mich stand fest, soweit ich dies beurteilen konnte, unsere Biologin hatte nichts weiter, als eine Gehirnerschütterung. Natürlich wäre es jetzt angebracht, den Kopf zu röntgen, aber zu so etwas fehlte uns die Ausrüstung.
Ich dachte, es verantworten zu können, dass sie vorsichtig transportiert wurde. Als ich hochsah, bemerkte ich die erwartungsvollen Gesichter der Umstehenden.
Ich nickte ihnen allerdings nur zu und wandte mich an den Ökologen und Lieutenant Kasprow.
„Lieutenant, nehmen Sie Dr. Bonterrega und tragen Sie Dr. Paulson in den Besprechungsraum. Keine Angst, es ist wohl nur eine Gehirnerschütterung.“
„Sind Sie sicher?“
Die Stimme von Dr. Adrian klang fast anklagend.
„Sie sind ja schließlich kein Arzt!“
„Nein, ich bin kein Arzt. Ich bin Pilot und Captain. Meine Ausbildung zum Sanitäter war zwar kurz, aber intensiv. Welche Ausbildung haben Sie auf diesem Gebiet?“
„Keine, aber mit einem Sanitätskurs sind Sie nicht weit von ‚keine’ entfernt.“
Ich war in Versuchung, den Commander einzuschalten, aber etwas hielt mich davon ab. Wenn ich es nicht schaffte, dieses Problem alleine zu meistern, dann war es mit meiner Autorität dahin. Aus dem Augenwinkel sah ich sowohl den Ökologen als auch den RC unsere Auseinandersetzung beobachten.
„Nicht weit, aber dennoch bin ich davon entfernt.“
Fast wäre ich erschrocken, als ich meine Stimme hörte. War da nicht der schnarrende Tonfall, dessen sich der Commander bediente? Sollte ich wirklich diese Angewohnheit übernommen haben? Schien so.
„Ich lasse nicht zu, dass Sie...“
Ich unterbrach sie.
„Sie lassen nicht zu? Ich glaube, Sie verkennen ein bisschen Ihre Situation. Sie haben hier nicht zuzulassen oder zu verhindern!“
Während sie nach Luft schnappte, wandte ich mich an Lieutenant Kasprow.
„Hatte ich nicht eben einen Befehl erteilt, Lieutenant?“
„Ja, Sir, hatten Sie. Verzeihung, Sir!“
Er machte sich daran, die bewusstlose Biologin hochzuheben. Dr. Bonterrega half ihm dabei.
„Halt!“
Die beiden Träger verharrten mitten in der Bewegung und ich fuhr zu unserer Völkerkundlerin herum.
„Fassen Sie sie nicht an!“
Ich starrte sie für eine Sekunde nur an. Es war an der Zeit, der Frau Doktor das Reglement auf einem Schiff der VEGA zu erklären.
„Dr. Adrian, nachdem Sie nicht gewillt waren, meine kleinen Anspielungen zu verstehen, will ich Klartext mit Ihnen reden.
An Bord eines Schiffes gibt es Regeln. Klar definiert. Zuerst kommt der Commander, dann der Captain und ganz am Ende die Passagiere. Sie sind Passagier. Sollten Sie nicht Wert darauf legen, den Rest der Reise in Ihrem Quartier zu verbringen, sollten Sie jetzt den Mund halten.“
„Das wagen Sie nicht!“
„Möchten Sie es darauf anlegen? Übrigens, sollten Sie es nicht wirklich verstehen, man kann Ihr Verhalten als Meuterei auslegen. Schlagen Sie ruhig nach: Paragraph 103 des Bordreglements. Und sollten Sie noch einmal meine Befehle anzweifeln, dann werde ich diesen Paragraphen hervorholen. Ist das klar?“
Innerlich klopfte ich mir auf die Schulter, ich war keinen Moment lang laut geworden, sondern hatte ruhig und sachlich gesprochen. Dass meine Knie anfingen zu zittern und ich innerlich bis zum Zerreißen gespannt war, merkte hoffentlich keiner der Anwesenden.
Dr. Adrian biss sich auf die Lippe.
„Ich habe gefragt, ob Ihnen das klar ist?“
Das Geräusch, das sie vernehmen ließ, konnte man kaum wahrnehmen.
„Bitte?“
„Ja!“
„Ja, was?“
„Ja, Sir!“
Es musste sie viel Überwindung gekostet haben, aber mir nicht weniger. Warum musste es solche Auseinandersetzungen geben? War das Leben nicht kompliziert genug?
Die beiden Herren hatten ihr Werk fortgesetzt und die bewusstlose Biologin aufgehoben.
Ich selbst trat zur Bordsprechanlage und drückte den Knopf.
„Labor - Brücke. Captain Brandis hier.“
War da ein leichtes Zittern in der Stimme? Ich glaubte nicht, aber ich war mir nicht ganz sicher.
„Brücke hier, ich höre.“
„Dr. Paulson hat eine Gehirnerschütterung. Ansonsten keine erkennbaren Verletzungen. Ich habe sie in den Besprechungsraum bringen lassen und würde gerne Rücksprache mit einem Arzt halten. Allerdings erst, wenn sie wieder zu Bewusstsein gekommen ist.“
„Brücke hat verstanden. Bleiben Sie erst einmal bei der Frau Doktor. Momentan kann ich Sie hier entbehren.“
„Danke, Sir.“
„Melden Sie sich, wenn sie wieder wach ist.“
„Aye, aye, Sir.“
Dieser Autor möchte Reviews nur von registrierten Nutzern erhalten. Bitte melde dich an, um einen Review für diese Geschichte zu schreiben.