Geschichte: Freie Arbeiten / Prosa / Action / Belongo

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Belongo

Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer / P16 / Gen
12.09.2011
23.02.2017
37
260.000
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24.08.2015 5.817
 
Später erinnerte sich Axel nicht mehr an alle Details, aber er wusste, dass die Speere Ldungas und auch die Deserteure, die bereits frei herumlaufen durften, also einige von ihnen, Wasser aus dem Fluss geholt hatten, mit dem sie dem alten Imam die Füße gewaschen hatten. Dass Abu darauf bestand, dass Axel ihn begleitete, hatte er sich auch die Füße waschen wollen, aber die Speere Ldungas hatten sich fast mit den Deserteuren darum gestritten, wer die Ehre bekommen sollte, „le Grand Général“ Axel eben genau diese seine Füße zu reinigen. Schließlich, bevor es zu Handgreiflichkeiten kommen konnte, einigten sie sich darauf, dass die Deserteure stattdessen Wanagana, der einen hohen Rang innehatte, diese Ehre erwies – und dem „Immortel“, wie Hannes bei ihnen hieß, weil der Tod ihn schon so oft verschmäht hatte. Die Speere hingegen hielten diesen Ehrendienst für ihn ab.
Zusammen mit weiteren Einheimischen muslimischen Glaubens, niemand unterschied hier die Gläubigen in irgendeiner Glaubensrichtung, und keinen interessierte es wirklich, ob nur direkte Abkömmlinge Mohammeds oder lediglich dessen Verwandte Scheiks sein durften oder nicht, betrat Axel also barfuß die Moschee, geführt vom blinden alten Abu. Als sich Axel absondern wollte, da er am Ritual nicht teilnehmen würde, bestand Abu darauf, dass der Deutsche ihn zur Nische führte. Hannes trat neben die Gläubigen unter den Wandbalkon und verharrte dort. Da er fließend arabisch sprach und mehr über diese Kultur gelernt hatte, wusste er wahrscheinlich mehr über dieses Ritual, als Axel je erfahren hatte und jetzt einem Crashkurs gleich lernen musste.
Kurz befürchtete Axel, vom alten Mann instrumentalisiert zu werden, was nicht sehr klug gewesen wäre, da das Christentum in Belongo stärker vertreten war als der Islam, aber diese Bedenken zerstreuten sich sehr schnell, denn der alte Imam begann zwanglos zu sprechen, während sich die Gläubigen hinter ihnen im Gebetsraum in langen Reihen ordneten.

„Religion. Ein großer Teil meines Lebens hat sich um Religion gedreht. Ich habe Menschen im Namen der Religion töten gesehen, ich habe sie Leid und Kummer über andere bringen sehen, und immer taten sie es, weil Allah es ihnen befohlen hat. Gott. Manche Menschen sind so gut darin, die Stimme Gottes zu hören und seinen Willen zu empfangen, man möchte ehrfürchtig niederknien und sie anbeten – bis man bemerkt, dass der Wille Gottes dem Willen dieser Menschen empfindlich nahe kommt.“
Axel lachte leise bei diesen Worten, verstummte jedoch sofort wieder. „Verzeihung.“
„Es gibt nichts zu verzeihen, mein guter Axel. Weißt du, mein Junge, als ich noch jung war, noch viel jünger als du, da habe ich gesehen, da habe ich geahnt, dass Allah tot sein muss. Denn wenn er diese Welt so gemacht hatte, wie sie war, dann musste er gleichgültig sein. Und wenn er es zugelassen hatte, weil er es nicht verhindern konnte, dann musste er machtlos sein. Ich war ein Atheist, und ich habe oft und laut gegen den Glauben gesprochen, sei es nun gegen den der Christen oder gegen den der Moslems.“
„Und dennoch sind Sie Imam“, wandte Axel ein.
„Und dennoch bin ich Imam. Ich hätte auch ein Priester werden können, ein Rabbi oder ein Naturschamane, aber es ist dann doch der Islam geworden. Es ist nicht so, dass ich eine Erleuchtung hatte. Es ist einfach so, dass ich eines Tages erkannte, dass Gott doch existiert. Er existiert nämlich dann, wenn die Menschen an ihn glauben, und er wird stärker, je mehr an ihn glauben. Und dann... Dann wird Gott das, was die Menschen sind. Er wird ein boshafter Gott, wenn die Menschen boshaft sind, und er wird ein gnädiger, vergebender, gutmütiger Gott, wenn die Menschen, die ihn anbeten, gnädig, vergebend und gutmütig sind. Wo also kann ein Atheist ansetzen, wieder zu Gott finden und den Glauben verbreiten?“
Axel dachte kurz nach. „Indem er mit gutem Beispiel vorangeht. So wie Franz von Assissi.“
„Richtig. So wie der Begründer der Franziskaner. Er predigte Verzicht und gründete den Orden der Bettelmönche. Er war der Erste, der den Tieren predigte. Und er war ein aufgeschlossener, toleranter Mann, der hergab, was weltlich war, um die Armut zu leben, die das Neue Testament den Menschen eigentlich auferlegt hatte. Aber es ist, wie es immer ist: Alle Menschen sind gleich, aber manche sind eben gleicher als die anderen. Und dann gibt es Gewalt und Tod. Und alles rollt nach dem gleichen Muster ab. Jemand tut einem anderen Unrecht, und niemanden interessiert es. Das merkt der Jemand, und er begeht wieder Unrecht. Und wieder, und wieder, und wieder. Dadurch mehrt er seine Macht, seinen Einfluss und auch sein Vermögen. Und irgendwann gibt es andere, die für ihn Unrecht begehen, und je mehr Unrecht geschieht, desto größer wird die Zahl jener, die ihm folgen und Unrecht begehen. Und dann hat dieser Jemand sogar Menschen, die an seiner Statt sterben und sich auch noch gut dabei fühlen.“
„So entstehen Kriege.“
„So entsteht alles, was nicht im Sinne des Friedens und der Freiheit ist. Aber es ist falsch zu glauben, man könne nur ganz unten anfangen, oder es würde reichen, die ganz oben zu bekämpfen. Nein, man muss auf allen Ebenen, von der kleinen Ungerechtigkeit bis zur großen alles zugleich bekämpfen. Wobei „bekämpfen“ das falsche Wort ist. Man muss die Ungerechtigkeit aufzeigen, sie bloßstellen, den Menschen klar machen, dass dies nichts Gutes ist. Wenn sich diese Meinung durchgesetzt hat, dann hat man die Welt verbessert. Und Gottes Wort ist ein guter Weg, um dies zu tun. Allahs Stimme wird gehört, mein Sohn, meine Stimme wird gehört. Darum habe ich den Lebensweg gewählt, den ich bis hier gegangen bin. Ich wollte zur Stimme Allahs werden, in seinem Sinne predigen, die Worte des Propheten verbreiten und die Menschen lehren, dass die Liebe des barmherzigen Samariters für einen halb tot geprügelten Fremden besser und erstrebenswerter ist, als einem Dieb eine Hand und einen Fuß abzuhacken.“
Der alte Mann lachte. „Weißt du, warum die Scharia gebietet, einem Dieb müssen diese beiden Gliedmaßen abgehackt werden, damit er nie mehr rauben kann? Weil im Islam das Gebot der Nächstenliebe gilt. Jeder, der etwas hat, gibt einen Teil davon an jene, die weniger oder nichts haben. Man kümmert sich um Alte, Kranke, Arme, Bettlägrige, Waisen und jene, die in Not geraten sind. Es ist das Gebot des Herrn. Und in einer Gesellschaft, in der sich alle um alle und jeden kümmern, ist ein Dieb ein Mensch, der sich bewusst dazu entschieden hat, Kummer und Not über andere Menschen zu bringen. Deshalb wird an ihm diese weltliche Rache begangen.“
Axel wollte etwas sagen, aber da fuhr der Imam bereits fort. „Doch was ist, wenn es eine Gesellschaft gibt, in der sich jene, die haben, nicht um jene kümmern, die nichts haben? Wenn denen, die in Not geraten sind, nicht geholfen wird? Was kann man dann zu einem Dieb sagen, der stiehlt, um nicht zu verhungern? Ist da die Strafe, einen Fuß und eine Hand abzuhacken, noch gerecht? Oder ist die ganze Gesellschaft schuldig, weil sie es nicht geschafft hat, diesem einen Menschen zu helfen, damit er nicht die Sünde des Diebstahls begehen musste? Es gibt so viele bigotte Menschen dort draußen, die sich wer weiß was auf sich einbilden und darauf, welches Gewicht ihre Taten haben, die sich und ihren Reichtum ständig bedroht sehen und die auf den kleinsten Verdacht hin denken, sie könnten wie Rachegötter auf andere hernieder fahren. Und ja, sie denken, dass jene, die arm oder im Unglück gefangen sind, zu Recht dort sind und sie ihnen bestenfalls ein paar Krumen vom Tisch herüberfegen müssen. Denn der Rest liegt in Allahs Hand, nicht in ihrer. Aber haben sie je daran gedacht, dass diese Menschen in Not sind, weil Allah über sie wacht und will, dass diesen Menschen geholfen wird? Von jenen, die mehr haben? Damit nicht nur ihnen geholfen wird, sondern auch den Spendern? Damit für uns alle die Welt besser wird?“

Der Imam lächelte. Seine Hand griff nach Axels Wange und tätschelte sie. „Ich sehe, du verstehst. Ja, ich bin blind, aber die Augen meines Herzens sehen, dass du verstehst. Denn du, Axel Herwig, bist einer von denen, die mehr haben, und der gerne und ohne zu fragen, wo dein Vorteil liegt, an jene gibt, die weniger haben. Für dich, mein Junge, hat Allah einen Weg bestimmt, und du gehst ihn. Schreite weiter auf ihm aus, und bedenke, für jeden Schritt, den du meisterst, werden auf dem Weg beim nächsten Schritt größere Hindernisse liegen. Menschen, die meinen, ihr Reichtum und ihre Macht wären ihr naturgegebenes Recht, werden versuchen, dich zu vernichten, oder zu einem von ihnen zu machen. Du bist ihr natürlicher Feind. Und, auch das sage ich dir, Axel Herwig, wenn du eines Tages scheiterst, nachgibst, so wirst wie deine Feinde, dann schau zurück und sieh dir an, was du besser gemacht hast als sie, welchen Unterschied du gebracht hast. Dann sei stolz darauf, was du erreicht hast, wie vielen Menschen du das Herz erleuchtet hast.“
„Abu, Sie denken, ich werde scheitern?“
Der alte Mann lachte, aber es war ein leises, wehmütiges Lachen. „Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Bist du stark genug, um gegen die großen Konzerne der USA zu bestehen? Gegen ihre Gesetzgebung, gegen die Waffen ihres Militärs? Kannst du verhindern, dass die EU unsere Rohstoffe ausbeutet, und dafür unsere Märkte mit Billigwaren überschwemmt, die eine eigene Industrie und damit Arbeit im Land obsolet machen? Bietest du China die Stirn und verhinderst, dass ihre noch billigeren Waren all jene hinfortschwemmen, die bis dahin mit Ressourcen dieses Landes produziert haben, für die Menschen dieses Landes? Nein, selbst ein Axel Herwig wird irgendwo an seine Grenzen stoßen. Er wird sich und seine Politik anpassen müssen. Er wird nachgeben. Aber niemand wird es dir je nachtragen, mein Sohn, denn bis dahin hast du bereits Großes erreicht.
Sieh mich an, ich habe nicht mehr damit gerechnet, jemals wieder in dieser Moschee zu stehen und das Gebet zu leiten. Nie wieder. Ich habe gehofft, man würde einst meine Gebeine hier bestatten, Jahre oder Jahrzehnte nach meinem Tod. Aber dann kamst du und wirktest ein Wunder. Ich weiß es nicht, wie weit du kommen wirst. Aber es wird schwerer werden, nicht leichter. Auf keinen Fall leichter. Doch jeder deiner Schritte auf dem Weg wird bewundert werden.“

Der Imam berührte die Innenseite der ausgekachelten Nische, und Tränen strömten seine Augen hinab. „Ich hätte es verdient gehabt, nie wieder hier zu stehen, nie wieder meine Stimme zu erheben. Denn ich war es, der für den Zerfall Belongos verantwortlich ist. Ich war es, der den Staat zerstört hat.“
Lautes Raunen der Gottesdienstgemeinde zeugte, dass die Speere nicht der Meinung des Scheiks waren, aber der alte Mann hob eine Hand, und sie verstummten. „Doch, es war meine Schuld. Als sich die Wagondas mit ihren Nachbarn prügelten, da tat ich dies ab als ihr Problem, denn sie waren alle Christen, und sie waren weit weg von der Hauptstadt. Dann wurden die Kelegaba von den Wagonda über den Fluss gejagt, aber auch das war weit im Norden, und ich sagte mir, ich als Imam kann den Christen nicht predigen, damit sie ihre eigenen Gebote einhalten. Dann vertrieben die Kelegaba die Lulugengo nach Süden, und der Konflikt erreichte damit unsere muslimischen Dörfer und Gemeinden. Da wusste ich, dass ich in meiner Angst, unwürdig als Vermittler und Prediger für die Christen zu sein, meinen allergrößten Fehler begangen hatte. Ich hatte die Aufgabe, die Allah mir auferlegt hatte, nicht erkannt. Und bevor ich eine Chance bekam, es zu korrigieren, besser zu sein, da griff Ndongo an, zerschlug das, was wir an Militär besaßen und noch nicht in den Konflikt hineingezogen worden war, zerstörte Keounda City und trieb uns fort aus der Stadt.
Tausende starben an diesem einen Tag, viele wurden verletzt, so auch ich. Ich verlor mein Augenlicht und lebe seither in der Dunkelheit. Aber ich war nicht allein, denn obwohl viele alles verloren hatten, ihr Hab, ihr Gut, ihre Anverwandten, so halfen sie doch mir, der noch weniger hatte als sie. Ich wurde nicht abgetan und als Überflüssiger liegengelassen. Sie halfen mir, waren meine Augen, meine Begleiter, bis ich bei den Kelegaba Aufnahme fand. Dort, im Exil von der Hauptstadt, wurde mir erlaubt, mein Wort an meine Gemeinde zu richten, und viele Kelegaba konvertierten. Nicht, dass ich nur einen Tag gesagt hätte, dass ich mir wünsche, dass die Menschen Moslems werden. Sie kamen, um mich zu hören, mich zu sprechen. Und sie wechselten, um mir nahe zu sein, selbst wenn sie hunderte Kilometer von mir entfernt waren... Denn dies ist die einzige Form der Missionierung, an die ich glaube und die ich gestatte: Durch Vorbild.“
Axel nickte ergriffen. Hätte ihn jemand gefragt, in diesem Moment wäre er vielleicht bereit gewesen, zu konvertieren. Aber nicht zum muslimischen Glauben, sondern zum Glauben und zu Ehren dieses einen Mannes, der ihn beeindruckte, wie nie ein anderer Mensch es zuvor geschafft hatte. Und er kannte die gesamte Familie Herryhaus!
„Denke nicht an Christentum, nicht an Buddhismus, nicht an den Islam, nicht an das Tao, nicht an die Lehre der Hindu, oder welche Religion sonst in deinen Sinn kommt. Religion ist immer nur ein Werkzeug, aber nie das Ziel. Darum denke nie daran, welche Religion die bessere sein könnte, denke einfach daran, die Religionen zu respektieren, weil Menschen sie praktizieren. Und jeder Mensch, egal welcher Religion er folgt, ist eben ein Mensch mit einem Vater, einer Mutter, mit Großeltern, vielleicht mit Geschwistern oder gar eigenen Kindern. Jeder Mensch hat ein Leben, das er leben möchte, und dies so gut wie möglich. Und jedem sollte dieses Leben von Herzen gegönnt sein, und zwar genauso lange, wie er dieses Leben auch jedem anderen gönnt. Hast du dein Herz im Christentum gefunden, dann sei es so. Bist du Shintoist, dann sei es so. Denkst du, du müsstest den besonders strengen Lehren der Wahabiten folgen, dann sei es so. Glaubst du, Religion ist nur Opium für das Volk, dann denke dies ruhig. Aber verinnerliche stets, dass Menschen hinter den Religionen stehen. Menschen wie du. Menschen wie ich.“
Axel nickte zustimmend. Der Moment war vorüber. Aber er hatte wohl verstanden, was Abu ihm hatte nahebringen wollen. Es war etwas, was er schon lange selbst gewusst hatte, aber manche Dinge, manche Tatsachen gewannen an Bedeutung, an Dringlichkeit, sobald ein anderer sie aussprach, und wenn man diese Person respektierte.

Den Rest des islamischen Gottesdienstes, das Salāt, begleitete er wie in einem Traum. Er half dem alten Mann die Treppe hinauf, damit er von der dritthöchsten Stufe zu den Gläubigen sprechen konnte, und er erkannte, dass die Lektion, die Abu ihm erwiesen hatte, bereits die Predigt gewesen war, die er über Axel an alle gerichtet hatte. Er war Zeuge, wie die Gläubigen das rak'a vollzogen, die traditionelle Verbeugung gen Mekka, und er hörte den alten Imam aus dem Koran rezitieren, rein aus seinem Gedächtnis. Wie und in welcher Reihenfolge all dies geschah, konnte er hinterher nicht mehr sagen, da würde er den wesentlich entspannteren Hannes befragen, aber er wusste, dass er weder diesen Gottesdienst, noch den alte Scheik je wieder vergessen würde. Und er fühlte sich bestärkt in dem Weg, den er bis hierhin gegangen war. Das Wichtigste aber war, dass er erkannt hatte. Es war keine religiöse Offenbarung, es war eine weltliche gewesen. Er hatte verstanden. Er würde einen Unterschied machen. Er, und ein jeder, der ihm folgen würde. Und dies würden sie tun für die Menschen in diesem Land. Es würde schwierig werden, es würde Opfer fordern, sie würden sich mit Mächten anlegen müssen, deren Gefährlichkeit sie noch gar nicht abschätzen konnten, aber sie würden es tun. In den kleinen Dingen ebenso wie in den großen Taten. Weil es gemacht werden musste. Nicht, weil Gott ihn auserwählt hatte, oder weil das Schicksal ihn bestimmt hatte, nein, sondern weil er in die Lage gekommen war, genau das zu tun.

Als er wieder vor der Moschee stand und sich mit seinen Socken abmühte, kam Hannes zu ihm. „Und? Hast du erwartet, dass das Gebet der Muslime so ablaufen würde? Wenn man bedenkt, dass es ganz zu Anfang seiner Geschichte Mohammed dazu gedient hat, seine Truppen einschwören zu können, ist es kulturell einen weiten Weg gegangen, nicht?“
Axel sah auf und blickte den KSK-Mann an, als kenne er ihn gar nicht. Dieser bange Moment dauerte mehrere Sekunden, als in Hannes Malicke schon Panik und Sorge um den Freund aufstieg. Ja, Freund, das war er mittlerweile für den Elite-Soldaten. Doch Axels Blick klärte sich wieder, kam zurück aus weiten Fernen und erkannte Hannes. „Ich habe vieles erwartet und dann doch nichts. Hannes, warum haben wir die Ärzte ohne Angst befreit?“
„Weil wir es konnten“, erwiderte er irritiert.
„Warum haben wir Ngali die Wasserpumpe geschenkt, warum dort das Hospital errichtet, die Felder von Minen befreit?“
„Weil wir es konnten. Und weil Meike uns die Hölle heiß gemacht hätte, hätten wir ihr nicht die Gelegenheit gegeben, die Bevölkerung zu versorgen.“
Axel konnte nicht anders, er musste grinsen. „Und warum“, fragte er schließlich, „haben wir die Minenwölfe gekauft und lassen sie in anderen Dörfern die Felder von Antipersonenminen reinigen?“
„Weil die Minenwölfe effizient, leicht zu transportieren und gemessen an ihrer Aufgabe billig sind.“ Hannes dachte einen Augenblick nach. „Weil wir es können, natürlich.“
Axel schlüpfte in seine Stiefel und reichte dem großen Elitesoldaten die Hand, damit er ihn auf die Füße zog. Als der ältere Herwig-Bruder stand, nickte er gewichtig. „Wie viel ist vom Monat noch über?“
„Wir sind eine Woche hier. Und schau dir an, was wir erreicht haben.“ Stolz klang in Hannes' Stimme mit, als er das sagte.
„Und wann musst du wieder zurück? Wann muss Niklas wieder zurück?“
„Warum fragst du das?“
Axel lächelte. „Weil mich meine Aufgabe gefunden hat. Ich werde hier Großes tun. Oder groß scheitern.“
Hannes Malicke schmunzelte. „Ich schätze, aus dem Monat ist ein Jahr geworden, was?“ Er klopfte Axel auf den Rücken, und zwar kräftig. „Geh voran, und ich folge dir solange, wie mein Gewissen und meine Vorgesetzten es erlauben. Falls sie mich nach der ganzen Belongo-Geschichte nicht schon als Deserteur führen.“ Die letzten Worte hätten bitter klingen können, aber das taten sie nicht. Der KSK-Offizier hatte sie mit Humor ausgesprochen.
„Wir werden sehen, was passiert“, brummte Axel. „Ich denke, wir sollten uns diese belgischen Straßen ansehen, auf denen der panadianische Pilot notgelandet ist. Ich kann mir vorstellen, sie zu flicken oder an ihrer Stelle eine neue Straße zu bauen. Zuerst von der Mine bis nach Keounda City, und dann runter bis Panadia.“
„Da ich dich kenne, und da ich deine Gedanken kenne, weiß ich zwei Dinge“, sagte Hannes. „Erstens, du meinst das bitterernst. Zweitens, es wird so geschehen, wie du es gerade gesagt hast.“
Axel grinste schief, Hannes grinste zurück. Und hinter ihnen stand der alte Imam mit einem Lächeln.
***
„Wie war der Gottesdienst?“
Axel sah auf, als er die Stimme des Mannes hörte, der wegen ihm und seinem Co-Piloten angeschossen worden war und der zwanzig seiner Leute im Höllenfeuer des Napalms verloren hatte.
„Wie war die Inspektion?“, erwiderte er.
Wie und wann sich Jason die Krücke besorgt hatte, wusste Axel nicht; einer der Hubschrauber musste sie mitgebracht haben. Oder er hatte sie von Ldungas Farm mitgenommen, als er sich zu Meike hatte rausfliegen lassen. Jedenfalls war sie aus dem Bestand von Belongo Mining, und Belongo hatte einen ungeheuren Bedarf an deutschen Krücken. Kinderlähmung war in diesem Land auf dem Vormarsch, und viele der Überlebenden litten an Muskelschwäche und anderen Behinderungen wie Lähmungen der Gliedmaßen oder des Atemapparats, die jede kleine Hilfe zum Gottesgeschenk machten. Mit Meikes Impfkampagne würde das Horrorgespenst Polio hoffentlich ein Ende haben. Zumindest hoffte Axel das.
„Gut. Ziemlich gut. Frost hat unser Vorgehen gelobt, unsere Zusammenarbeit mit den Marines und natürlich die Zusammenarbeit mit Belongo Mining. Was die Speere Ldungas angeht, so hat sie sich dazu durchgerungen, ihre Anwesenheit zu tolerieren, bis der alte Wolf eine Entscheidung getroffen hat.“
„Das ist ein bisschen wenig, oder? Ldungas Leute haben uns mehr als einmal aus der Patsche geholfen. Zum Beispiel, als sie den nördlichen Wald von Panzerfaustschützen des Riki gesäubert haben.“
„Ich habe mir die Freiheit genommen, Captain Frost ausdrücklich darauf hinzuweisen und auf eine lobende Erwähnung bestanden. Sie hat mir geantwortet: „Legen Sie Ihre Hand dafür ins Feuer, dass  diese Kerle zu kontrollieren sind und nicht bei erstbester Gelegenheit über uns herfallen?“ Tja, darauf habe ich geantwortet.“
Axel sah den Ranger interessiert an. „Und was waren deine Worte, Jason?“
„Ich habe ihr das gesagt, was sie hören will. Nämlich, dass Ldunga so lange unser wichtigster Verbündete in der Nähe von Keounda City sein wird, wie Belongo Mining mit ihm verbündet sein wird.“ Er klopfte Axel auf die Schulter. „Das wiederum bedeutet, dass du, mein Vorzeigedeutscher, hiermit unser wichtigster Verbündeter in dieser Region bist.“
„Na danke. Ich freue mich.“
„Und sie hat sich sehr lobend über euer Lager ausgelassen. Sie hat durchblicken lassen, dass der General eine zweite Maschine rankommen lassen könnte, die euch dabei hilft, zum Beispiel Wohncontainer zur Mine zu schaffen. Nachdem Ihr die Massengräber ausgehoben und gefüllt habt.“
Axel wurde blass, als Scott ihn an den Angriff der Söldner auf die Mine erinnerte. Er war nicht da gewesen, als es passiert war. Er hatte nicht helfen, nicht koordinieren können. Es hatte Verletzte gegeben, und eine Menge Tote auf der anderen Seite. Die Leichen mussten bestattet werden, bevor der Verwesungsprozess einsetzte und die toten Körper zum Nährboden für Epidemien werden konnten. Und jemand musste eine Messe für die Toten abhalten. Nicht, dass er religiös erleuchtet worden war, aber diese eine Erfahrung mit Abu hatte ihn daran erinnert, wie Respekt aussah. Und selbst wenn sie von ehrlosen, geldgierigen, marodierenden und mordenden Söldnern überfallen worden waren, so war doch ein jeder von ihnen der Sohn eines Vaters und einer Mutter. Er war geliebt worden, bis sein Leben in diese Richtung gedriftet war, ob mit seinem Willen oder dagegen. Zudem hieß es, dass der Tod alle Rechnungen beglich. Also hatte Axel kein Problem damit, zu beweisen, was für ein verdammt guter Mensch er doch war und den Toten ein ordentliches Begräbnis mit einem ordentlichen Gebet zukommen zu lassen. „Ach ja. Wir brauchen einen Geistlichen. Kannst du mir damit aushelfen?“
„Frag den Scheik.“
Axel schnaufte. „Den alten Mann, jetzt, wo er gerade wieder in seiner Stadt, in seiner Moschee sein darf, sofort wieder losreißen und woanders hinschicken? In eine Sache hinein, für die er gar nicht zuständig ist?“ Der Deutsche schüttelte den Kopf. „Nein, Jason.“
„Wie wäre es dann mit einem Geistlichen von der Flotte?“, fragte Major Michael. „Freut mich, Sie persönlich kennen zu lernen, Belongo 1.“
Axel wollte sich erheben, aber der stämmige Marine winkte ab und ging in die Hocke, um ihm die Hand zu reichen.
„Freut mich ebenso, Marine 1. Ein Geistlicher von der Flotte?“
„Wir werden ein paar Versorgungsflüge zur Flotte machen, je nachdem, was die Lage in Ompala City zulässt. Ich kann für einen Feldkaplan garantieren. Und Washington würde es sicher gerne sehen, wenn Ihre Toten, Scott, die letzte Ölung bekommen würden.“
„Apropos. Wie sieht es in Ompala aus?“, hakte Scott nach.
„Wir haben rausgeflogen, was rauszufliegen ging. Jetzt sind nur noch der Botschafter, die Marines der Botschaft, unsere Marines, ein Haufen Mitarbeiter, die nicht evakuieren wollten oder die nicht mehr an Bord der Ospreys gepasst haben, sowie noch eine ganze Reihe europäischer und einheimischer Zivilisten in der Botschaft. Es gab einen ersten Zusammenstoß mit den Einheimischen, bei dem wir einen CIA-Agenten lebend bergen konnten. Im Austausch gegen die berühmteste braune Brause der Welt.“
„Pepsi?“, riet Scott.
„Ignorant. Coca Cola natürlich. Ein paar Paletten davon, und der Mob wurde zur Party.“ Michael grinste schief. „Seither lässt der alte Haifisch an Coladosen nach Ompala City bringen, was er zu fassen bekommt. Falls der Transport durchkommt, können wir ein paar Tausend Zivilisten bestechen. Und falls der Transport es zurückschafft, können wir die europäischen Zivilisten und hoffentlich die Frauen und Kinder evakuieren, die in die Botschaft geflohen sind. Wenn sich die Black Stars nicht einmischen... Und wenn der Mob nicht handgreiflich wird. Wenn die Miliz nicht eingreift. Wenn die Armee nicht mit Panzern ankommt.“
„Frauen und Kinder?“, fragte Axel. „Keine europäischen?“
„Das Schlimmste, so hat man mir gesagt, werden die Hetzjagden auf Angehörige der Stämme aus Belongo sein, die in Ompala City als Wanderarbeiter leben. Der Mob besteht zu großer Mehrheit aus Angehörigen der herrschenden Clans und der Westküste. Vor ein paar Jahren gab es eine ähnliche Situation, und etliche Unschuldige wurden gelyncht, nur weil sie im falschen Stamm geboren wurden. Da war so ein Gerede von wegen, die „Einwanderer würden ihnen die Arbeit wegnehmen“, und so weiter. Der eigentliche Grund war aber eine Mehrwertsteuererhöhung, die die Leute frustriert und auf die Straße getrieben hat. Der herrschende Clan hat die Wut dann in die richtige Richtung gelenkt... Jedenfalls sind damals inoffiziell eine Menge Zivilisten in die US-Botschaft geflohen, und der gute Hayle hatte genug Eier in der Hose, um die Marines mit aufgestecktem Bajonett Flagge zeigen zu lassen, selbst als der Mob die Herausgabe ihrer, nun, Feinde forderte.“
„Respekt vor diesem Mann“, sagte Axel. „Ich nehme an, die ersten Männer und Frauen haben sich erneut an die Botschaft gewandt?“
„Ja. Und es wird nahezu unmöglich sein, sie zu evakuieren. Das Schlimmste daran ist, dass, geht der Botschafter, werden auch die Marines abgezogen. Wir werden dann mitnehmen, wen immer wir können, aber das hängt einerseits von der Gnade der ndongoischen Luftwaffe und den Black Stars ab, und andererseits davon, wie viel Material wir zurücklassen.“
Axels Wangenmuskeln arbeiteten. „Wenn Admiral Philips einen sicheren Luftraum garantiert, kann er alle meine Helis haben. Auch die, die gerade nach dem Riki und seinen Leuten suchen.“
„Das ist es ja gerade. Das kann er nicht. Nicht im voraus, zumindest. Erst, wenn die Luftwaffe Ndongos auf unsere Jets oder die Ospreys schießt.“
„Verdammt noch mal, die verfickte Luftwaffe Ndongos hat hier zwanzig Ranger geröstet!“ Axel war aufgesprungen, vor Wut, vor Entsetzen, aber er war es nicht, der gesprochen hatte. Es war Scott gewesen. „Reicht das nicht als Grund?“
„Es würde als Grund reichen, aber wir haben zu wenige Streitkräfte vor Ort, und die, die wir haben, sind nicht auf eine Schlacht vorbereitet“, erklärte Michael. „Die Panadier können uns in der Luft helfen, aber nicht am Boden.“
„Deshalb sage ich ja, nehmt meine Hubschrauber“, sagte Axel.
„Das würde nicht reichen. Eine Luftschlacht mit der Luftwaffe und den Black Stars würde bedeuten, dass der Schutz der Trägergruppe unter ein gewisses Limit fällt. Und Admiral Philip würde nie die Trägergruppe riskieren. Zudem hat der Gegner über dem Festland nicht nur Heimvorteil, sondern auch Bodenunterstützung. Die Situation ist sehr verfahren. In einer Woche sähe es anders aus. Dann hätten wir Bodenunterstützung, so viel, wie wir wollen. Aber jetzt... Jetzt haben wir es versäumt, die Botschaft rechtzeitig zu räumen. Und sobald der Luftraum dicht gemacht wird, wird das eine sehr lange Wartezeit für unsere Leute dort.“
„Oder die armen Schweine, die zurückgelassen werden“, knurrte Axel. Es klang weniger angriffslustig, mehr frustriert.
„Ja. So sieht die Scheiße aus. Und jetzt sagen Sie mir, dass Ihre russischen Hubschrauber es mit den Black Stars aufnehmen können, ganz zu schweigen von der regulären Luftwaffe, Axel. Ich weiß, Sie wollen helfen, Sie sind bereit dazu, und Ihre Leute sind großartig. Ich würde Boxie jederzeit mein Leben anvertrauen, und ich stehe auf der Liste für den Nachwuchs von Antoinette und Willi, aber er ist nicht Son-Goku. Er ist auch nicht Vegeta.“ Michael warf Axel einen scheelen Blick zu. „Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob Sie nicht Krilin sein könnten, Mr. Herwig.“
„Sehr komisch“, murmelte Axel und strich sich über die Haare. „Ich bin zu groß für Krilin.“
„Wer bin ich dann? Muten-Roshi?“, fragte Scott mit ernster Miene.
Die drei sahen sich an und brachen in schallendes Gelächter aus.

„Also“, sagte Axel, „mein Angebot steht. Sagen Sie mir, was Sie brauchen, ich besorge es. So weit, wie ich es kann.“
„Daran zweifle ich nicht“, sagte Michael. „Aber denken Sie nicht, dass Sie hier in nächster Zeit genug zu tun haben werden? Eine Stadt will neu besiedelt werden, und eine Menge Repräsentanten der verschiedenen Dörfer werden hier zusammenkommen, um ein neues Parlament zu wählen und eine Regierung zu bestimmen. Viele sind schon auf dem Weg hierher, seit die Nachricht über den Fall des Riki über den CB-Funk verbreitet wurde. Der Funk ist voll der Lobesarien über die großen deutschen Helden, die das möglich gemacht haben. Und ach ja, wir werden auch erwähnt. In Nebensätzen.“
„Nur kein Neid“, erwiderte der Deutsche. Axel aktivierte sein Funkgerät. „Niklas? Komm zu mir, ich brauche dich, sobald du Zeit hast. Boxie, du auch. Und Boxie, ruf Bernd an. Er soll rüber kommen, so schnell er kann.“
„Bernd inmitten eines Krisengebiets? Willst du ihn umbringen?“, antwortete Boxie.
„Vielleicht. Wie schnell können wir Internet und WLAN nach Keounda City bringen?“
„Warum der Gedankensprung?“, fragte Niklas.
„Und wer produziert gute WLAN-fähige Tablets, die den hiesigen Bedingungen stand halten?“
Niklas' Stimme klang auf einmal nervös. „Axel, was planst du?“  
„Die Rettung der Welt. Nichts geringeres.“
Niemand widersprach. „So schnell wie möglich“, wiederholte Axel noch einmal. Dann sah er den Marine und Jason Scott an. „Ich denke, wir sind hier noch lange nicht fertig. Suchen wir Shatterfield und sprechen wir über ein paar andere Dinge, die neben den Ermittlungen noch wichtig sind.“ Er erhob sich und zog Scott auf die Füße. „Dazu gehört, dass wir ein paar Leuten in den Arsch treten.“
„Egal, was du planst“, sagte Jason Scott, „es gefällt mir schon jetzt.“
***
Wenn man auf die Straße sah, konnte man zwei Dinge kaum glauben. Erstens, dass vor kurzem noch ein paar tausend Leute als Mob durch eben diese Straße gezogen waren, und zweitens, dass man sich mitten in Afrika befand. Die Häuser waren europäisch, die Straßen geteert und gut gepflegt, die Bürgersteige entsprachen dem, was Europäer und Amerikaner gewohnt waren. Und die Straßenlampen brannten und sorgten für eine gute Beleuchtung. Aber dies war nicht Europa, dies war auch nicht Amerika, geschweige denn die USA. Dies war Ompala City, und erst vor wenigen Stunden hatten die Marines, die zum Schutz der Botschaft abkommandiert worden waren, eine gefährliche Krise gemeistert. Allerdings fing der Ärger auch gerade erst an. Die Zahl der Personen, die in die Botschaft der USA flüchteten, stieg mit jeder verstreichenden Minute. Hauptsächlich waren es US-Amerikaner, Kanadier und Briten, aber auch andere Europäer, teils mit Familie, waren darunter. Das Gros aber machten die Schwarzafrikaner aus. Männer, Frauen und Kinder, die nicht zu den herrschenden Stämmen der Westküste gehörten, nicht zum Clan des Präsidenten, und die nicht zu Unrecht die gleichen Übergriffe befürchteten, die sie bereits einmal erlebt hatten. Zum Glück war die Zahl der Kinder eher gering. Aber eine Menge Menschen aus Belongo, Frauen wie Männer, hatten ihr Glück als Wanderarbeiter in Ompala versucht. Und je länger dieser Tag dauerte, desto mehr erinnerte er an die Vorkommnisse vom letzten Mal. Captain Burdelle zumindest hatte sich vorgenommen, verdammt vorsichtig zu sein. Jeder Neuankömmling, der in die Botschaft wollte, ob Europäer, ob Afrikaner, wurde gefilzt. Bis auf die Haut. Dabei hoffte sie, dass kein verdammter Fanatiker auf die Idee kam, sich eine Bombe in den Arsch zu schieben und sie inmitten der Menschenmenge zu zünden.
Mittlerweile waren über vierhundert Menschen in der Botschaft, und dies, obwohl sie die meisten Amerikaner und Botschaftsmitarbeiter bereits ausgeflogen hatten. McMasters hatte dafür gesorgt, dass sie im rückwärtigen Bereich der Botschaft untergebracht worden waren, dort allerdings auch fern der Fenster und der Mauer im Hinterhof, die genauso wie die Frontfenster von den kampfbereiten Marines besetzt worden waren. Und das war auch bitter nötig, denn seit einiger Zeit hallten vereinzelte Schüsse durch die Abendluft zu den Verteidigern herüber.

„Wie schlimm ist es?“
Captain Burdelle versuchte, ein aufmunterndes Gesicht aufzusetzen, aber sie wusste, dass es nicht gelang. Nicht, weil sie keine gute Schauspielerin war, sondern weil ihre Mimik einfach kein hübsches Lächeln zuließ. Sie war eine Marine und stolz darauf. Ein Kraftpaket und ein verdammt guter Offizier, aber kein Counselor, und lügen mit den Augen hatte sie nie gelernt.
„Schüsse.“
„Dann geht es also los“, sagte Walker.
Burdelle nickte. Sie klopfte dem Afroamerikaner, der vor wenigen Stunden gerettet worden war, auf die Schulter. „Ist egal. Der Osprey mit der Cola trifft bald ein, und Sie gehören zu denen, die wir mit ihm wieder ausfliegen. Sie haben genug gelitten.“
„Ich bin mir da nicht so sicher.“
„Hm?“
„Ich war zu langsam, und deswegen wurde die Perry eines Verbündeten beinahe versenkt. Ich denke, ich verdiene jeden Moment des Schmerzes, den ich hier erlebe.“
„Und ich denke, dass Sie ein Idiot sind. Ohne Ihr Intel wären wir den Sizzlern nie auf die Spur gekommen. Die Mistdinger wurden versenkt, anstatt einen neuen Falklandkonflikt anzuheizen. Auftrag erfüllt, Agent.“
„Ganz so einfach ist es dann doch nicht.“
Burdelle schürzte die Lippen. „Sie meinen, so einfach wie in Selbstvorwürfen zu baden?“
„Ich...“

„Ma'am!“
Burdelle wandte sich um. „Was gibt es, Ariele?“
„Mob auf der Straße.“
„Ich komme.“ Sie klopfte dem CIA-Agenten auf die Schulter, wohlweislich darauf bedacht, keine seiner vielen Schnittwunden zu treffen. „Sie sind hier bald raus. Und dann kriegen Sie für Ihre Tapferkeit einen verdammten Orden. Glauben Sie mir das.“
„CIA-Agenten kriegen keine Orden. Zumindest nicht offiziell. Aber danke. Danke, Captain.“
Sie nickte ihm ein letztes Mal zu, dann folgte sie Ariele McMasters aufs Dach. Ein Scharfschützenteam beobachtete die Straße nach Osten. Anette Burdelle musste gar nicht erst ihre Ohren anstrengen, denn das Gemurmel der Menge drang wie ein allgegenwärtiges Raunen zu ihnen herüber. Während sie an der Brüstung stand und nach ihrem Fernglas suchte, fielen drei Schüsse, gefolgt vom Jubel der Masse. „Bericht, Marine.“
Der Spotter des Scharfschützenteams sah zu ihr hoch. „Sie richten Leute hin.“
„Verdammt.“ Sie verbiss sich die Frage danach, ob sie vorher misshandelt wurden. Einerseits machte es keinen Unterschied, denn tot war tot. Andererseits hätte es sie schwer gewundert, wenn sie vorher nicht misshandelt worden waren. Ihre Hände krampften um ihr Fernglas, als sie es an die Augen setzte. Sie suchte nach dem Mob und wurde schnell fündig. Außer einer wogenden Masse von vielleicht tausend Leuten konnte sie nichts erkennen, aber erneut klangen Schüsse auf, die vom Jubel der Menschen begleitet wurde.
„Haben wir Intel oder eine direkte Beobachtung davon, dass sie Leute hinrichten?“, fragte sie geradeheraus. „Cormik? McMasters?“
„Nein, Cap“, sagte der Spotter.
„Nein, Ma'am“, sagte Ariele McMasters.
„Selbst wenn sie dort unten eintausend Leute hinrichten würden, ich würde das Gelände freiwillig nur mit einem Osprey verlassen.“ Sie steckte das Fernglas wieder fort. „Verbuchen wir es als Versuch, uns aus der Reserve zu locken. Halten Sie weiter die Augen auf, denn der nächste oder übernächste Schritt könnte aus Gewalt gegen die Botschaft bestehen.“
„Aye, Ma'am.“
Burdelle verkrampfte die Hände erneut. Wenn auch nur für einen Sekundenbruchteil, so glaubte sie doch gesehen zu haben, wie einem knienden Mann eine Kugel durch den Kopf gejagt worden war. Aber sie hatte weder die Feuerkraft, noch die Manpower, um die armen Schweine da draußen zu retten. Sie musste sich darauf konzentrieren, die zu retten, die in den Mauern der Botschaft Zuflucht gefunden hatten. Wenigstens das musste sie schaffen. Und dafür würde sie eine Menge ertragen müssen.
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