Belongo
von Ace Kaiser
Kurzbeschreibung
Eine nicht authentische und verfremdete Geschichte über eine Diamantenmine in Afrika. Recherche zu Technik und Ausrüstung sind von Stinkstiefel.
GeschichteAbenteuer / P16 / Gen
12.09.2011
23.02.2017
37
260.000
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23.02.2017
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16.
Über der nächtlichen Ruinenstadt hing der rote Schein mehrerer großer Feuer. Man konnte nicht gerade sagen, dass Belongo Mining und die Ranger besonders schonend mit den Männern des Riki gewesen waren, angemessen wäre eine Bezeichnung gewesen wie „rücksichtsloser Kampf“. Das hieß aber nicht, dass jetzt, wo alles vorbei war – Hannes und Niklas hatten von einer Kampfpause gesprochen, und sowohl Jason Scott, als auch General Shatterfield und die anderen amerikanischen Offiziere hatten dazu genickt – jedem Überlebenden dennoch eine Kugel durchs Gehirn gejagt wurde. Zumindest solange nicht, wie er nicht versuchte, die Soldaten, die die Straßen nach Überlebenden absuchten, doch noch irgendwie umzubringen. Aber die Männer des Riki, die von der verteilten Droge, dem Omonek, so berauscht gewesen waren, dass sie nicht einmal mehr mitbekommen hatten, dass sie eigentlich schon tot waren, tja, die waren bereits während der Kampfhandlung getötet worden. Jene, die den Kampf, den Rausch oder einfach den Tag überlebt hatten, ob mit oder ohne Omonek, egal ob sie sich versteckt hatten, um sich zu ergeben, oder mehr tot als lebendig auf den Schlachtfeldern gefunden worden waren, wurden je nach Verletzungsgrad entweder zur Moschee gebracht, oder aber gleich zur Ldungas Farm, wo die Firma mittlerweile dank der Unterstützung der Ranger und nachgeholter Ärzte und Pfleger von Belongo Mining über ein gut ausgestattetes Feldlazarett verfügte. Viele waren es nicht gewesen, zumindest nicht viele Omonek-Konsumenten. Die meisten, die das weiße Pulver geschnupft hatten, hatten bis zur Bewusstlosigkeit oder bis zum Tod gekämpft. Der fatale Befehl, jedem am Boden Liegenden eine Kugel durch den Kopf zu jagen, war aus Selbstschutzgründen ergangen, da selbst Schwerstverletzte noch versucht hatten, einen oder mehrere Soldaten mit in den Tod zu reißen. Dementsprechend vorsichtig waren die Bergungsarbeiten auch vonstatten gegangen. Hannes hatte die Teams instruiert und ihnen befohlen, mit den Überlebenden so umzugehen, als wären sie vermint worden. Im Fachjargon nannte man es eine „Booby Trap“. Ein Schwerverletzter oder ein Toter wurde auf eine scharfe Mine oder Handgranate gelegt, die explodierte, wenn der Verwundete gedreht oder angehoben wurde; eine Methode aus den unschöneren Zeiten eines jeden Krieges. Dementsprechend waren die Überlebenden wie mit Wattehandschuhen eingesammelt worden, was sicher noch den einen oder anderen späten Toten bedeutet hatte, aber Niklas war nicht bereit gewesen, seine Leute zu opfern. Und die Ranger hatten wahrlich genug leiden müssen.
Die, die gestorben waren, und ihre Zahl ging fast an die zweitausend heran, wurden nun an mehreren zentralen Punkten in der Oststadt und der Weststadt auf Scheiterhaufen verbrannt. Dies tat man aus gesundheitlichen Gründen, denn eine solche Menge an Toten musste zwangsläufig Seuchen auslösen, wenn man nicht schnell handelte. Ihre Kriegswaffen waren eingesammelt worden, ebenso die Tikalak, die Trophäen, die aus getrockneten Menschenteilen hergestellt worden waren. Man konnte sie nach teilweise zwanzig Jahren den Opfern nicht zurückgeben, aber man konnte ihnen Respekt erweisen, also ließ Axel die Tikalaks - Ohren, Finger, Penisse, Brustwarzen, Augen, Klitorides und Schamhäute - auf einem eigenen, gesonderten Scheiterhaufen verbrennen.
Der Scheik hatte es sich nicht nehmen lassen, für jeden dieser Scheiterhaufen ein leises Gebet zu sprechen, obwohl das für ihn einen beachtlichen Weg bedeutet hatte, und das nach den Strapazen des ganzen Tages für den alten, blinden Mann. Der aber sagte von sich selbst, dass er sich zwanzig, wenn nicht dreißig Jahre jünger fühlte, seit er wieder in Keounda City sein durfte, und dass diese Anstrengungen für ihn wie ein Freudentanz wären, den er übrigens auch schon seit dreißig Jahren nicht mehr hinbekommen hatte.
Alles in allem war die Lage nach der Flucht des Riki und seiner letzten Gefolgsleute ruhig zu nennen. Dazu waren die Marines und die Ranger des Untersuchungskommandos als Verstärkungen gekommen, ebenso wie die weiteren Aushebungen von Belongo Mining. Aber man war weit davon entfernt, die eroberte Stadt bereits als befestigt anzusehen, auch wenn man ab und an entweder einen Jagdflieger oder einen Kampfhubschrauber in der Ferne hören konnte. Nun, nachdem auch der größere Teil der Stadt, der Osten, vom Feind geräumt war, musste auch eine größere Grenze beschützt werden, ganz davon abgesehen, dass die Ruinen noch nicht vollständig durchsucht waren, und jederzeit irgendein durchgeknallter Irrer auf Omonek ein Blutbad anzurichten versuchen könnte. Versucht hatte der Riki das mehrfach, unter anderem durch Halbwüchsige, die sich an Orten hatten verstecken können, die für Männer zu klein gewesen waren. Aber ihnen hatte der Riki zum Glück nur leichte Handwaffen anvertraut. Eine Handgranate, in eine Gruppe geworfen, hätte schlimme Auswirkungen haben können.
„Blizzard.“
Corporal Miller, der die Straße nach Osten bewachte und deshalb über fünf Stellungen mit je zwei Mann und eine Hauptstellung mit drei Soldaten plus ihm gebot, fuhr herum und sah in Richtung des roten Lichtscheins der Feuer. Dort zeichnete sich tatsächlich die große Gestalt eines Menschen ab. Verdammt, der Mann hätte sich zu ihnen setzen können, und keiner der vier Mann starken Stellung direkt an der Straße hätte etwas bemerkt. „Foxtrott“, antwortete Nathan Miller mit der Gegenparole.
Der große Mann kam näher und ging zwischen ihnen in die Hocke. Es war einer der Deutschen, Hannes Malicke. In seiner Truppe nannten sie ihn nur den Unsterblichen.
„Ich will nicht mosern, Sir, aber war es nicht etwas leichtsinnig, dass Sie aufrecht zu uns gekommen sind?“, fragte Private Osbourne.
Hannes seufzte. „Leichtsinnig? Hören Sie, in den letzten beiden Tagen habe ich mich auf eine Handgranate geworfen, deren Stift nicht gezogen worden war; ich stand auf einem freien Feld, und eine Brandlohe einer Napalm-Explosion schoss dicht genug an mir vorbei um meine Haare zu versengen und mir einen Sonnenbrand zu verpassen; und auf der Fußgängerbrücke sind die Kugeln so haarscharf an mir vorbeigezischt, ich habe Löcher in meiner Uniform. Denken Sie wirklich, Leichtsinn bedeutet etwas für mich?“
Osbourne kratzte sich mit der freien Linken unterm Stahlhelm. „Beachtlich. Verstehe. Entschuldigen Sie die Frage, Sir.“
Hannes lachte. „Um ehrlich zu sein habe ich vergessen, mich gebückt zu nähern. Ich bin etwas müde, denke ich.“
„Wir sind alle müde, Sir“, sprang der Corporal ihm zur Seite.
„Aber wir tun unseren Job“, ergänzte Osbourne.
„Und Sie sind alle gut darin“, sagte Malicke in einem beschwichtigenden Ton. „Was mich zum Thema bringt. Irgendwas gesehen?“
„Weder mit den Thermoscannern, noch mit den Nachtsichtgeräten, Sir. Es ist alles ruhig. Zumindest ruhiger als auf dem Fluss.“
„Oh ja, der Fluss. Da herrscht ein Verkehr, den Sie sich nicht vorstellen können. Mir scheint, alles, was im Umkreis von eintausend Kilometer schwimmen kann, ist gerade auf dem Fluss unterwegs. Viele legen auch an und bringen Geschenke. Essen, Tand, einen Teil ihrer Handelswaren, was gerade zur Hand ist.“
Osbourne wandte sich der nahen Waldlinie zu, wie es sein Job war. „Schätze, die freuen sich alle ein Loch in den Bauch, weil sie jetzt endlich wieder auf dem Lagabanda fahren können, wie es ihnen beliebt.“
„Einige steigen auch aus, um nach Angehörigen zu suchen“, sagte Hannes bedächtig. „Wer mag es ihnen verdenken? Mehr als die Hälfte der Männer des Riki wurden in den Dienst gezwungen und dann mit Gewalt, Drogen, Privilegien und drakonischen Strafen zum Gehorsam gezwungen. Deshalb hat er seine Leute ja auch auf Ketamin gesetzt, bis ihr logisches Denken ausgeschaltet war, sie keinen Schmerz mehr verspürt haben und bis zur letzten Körperbewegung gekämpft haben.“
„Ketamin, Sir?“, fragte Private Sloane interessiert.
„Ein Rauschgift.“
„So schlau war ich auch schon“, gab sie ein wenig patzig zurück.
Hannes unterdrückte ein Lachen. „Eine synthetische Droge, die, ist die Formel einmal bekannt und ist das Labor fähig, in großen Mengen hergestellt werden kann. Wir nehmen zumindest an, dass das Omonek Ketamin ist, aber es kann auch eine andere Droge sein. Eine, die Schmerzfreiheit und einen Trance-Zustand verursacht, in dem die Berauschten nicht einmal mitbekommen, dass sie eigentlich schon tot sind...“ Hannes schüttelte angewidert den Kopf.
„Ich weiß, Sir. Ich habe mehr als einem von denen, die quasi nur noch von den Sehnen zusammengehalten wurden, eine Kugel in den Kopf verpasst, weil sie immer noch versucht haben, mich umzubringen. Die, die mich nur noch beißen konnten, habe ich verschont, aber ich bin mir vorgekommen, als wäre ich Nebendarsteller in einer der Zombie-Serien. Sie wissen schon, einer von denen, die zu blöde sind, um wegzulaufen oder irgendwo hochzuklettern.“ Auch der Corporal schauderte. „Meinen Sie, er kommt wieder? Oder hat er genug?“
„Der Riki?“ Nachdenklich strich sich Hannes übers Kinn. „Er hat gewiss neun von zehn seiner Leute eingebüßt, dazu einen Großteil seines Volkes, als wir die T-54 überraschend überwinden konnten und die Brücken genommen haben, bevor er die Hotels hat auflösen können, geschweige denn die Tikalak-Werkstätten. Wir sind ihm technisch und mittlerweile auch personell überlegen. Wenn er keinen letzten Anlauf haben möchte, der auch den Rest seiner Männer tötet, dann, denke ich, hockt er irgendwo auf dieser Hochebene im Dschungel, leckt seine Wunden und fragt sich, wie lange die Männer noch auf ihn hören werden, jetzt, wo nichts mehr da ist, worüber ihr König regieren kann. Das heißt aber nicht, dass er es nicht später versuchen wird. Die Söldner, die die Mine überfallen haben, sollten ihm zu Hilfe eilen. Das kann wieder passieren, wenn seine Geldgeber davon ausgehen, dass er noch etwas erreichen kann, auf die eine oder andere Weise.“
„Na, deshalb sitzen wir ja hier“, sagte Sloane altklug. „Was sagt denn Boxie? Hat der Infrarotscanner seiner Hirschkuh was gefunden?“
Hannes lächelte milde über den Spitznamen für den Mil Mi 24-D, den die Amis dem russischen Hubschrauber gegeben hatten. Obwohl schon recht alt hatte sich die Mi 24 in all ihren Versionen auf dem Schlachtfeld Belongo geradezu bewährt. Nicht zuletzt, als sie die andere Söldnergruppe aufgerieben hatten, die Keounda City von Norden stürmen sollte, die sich aber selbst mit der Plünderung der Farm eines Kriegsherrn aufgehalten hatte. „Er ist alles von der Mine bis zum Land der Atuti im Süden auf dieser Seite des Flusses auf einer Breite von zwanzig Kilometern abgeflogen, hat aber nichts Auffälliges gefunden. Zumindest keine leicht bewaffneten Kohorten mit Angriffsrichtung Stadt, und auch keine Fahrzeugkolonnen.“
„Das ist beruhigend zu hören. Und was ist mit Ompala City und unseren Leuten dort?“, hakte sie nach.
„Nicht so gut. Der Captain wird Ihnen nach der Ablösung noch etwas dazu sagen. Aber so viel steht fest: Die Marines haben die Botschaft so weit sie konnten von Zivilisten evakuiert und sich danach eingeigelt. Im Moment sieht es nicht so aus, als würde der Mob versuchen, die Botschaft anzugreifen, aber es sind Panzer auf den Straßen, die sich derzeit über die letzten Relikte der belgischen Fremdherrschaft hermachen. Auf der Abraham Lincoln hat man auf jeden Fall Flugzeuge bereit, um notfalls eingreifen zu können, Black Stars hin oder her.“
„Und was passiert jetzt mit Keounda City?“, fragte der Vierte im Bunde, Private Jones. „Was wird aus den Gefangenen?“
„Nun, es scheint so, als wäre die Rettungsaktion, die Ihr Ranger durchgezogen und so teuer bezahlt habt, nicht umsonst gewesen. Die Stadt wurde nicht nur vom Riki befreit, eine Menge wichtiger Leute, die man bei uns Zuhause wohl Kriegsherren nennen würde, die hierzulande aber ein gewichtiges Wort mitzureden haben, wollen sich zusammentun und die Provinz Belongo mit einer funktionierenden Hauptstadt Keounda City wieder aufbauen. Deshalb bequatschen sie gerade Axel und Niklas, um bei dieser Aktion die Führung zu übernehmen. Die guten Herren trauen sich gegenseitig nicht und befürchten, dass, würde einer von ihnen das Amt als Oberhaupt anstreben, sie bewusst oder unbewusst ihre eigenen Clans bevorzugen würden. Bei Axel ist man sich sicher, dass er die Wagonda nicht über Gebühr bevorzugen wird, weil er ein alter Streber ist.“
„Der Riki tot, Keounda City frei, eine ganze vom Krieg erschütterte Provinz auf dem Weg zu einer neuen stabilen Regierung... Wer hätte das gedacht, als wir ausgeflogen sind, um zwei abgeschossene Deutsche aus einer Horde durchgeknallter Zombies zu retten.“ Der Corporal schwieg einen Moment. „Habe ich gerade gesagt, der Riki ist tot? So viel Glück werden wir wohl nicht haben. Er selbst oder sein Schreckgespenst werden die Stadt sicher noch Jahre verfolgen.“
„Ist anzunehmen, ja. Aber erst einmal ist er weg. Und um auf Ihre zweite Frage zu antworten, Private Sloane, wir werden die Gefangenen nach der Entwaffnung, einer medizinischen Überprüfung und in Übereinkunft mit ihren Heimatgemeinden, so diese noch existieren, wieder nach Hause entlassen. Nach der Ent-Rikifizierung.“
„Ent-Rikifizierung? Was ist das denn?“
Hannes grinste breit genug, sodass im Sternenlicht des Hochplateaus und selbst gegen den roten Feuerschein seine Zähne aufblitzten. „Sagen wir, ein magischer Trick, mit dem wir ihnen den Riki austreiben. Bernd Assay hat es vorgeschlagen.“
„Der dicke Wunderknabe? Der, der jeden Soldaten kennt, der in den letzten zehn Jahren irgendwo in Mitteleuropa gedient hat? Ich wusste, er versteht was von Nachschub, aber Magie?“
„Oh ja, er versteht was von Magie, sogar eine ganze Menge, Private Osbourne“, versicherte Hannes. „Zumindest kennt er jemanden, der geradezu magische Wunder vollbracht hat.“
***
Axel stand noch immer unter dem Bann dessen, was Ldunga und die anderen Warlords von ihm verlangten. Ja, verlangten. Warlords, gemeine Kriegsgewinnler, Rassisten gar, die ihren Nachbarn zwanzig Jahre lang nicht die Butter auf dem Brot gegönnt hatten. Und das war an diesem Abend alles hinfällig geworden. Sie wollten zusammenarbeiten, mit ihm an der Spitze. Wie konnten diese Mörder und Befehlshaber über Mörder es nur wagen? Aber sie hatten Recht, und Axel wusste es. Das machte es nicht leichter für ihn, auch nicht besser, eher das Gegenteil war der Fall. Noch hatte er keine eindeutige Antwort auf die Frage des weisen – ja, der Bursche war wirklich, wirklich weise – Imams und der drei Kriegsherren gegeben. Aber eigentlich hatte er von vorneherein gewusst, dass er der Antwort nicht würde entkommen können, denn das war die einmalige Gelegenheit, um im Kriegszerwühlten Belongo verdammt viel Gutes zu tun. Und Meike würde ihn umbringen, langsam und qualvoll, wenn er diese Chance ungenutzt verstreichen ließ.
Apropos Chance, auch wenn er sich noch immer wand und keine eindeutige Antwort gab, so wusste er doch zumindest, was sein Job war, was er tun musste. Da waren zum Beispiel einhundertsiebenunddreißig Deserteure der Riki-Armee in ihrer Hand, dazu fast dreißig halbwüchsige Jungen und Mädchen, die sie entweder aus der Kanalisation gezerrt, oder mit einer Waffe in der Hand gestellt hatten, knapp drei Dutzend Frauen, zehn von ihnen schwanger, und eine überschaubare Zahl an Babies und Kleinkindern. Dazu kamen acht, ganze acht Speere des Rikis, die sie halbtot vom Schlachtfeld geklaubt hatten und um deren Leben ihre Ärzte gekämpft hatten, wie um jedes andere Leben auch. All diese Menschen hatten unter der Knute des ehemaligen Miliz-Leutnants gestanden, waren gezwungen worden, mit Drogen vollgepumpt, hatten sich an sein Werte-, und Belohnungssystem angepasst, aber, als sie die Chance dazu bekommen hatten, da waren sie abgehauen. In eine sehr ungewisse Zukunft, wobei es durchaus eine Frage war, ob es bei den fremden Angreifern, die meisten weiß, überhaupt eine Zukunft geben würde...
Menschen, die heimkehren wollten. Zurück in ihre Dörfer, wenn es sie noch gab; zurück zu ihren Familien, wenn sie noch lebten. Zurück, einfach zurück. Aber wie? Wie konnten sie einfach gehen? Wie einfach ihre Leben wieder aufnehmen? Das, was sie zurückließen, würde Zeit brauchen, um es zu verarbeiten, zu verstehen, hinter sich zu lassen. Das, was sie mitbrachten, mochte die Menschen verschrecken. Unter dem Riki waren all diese Jungs und Männer zu extremer Gewaltbereitschaft erzogen worden, und das nahmen sie von hier wieder mit. Man konnte sie nicht einfach so wieder auf die zugegeben noch ziemlich zerschlagene Gesellschaft in Belongo loslassen; es waren aber auch zu viele, um sie in viel zu kurzer Zeit zu therapieren und ihnen den Weg aus der Gewaltspirale, der sie ausgesetzt gewesen waren, zu zeigen. So etwas brauchte Zeit. Wochen, Monate, Jahre. Und dann waren da noch die Menschen, zu denen sie zurückkehren wollten, Orte, an denen sie zukünftig leben wollten. Menschen dort wussten, woher sie kamen, was sie getan hatten. Sie würden nicht willkommen sein, und wenn doch, dann nicht von allen. Viele von ihnen würden das erste Jahr nicht überleben, einfach weil die Menschen Angst hatten, Angst vor ihnen, Angst vor dem Schatten des Riki. Oder weil diese Männer einfach weiterhin das taten, was ihnen antrainiert worden war: Zuerst zuzuschlagen und nicht zu warten.
Einen großen Vorteil gab es: Außer den Verwundeten, die Meike wieder zusammengeflickt hatte, war keiner von ihnen auf Omonek, und wenn, dann hatten sie es nur in kleinen Dosen erhalten. Soldaten der dritten oder vierten Reihe, stets benachteiligt bei Tikalaks, bei Lebensmitteln, bei einfachen Rauschmitteln wie Schnaps und Bier, und vor allem bei den Frauen. Oder anders ausgedrückt, ihr Verstand war klar genug gewesen, sodass sie sich hatten für eine Flucht entscheiden können, während die meisten Speere des Riki entrückt in eigenen Welten gelebt hatten, in denen ihr Tod eine echte Überraschung gewesen war.
Was tun, sprach Zeus? Es blieb eigentlich nur eines: Den Schatten des Riki von diesen Männern zu nehmen, ein für allemal, und die Kunde davon in ganz Belongo zu verbreiten. Das würde ihnen eine Chance geben, zumindest jenen, die nicht zu Mord und Totschlag zurückkehrten. Und Axel wollte ihnen diese Chance unbedingt geben, so schnell wie möglich. Tatsächlich gab es einen abenteuerlichen Weg dafür. Sehr, sehr abenteuerlich. Sehr, sehr amerikanisch. Sehr, sehr deutsch. Und sehr verrückt. Thomas Herryhaus hatte sofort zugesagt, und das hätte Axel eigentlich die Nackenhaare aufstellen müssen.
Die Show, die Belongo Mining mitten in der Nacht aufführen würde, war nicht nur für die Deserteure des Riki gedacht. Sie richtete sich auch an die Speere Wanaganas, Lobandos und Tarans und an die Bridge Breaker, die nach und nach angelegt hatten und die Öffnung des Fluss wie einen Feiertag begingen. Sie würden in Belongo sehr weit herumkommen, nachdem sie gesehen hatten, was hier geschehen war. Nebenbei bemerkt würden seine Leute und die Rangers natürlich alles, was geschehen würde, auf ihren besten Handy-Kameras aufnehmen und ins Internet hochladen. Axels Team würde das selbst über die Antenne im Camp Diamond in Angriff nehmen.
Axel Herwig stand aus genau diesem Grund in seiner auf Hochglanz gebürsteten Uniform, ohne die Einschusslöcher der Streifschüsse und allzu knappen Passierschüsse, wohlgemerkt, neben einem großen, provisorischen Feuerkorb inmitten des Vorplatzes vor der Moschee. Bei ihm waren sein Bruder Niklas, Meike Herryhaus, die Wunder tätigende Ärztin aus dem fernen Alleman, und der Mann, der alles besorgen konnte, Bernd Assay. Sogar T-Shirts der First Belongo Mining Company, mit denen er bereits über dreihundert Ranger und Speere versorgt hatte. Hübsche blaue Shirts mit einem Frontaufdruck des Namens und einem großen Cartoondiamanten vor dem Umriss des Bezirks Belongo. Hatten einen reißenden Absatz gefunden. Und viele ehemalige Speere des Riki waren auch einfach nur froh gewesen, wieder Kleidung tragen zu können, die sie nicht aus den Händen und der Gnade des Riki erhalten hatten.
Diese vier ließen sich vom flackernden Schein des Feuerkorbs beleuchten. Ein stetiger Luftstrom eines Ventilators, der an einem Generator angeschlossen war, besorgte das Flackern, des Effekts willens.
Dann erschien über dem Platz ein Hubschrauber, der sich durch seinen Lärm schon lange angekündigt hatte. Es war eindeutig eine Maschine der Belongo Mining aus der Mi-24-Gruppe. Der Hubschrauber landete nicht weit vom Feuerkorb, Soldaten der Belongo Mining sprangen herbei und öffneten die Ladetüren. Als diese aufsprangen und das Licht einen großen Mann beleuchtete, zogen sie sich mehrere Schritte zurück und verbeugten sich, was nicht einhundert Prozent dem militärischen Prozedere von Belongo Mining entsprach. Der Mann war älter, aber nicht zu alt, grauhaarig, aber ungebeugt. Seine Augen hatten viel gesehen im Leben, seine Züge waren nicht hart, aber erfahren. Und er trug eine Uniform, wie sie Axel und Niklas und die anderen Soldaten der Belongo Mining trugen. Nur war diese reich dekoriert, mit Gold auf den Schultern, goldenen und silbernen Fangschnüren und einer ganzen Reihe Abzeichen, die wie Orden wirkten. Dieser Mann verließ den Hubschrauber mit starrer Miene und trat an den Korb heran.
Axel und die anderen machten ihm respektvoll Platz und verbeugten sich ebenfalls vor ihm. Der Mann nahm das mit einem Nicken für jeden der drei Männer und der Frau zur Kenntnis. Es war ziemlich eindeutig, dass die vier zu diesem Mann, zu dieser einen Person, aufschauten. In der einfachen Welt des von Milizen und Bürgerwehren verwüsteten Belongos erhöhte dies den Mann zu etwas, zu jemandem, der noch über Axel Herwig stand, noch über Meike, der Wundertäterin. Wer war der Mann, vor dem Axel und Niklas das Haupt beugten, ja, sogar Meike?
Der Mann trat näher an den Feuerkorb heran und konnte nun sehr gut von den Speeren und den Deserteuren gesehen werden. Seine Stimme war ein Tenor, dem das Alter nicht viel hatte anhaben können, und sie war kraftvoll und weit tragend. Der Mann sprach Französisch, welches die Männer und Frauen aus Belongo alle verstanden.
„Ich bin Professor Thomas Herryhaus!“, rief er, während seine Augen jeden einzelnen Menschen auf diesem Platz ins Auge fassen zu schienen. „Ich bin Meikes Großvater, und ich bin der Lehrmeister von Axel, von Niklas und von Bernd!“, fügte er nicht minder leise hinzu.
Allein das Wort Professor traf die Menschen wie ein Blitz. Professor, das bedeutete Ordnung, Zivilisation, bedeutete Gerechtigkeit, aber auch Elite, denn selbst in Europa wurde nicht jeder ein Professor, nur wenige, sehr wenige erreichten diesen Titel. Seine folgenden Worte aber ließen alle aufraunen, denn Axel, Meike, Niklas und Bernd wurden sehr verehrt, ungefähr in dieser Reihenfolge, und jemand, der proklamierte, der Lehrmeister der drei Männer zu sein, musste ein außergewöhnlicher Mann sein. Aber wenn nicht der Großvater von Meike, wer dann konnte dies für sich beanspruchen? Wären die Speere, die Bridge Breaker und die Deserteure nicht so gefangen gewesen von diesem Auftritt, hätten sie vielleicht mal zur Seite gesehen, dann hätten sie sicherlich einen US-amerikanischen General der Ranger gesehen, der inmitten seiner Offiziere stehend ein recht zufriedenes Grinsen zur Schau trug, aber das nur am Rande.
„Ich wurde gerufen, hierher gerufen, weil das Böse hier geherrscht hat!“, donnerte seine Stimme. Nun machte es sich bezahlt, dass sie die Akustik getestet hatten, um diesen Platz zu finden, von dem aus sich eine Stimme am weitesten trug und am günstigsten brach. „Ich bin hier, weil der Riki hier war!“
Diese Worte ließen Viele erschrocken aufraunen. Einige bekreuzigten sich, fingen an zu weinen, machten naturreligiöse Zeichen gegen den bösen Blick. Alleine das Wort zu rufen erschreckte sie.
„Ich fürchte den Riki nicht! Nein, ich fürchte ihn nicht! Denn ich bin mächtiger als er!“
Thomas Herryhaus bewegte die rechte Hand in Richtung des Feuers, und eine rote Lohe entstand, die teilweise über den Feuerkorb hinaus spritzte, aber harmlos verpuffte. Das Entsetzen über diesen Vorgang aber lenkte die Männer von ihrer Angst vor dem Riki ab.
„Ich fürchte dich nicht, Riki! Nein, das tue ich nicht! Stattdessen werde ich dich töten!“
Nun wurde das Raunen lauter, aufgeregter. Weitere Deserteure und Speere bekreuzigten sich oder machten die alten geheimen Zeichen.
Wieder machte Thomas eine Geste, und diesmal flammte das Feuer grellweiß auf.
„RIKI! Ich fordere die Seelen dieser Männer von dir! Sie sollen von nun an frei sein! Ich verlange sie von dir zurück! Ich fordere dich heraus, um ihre Seelen zu kämpfen!“
Nun machte sich eine ängstliche, bedrückende Stimmung daran, den Platz zu erfassen. Unwillkürlich drängten sich die Menschen auf dem Platz enger aneinander.
„Ich fordere dich heraus!“, rief Thomas erneut.
Und wieder: „Ich fordere dich heraus! Hier und jetzt!“ Er tat eine weitere Geste mit beiden Händen zugleich, und dies brachte die Flammen dazu, in einer grünen Fontäne auseinander zu stieben, aber ohne jemanden zu verletzen. Doch, wirklich, dieser Moment jagte nicht nur einem Mann auf dem Platz Ehrfurcht in die Knochen.
„Wo bist du, Riki? Hörst du meine Worte nicht?“ Thomas' Miene nahm wütende Züge an.
„Hast du Angst vor mir, Riki? Fürchtest du mich und meine Kraft, meine Weisheit, mein Können? Du tust gut daran, dies zu tun, denn ich werde dich töten!“
Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, und die Tatsache, dass der Riki noch immer nicht aus dem Boden gewachsen war, brachte einen Mutigen, einen, dazu, die Hand zur Faust zu ballen und zu rufen: „Töte ihn!“ Dieser Ruf wurde aufgenommen, und dann skandierten ihn die Menschen auf dem Platz.
Thomas hob beide Arme, und so etwas wie Ruhe kehrte ein. Erneut rief er: „Ich fordere dich heraus! Komm jetzt, oder bleib für immer fort!“ Erneut schien der Feuerkorb vor Flammen zu bersten, diesmal in drei Farben zugleich. Es war heftig genug, dass nicht nur ein Beobachter zusammenzuckte. Doch die Lohen vergingen, und dahinter kam Thomas unversehrt zum Vorschein. Der Professor, der weise, gebildete Mann, der Lehrmeister von Axel, Niklas und Bernd, der Großvater von Meike, senkte seine Arme. Dann rief er: „Er kommt nicht!“ Leises Raunen antwortete ihm.
„Der Riki kommt nicht!“ Zustimmung klang ihm entgegen. Erst leise, dann immer lauter werdend.
„Er wird niemals wieder kommen!“, rief Thomas. „Ihr -“, er deutete auf die Deserteure, „- seid nun frei von ihm! Ich habe eure Seelen zurückbefohlen!“
In diesem Moment trat der Imam, geführt von Wanaganas Tochter, auf den Platz und fand den Weg neben Thomas Herryhaus. Seine blinden Augen sahen in Richtung der Deserteure, und auch seine Stimme, obwohl schwächer und vom Alter gezeichnet, fand den Weg zu ihnen. „Wahrlich! Das Böse ist fort! Professor Thomas Herryhaus hat es verjagt!“
Was nun folgte, konnte nur als großer, anhaltender Jubel aus Freude, Erleichterung und Überschwänglichkeit beschrieben werden. Wer nicht seinem Nachbarn um den Hals hin, begeistert von der neuen Freiheit, fand den Weg zum Imam und zu Thomas am Feuerkorb. Dutzende Hände streckten sich ihm entgegen, Lippen drückten sich auf seine Hände. Etwas, was Thomas niemals verlangt oder erwartet, geschweige denn geduldet hätte. Aber diesmal, dieses eine Mal, war es wichtig für das Seelenheil dieser Menschen, darum ließ er es zu. Und der Imam segnete jene, die den Weg zu ihnen genommen hatten. Jedem einzelnen sagte er: „Tue fortan Gutes mit deinem Leben und töte nicht mehr.“
Im Hintergrund raunte Meike Axel zu, neben dem sie stand: „Glücklicherweise wurde diese Show von mehreren Leuten aus verschiedenen Winkeln aufgenommen. Die werde ich nicht oft genug sehen können.“
Axel vermied es, bestätigend aufzulachen. „Nicht nur du“, sagte er.
***
Etwa dreißig Kilometer weiter, fast genau westlich, in einem kleinen Barackendorf mitten im Urwald, setzte sich ein älterer Mann mit grauen Schläfen auf, sah Richtung Westen, schüttelte dann aber den Kopf und widmete sich weiter seiner Arbeit. Diese bestand darin, die letzte von sechs Waffen auseinander zu nehmen, zu ölen und wieder zusammenzubauen. Früher, vor einer Zeit, die kaum noch in seiner Erinnerung vorkam, da hatte er einen Namen und einen Rang getragen. Er war Lieutenant der Miliz gewesen. Richtiger Lieutenant, kein Sous-Lieutenant. Und er hatte kurz davor gestanden, Capitaine zu werden. Dann aber hatte sich Ndongo dazu entschlossen, allen etwaigen Separationsbestrebungen Belongos ein drastisches Ende zu setzen und war über den Bezirk hergefallen. Damals hatte er noch den Namen Alain Lukawa getragen, und er war ein nicht allzu stolzer Lulugengo gewesen. Zumindest nicht allzu stolz auf seinen Clan, da er ein großer Verfechter des marxistischen Gedankens von der Gleichheit aller Menschen gewesen war. Dann war eines zum anderen gekommen, dieses zu jenem, und schließlich und endlich hatte er in einem zerfallenden Belongo die halb zerstörte Hauptstadt beherrscht. Er hatte sich einen neuen Namen gegeben: Riki. Und den trug er seither, als ungekrönter, aber allmächtiger Herrscher über die Hauptstadt Belongos. War das nun wirklich Vergangenheit? Die Gesellschaft, die er unter so viel Mühen aufgebaut hatte, das vage Gefüge seiner persönlichen Form der Zivilisation, war es verschwunden? Er hatte nicht nur Keounda City aufgeben müssen, seine Frauen, also die meisten, hunderte seiner Speere verloren, er war auch geflohen, wie ein Hund nach einem Kampf, den er verloren hatte, mit dem Schwanz zwischen den Beinen eingekniffen. Und dann hatte er die Niederlage noch komplett gemacht, als er alle Fahrzeuge, über die er noch verfügt hatte, einfach aufgegeben hatte, um dieses sichere Versteck unentdeckt von den Hubschraubern zu erreichen. Er hatte es in weiser Voraussicht vor etwa acht Jahren anlegen lassen und immer wieder zuverlässige Speere ausgeschickt, um die Anlage zu warten und jeden zu töten, der es inzwischen gewagt hatte, sich hier einzunisten. Bis auf die Frauen. Frauen wurden vor seinen Thron geschleppt. Dann gehörten sie entweder ihm, oder sie wurden in das System integriert, mit dem er seine treuesten Männer bei Laune gehalten hatte.
Vorbei. Einfach so vorbei. Weil er versucht hatte, einen Hubschrauber abzuschießen, der von Weißen bemannt gewesen war. Weißen! Nie war etwas Gutes von Weißen gekommen. Das war schon immer so gewesen. Erst hatten sie die Länder geleert, indem sie manche Völker dazu verführt hatten, Sklavenjäger zu werden und ihre Nachbarn zu verkaufen, dann hatten sie das Land selbst erobert und mit Terror und Rassismus beherrscht, bis aufs Blut ausgebeutet. Und dann, als sich Ndongo seine Freiheit erkämpft hatte, friedlich, wohlgemerkt, da waren die Weißen geblieben und hatten gehetzt, Intrigen geschmiedet, das Leben unruhig gehalten, um Ndongo so instabil zu machen, sodass die Menschen die Belgier zurückflehen mussten... Das hatte nicht geklappt, aber die Strategie hatte unerwartete, blutige Früchte getragen, weil die Übergabe der Belgier an Ndongo gewisse Völker bevorzugt und andere ausgeschlossen hatte, genau wie sie es hatten haben wollen. Es hatte nie den großen Zusammenbruch gegeben, auf den Belgien gehofft hatte, nie den Ruf an die ehemaligen Herren, zurückzukommen, aber die neuen Herren, die den Präsidenten stellten, hatten ihre neue Macht ebenso zu nutzen gewusst wie die Belgier. Sie waren gelehrige Schüler gewesen. Sie hatten den Völkern das Leid und den Terror der Belgier zurückgebracht. Was also war schlecht daran gewesen, diesen Hubschrauber abzuschießen, die Besatzung zu töten, und aus ihren primären Geschlechtsteilen Tikalak zu machen?
Der Riki beantwortete es sich selbst: Die Beute war zu wehrhaft gewesen. Seine Männer hatten sie nicht töten können. Nicht schnell genug. Hätte Keounda City die beiden, Pilot und Co-Pilot, einfach verschlungen, dann wäre nichts passiert, rein gar nichts. Aber die zwei hatten in seiner Stadt – IN SEINER STADT – lange überlebt. Lange genug, um Verstärkungen zu erflehen und auch noch zu bekommen. Seine Verbündeten waren nicht in der Lage gewesen, dies zu unterbinden, und damit hatte der Untergang seinen Anfang genommen, der schließlich zu dem hier geführt hatte. Verdammt.
„Mein König.“
Der Riki sah kurz auf, erkannte Johann am Eingang der kleinen, aber stabil gebauten Baracke. Einer seiner Männer, loyal, jung, stark, einer von jenen, die er schon in jungen Jahren im rechten Sinn erzogen hatte. „Ah, Johann. Komm herein. Wir haben einen Rückschlag hinnehmen müssen, aber morgen ist auch noch ein Tag, und der wird unseren glorreichen Sieg sehen. Ich werde Jolena nachher kommen lassen, sag ihr das doch später.“
„Mein König, Jolena ist tot. Brian hat sie getötet, weil sie zu schwach war, um transportiert zu werden.“
Der Riki sah seinen Speer entsetzt an. „Sie war hochschwanger. Mit meinem Kind.“
„Deshalb hat er sie nicht zurückgelassen, sondern umgebracht. Damit niemand Hand auf dein Kind legen kann, mein König.“
„Das war keine Entscheidung, die Brian hätte treffen dürfen!“, knurrte der Riki wütend.
„Es ging ja nur um eine Frau.“
„Nur um eine Frau? Nur um eine Frau? Ich sage dir, dass...“, rief der Riki wütend, fuhr herum und sah gerade noch, wie eine Machete auf ihn niederfuhr. Die mit viel Kraft geschlagene Klinge, gut gepflegt und sehr scharf, schlug durch den vorderen Teil des hinteren Schädelknochens der Kopfdecke, jenem Teil, der von den Lateinern Sutura Sagittalis genannt wurde, trieb Knochensplitter und zwei Kilo Stahl in sein Gehirn und tötete den Mann auf der Stelle. Der Schock war gnädig genug, dem Riki ein schnelles Ende zu bereiten. Als er von seiner Sitzfläche herabglitt, blieb er einen Moment in der Luft hängen, weil sein Körper durch die Machete einen kurzlebigen Halt fand. Dann aber zog das Körpergewicht den Leib weiter nach unten, die Waffe glitt hervor, und der Riki glitt zu Boden. All das geschah ohne einen weiteren Laut.
„Ist et...“, erklang eine Stimme von draußen. Jemand drängte den Ledervorhang beiseite, der bei der primitiven Hütte die Tür ersetzte. Erschrocken rief er: „Mein König! Aber... Aber...“ Er sah den jungen Speer an, sah seine blutige Waffe, sah die Spritzer von Blut und Gehirnflüssigkeit auf seinem Gesicht und auf der Kleidung. „Aber... Was?“
Johann grinste freudlos. „Vor acht Jahren kam ich zu euch. Ich und Belle, meine Schwester. Ich wurde zum Speer trainiert, Jerome, auch von dir. Aber Belle war nicht das, was er erwartet hat. Sie wehrte sich, war abweisend, und sie zu vergewaltigen war ihm irgendwann mühevoller als der Spaß, den er daran hatte. Also brachte er sie um.“ Er starrte die Machete an. „Ich habe lange darauf gewartet, sie rächen zu können. Heute war es soweit. Die Stimmen sagten mir, heute ist der Tag. Sie hatten Recht.“ Er sah den anderen Speer an, einen der treuesten Gefolgsleute des Riki. Wohl auch ein Grund, warum er nicht in einer der vorigen Angriffswellen verheizt worden war. „Du kannst mich jetzt töten.“
Jerome sah den toten Riki an, dann den jungen Mann. „Ich... Ich muss das erst kapieren. Dass es vorbei ist. Dass er tot ist. Es ist zu Ende, verstehst du das? Der König ist nicht mehr.“ Jerome zog seine Pistole, lud durch und entsicherte sie. Dann feuerte er zwei Schüsse.
Johann indes wunderte sich, dass er noch lebte. „Was...?“
„Es ist besser, wenn er von Kugeln getötet wurde, nicht durch ein Messer wie ein Stück Schlachtvieh.“ Er steckte die Pistole weg und griff nach Johanns Arm. „Sagen wir es den anderen. Wir werden sehen, was danach passiert.“
Gemeinsam traten sie aus der Hütte heraus. Hier hatten sich bereits mehrere Dutzend Gefolgsleute versammelt, die die Schüsse gehört hatten.
„Der Riki!“, rief Jerome, den Ehrentitel wohl vermeidend, „ist tot!“
***
Über der nächtlichen Ruinenstadt hing der rote Schein mehrerer großer Feuer. Man konnte nicht gerade sagen, dass Belongo Mining und die Ranger besonders schonend mit den Männern des Riki gewesen waren, angemessen wäre eine Bezeichnung gewesen wie „rücksichtsloser Kampf“. Das hieß aber nicht, dass jetzt, wo alles vorbei war – Hannes und Niklas hatten von einer Kampfpause gesprochen, und sowohl Jason Scott, als auch General Shatterfield und die anderen amerikanischen Offiziere hatten dazu genickt – jedem Überlebenden dennoch eine Kugel durchs Gehirn gejagt wurde. Zumindest solange nicht, wie er nicht versuchte, die Soldaten, die die Straßen nach Überlebenden absuchten, doch noch irgendwie umzubringen. Aber die Männer des Riki, die von der verteilten Droge, dem Omonek, so berauscht gewesen waren, dass sie nicht einmal mehr mitbekommen hatten, dass sie eigentlich schon tot waren, tja, die waren bereits während der Kampfhandlung getötet worden. Jene, die den Kampf, den Rausch oder einfach den Tag überlebt hatten, ob mit oder ohne Omonek, egal ob sie sich versteckt hatten, um sich zu ergeben, oder mehr tot als lebendig auf den Schlachtfeldern gefunden worden waren, wurden je nach Verletzungsgrad entweder zur Moschee gebracht, oder aber gleich zur Ldungas Farm, wo die Firma mittlerweile dank der Unterstützung der Ranger und nachgeholter Ärzte und Pfleger von Belongo Mining über ein gut ausgestattetes Feldlazarett verfügte. Viele waren es nicht gewesen, zumindest nicht viele Omonek-Konsumenten. Die meisten, die das weiße Pulver geschnupft hatten, hatten bis zur Bewusstlosigkeit oder bis zum Tod gekämpft. Der fatale Befehl, jedem am Boden Liegenden eine Kugel durch den Kopf zu jagen, war aus Selbstschutzgründen ergangen, da selbst Schwerstverletzte noch versucht hatten, einen oder mehrere Soldaten mit in den Tod zu reißen. Dementsprechend vorsichtig waren die Bergungsarbeiten auch vonstatten gegangen. Hannes hatte die Teams instruiert und ihnen befohlen, mit den Überlebenden so umzugehen, als wären sie vermint worden. Im Fachjargon nannte man es eine „Booby Trap“. Ein Schwerverletzter oder ein Toter wurde auf eine scharfe Mine oder Handgranate gelegt, die explodierte, wenn der Verwundete gedreht oder angehoben wurde; eine Methode aus den unschöneren Zeiten eines jeden Krieges. Dementsprechend waren die Überlebenden wie mit Wattehandschuhen eingesammelt worden, was sicher noch den einen oder anderen späten Toten bedeutet hatte, aber Niklas war nicht bereit gewesen, seine Leute zu opfern. Und die Ranger hatten wahrlich genug leiden müssen.
Die, die gestorben waren, und ihre Zahl ging fast an die zweitausend heran, wurden nun an mehreren zentralen Punkten in der Oststadt und der Weststadt auf Scheiterhaufen verbrannt. Dies tat man aus gesundheitlichen Gründen, denn eine solche Menge an Toten musste zwangsläufig Seuchen auslösen, wenn man nicht schnell handelte. Ihre Kriegswaffen waren eingesammelt worden, ebenso die Tikalak, die Trophäen, die aus getrockneten Menschenteilen hergestellt worden waren. Man konnte sie nach teilweise zwanzig Jahren den Opfern nicht zurückgeben, aber man konnte ihnen Respekt erweisen, also ließ Axel die Tikalaks - Ohren, Finger, Penisse, Brustwarzen, Augen, Klitorides und Schamhäute - auf einem eigenen, gesonderten Scheiterhaufen verbrennen.
Der Scheik hatte es sich nicht nehmen lassen, für jeden dieser Scheiterhaufen ein leises Gebet zu sprechen, obwohl das für ihn einen beachtlichen Weg bedeutet hatte, und das nach den Strapazen des ganzen Tages für den alten, blinden Mann. Der aber sagte von sich selbst, dass er sich zwanzig, wenn nicht dreißig Jahre jünger fühlte, seit er wieder in Keounda City sein durfte, und dass diese Anstrengungen für ihn wie ein Freudentanz wären, den er übrigens auch schon seit dreißig Jahren nicht mehr hinbekommen hatte.
Alles in allem war die Lage nach der Flucht des Riki und seiner letzten Gefolgsleute ruhig zu nennen. Dazu waren die Marines und die Ranger des Untersuchungskommandos als Verstärkungen gekommen, ebenso wie die weiteren Aushebungen von Belongo Mining. Aber man war weit davon entfernt, die eroberte Stadt bereits als befestigt anzusehen, auch wenn man ab und an entweder einen Jagdflieger oder einen Kampfhubschrauber in der Ferne hören konnte. Nun, nachdem auch der größere Teil der Stadt, der Osten, vom Feind geräumt war, musste auch eine größere Grenze beschützt werden, ganz davon abgesehen, dass die Ruinen noch nicht vollständig durchsucht waren, und jederzeit irgendein durchgeknallter Irrer auf Omonek ein Blutbad anzurichten versuchen könnte. Versucht hatte der Riki das mehrfach, unter anderem durch Halbwüchsige, die sich an Orten hatten verstecken können, die für Männer zu klein gewesen waren. Aber ihnen hatte der Riki zum Glück nur leichte Handwaffen anvertraut. Eine Handgranate, in eine Gruppe geworfen, hätte schlimme Auswirkungen haben können.
„Blizzard.“
Corporal Miller, der die Straße nach Osten bewachte und deshalb über fünf Stellungen mit je zwei Mann und eine Hauptstellung mit drei Soldaten plus ihm gebot, fuhr herum und sah in Richtung des roten Lichtscheins der Feuer. Dort zeichnete sich tatsächlich die große Gestalt eines Menschen ab. Verdammt, der Mann hätte sich zu ihnen setzen können, und keiner der vier Mann starken Stellung direkt an der Straße hätte etwas bemerkt. „Foxtrott“, antwortete Nathan Miller mit der Gegenparole.
Der große Mann kam näher und ging zwischen ihnen in die Hocke. Es war einer der Deutschen, Hannes Malicke. In seiner Truppe nannten sie ihn nur den Unsterblichen.
„Ich will nicht mosern, Sir, aber war es nicht etwas leichtsinnig, dass Sie aufrecht zu uns gekommen sind?“, fragte Private Osbourne.
Hannes seufzte. „Leichtsinnig? Hören Sie, in den letzten beiden Tagen habe ich mich auf eine Handgranate geworfen, deren Stift nicht gezogen worden war; ich stand auf einem freien Feld, und eine Brandlohe einer Napalm-Explosion schoss dicht genug an mir vorbei um meine Haare zu versengen und mir einen Sonnenbrand zu verpassen; und auf der Fußgängerbrücke sind die Kugeln so haarscharf an mir vorbeigezischt, ich habe Löcher in meiner Uniform. Denken Sie wirklich, Leichtsinn bedeutet etwas für mich?“
Osbourne kratzte sich mit der freien Linken unterm Stahlhelm. „Beachtlich. Verstehe. Entschuldigen Sie die Frage, Sir.“
Hannes lachte. „Um ehrlich zu sein habe ich vergessen, mich gebückt zu nähern. Ich bin etwas müde, denke ich.“
„Wir sind alle müde, Sir“, sprang der Corporal ihm zur Seite.
„Aber wir tun unseren Job“, ergänzte Osbourne.
„Und Sie sind alle gut darin“, sagte Malicke in einem beschwichtigenden Ton. „Was mich zum Thema bringt. Irgendwas gesehen?“
„Weder mit den Thermoscannern, noch mit den Nachtsichtgeräten, Sir. Es ist alles ruhig. Zumindest ruhiger als auf dem Fluss.“
„Oh ja, der Fluss. Da herrscht ein Verkehr, den Sie sich nicht vorstellen können. Mir scheint, alles, was im Umkreis von eintausend Kilometer schwimmen kann, ist gerade auf dem Fluss unterwegs. Viele legen auch an und bringen Geschenke. Essen, Tand, einen Teil ihrer Handelswaren, was gerade zur Hand ist.“
Osbourne wandte sich der nahen Waldlinie zu, wie es sein Job war. „Schätze, die freuen sich alle ein Loch in den Bauch, weil sie jetzt endlich wieder auf dem Lagabanda fahren können, wie es ihnen beliebt.“
„Einige steigen auch aus, um nach Angehörigen zu suchen“, sagte Hannes bedächtig. „Wer mag es ihnen verdenken? Mehr als die Hälfte der Männer des Riki wurden in den Dienst gezwungen und dann mit Gewalt, Drogen, Privilegien und drakonischen Strafen zum Gehorsam gezwungen. Deshalb hat er seine Leute ja auch auf Ketamin gesetzt, bis ihr logisches Denken ausgeschaltet war, sie keinen Schmerz mehr verspürt haben und bis zur letzten Körperbewegung gekämpft haben.“
„Ketamin, Sir?“, fragte Private Sloane interessiert.
„Ein Rauschgift.“
„So schlau war ich auch schon“, gab sie ein wenig patzig zurück.
Hannes unterdrückte ein Lachen. „Eine synthetische Droge, die, ist die Formel einmal bekannt und ist das Labor fähig, in großen Mengen hergestellt werden kann. Wir nehmen zumindest an, dass das Omonek Ketamin ist, aber es kann auch eine andere Droge sein. Eine, die Schmerzfreiheit und einen Trance-Zustand verursacht, in dem die Berauschten nicht einmal mitbekommen, dass sie eigentlich schon tot sind...“ Hannes schüttelte angewidert den Kopf.
„Ich weiß, Sir. Ich habe mehr als einem von denen, die quasi nur noch von den Sehnen zusammengehalten wurden, eine Kugel in den Kopf verpasst, weil sie immer noch versucht haben, mich umzubringen. Die, die mich nur noch beißen konnten, habe ich verschont, aber ich bin mir vorgekommen, als wäre ich Nebendarsteller in einer der Zombie-Serien. Sie wissen schon, einer von denen, die zu blöde sind, um wegzulaufen oder irgendwo hochzuklettern.“ Auch der Corporal schauderte. „Meinen Sie, er kommt wieder? Oder hat er genug?“
„Der Riki?“ Nachdenklich strich sich Hannes übers Kinn. „Er hat gewiss neun von zehn seiner Leute eingebüßt, dazu einen Großteil seines Volkes, als wir die T-54 überraschend überwinden konnten und die Brücken genommen haben, bevor er die Hotels hat auflösen können, geschweige denn die Tikalak-Werkstätten. Wir sind ihm technisch und mittlerweile auch personell überlegen. Wenn er keinen letzten Anlauf haben möchte, der auch den Rest seiner Männer tötet, dann, denke ich, hockt er irgendwo auf dieser Hochebene im Dschungel, leckt seine Wunden und fragt sich, wie lange die Männer noch auf ihn hören werden, jetzt, wo nichts mehr da ist, worüber ihr König regieren kann. Das heißt aber nicht, dass er es nicht später versuchen wird. Die Söldner, die die Mine überfallen haben, sollten ihm zu Hilfe eilen. Das kann wieder passieren, wenn seine Geldgeber davon ausgehen, dass er noch etwas erreichen kann, auf die eine oder andere Weise.“
„Na, deshalb sitzen wir ja hier“, sagte Sloane altklug. „Was sagt denn Boxie? Hat der Infrarotscanner seiner Hirschkuh was gefunden?“
Hannes lächelte milde über den Spitznamen für den Mil Mi 24-D, den die Amis dem russischen Hubschrauber gegeben hatten. Obwohl schon recht alt hatte sich die Mi 24 in all ihren Versionen auf dem Schlachtfeld Belongo geradezu bewährt. Nicht zuletzt, als sie die andere Söldnergruppe aufgerieben hatten, die Keounda City von Norden stürmen sollte, die sich aber selbst mit der Plünderung der Farm eines Kriegsherrn aufgehalten hatte. „Er ist alles von der Mine bis zum Land der Atuti im Süden auf dieser Seite des Flusses auf einer Breite von zwanzig Kilometern abgeflogen, hat aber nichts Auffälliges gefunden. Zumindest keine leicht bewaffneten Kohorten mit Angriffsrichtung Stadt, und auch keine Fahrzeugkolonnen.“
„Das ist beruhigend zu hören. Und was ist mit Ompala City und unseren Leuten dort?“, hakte sie nach.
„Nicht so gut. Der Captain wird Ihnen nach der Ablösung noch etwas dazu sagen. Aber so viel steht fest: Die Marines haben die Botschaft so weit sie konnten von Zivilisten evakuiert und sich danach eingeigelt. Im Moment sieht es nicht so aus, als würde der Mob versuchen, die Botschaft anzugreifen, aber es sind Panzer auf den Straßen, die sich derzeit über die letzten Relikte der belgischen Fremdherrschaft hermachen. Auf der Abraham Lincoln hat man auf jeden Fall Flugzeuge bereit, um notfalls eingreifen zu können, Black Stars hin oder her.“
„Und was passiert jetzt mit Keounda City?“, fragte der Vierte im Bunde, Private Jones. „Was wird aus den Gefangenen?“
„Nun, es scheint so, als wäre die Rettungsaktion, die Ihr Ranger durchgezogen und so teuer bezahlt habt, nicht umsonst gewesen. Die Stadt wurde nicht nur vom Riki befreit, eine Menge wichtiger Leute, die man bei uns Zuhause wohl Kriegsherren nennen würde, die hierzulande aber ein gewichtiges Wort mitzureden haben, wollen sich zusammentun und die Provinz Belongo mit einer funktionierenden Hauptstadt Keounda City wieder aufbauen. Deshalb bequatschen sie gerade Axel und Niklas, um bei dieser Aktion die Führung zu übernehmen. Die guten Herren trauen sich gegenseitig nicht und befürchten, dass, würde einer von ihnen das Amt als Oberhaupt anstreben, sie bewusst oder unbewusst ihre eigenen Clans bevorzugen würden. Bei Axel ist man sich sicher, dass er die Wagonda nicht über Gebühr bevorzugen wird, weil er ein alter Streber ist.“
„Der Riki tot, Keounda City frei, eine ganze vom Krieg erschütterte Provinz auf dem Weg zu einer neuen stabilen Regierung... Wer hätte das gedacht, als wir ausgeflogen sind, um zwei abgeschossene Deutsche aus einer Horde durchgeknallter Zombies zu retten.“ Der Corporal schwieg einen Moment. „Habe ich gerade gesagt, der Riki ist tot? So viel Glück werden wir wohl nicht haben. Er selbst oder sein Schreckgespenst werden die Stadt sicher noch Jahre verfolgen.“
„Ist anzunehmen, ja. Aber erst einmal ist er weg. Und um auf Ihre zweite Frage zu antworten, Private Sloane, wir werden die Gefangenen nach der Entwaffnung, einer medizinischen Überprüfung und in Übereinkunft mit ihren Heimatgemeinden, so diese noch existieren, wieder nach Hause entlassen. Nach der Ent-Rikifizierung.“
„Ent-Rikifizierung? Was ist das denn?“
Hannes grinste breit genug, sodass im Sternenlicht des Hochplateaus und selbst gegen den roten Feuerschein seine Zähne aufblitzten. „Sagen wir, ein magischer Trick, mit dem wir ihnen den Riki austreiben. Bernd Assay hat es vorgeschlagen.“
„Der dicke Wunderknabe? Der, der jeden Soldaten kennt, der in den letzten zehn Jahren irgendwo in Mitteleuropa gedient hat? Ich wusste, er versteht was von Nachschub, aber Magie?“
„Oh ja, er versteht was von Magie, sogar eine ganze Menge, Private Osbourne“, versicherte Hannes. „Zumindest kennt er jemanden, der geradezu magische Wunder vollbracht hat.“
***
Axel stand noch immer unter dem Bann dessen, was Ldunga und die anderen Warlords von ihm verlangten. Ja, verlangten. Warlords, gemeine Kriegsgewinnler, Rassisten gar, die ihren Nachbarn zwanzig Jahre lang nicht die Butter auf dem Brot gegönnt hatten. Und das war an diesem Abend alles hinfällig geworden. Sie wollten zusammenarbeiten, mit ihm an der Spitze. Wie konnten diese Mörder und Befehlshaber über Mörder es nur wagen? Aber sie hatten Recht, und Axel wusste es. Das machte es nicht leichter für ihn, auch nicht besser, eher das Gegenteil war der Fall. Noch hatte er keine eindeutige Antwort auf die Frage des weisen – ja, der Bursche war wirklich, wirklich weise – Imams und der drei Kriegsherren gegeben. Aber eigentlich hatte er von vorneherein gewusst, dass er der Antwort nicht würde entkommen können, denn das war die einmalige Gelegenheit, um im Kriegszerwühlten Belongo verdammt viel Gutes zu tun. Und Meike würde ihn umbringen, langsam und qualvoll, wenn er diese Chance ungenutzt verstreichen ließ.
Apropos Chance, auch wenn er sich noch immer wand und keine eindeutige Antwort gab, so wusste er doch zumindest, was sein Job war, was er tun musste. Da waren zum Beispiel einhundertsiebenunddreißig Deserteure der Riki-Armee in ihrer Hand, dazu fast dreißig halbwüchsige Jungen und Mädchen, die sie entweder aus der Kanalisation gezerrt, oder mit einer Waffe in der Hand gestellt hatten, knapp drei Dutzend Frauen, zehn von ihnen schwanger, und eine überschaubare Zahl an Babies und Kleinkindern. Dazu kamen acht, ganze acht Speere des Rikis, die sie halbtot vom Schlachtfeld geklaubt hatten und um deren Leben ihre Ärzte gekämpft hatten, wie um jedes andere Leben auch. All diese Menschen hatten unter der Knute des ehemaligen Miliz-Leutnants gestanden, waren gezwungen worden, mit Drogen vollgepumpt, hatten sich an sein Werte-, und Belohnungssystem angepasst, aber, als sie die Chance dazu bekommen hatten, da waren sie abgehauen. In eine sehr ungewisse Zukunft, wobei es durchaus eine Frage war, ob es bei den fremden Angreifern, die meisten weiß, überhaupt eine Zukunft geben würde...
Menschen, die heimkehren wollten. Zurück in ihre Dörfer, wenn es sie noch gab; zurück zu ihren Familien, wenn sie noch lebten. Zurück, einfach zurück. Aber wie? Wie konnten sie einfach gehen? Wie einfach ihre Leben wieder aufnehmen? Das, was sie zurückließen, würde Zeit brauchen, um es zu verarbeiten, zu verstehen, hinter sich zu lassen. Das, was sie mitbrachten, mochte die Menschen verschrecken. Unter dem Riki waren all diese Jungs und Männer zu extremer Gewaltbereitschaft erzogen worden, und das nahmen sie von hier wieder mit. Man konnte sie nicht einfach so wieder auf die zugegeben noch ziemlich zerschlagene Gesellschaft in Belongo loslassen; es waren aber auch zu viele, um sie in viel zu kurzer Zeit zu therapieren und ihnen den Weg aus der Gewaltspirale, der sie ausgesetzt gewesen waren, zu zeigen. So etwas brauchte Zeit. Wochen, Monate, Jahre. Und dann waren da noch die Menschen, zu denen sie zurückkehren wollten, Orte, an denen sie zukünftig leben wollten. Menschen dort wussten, woher sie kamen, was sie getan hatten. Sie würden nicht willkommen sein, und wenn doch, dann nicht von allen. Viele von ihnen würden das erste Jahr nicht überleben, einfach weil die Menschen Angst hatten, Angst vor ihnen, Angst vor dem Schatten des Riki. Oder weil diese Männer einfach weiterhin das taten, was ihnen antrainiert worden war: Zuerst zuzuschlagen und nicht zu warten.
Einen großen Vorteil gab es: Außer den Verwundeten, die Meike wieder zusammengeflickt hatte, war keiner von ihnen auf Omonek, und wenn, dann hatten sie es nur in kleinen Dosen erhalten. Soldaten der dritten oder vierten Reihe, stets benachteiligt bei Tikalaks, bei Lebensmitteln, bei einfachen Rauschmitteln wie Schnaps und Bier, und vor allem bei den Frauen. Oder anders ausgedrückt, ihr Verstand war klar genug gewesen, sodass sie sich hatten für eine Flucht entscheiden können, während die meisten Speere des Riki entrückt in eigenen Welten gelebt hatten, in denen ihr Tod eine echte Überraschung gewesen war.
Was tun, sprach Zeus? Es blieb eigentlich nur eines: Den Schatten des Riki von diesen Männern zu nehmen, ein für allemal, und die Kunde davon in ganz Belongo zu verbreiten. Das würde ihnen eine Chance geben, zumindest jenen, die nicht zu Mord und Totschlag zurückkehrten. Und Axel wollte ihnen diese Chance unbedingt geben, so schnell wie möglich. Tatsächlich gab es einen abenteuerlichen Weg dafür. Sehr, sehr abenteuerlich. Sehr, sehr amerikanisch. Sehr, sehr deutsch. Und sehr verrückt. Thomas Herryhaus hatte sofort zugesagt, und das hätte Axel eigentlich die Nackenhaare aufstellen müssen.
Die Show, die Belongo Mining mitten in der Nacht aufführen würde, war nicht nur für die Deserteure des Riki gedacht. Sie richtete sich auch an die Speere Wanaganas, Lobandos und Tarans und an die Bridge Breaker, die nach und nach angelegt hatten und die Öffnung des Fluss wie einen Feiertag begingen. Sie würden in Belongo sehr weit herumkommen, nachdem sie gesehen hatten, was hier geschehen war. Nebenbei bemerkt würden seine Leute und die Rangers natürlich alles, was geschehen würde, auf ihren besten Handy-Kameras aufnehmen und ins Internet hochladen. Axels Team würde das selbst über die Antenne im Camp Diamond in Angriff nehmen.
Axel Herwig stand aus genau diesem Grund in seiner auf Hochglanz gebürsteten Uniform, ohne die Einschusslöcher der Streifschüsse und allzu knappen Passierschüsse, wohlgemerkt, neben einem großen, provisorischen Feuerkorb inmitten des Vorplatzes vor der Moschee. Bei ihm waren sein Bruder Niklas, Meike Herryhaus, die Wunder tätigende Ärztin aus dem fernen Alleman, und der Mann, der alles besorgen konnte, Bernd Assay. Sogar T-Shirts der First Belongo Mining Company, mit denen er bereits über dreihundert Ranger und Speere versorgt hatte. Hübsche blaue Shirts mit einem Frontaufdruck des Namens und einem großen Cartoondiamanten vor dem Umriss des Bezirks Belongo. Hatten einen reißenden Absatz gefunden. Und viele ehemalige Speere des Riki waren auch einfach nur froh gewesen, wieder Kleidung tragen zu können, die sie nicht aus den Händen und der Gnade des Riki erhalten hatten.
Diese vier ließen sich vom flackernden Schein des Feuerkorbs beleuchten. Ein stetiger Luftstrom eines Ventilators, der an einem Generator angeschlossen war, besorgte das Flackern, des Effekts willens.
Dann erschien über dem Platz ein Hubschrauber, der sich durch seinen Lärm schon lange angekündigt hatte. Es war eindeutig eine Maschine der Belongo Mining aus der Mi-24-Gruppe. Der Hubschrauber landete nicht weit vom Feuerkorb, Soldaten der Belongo Mining sprangen herbei und öffneten die Ladetüren. Als diese aufsprangen und das Licht einen großen Mann beleuchtete, zogen sie sich mehrere Schritte zurück und verbeugten sich, was nicht einhundert Prozent dem militärischen Prozedere von Belongo Mining entsprach. Der Mann war älter, aber nicht zu alt, grauhaarig, aber ungebeugt. Seine Augen hatten viel gesehen im Leben, seine Züge waren nicht hart, aber erfahren. Und er trug eine Uniform, wie sie Axel und Niklas und die anderen Soldaten der Belongo Mining trugen. Nur war diese reich dekoriert, mit Gold auf den Schultern, goldenen und silbernen Fangschnüren und einer ganzen Reihe Abzeichen, die wie Orden wirkten. Dieser Mann verließ den Hubschrauber mit starrer Miene und trat an den Korb heran.
Axel und die anderen machten ihm respektvoll Platz und verbeugten sich ebenfalls vor ihm. Der Mann nahm das mit einem Nicken für jeden der drei Männer und der Frau zur Kenntnis. Es war ziemlich eindeutig, dass die vier zu diesem Mann, zu dieser einen Person, aufschauten. In der einfachen Welt des von Milizen und Bürgerwehren verwüsteten Belongos erhöhte dies den Mann zu etwas, zu jemandem, der noch über Axel Herwig stand, noch über Meike, der Wundertäterin. Wer war der Mann, vor dem Axel und Niklas das Haupt beugten, ja, sogar Meike?
Der Mann trat näher an den Feuerkorb heran und konnte nun sehr gut von den Speeren und den Deserteuren gesehen werden. Seine Stimme war ein Tenor, dem das Alter nicht viel hatte anhaben können, und sie war kraftvoll und weit tragend. Der Mann sprach Französisch, welches die Männer und Frauen aus Belongo alle verstanden.
„Ich bin Professor Thomas Herryhaus!“, rief er, während seine Augen jeden einzelnen Menschen auf diesem Platz ins Auge fassen zu schienen. „Ich bin Meikes Großvater, und ich bin der Lehrmeister von Axel, von Niklas und von Bernd!“, fügte er nicht minder leise hinzu.
Allein das Wort Professor traf die Menschen wie ein Blitz. Professor, das bedeutete Ordnung, Zivilisation, bedeutete Gerechtigkeit, aber auch Elite, denn selbst in Europa wurde nicht jeder ein Professor, nur wenige, sehr wenige erreichten diesen Titel. Seine folgenden Worte aber ließen alle aufraunen, denn Axel, Meike, Niklas und Bernd wurden sehr verehrt, ungefähr in dieser Reihenfolge, und jemand, der proklamierte, der Lehrmeister der drei Männer zu sein, musste ein außergewöhnlicher Mann sein. Aber wenn nicht der Großvater von Meike, wer dann konnte dies für sich beanspruchen? Wären die Speere, die Bridge Breaker und die Deserteure nicht so gefangen gewesen von diesem Auftritt, hätten sie vielleicht mal zur Seite gesehen, dann hätten sie sicherlich einen US-amerikanischen General der Ranger gesehen, der inmitten seiner Offiziere stehend ein recht zufriedenes Grinsen zur Schau trug, aber das nur am Rande.
„Ich wurde gerufen, hierher gerufen, weil das Böse hier geherrscht hat!“, donnerte seine Stimme. Nun machte es sich bezahlt, dass sie die Akustik getestet hatten, um diesen Platz zu finden, von dem aus sich eine Stimme am weitesten trug und am günstigsten brach. „Ich bin hier, weil der Riki hier war!“
Diese Worte ließen Viele erschrocken aufraunen. Einige bekreuzigten sich, fingen an zu weinen, machten naturreligiöse Zeichen gegen den bösen Blick. Alleine das Wort zu rufen erschreckte sie.
„Ich fürchte den Riki nicht! Nein, ich fürchte ihn nicht! Denn ich bin mächtiger als er!“
Thomas Herryhaus bewegte die rechte Hand in Richtung des Feuers, und eine rote Lohe entstand, die teilweise über den Feuerkorb hinaus spritzte, aber harmlos verpuffte. Das Entsetzen über diesen Vorgang aber lenkte die Männer von ihrer Angst vor dem Riki ab.
„Ich fürchte dich nicht, Riki! Nein, das tue ich nicht! Stattdessen werde ich dich töten!“
Nun wurde das Raunen lauter, aufgeregter. Weitere Deserteure und Speere bekreuzigten sich oder machten die alten geheimen Zeichen.
Wieder machte Thomas eine Geste, und diesmal flammte das Feuer grellweiß auf.
„RIKI! Ich fordere die Seelen dieser Männer von dir! Sie sollen von nun an frei sein! Ich verlange sie von dir zurück! Ich fordere dich heraus, um ihre Seelen zu kämpfen!“
Nun machte sich eine ängstliche, bedrückende Stimmung daran, den Platz zu erfassen. Unwillkürlich drängten sich die Menschen auf dem Platz enger aneinander.
„Ich fordere dich heraus!“, rief Thomas erneut.
Und wieder: „Ich fordere dich heraus! Hier und jetzt!“ Er tat eine weitere Geste mit beiden Händen zugleich, und dies brachte die Flammen dazu, in einer grünen Fontäne auseinander zu stieben, aber ohne jemanden zu verletzen. Doch, wirklich, dieser Moment jagte nicht nur einem Mann auf dem Platz Ehrfurcht in die Knochen.
„Wo bist du, Riki? Hörst du meine Worte nicht?“ Thomas' Miene nahm wütende Züge an.
„Hast du Angst vor mir, Riki? Fürchtest du mich und meine Kraft, meine Weisheit, mein Können? Du tust gut daran, dies zu tun, denn ich werde dich töten!“
Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, und die Tatsache, dass der Riki noch immer nicht aus dem Boden gewachsen war, brachte einen Mutigen, einen, dazu, die Hand zur Faust zu ballen und zu rufen: „Töte ihn!“ Dieser Ruf wurde aufgenommen, und dann skandierten ihn die Menschen auf dem Platz.
Thomas hob beide Arme, und so etwas wie Ruhe kehrte ein. Erneut rief er: „Ich fordere dich heraus! Komm jetzt, oder bleib für immer fort!“ Erneut schien der Feuerkorb vor Flammen zu bersten, diesmal in drei Farben zugleich. Es war heftig genug, dass nicht nur ein Beobachter zusammenzuckte. Doch die Lohen vergingen, und dahinter kam Thomas unversehrt zum Vorschein. Der Professor, der weise, gebildete Mann, der Lehrmeister von Axel, Niklas und Bernd, der Großvater von Meike, senkte seine Arme. Dann rief er: „Er kommt nicht!“ Leises Raunen antwortete ihm.
„Der Riki kommt nicht!“ Zustimmung klang ihm entgegen. Erst leise, dann immer lauter werdend.
„Er wird niemals wieder kommen!“, rief Thomas. „Ihr -“, er deutete auf die Deserteure, „- seid nun frei von ihm! Ich habe eure Seelen zurückbefohlen!“
In diesem Moment trat der Imam, geführt von Wanaganas Tochter, auf den Platz und fand den Weg neben Thomas Herryhaus. Seine blinden Augen sahen in Richtung der Deserteure, und auch seine Stimme, obwohl schwächer und vom Alter gezeichnet, fand den Weg zu ihnen. „Wahrlich! Das Böse ist fort! Professor Thomas Herryhaus hat es verjagt!“
Was nun folgte, konnte nur als großer, anhaltender Jubel aus Freude, Erleichterung und Überschwänglichkeit beschrieben werden. Wer nicht seinem Nachbarn um den Hals hin, begeistert von der neuen Freiheit, fand den Weg zum Imam und zu Thomas am Feuerkorb. Dutzende Hände streckten sich ihm entgegen, Lippen drückten sich auf seine Hände. Etwas, was Thomas niemals verlangt oder erwartet, geschweige denn geduldet hätte. Aber diesmal, dieses eine Mal, war es wichtig für das Seelenheil dieser Menschen, darum ließ er es zu. Und der Imam segnete jene, die den Weg zu ihnen genommen hatten. Jedem einzelnen sagte er: „Tue fortan Gutes mit deinem Leben und töte nicht mehr.“
Im Hintergrund raunte Meike Axel zu, neben dem sie stand: „Glücklicherweise wurde diese Show von mehreren Leuten aus verschiedenen Winkeln aufgenommen. Die werde ich nicht oft genug sehen können.“
Axel vermied es, bestätigend aufzulachen. „Nicht nur du“, sagte er.
***
Etwa dreißig Kilometer weiter, fast genau westlich, in einem kleinen Barackendorf mitten im Urwald, setzte sich ein älterer Mann mit grauen Schläfen auf, sah Richtung Westen, schüttelte dann aber den Kopf und widmete sich weiter seiner Arbeit. Diese bestand darin, die letzte von sechs Waffen auseinander zu nehmen, zu ölen und wieder zusammenzubauen. Früher, vor einer Zeit, die kaum noch in seiner Erinnerung vorkam, da hatte er einen Namen und einen Rang getragen. Er war Lieutenant der Miliz gewesen. Richtiger Lieutenant, kein Sous-Lieutenant. Und er hatte kurz davor gestanden, Capitaine zu werden. Dann aber hatte sich Ndongo dazu entschlossen, allen etwaigen Separationsbestrebungen Belongos ein drastisches Ende zu setzen und war über den Bezirk hergefallen. Damals hatte er noch den Namen Alain Lukawa getragen, und er war ein nicht allzu stolzer Lulugengo gewesen. Zumindest nicht allzu stolz auf seinen Clan, da er ein großer Verfechter des marxistischen Gedankens von der Gleichheit aller Menschen gewesen war. Dann war eines zum anderen gekommen, dieses zu jenem, und schließlich und endlich hatte er in einem zerfallenden Belongo die halb zerstörte Hauptstadt beherrscht. Er hatte sich einen neuen Namen gegeben: Riki. Und den trug er seither, als ungekrönter, aber allmächtiger Herrscher über die Hauptstadt Belongos. War das nun wirklich Vergangenheit? Die Gesellschaft, die er unter so viel Mühen aufgebaut hatte, das vage Gefüge seiner persönlichen Form der Zivilisation, war es verschwunden? Er hatte nicht nur Keounda City aufgeben müssen, seine Frauen, also die meisten, hunderte seiner Speere verloren, er war auch geflohen, wie ein Hund nach einem Kampf, den er verloren hatte, mit dem Schwanz zwischen den Beinen eingekniffen. Und dann hatte er die Niederlage noch komplett gemacht, als er alle Fahrzeuge, über die er noch verfügt hatte, einfach aufgegeben hatte, um dieses sichere Versteck unentdeckt von den Hubschraubern zu erreichen. Er hatte es in weiser Voraussicht vor etwa acht Jahren anlegen lassen und immer wieder zuverlässige Speere ausgeschickt, um die Anlage zu warten und jeden zu töten, der es inzwischen gewagt hatte, sich hier einzunisten. Bis auf die Frauen. Frauen wurden vor seinen Thron geschleppt. Dann gehörten sie entweder ihm, oder sie wurden in das System integriert, mit dem er seine treuesten Männer bei Laune gehalten hatte.
Vorbei. Einfach so vorbei. Weil er versucht hatte, einen Hubschrauber abzuschießen, der von Weißen bemannt gewesen war. Weißen! Nie war etwas Gutes von Weißen gekommen. Das war schon immer so gewesen. Erst hatten sie die Länder geleert, indem sie manche Völker dazu verführt hatten, Sklavenjäger zu werden und ihre Nachbarn zu verkaufen, dann hatten sie das Land selbst erobert und mit Terror und Rassismus beherrscht, bis aufs Blut ausgebeutet. Und dann, als sich Ndongo seine Freiheit erkämpft hatte, friedlich, wohlgemerkt, da waren die Weißen geblieben und hatten gehetzt, Intrigen geschmiedet, das Leben unruhig gehalten, um Ndongo so instabil zu machen, sodass die Menschen die Belgier zurückflehen mussten... Das hatte nicht geklappt, aber die Strategie hatte unerwartete, blutige Früchte getragen, weil die Übergabe der Belgier an Ndongo gewisse Völker bevorzugt und andere ausgeschlossen hatte, genau wie sie es hatten haben wollen. Es hatte nie den großen Zusammenbruch gegeben, auf den Belgien gehofft hatte, nie den Ruf an die ehemaligen Herren, zurückzukommen, aber die neuen Herren, die den Präsidenten stellten, hatten ihre neue Macht ebenso zu nutzen gewusst wie die Belgier. Sie waren gelehrige Schüler gewesen. Sie hatten den Völkern das Leid und den Terror der Belgier zurückgebracht. Was also war schlecht daran gewesen, diesen Hubschrauber abzuschießen, die Besatzung zu töten, und aus ihren primären Geschlechtsteilen Tikalak zu machen?
Der Riki beantwortete es sich selbst: Die Beute war zu wehrhaft gewesen. Seine Männer hatten sie nicht töten können. Nicht schnell genug. Hätte Keounda City die beiden, Pilot und Co-Pilot, einfach verschlungen, dann wäre nichts passiert, rein gar nichts. Aber die zwei hatten in seiner Stadt – IN SEINER STADT – lange überlebt. Lange genug, um Verstärkungen zu erflehen und auch noch zu bekommen. Seine Verbündeten waren nicht in der Lage gewesen, dies zu unterbinden, und damit hatte der Untergang seinen Anfang genommen, der schließlich zu dem hier geführt hatte. Verdammt.
„Mein König.“
Der Riki sah kurz auf, erkannte Johann am Eingang der kleinen, aber stabil gebauten Baracke. Einer seiner Männer, loyal, jung, stark, einer von jenen, die er schon in jungen Jahren im rechten Sinn erzogen hatte. „Ah, Johann. Komm herein. Wir haben einen Rückschlag hinnehmen müssen, aber morgen ist auch noch ein Tag, und der wird unseren glorreichen Sieg sehen. Ich werde Jolena nachher kommen lassen, sag ihr das doch später.“
„Mein König, Jolena ist tot. Brian hat sie getötet, weil sie zu schwach war, um transportiert zu werden.“
Der Riki sah seinen Speer entsetzt an. „Sie war hochschwanger. Mit meinem Kind.“
„Deshalb hat er sie nicht zurückgelassen, sondern umgebracht. Damit niemand Hand auf dein Kind legen kann, mein König.“
„Das war keine Entscheidung, die Brian hätte treffen dürfen!“, knurrte der Riki wütend.
„Es ging ja nur um eine Frau.“
„Nur um eine Frau? Nur um eine Frau? Ich sage dir, dass...“, rief der Riki wütend, fuhr herum und sah gerade noch, wie eine Machete auf ihn niederfuhr. Die mit viel Kraft geschlagene Klinge, gut gepflegt und sehr scharf, schlug durch den vorderen Teil des hinteren Schädelknochens der Kopfdecke, jenem Teil, der von den Lateinern Sutura Sagittalis genannt wurde, trieb Knochensplitter und zwei Kilo Stahl in sein Gehirn und tötete den Mann auf der Stelle. Der Schock war gnädig genug, dem Riki ein schnelles Ende zu bereiten. Als er von seiner Sitzfläche herabglitt, blieb er einen Moment in der Luft hängen, weil sein Körper durch die Machete einen kurzlebigen Halt fand. Dann aber zog das Körpergewicht den Leib weiter nach unten, die Waffe glitt hervor, und der Riki glitt zu Boden. All das geschah ohne einen weiteren Laut.
„Ist et...“, erklang eine Stimme von draußen. Jemand drängte den Ledervorhang beiseite, der bei der primitiven Hütte die Tür ersetzte. Erschrocken rief er: „Mein König! Aber... Aber...“ Er sah den jungen Speer an, sah seine blutige Waffe, sah die Spritzer von Blut und Gehirnflüssigkeit auf seinem Gesicht und auf der Kleidung. „Aber... Was?“
Johann grinste freudlos. „Vor acht Jahren kam ich zu euch. Ich und Belle, meine Schwester. Ich wurde zum Speer trainiert, Jerome, auch von dir. Aber Belle war nicht das, was er erwartet hat. Sie wehrte sich, war abweisend, und sie zu vergewaltigen war ihm irgendwann mühevoller als der Spaß, den er daran hatte. Also brachte er sie um.“ Er starrte die Machete an. „Ich habe lange darauf gewartet, sie rächen zu können. Heute war es soweit. Die Stimmen sagten mir, heute ist der Tag. Sie hatten Recht.“ Er sah den anderen Speer an, einen der treuesten Gefolgsleute des Riki. Wohl auch ein Grund, warum er nicht in einer der vorigen Angriffswellen verheizt worden war. „Du kannst mich jetzt töten.“
Jerome sah den toten Riki an, dann den jungen Mann. „Ich... Ich muss das erst kapieren. Dass es vorbei ist. Dass er tot ist. Es ist zu Ende, verstehst du das? Der König ist nicht mehr.“ Jerome zog seine Pistole, lud durch und entsicherte sie. Dann feuerte er zwei Schüsse.
Johann indes wunderte sich, dass er noch lebte. „Was...?“
„Es ist besser, wenn er von Kugeln getötet wurde, nicht durch ein Messer wie ein Stück Schlachtvieh.“ Er steckte die Pistole weg und griff nach Johanns Arm. „Sagen wir es den anderen. Wir werden sehen, was danach passiert.“
Gemeinsam traten sie aus der Hütte heraus. Hier hatten sich bereits mehrere Dutzend Gefolgsleute versammelt, die die Schüsse gehört hatten.
„Der Riki!“, rief Jerome, den Ehrentitel wohl vermeidend, „ist tot!“
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