Belongo
von Ace Kaiser
Kurzbeschreibung
Eine nicht authentische und verfremdete Geschichte über eine Diamantenmine in Afrika. Recherche zu Technik und Ausrüstung sind von Stinkstiefel.
GeschichteAbenteuer / P16 / Gen
12.09.2011
23.02.2017
37
260.000
8
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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30.03.2015
6.601
15.
„Sie verstehen?“, fragte Heide Schuster. Sie schlug langsam die Beine übereinander, eine Geste, die ausdrücken sollte, dass sie Stärke empfand, dass sie im Vorteil war. Sie, eine Frau, gegenüber einem waschechten afrikanischen Kriegsherrn, der über zweihundert Speere unter Waffen verfügte. Und das galt nur für sein Hauptquartier. Er, das war Wanagana, der Mann, der vor fünfzehn Jahren die Lulugengo fast vollständig von der Ostseite des Lagabandas vertrieben hatte, ein Jahr nachdem die Wagonda das Gleiche mit seinem Volk am Westufer getan hatten. Heide sah den Teufelskreis, der hier geschah und der augenscheinlich von der Regierung Ndongos massiv gefördert wurde, um im zerstrittenen Belongo weiterhin ungestört und unhinterfragt Bodenschätze fördern zu können. Aber verstand es auch Wanagana? Er war einer der Profiteure in diesem Geschäft, und er verdiente nicht schlecht bei der Geschichte. Zudem waren seine Waffen zu einem Großteil belgisch und französisch, was dafür sprach, dass die Regierung hier ein wenig subventioniert hatte. Konnte er ein Partner werden? Konnte er die Vorteile sehen, die die Mine ganz Belongo brachte, und damit auch ihm? Oder war er ein Feind von Neuerungen? Wanagana war der erste Kriegsherr östlich des Lagabandas, den sie aufgesucht hatte, und mit Sicherheit die schwerste Nuss von allen, denn seine Position war seit fünfzehn Jahren gut zementiert. Zumindest war sie das gewesen, bis die Söldner aus Bindiru, die dem Riki hatten helfen sollen, auf dem Weg dorthin die Farm von Koluko überfallen hatten, einem weiteren Kriegsherrn der Kelegaba, der unter Wanagana „gelernt“ und sich vor gut fünf Jahren selbstständig gemacht hatte, als sich eine Öffnung nach Süden ergeben hatte. Das hatte Koluko sehr nahe an die verfluchte Stadt gebracht, aber die Nische hatte sich als recht groß erwiesen. Und da Koluko seinem Dienstherrn aus alten Tagen noch immer zu Dank verpflichtet war und Wanagana ebenfalls für eine dichte Südgrenze dankbar war, hatten sie ein anständiges Verhältnis miteinander. Gehabt, womöglich, denn bis auf die Nachricht, dass seine Farm überfallen worden war, hatte es noch keine weiteren Nachrichten über den Überfall gegeben. Außer natürlich, dass der Werksschutz von Belongo Mining die Söldnertruppe komplett aufgerieben und die Farm gesichert hatte. Das hatte Heide gemeint, als sie gefragt hatte: Sie verstehen? Belongo Mining war nun der größte Junge auf dem Spielplatz, und er bestimmte, was die kleineren Kinder spielten. Und da Belongo Mining kein Bully war, verprügelte er die kleineren Kinder auch nicht, solange sie seinem Willen gehorchten. Einer der Gründe, warum sie mit nur zwei Leibwächtern hier rein marschiert war und den großen Max markieren konnte. Wenn nur endlich eine Reaktion von Wanagana kommen würde.
„Ich sehe, ich verschwende meine Zeit“, seufzte sie, setzte das rechte Bein wieder auf die Erde und erhob sich. „Sie kennen meine Frequenz. Funken Sie mich an, wenn Sie bereit sind, mit uns zu verhandeln.“
Wanagana musterte sie mit steinerner Miene, sagte aber nichts. Dabei wusste sie genau, dass er sie verstand. Die Begrüßung hatte das eindeutig klar gemacht. Der Mann beherrschte sowohl französisch als auch den Wagonda-Dialekt fließend. Nun gut, es gab noch andere Kriegsherren, und zumindest Koluko, so er denn überhaupt noch lebte, würde Belongo Mining gegenüber sehr aufgeschlossen sein.
„Warten Sie“, sagte Wanagana auf englisch. „Ich möchte, dass jemand Sie kennenlernt.“
„Meine Zeit ist nicht unbedingt begrenzt, aber kostbar genug“, erwiderte sie eine Spur zu harsch. „Es gibt noch andere Warlords auf dieser Seite des Lagabandas, die ich sprechen werde, und weitere Dörfer, die ich aufsuchen muss.“
„Warten Sie, bitte, Miss Schuster. Es ist wichtig für mich.“
Sie sah dem Mann in die Augen. Er schien es ehrlich zu meinen. Allerdings war das Raunen, das von draußen herein drang, durchaus dazu angetan, ihr die Nackenhaare aufzurichten. Zudem wurde es lauter. Wagner, einer ihrer Leibwächter, entsicherte unauffällig seine Pistole. Sein Kamerad tat es ihm nach.
Dann wurde die Tür aufgerissen, ihre Wachen zögerten eine Sekunde, um die Lage einzuschätzen, und nahmen dann die Waffen von den Pistolentaschen. Auch Heide zog ihre Hand wieder vom Holster zurück. Nicht, dass sie eine große Hilfe gewesen wäre, aber sie hatte schießen gelernt, und sie würde diese neue Kunst benutzen. Notfalls, um sich selbst vor einem grässlichen Schicksal zu retten. Doch der Mann, der herein kam, zeigte durchaus Züge der Verrücktheit, aber nicht der Angriffslust, oder des Hasses. Er stürzte geradezu herein, kaum dass er die Tür aufgemacht hatte, rief aufgeregt etwas im Kelegaba-Dialekt, den Heide erst zur Hälfte verstand, und begann dann einen wahren Freudentanz. Dann stürzte er, hastig auf Kelegaba plappernd, fast vor Heide auf die Knie, riss ihre Hände an sich und legte sie sich auf den Kopf.
„Er möchte, dass Sie ihn segnen, Miss Schuster“, erklärte Wanagana.
„Was?“, fragte sie ungläubig.
„Meine Männer haben Sie in den Status einer Prophetin erhoben, scheint es mir. Dieser Mann, es ist mein Dritter Speer Hussain, hat mir gerade die Nachricht überbracht, dass der Riki mit all seinen Leuten Keounda City aufgegeben hat und im Dschungel verschwunden ist.“
Peinlich berührt sah Heide den Mann an, der einige Jahre jünger als sie war. Dann murmelte sie, vor Verlegenheit rot werdend: „Ich segne dich.“
Daraufhin sprang der Mann wieder auf, hielt erneut ihre Hände und schüttelte sie wild.
Die Szene wurde unterbrochen, als ein Mädchen, eine der Töchter Wanaganas, und gerade mal im Teenager-Alter angekommen, einen alten Mann in den Raum führte. Er war augenscheinlich blind, aber sein Gesicht zierte ein erlöstes Lächeln, dass sie so noch nie gesehen hatte.
„Abu“, sagte Wanagana.
Der Mann sah in seine Richtung, ohne ihn jedoch mit den fast weißen Augen sehen zu können. „Wo ist die Engelsbotin, Sohn?“
„Ich führe dich“, sagte das Mädchen. „Hier.“
Daraufhin fiel der Mann auf die Knie ergriff ihre Füße und küsste sie.
Peinlich berührt starrte Heide den Mann an. „I-ich bin keine Engelsbotin“, stammelte sie. „Sie müssen das nicht... Ich meine, Sie können doch nicht...“
„Allahu akbar. Sie sind die Botin des Himmels! Sie haben die Nachricht gebracht, dass Keounda City frei sein wird, und noch während Sie hier waren, ist Keounda City befreit worden! Egal, was ich tun werde und tun kann, ich kann meine Dankbarkeit gar nicht genug ausdrücken. Ich...“ Ihre Füße mit beiden Händen umschlungen begann der Mann zu weinen.
„Sie müssen ihm vergeben, Miss Schuster“, sagte Wanagana. „Sie haben hier den letzten noch lebenden Imam unserer Hauptstadt vor sich. Den letzten, der noch in unserer Moschee gepredigt hat.“ Die Miene Wanaganas hatte sich verändert. Die stoischen Gesichtszüge waren aufgebrochen und zierten nun ein Lächeln. „Sie haben wahrlich nicht zuviel versprochen, Sie und Ihr Axel.“
Der alte Mann hatte sich nun etwas mehr im Griff. Er erhob sich mit der Hilfe von Wanaganas Tochter wieder und tastete nach Heides Händen. Als sie ihm diese hinhielt, drückte er sie an sein Gesicht. „Allahu akbar. Nach zwanzig Jahren in der Dunkelheit scheint nun endlich wieder das Licht in Keounda City.“ Ein Ruck ging durch den alten Mann. Seine Stimme wurde furchtsam. „Steht... Steht die Moschee noch?“
„Ja, seien Sie unbesorgt. Sie wurde beschädigt, das Minarett wurde zerstört, aber die Moschee steht noch“, sagte Heide. Sie erhob sich. „Soll ich Sie hinbringen?“
„Das würden Sie tun?“, fragte der alte Imam mit zitternder Stimme.
„Nun, es wird wahrscheinlich etwas dauern, bis ein Hubschrauber frei ist, um uns zu holen, aber es dürfte schneller gehen als mit einem Wagen zu fahren. Mit Ihrem Einverständnis, Wanagana.“
„Es gibt nichts, was ich dem Vater vorzuschreiben oder zu befehlen hätte. Und ich würde mich gerne anschließen, um mir selbst ein Bild machen zu können.“ Er grinste noch immer.
„Ich warne Sie vor. Ldungas Leute sind in der Stadt. Die Leute, die Sie einst vertrieben haben.“
„Ich bin sicher, Sie finden einen Weg, meine Anwesenheit zu erklären. Nicht als Zeichen des Krieges, sondern als Zeichen der Verständigung, in dessen Auftrag Sie mich aufgesucht haben, Miss Schuster. Was die Bezahlung angeht, so werde ich...“
„Keine Bezahlung“, sagte Heide resolut. „Ich werde den Imam, Sie und weitere Begleiter, so sie in den Helikopter passen, nach Keounda City bringen, und auch wieder zurück. Dabei werden Sie unter meinem Schutz stehen. Aber ich bitte Sie und Ihre Begleiter, sich als meine Gäste gut zu benehmen. Über das, was wir danach tun werden, können wir während des Fluges sprechen oder einen neuen Termin aussuchen.“
„Das ist sehr großherzig von Ihnen“, gestand Wanagana.
„Wagner, fordern Sie einen Hubschrauber an“, sagte Heide zu ihrem Begleiter. „Und Sie, ehrwürdiger Imam, möchten Sie sich nicht setzen, während wir warten?“
„Danke, ja. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Doch heute soll das nichts machen, denn es ist ein Freudentag. Es ist der schönste Tag in meinem ganzen Leben.“
Wanaganas Tochter führte den alten Mann fort von Heide, in einen bequemen Sessel im Raum.
„Bestätigt. Boxie kommt uns holen“, sagte Wagner laut genug, damit alle Anwesenden es hören konnten.
„Erledigt“, sagte Heide zufrieden. Besser konnte es gar nicht laufen. „Darf ich Ihnen, während wir warten, vielleicht noch einmal nahebringen, welche Veränderungen wir anstreben, und wie wir die zu erreichen hoffen, Kriegsherr?“
„Ich habe beim ersten Mal schon gut zugehört“, sagte Wanagana. „Es brauchte aber einen handfesten Beweis, um mich von Ihnen zu überzeugen. Den haben Sie erbracht.“ Er dachte kurz nach. „Dadurch, dass die Hauptstadt und damit auch die Brücken aus der Hand des dunklen Übels befreit sind, ändert sich alles. Schiffe können diesen Weg nun wieder ungehindert und in größerer Zahl nutzen, und die Brücken werden uns helfen, den Fluss schneller überqueren zu können. Aber wann werden Sie die Minenwölfe auch auf diese Seite des Flusses bringen? Wann errichten Sie ein Landefeld und ein weiteres Feldlazarett? Und was tun Sie, wenn Ndongo etwas dagegen hat, was Sie hier tun und bereits getan haben?“
Heide lehnte sich wieder nach hinten und schlug erneut die Beine übereinander. „Viele Fragen, Herr Wanagana, viele Fragen.“ Sie lächelte. „Und ich habe viele Antworten.“
***
Das Schrappen der Hubschrauberrotoren am späten Nachmittag war ein Geräusch, das für die Eroberer von Axel City Erleichterung bedeutete. Mit der Ankunft von weiterem Nachschub, mit der Ankunft der Untersuchungskommission kehrte so etwas wie Normalität in die geschundene Stadt ein. Der Platz vor der Moschee war geräumt worden, um den Neuankömmlingen einen sicheren Landeplatz in der Stadt bieten zu können. Zudem waren vier Hubschrauber der Belongo Mining und drei der Army Ranger in der Luft, um die überfallene Farm von den Söldnern zu säubern und im Filz des Dschungels auf dem Hochplateau nach Spuren des Riki zu suchen und ihn diesmal endgültig auszuschalten.
Derweil waren jene Soldaten und Speere Ldungas, die nicht mit der Sicherung der Stadt beschäftigt waren, dabei, die Toten und Verletzten zusammenzutragen. Hannes hatte sich angeboten, die Koordination dieser Arbeit zu übernehmen, damit die Führungsspitze der Mine und der Ranger die Kommission angemessen empfangen konnte. Axel hatte dem dankbar zugestimmt, Niklas eher nicht so, weil er, wie er ganz ehrlich zugab, vor der Begegnung mit dem General Manschetten hatte, wie er es nannte.
Derweil wurde der Berg an Toten immer höher. Es würde wohl das Beste sein, die toten Leiber zu verbrennen, anstatt sie in Massengräbern zu beerdigen. Zuerst musste die sehr reale Gefahr von Seuchen gebannt sein. Auf der Strecke bleiben würden dadurch Menschenwürde, Anstand und die Chance, die toten Männer des Riki eindeutig zu identifizieren. Die meisten dieser Männer und der wenigen Frauen waren eben nicht von Anfang an bei ihm gewesen. Er hatte sie sich mit den verschiedensten Methoden zusammengestoppelt, geraubt, gefügig gefoltert und vieles mehr. Es wäre ein Akt der Würde gewesen, die Toten zumindest in ihre Heimatdörfer zu überführen. Aber manchmal war selbst Axels Willen Grenzen gesetzt, also hatte er zähneknirschend zugestimmt, die toten Männer des Riki stattdessen nur zu fotografieren, um wenigstens auf diese Weise eine Identifizierung zu ermöglichen.
„Da kommen sie also“, sagte Jason Scott. Er wirkte ein wenig... Verbissen. Kein Wunder, denn das, was die letzten beiden Tage hier passiert war, ging über die Kräfte der meisten Menschen, und er trug dafür die Verantwortung, auch wenn ihn keine Schuld traf. Moment, nein, das war falsch. Ob ihn eine Schuld traf und wie schwer sie wiegen würde, das würden die Mitglieder der Kommission um General Hugh Shatterfield entscheiden. Und auch wenn ihm keine Schuld am Feuertod von zwanzig seiner Männer und Frauen angelastet werden würde, so konnte diese Begegnung doch sehr schnell das Ende seiner Karriere bedeuten, oder noch schlimmer, einen Arbeitsplatz an einem Schreibtisch.
„Ich werde tun, was immer ich kann, um dich zu unterstützen, Jason“, sagte Axel. „Notfalls heuert dich Belongo Mining mit Kusshand an.
Scott ließ ein flüchtiges Lächeln sehen. „Das weiß ich, Axel, und ich bedanke mich für das Angebot. Es ist nur, der alte Bluthund Shatterfield ist ein sehr wichtiger Mann, und auf seine Meinung wird gehört. Und wenn er zu dem Schluss kommt, dass die ganze Sache mein Fehler war, dann werden alle auf ihn hören und er wird auch noch Recht haben. Das macht mir am meisten zu schaffen.“
Axel verstand. Das Urteil des erfahrenen Generals würde über das entscheiden, was Scott ausmachte, nämlich seine Arbeit als Offizier der Army Ranger. Es war eine essentielle Frage, ob er gut gedient oder versagt hatte.
„Na, na, malen Sie mal nicht das schlechteste Bild vom Wolf, Jason“, sagte Captain Sinclair. „Er ist ebenso wie wir ein Ranger, und er ist alle Ränge hinaufgestiegen, aus eigener Kraft, wurde verwundet, hat sich durch die Rekonvaleszenz gekämpft und sein Kommando zurückerhalten. Wenn er sieht, was Sie und Ihre Ranger hier geleistet haben – mit bescheidener Mithilfe der Belongo Mining und der Männer des Riki – wird er das anerkennen. Himmel, Sie haben eine Stadt zurückerobert, die am wichtigsten Kreuzungspunkt für den Verkehr in Schwarzafrika im Umkreis von dreitausend Meilen liegt. Ach, und außerdem haben Sie die Stadt dem Verrückten abgenommen, der sie zwanzig Jahre in seiner Gewalt hatte, was vielleicht die Chance auf dauerhaften Frieden bedeutet. Für die gesamte Region.“
„Denken Sie mal nicht zu weit, Irene“, mahnte Scott, aber zumindest lächelte er erneut flüchtig.
Axel gab dieses Mienenspiel zu denken. Denn abgesehen davon, ob der alte General, oder seinetwegen der Wolf, Jason Scott schuldig oder unschuldig sah, Jason würde sich sein ganzes Leben damit quälen, dass zwanzig seiner Leute in diesem Hinterhalt gestorben waren. Auf seinen Befehl hin. Gut, der Mann war Praktiker. Aber jetzt wurde es ruhiger für ihn und die Kompanie, was bedeutete, dass nicht nur er zum Nachdenken kommen würde. Zum Nachdenken und zum Trauern. Fazit: Für ihn wurde es nicht besser, und das, was er jetzt am wenigsten würde gebrauchen können, wäre, von seinem Posten abgezogen zu werden und dadurch noch mehr Ruhe zum Nachdenken zu erhalten.
„Aaach-TUNG!“, bellte jemand auf deutsch, und beinahe automatisch gingen auch die amerikanischen Offiziere in ihre Hab acht-Haltung.
„Rühren Sie bitte, Herrschaften“, sagte Shatterfield nach einem kurzen Salut und nachdem dieser erwidert worden war. „Wenn mich jemand über den Stand der Dinge informieren würde...“
Sinclair und Scott wechselten einen kurzen Blick, der zum Ergebnis hatte, dass Sinclair seinen längeren Dienst in der Stadt über ihren Status als Teil der Untersuchungskommission stellte. Er räusperte sich. „Natürlich, General. Möchten Sie die Lage vor Ort besichtigen, während ich die Situation erläutere?“
„Captain, ich werde hier einiges besichtigen, um nicht zu sagen alles. Aber ein Crashkurs wird mir erst einmal reichen. Wie ist also die militärische Situation?“
Scotts Miene war nichts zu entnehmen, als er wieder sprach, und bei den Worten wäre das selbst Bernd schwer gefallen. „Kurz und gut: Wir haben gewonnen, Sir. Die Stadt gehört uns.“ Scott nickte in Axels Richtung. „Oder vielmehr der Belongo Mining, und ich halte es für eine gute Idee, dass das in naher Zukunft auch so bleibt.“
Die Kiefer des Generals mahlten ein wenig, aber es war unklar, ob er dies tat, weil er mürrisch war, oder zufrieden. „Gut, wir haben also gewonnen. Dann können wir ja mit dem Grund unseres Besuchs beginnen.“ Er sah zu Axel, dann zu Niklas. „Ich nehme an, Sie zwei sind die beiden Teufelsbraten, die uns all das hier eingebrockt haben?“
Axel hob die Hand. „Ich wäre dann wohl der Teufelsbraten, Sir. Mein Bruder hat nicht mehr getan, als mich rauszuhauen zu helfen.“
„Sie sind also dieser Axel Herwig. Soldat?“, fragte der General und reichte ihm die Hand.
Axel ergriff sie automatisch und fühlte sich mit einem Mal verlegen. „Stabsgefreiter der Reserve, Sir, aber kein Teil der Mobilen Reserve.“
Nun zeigte der alte Army Ranger das erste Mal eine Reaktion. Es war ein dünnes Lächeln. „Könnte von den Krauts eventuell ein Fehler gewesen sein. Beides, meine ich. Sie sind dann Niklas Herwig, richtig?“
Auch ihm reichte Shatterfield die Hand, und Niklas ergriff sie und registrierte den festen, trockenen Händedruck des alten Soldaten. „Ja, Sir, Oberleutnant Herwig, zur Zeit krank Zuhause geschrieben, auf unbestimmte Zeit.“
„Was auch ein Fehler sein könnte“, schmunzelte der alte Mann, und für einen Moment schien es ihm, als amüsiere er sich recht gut, gemessen am Ernst der Situation. „Bevor ich meine guten Manieren vergesse, dies sind Major Dukakis, mein Stellvertreter, und Captain Frost, die die CIC-Untersuchung leiten wird.“
Die Leute reichten einander die Hände, aber Dukakis und Scott umarmten sich herzlich. „Dass ich dich hier mitten im Chaos treffen würde, Constantin. Wie geht es Beth und den Kindern?“
„Gut, gut, danke der Nachfrage. Mich wundert es nicht, dich hier zu treffen. Dieses Chaos passt zu dir.“ Dukakis seufzte. „Eine schöne Scheiße.“
„Ich glaube, daran ist diesmal nicht Scott schuld, Sir, sondern ich“, sagte Axel und reichte dem Ranger die Rechte.
Dukakis musterte ihn mit einem wachen Blick und lächelte. „Ich bin wahnsinnig gespannt auf Ihre Geschichte.“
„Wir sind wahnsinnig gespannt“, sagte Frost und drückte Axel und Niklas ebenfalls die Hand. „Im Moment kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen, dass der vorläufige Bericht, den Captain Scott eingereicht hat, mehr ist als eine Kriegspassage aus einem Tom Clancy-Roman, möge Gott ihm da oben das Schreiben erlauben.“
„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Folgen Sie mir, bitte.“ Axel marschierte ohne ein weiteres Wort nach Norden davon, die Ranger und sein Bruder knapp hinter ihm. Dabei achtete der ältere Herwig darauf, dass General Shatterfield Schritt halten konnte, trotz Prothese. Aber diese Sorge schien unberechtigt zu sein, der Mann ging nahezu normal.
Vor dem Wrack eines Hubschraubers blieben sie stehen. „Das ist unsere Mil Mi-24, mit der Leutnant Androweit und ich geflogen sind, als wir von Ldungas Farm kamen. Vor der Stadt hatte jemand Feuer gelegt, wahrscheinlich aus alten Autoreifen, und ich befahl meinem Piloten, heranzufliegen, damit ich mir die Sache näher ansehen konnte“, erläuterte Axel. „Dabei hielt ich einen respektvollen Abstand ein und ließ Androweit über der Baumlinie dort hinten kreisen. Leider hatte der Riki genau dort Männer mit russischen Panzerfäusten versteckt. Es war eine Falle. Der Riki wollte gerne einen weißen Penis haben, und mit dem Feuer hat er sich den erstbesten neugierigen Bastard angelockt, nämlich mich.“
„Einen weißen Penis?“, fragte Eureka Frost.
„Sie wissen, was ein Penis ist? Das Ding, das Männer vorne haben, um zu pinkeln, Ma'am?“
„Ich weiß, was ein Penis ist. Ich bin verheiratet und habe eine Tochter“, erwiderte sie frostig.
„Und Sie wissen, dass sich die Männer des Riki mit getrockneten Körperteilen zu schmücken pflegen? Besonders ranghohe Speeren wird erlaubt, Genitalien zu tragen. Penisse, Hoden, Brustwarzen, und so weiter. Der Riki wollte, das haben wir während der Kämpfe rausgefunden, einen weißen Penis haben, wenn möglich zwei. Das hätte sein Ansehen in den Himmel schießen lassen“, erklärte Axel.
„Ich verstehe.“ Es klang schon weit weniger frostig.
„Jedenfalls gelang es Androweit und mir, hier in der Straßenschlucht abzuschmieren, und nicht über dem Waldstück oder dem offenen Savannenstück. Wir wurden beinahe sofort attackiert, aber ein Teil der Bordbewaffnung funktionierte noch, und die Speere hatten nicht damit gerechnet, dass wir mitten in der Stadt abstürzen würden, weshalb wir die erste Attacke abwehren konnten und dann genug Luft hatten, um uns unsere Ausrüstung zu schnappen und den Hubschrauber mit Handgranaten hochzujagen.“ Axel deutete auf die Beschädigungen der umliegenden Häuser und an das getrocknete Blut an den Wänden, die noch standen. „Als der Mi-24 hochging, waren eine Menge seiner Speere hier und sind mit in die Luft geflogen.“ Axel ging weiter und folgte dem Weg, den er und Androweit genommen hatten. „Hier etwa fanden wir heraus, dass wir jedem Gegner eine Kugel in den Kopf geben mussten, um sicher zu gehen, dass sie tot sind. Und hier wurde Jorge, ich meine Leutnant Androweit, verletzt. Wir haben uns dann in die Moschee zurückgezogen.“ Er ging zur Moschee weiter. Seine Augen glänzten merkwürdig, während er sprach. Als sie wieder auf den Platz hinaustraten, schüttelte er ein paarmal den Kopf. „Entschuldigung. Ich hatte noch keine Zeit, dieses Kapitel zu rekapitulieren oder zu verarbeiten. Es ist, als wäre es erst gestern gewesen.“
„Axel, es war erst gestern“, sagte Niklas.
„Heute morgen dachte ich, es läge schon Monate zurück“, gestand Axel. Sie betraten die Moschee. Der Aufgang zum Minarett war noch immer voller Trümmer, aber der Vorraum war frei. „Hier legte ich mir Jorge auf die Schultern und erkletterte das Minarett. Oben angekommen suchte ich die Umgebung nach Feinden ab. Als ich mir sicher sein konnte, dass uns niemand da rauf gefolgt war, noch nicht zumindest, versuchte ich per Notruf meine Mine zu erreichen. Stattdessen bekam ich Captain Scott ans Rohr.“
„Dann ist die Erzählung wohl jetzt an mir“, sagte Jason.
„Vorher habe ich noch eine Frage, Mr. Herwig“, sagte Shatterfield. „Eigentlich zwei. Erstens, war das alles bis zum Eintreffen von Captain Scotts Leuten, oder ist noch mehr passiert?“
Axel lachte gehässig auf. „Sie meinen, abgesehen davon, dass Jorge und ich entdeckt und beschossen wurden und dass wir uns den Aufgang der Moschee mit ein paar Handgranaten freigehalten haben? Nein, Sir, nichts weiter.“
Shatterfield grinste breit. „Was mich schon zur zweiten Frage bringt: Was waren Sie wirklich in der Bundeswehr?“
Axel runzelte die Stirn. „Stabsgefreiter. Ich sagte es schon.“
„In welcher Einheit?“
„Pioniere. Ich war im Stab.“
„Mit Verlaub, Sir, aber das glaube ich Ihnen nicht. Kommen Sie, legen Sie die Karten auf den Tisch. Immerhin geht es um Captain Scotts Karriere.“
Axels Miene verdüsterte sich. „Sie glauben, dass ich lüge? Tun Sie das, meinetwegen. Ich kann nicht mehr tun, als die Wahrheit zu sagen.“
„Und das ist es, was mir schwerfällt zu glauben. Überlegen Sie mal, was es für einen Stabsdienstler der Reserve bedeutet, sich zu zweit durch dieses feindliche Gebiet zu kämpfen, dies teilweise im Nahkampf, dann den angeschossenen Kameraden zwanzig Meter die steile Rampe hinauf zu schleppen und von dort auch noch eine halbe Stunde lang die Stellung zu halten, bis Hilfe eintraf. Wären Sie an meiner Stelle, würden Sie sich selbst glauben, dass Sie nur Stabsgefreiter waren?“
Das verblüffte Axel ein wenig. „Wir hatten Glück, Sir. Verdammt viel Glück.“
„Ja, das hatten Sie wohl. Aber auch Eiswasser in den Adern, das Können und keinerlei Skrupel, für das eigene Überleben zu töten. Normale Menschen können das nicht so einfach, Mr. Herwig.“
„Ich... Wir standen unter enormen Druck, und die Speere des Riki sind ein wirklich angsteinflößender Anblick... Captain Frost, Sie stehen da gerade auf... Ups.“
Die CIC-Ermittlerin sah zuerst zu Boden, dann zu Axel. Sie nahm den Fuß einen halben Schritt zurück, bückte sich und hob das Objekt auf. „Ups“, echote sie. „Ist es das, was ich denke, was es ist?“
„Ja, Ma'am. Ein menschlicher Penis. Er muss hier runter gefallen sein, als man die Toten zusammengetragen hat.“
Sie musterte das Stück toter Mensch und seufzte. „Okay, ich glaube Ihnen. Ich nehme an, Sie werden auch diese Körperteile beisetzen?“
Niklas sagte: „Wir dachten eher an einer Feuerbestattung, um mögliche Seuchen zu verhindern. Aber eigentlich spricht nichts dagegen, wenn wir die Körperteile und die Genitalien separat bestatten. Sie sind ohnehin getrocknet und können nicht so leicht verwesen und Krankheiten verursachen.“
„Eine gute Idee“, sagte Axel. „Geben wir den Opfern einen Teil ihrer Würde wieder zurück.“
„Die Bundeswehr muss eine Menge Idioten in ihren Reihen haben“, sagte Shatterfield unvermittelt. Er grinste. „Den einen Herwig speisen sie mit einem Mannschaftsdienstgrad ab, obwohl er in die KSK gehört hätte. Und den anderen Herwig schicken sie auf Stubenarrest, obwohl er besser damit aufgehoben wäre, einen Auslandseinsatz der Bundeswehr zu koordinieren.“
„Sie schmeicheln uns“, wehrte Niklas ab.
„Natürlich schmeichle ich Ihnen“, sagte der General schmunzelnd. „Weiter. Scott, erzählen Sie, was passierte, bevor Sie sich entschlossen haben, die Herwigs zu entsetzen.“
„Ja, Sir. Wir waren...“
„Belongo 1 von Boxie“, knarrte Axels Funkgerät auf.
„Belongo 1 hier. Sprich.“
„Ich komme mit dem Paket rein. Sieh zu, dass ein paar unserer Leute in Reichweite sind, nur für den Fall, dass Ldungas Speere erst schießen und dann fragen.“
„Verstanden, Boxie. Belongo 1 Over und Out.“ Er sah zu den Amerikanern. „Entschuldigen Sie uns, bitte. Unsere Diplomatin hat einen der Kriegsherren eingeladen, um die eroberte Stadt zu besichtigen. Wir erhoffen uns von diesem Besuch einen Neuanfang in den Beziehungen, ja, die Neuordnung von Belongo. Wenn Sie auf mich und Niklas verzichten können...“
„Wenn Sie uns zur Verfügung stehen können, sobald wir Sie brauchen“, sagte Shatterfield. „Ein Kriegsherr?“
„Wanagana vom Ostufer. Er bringt den letzten Imam mit, der in dieser Moschee gepredigt hat“, erklärte Axel. „Das ist ein bedeutender Moment für ganz Belongo.“
Der General runzelte die Stirn. „Constantin, Eureka, bitte sprechen Sie mit Captain Scott, seinen Offizieren, mit Hauptmann Malicke und den Anführern der Speere Ldunga Abesimis. Ich stoße später hinzu und begleite bis dahin Direktor Axel Herwig und Major Herwig.“
Die beiden Offiziere bejahten wie erwartet.
„Sir?“, fragte Axel.
„Ich denke, Sie haben recht mit Ihrer Einschätzung, dass ein bedeutender Moment bevorsteht. Mein Instinkt sagt mir, dass ich dann besser bei Ihnen sein sollte, und nicht irgendwo in der Stadt, Axel. Ich meine Mr. Herwig.“
Axel konnte es nicht verheimlichen, er hatte Stolz empfunden, als der erfahrene Ranger ihn mit Vornamen angesprochen hatte. „Bleiben wir ruhig bei Axel, Sir.“
„Hugh, bitte. Das gilt für Sie beide, Axel, Niklas.“
Die Deutschen nickten bestätigend. Und dann landete der Hubschrauber inmitten den Platzes, nicht weit vom Leichenberg, den die Helfer auftürmten.
Axel lockerte seine Pistolentasche. Nicht, um die Waffe zu benutzen, aber um sie ziehen zu können. Niklas tat es ihm gleich. Manchmal reichte ein wenig Realität, um allzu aufbrausende Gemüter zur Raison zu bringen, und Realität war in diesem Fall eine schussbereite P8-Pistole.
Noch während die Rotoren von Boxies bevorzugtem Mil Mi-24D rotierten, öffnete der Lademeister die Luken, die Richtung Moschee zeigten. Die erste Person, die ausstieg, war Heide Schuster, wie Axel zu seiner Erleichterung feststellte. Dann kamen eine junge afrikanische Frau und ein alter Mann, den sie am Arm führte. Der alte Mann trug noch den Lärmschutz, aber er schien sich köstlich zu amüsieren. So gebrechlich er wirkte, so fröhlich war er auch. Nun stieg einer von Heides Begleitern aus, ihm folgten zuerst Wanagana, danach Heides zweiter Bodyguard. Die sechs Personen verließen den Radius der Rotoren so zügig sie konnten, und Heide führte die Gruppe zu Axel, Niklas und dem General.
„Willkommen in Keounda City, Wanagana“, empfing Axel den Warlord. Auf den ersten Blick hatte der Mann nicht viel von einem marodierenden, brandschatzenden Irren, der auf Blut und Gewalt aus war, aber Ldunga hatte ihn ja in dieser Beziehung auch schon enttäuscht. Vielleicht dauerte das Chaos in Belongo einfach schon zu lange. Vielleicht lag es daran, dass die Warlords in Belongo sich der Volksgruppe verbunden sahen, der sie entstammten, was sie eher zu Milizanführern machte. Vielleicht war es die Sesshaftigkeit, die Farmen, die die Warlords in Belongo betrieben, die sie vom Bild in Axels Kopf unterschieden.
Der große Schwarze reichte Axel die Hand. „Direktor Herwig, nehme ich an. Der Mann, der mit nur einem Begleiter eine halbe Stunde gegen das Böse überlebt hat.“
Axel war für einen Moment peinlich berührt, aber so formuliert konnte er nicht widersprechen. „Im Kern richtig, ja.“
„Wo ist Ihr zweiter Mann, der Pilot?“, fragte der Warlord.
„Er ist wegen dem Steckschuss in Behandlung. Drüben auf Ldungas Farm. Er wird es ohne bleibende Schäden überstehen.“
„Das freut mich zu hören, Direktor Herwig. Ist das Ihr legendärer Bruder? Der, der die Ärzte ohne Angst gerettet hat?“
Axel lachte leise. „Mein Bruder ja, aber die Ärzte ohne Angst hat der Chef unserer Infanterie gerettet.“ Er deutete neben sich. „Darf ich außerdem vorstellen: General Shatterfield von den US Army Ranger. Er ist hier für eine Untersuchung der Gefechte.“
Das Gesicht des Warlords verfinsterte sich. „Heißt das, die US Army wird sich wieder aus Belongo zurückziehen?“
Shatterfield reichte dem Mann die Hand, und der ergriff ohne zu zögern. „Das heißt, mein guter Wanagana, dass wir einige Zeit hier bleiben werden und dann weiter schauen. Im Moment beherrschen wir den Luftraum dank unseres Flugzeugträgers vor der Küste Ndongos und der Unterstützung durch die panadianische Luftwaffe. Und ich denke, das wird auch noch einige Zeit so bleiben.“
„Das ist immerhin besser als nichts. Aber Sie werden länger bleiben, Direktor Herwig und General Herwig?“
Niklas räusperte sich verlegen und reichte dem Warlord ebenfalls die Hand. „Major, aber eigentlich Oberleutnant. Ja, es sieht so aus, als würden wir länger hier bleiben, als wir ursprünglich vorgehabt haben.“ Er deutete an Wanagana vorbei. „Ist das der ehrwürdige Imam, der uns angekündigt wurde?“
„Abu. Ja, das ist unser Imam. Der letzte Imam, der in unserer Moschee gepredigt hat, vor über zwanzig Jahren, bevor das Chaos ausbrach und der Riki diese Stadt in einen Hort des Bösen verwandelt hat. Scheik Harun al Burj, um exakt zu sein.“
Heide war nun heran, in ihrer Begleitung der alte Imam und das Mädchen, das ihn stützte.
„Die Moschee, mein Sohn. Beschreibe sie mir. Wie sieht sie aus?“, fragte der alte Mann mit erstickender Stimme.
„Sie sieht gut aus. Das Minarett ist eingestürzt, aber die Wände stehen noch und die meisten Trümmer sind nicht auf die Moschee niedergegangen. Die Tore fehlen, und die Becken wurden zerschlagen, aber der Brunnen steht noch, wenngleich er kein Wasser führt.“
„Das ist besser, als ich zu hoffen wagte“, hauchte der alte Mann. „Verzeihen Sie, meine Herren, aber ich sehe nichts mehr. Welcher von Ihnen ist Axel Herwig?“
Axel trat vor den alten Mann, ergriff dessen Hände und legte sie sich aufs Gesicht. „Ich bin Axel Herwig.“
Der alte Mann nahm die Geste dankbar an und ertastete das Gesicht des Deutschen, so gut er es vermochte. „Ich sehe Sie, Axel Herwig. Sie haben Großes geleistet. Aber was werden Sie jetzt mit der Stadt tun?“
„Das Richtige, schätze ich. Kommen Sie, ich zeige Ihnen meinen Bruder.“ Er ergriff den blinden Mann am Arm und führte ihn zu Niklas. Der ließ sich ebenfalls ertasten. „Es freut mich sehr, auch Sie zu sehen, Niklas Herwig. Ebenso wie Ihrem Bruder bin ich persönlich und ist jeder Mensch in Belongo Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet. Wer ist der dritte Mann in Ihrer Begleitung, den ich atmen höre?“
Shatterfield schnaubte überrascht. „General Hugh Shatterfield von der US Army.“
„So. Sind die Amerikaner heute hier, um uns zu helfen, oder sollen sie uns wieder versklaven?“
Wenn ihn die offenen Worte des Imams entsetzten, zeigte er es nicht. Stattdessen lachte er. „Im Moment, denke ich, sind wir hier, um Ihnen zu helfen. Nehmen Sie das, was dabei Gutes für Belongo passieren wird, einfach an und sehen Sie zu, dass es nicht mehr verloren geht.“
„Ja, das sollten wir tun. Sie sind ein kluger Mann, General Shatterfield“, lobte der Imam. „Glauben Sie an Gott?“
„Ja. Trotzdem.“
„Trotzdem?“, echote der Imam überrascht.
„Trotzdem, obwohl ich in meinem Leben so viel gesehen habe, was mich daran zweifeln lässt, dass ein Gott, der tatsächlich existiert, all dieses Leid zugelassen hätte.“
Der alte Mann nickte. „Ich weiß, was Sie meinen. Und ich stimme Ihnen zu. Ihr Glaube muss rein und stark sein.“ Er wandte sich halb um. „Ich rieche Tote.“
„Die Männer des Riki. Wir haben viele von ihnen töten müssen“, gestand Axel. „Wir werden sie verbrennen, um zu verhindern,dass Seuchen entstehen. Vorher werden wir allerdings die getrockneten Körperteile, mit denen sie sich geschmückt haben, einsammeln und in einem eigenen Grab bestatten.“
Der Imam nickte dazu. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Axel Herwig. Es hätte gereicht, die Körperteile mit zu verbrennen, aber Sie erweisen jenen, denen diese Körperteile geraubt wurden, Respekt. Wenn Sie es erlauben, würde ich gerne das Gebet anführen, wenn Sie die Körperteile beerdigen lassen.“
Die beiden Herwig-Brüder wechselten einen Blick. „Selbstverständlich. Es wäre uns eine Ehre“, sagte Niklas. „Axel, du entschuldigst mich.“ Er zog seine Waffe und ging zwischen Heide und Wanagana hindurch nach Norden, wo sich mehrere Speere Ldungas zusammengerottet hatten. Sie deuteten aufgeregt immer wieder auf die Gruppe der Neuankömmlinge. Verdammt, er hatte Ldungas Speer Franc doch gesagt, er solle seine Männer im Zaum halten.
„Ärger?“, fragte der Warlord.
„Noch nicht“, sagte Axel und beobachtete, wie Niklas zur Gruppe Speere aufschloss. Es entsponn sich eine kurze, aber recht laute Diskussion, die damit endete, dass die Männer – glücklicherweise im Moment nicht mit ihren belgischen Sturmgewehren ausgerüstet, da sie geholfen hatten, die Toten zusammenzutragen – mit Axel an der Spitze zurückkehrten.
„Diese Männer wollen mit dem Scheik sprechen“, erklärte Niklas.
Der blinde alte Mann wirkte überrascht, aber er fasste sich schnell und lächelte strahlend. „Lassen Sie die Kinder zu mir kommen, Niklas Herwig.“
Die folgende Szene hatte etwas irritierendes für Axel. Die Männer waren Speere Ldungas, Lulugengo, dem Volksstamm zugehörig, den Wanagana einst vertrieben hatte, um das Land für seinen Kelegaba-Volksstamm nutzen zu können. Er hatte mit einigen von ihnen Seite an Seite gekämpft und diese Stadt mit ihnen vom Riki befreit. Aber er hatte erwartet, dass sie gegenüber Wanagana aufgebracht reagieren würden. Oder versuchen würden, ihn zu töten. Aber der alte Mann schien eine besondere Schlüsselfigur darzustellen, denn die Männer knieten sich nacheinander vor den Imam am Boden nieder und empfingen seinen Segen.
„Das ist nicht muslimisch, sondern afrikanisch“, erklärte Heide. „Ich musste auf diese Weise fast einhundert von Wanaganas Speeren segnen, weil sie mich plötzlich für eine Prophetin gehalten haben.“
In Axels Kopf machte es laut und vernehmlich Klick, laut genug, dass sogar Shatterfield es hatte hören können. Niklas, der den gleichen Gedanken bereits gehabt hatte, nickte seinem Bruder zustimmend zu. Der alte Imam konnte – und er würde – für Belongo, aber auf jeden Fall für Keounda City zu einem stabilisierenden Element werden, wenn man ihn ließ. Als diese Runde an Speeren ihren Segen erhalten hatte, machte sich Axel klar, dass die Ankunft des Imams über den Latrinenfunk längst zum Ostteil der Stadt auf der anderen Seite des Flusses geschwappt sein musste. Was bedeutete, dass jene Speere, die sich berufen fühlten und gerade Freizeit hatten, ebenfalls hierher kommen würden. Lange konnte das nicht mehr dauern.
„Ich hole Ldunga“, sagte Niklas zu seinem Bruder. Er sah Wanagana an. „Es ist nötig, dass Sie mit ihm reden. Auch wegen der Stadt.“
Der Warlord nickte zustimmend.
Axel trat nun an die Seite des blinden Mannes. „Abu“, so hatte Wanagana ihn genannt, und es hatte gut in Axels Ohren geklungen, „es werden bald mehr Männer kommen und sich wünschen, von Ihnen gesegnet zu werden. Wollen wir nicht in die Moschee gehen?“
„Darf ich das tatsächlich?“, fragte der alte Mann zweifelnd. Tränen netzten sein Gesicht. „Oh Allah, darf ich das? Darf ich zurückkehren, während so viele es nicht mehr vermögen?“
„Sie müssen sogar, Abu, um eben diese Menschen zu ehren. Und Sie müssen in der Moschee predigen.“
Bei diesen Worten brach der alte Mann fast zusammen, aber das Mädchen, das mit Wanagana gekommen war und Axel selbst griffen geistesgegenwärtig zu. „Ich bin nicht sicher, ob ich dafür noch würdig bin, nachdem ich die Moschee all die Jahre in Stich gelassen habe.“
Axel lachte leise. „Wer sonst sollte es tun, wenn nicht Sie? Wir haben keinen anderen Imam hier, Abu.“ In Heides Richtung gewandt sagte er: „Und wir sollten schnell hinein gehen, bevor die nächsten muslimischen Speere kommen.“
„Oh, nicht alle Männer waren Moslems“, sagte der Imam. „Sie kamen vor allem zu mir, weil ich der letzte lebende Offizielle bin, der einst diese Stadt vertreten hat. Deshalb haben sie meinen Segen gewünscht.“
„Dann sind Sie also eine Legende“, stellte Axel fest.
„Eher eine Hoffnung“, wandte Wanagana ein. „Eine Hoffnung dafür, dass Keounda City eines Tages vom Bösen befreit wird und wieder jene Stadt werden kann, die sie einst war. Nun, vom Bösen befreit haben Sie die Stadt ja schon mal. Was den Rest angeht, so hätte ich schon ein paar Ideen, die wir besprechen sollten.“
„Das sollten wir. Später. Jetzt gehen wir erst einmal in die Moschee“, sagte Axel. Noch während er dies sagte, sprinteten die fünf Speere Ldungas los und liefen an ihnen vorbei. Aber nicht in Richtung Moschee, sondern zur großen Autobrücke der Stadt. „Was...?“
„Sie holen Wasser, denke ich“, erklärte der Warlord. „Die Becken sind zerstört und der Brunnen führt kein Wasser mehr. Also werden sie wohl passende Behälter suchen und Flusswasser bringen. Sie sind kein Muslim, nehme ich an?“
„Nein“, gab Axel unumwunden zu. „Erklären Sie mir, warum das Wasser?“
„Man betritt eine Moschee barfuß. Zuvor aber wäscht man sich die Füße. Es ist ein Reinigungsritual.“
„Oh.“ Axel wirkte verlegen. „Abu, ich muss gestehen, wir haben die Moschee als Stützpunkt benutzt. Meine Soldaten und die Amerikaner schlafen in ihr, und wir haben auch aus ihr heraus gekämpft. Aber keiner hat die Stiefel ausgezogen und sich die Füße gewaschen.“
„Oh, das ist doch nicht so schlimm. Rituale sind für eine Zeit gedacht, in der man sie sich leisten kann, ohne Leib und Leben zu gefährden, Axel Herwig. Und eine Moschee ist für Menschen gemacht, nicht für Rituale. Ihre nächste Frage wird sicherlich sein, ob Sie die Soldaten aus der Moschee befehlen sollen, aber das wird nicht nötig sein. Bis wir sie in dem Sinne nutzen können, für den sie erbaut wurde, vergeht noch eine gewisse Zeit. Dann können wir immer noch darüber sprechen, ob und wann Sie uns die Moschee übergeben.“
„Danke. Das wäre in der Tat meine nächste Frage gewesen. Aber, und das ist die gute Nachricht, ich denke, dass wir sie nicht mehr lange als Unterkunft brauchen werden. Jetzt, wo der Riki vertrieben ist, ist es in Keounda City sehr viel sicherer, und hier am Westufer sowieso.“
„Wir werden ohnehin besser eine Zeltstadt auf dem Vorplatz errichten“, sagte Shatterfield. „Die Ranger sind dafür ausgerüstet, und ich denke, Belongo Mining wird uns mit Material unterstützen. Morgen könnten Sie Ihre Moschee bereits wieder für eine Predigt nutzen, Scheik Harun.“
„Ah, ah, nicht so viele gute Nachrichten auf einmal. Mein Herz macht die Aufregung nicht mehr so gut mit“, sagte er weit fröhlicher, als die Worte vermuten ließen. „Axel Herwig, wie sieht es innen aus?“
Axel druckste verlegen. „Der Altar ist leider weg. Die Männer des Riki müssen ihn fortgeschafft haben.“
„Der... Altar?“
„Ja, Abu. Der Altar ist weg.“
„Ach so. Jetzt verstehe ich.“ Der alte Mann lachte so sehr, dass er sich mit der Linken Tränen aus den Augen wischte. „Steht die Treppe noch? Sie sollte an der Ostwand stehen und zu einer kleinen Kanzel führen.“
Der ältere Herwig-Bruder strengte sein Gedächtnis an. „An die Treppe erinnere ich mich, ja. Sie steht noch. Die Kanzel habe ich nicht gesehen, wie ich zugeben muss.“
„Und die... Die Mulde? Sie muss ebenfalls in die Ostwand eingelassen sein. Sie ist mannshoch und verkleidet.“
„Die grüne Nische? Ja, die ist noch da.“
„Alluah akhbar. Sind Sie bereit, heute etwas über meinen Glauben zu lernen, Axel Herwig?“
Axel sah den alten Mann erstaunt an, dann aber drückte er mit der Rechten die Hand des Imams, die auf seinem linken Unterarm ruhte. „Ihnen zuliebe will ich das, Abu.“
„Dann wollen wir nicht zögern. Aber lassen Sie uns auf die jungen Männer warten, die Wasser holen wollen. Wir sollten ihre Mühen nicht nutzlos werden lassen, indem wir hasten.“
„Natürlich, Abu.“ Axel irrte sich selten, wenn er einen Menschen einschätzte, auch wenn er weder ihre Gedanken lesen, noch in ihre Zukunft sehen konnte. Und jetzt war er sich sehr sicher, dass dieser alte Mann sehr, sehr wichtig für die Zukunft der Stadt und auch für ganz Belongo sein würde.
„Sie verstehen?“, fragte Heide Schuster. Sie schlug langsam die Beine übereinander, eine Geste, die ausdrücken sollte, dass sie Stärke empfand, dass sie im Vorteil war. Sie, eine Frau, gegenüber einem waschechten afrikanischen Kriegsherrn, der über zweihundert Speere unter Waffen verfügte. Und das galt nur für sein Hauptquartier. Er, das war Wanagana, der Mann, der vor fünfzehn Jahren die Lulugengo fast vollständig von der Ostseite des Lagabandas vertrieben hatte, ein Jahr nachdem die Wagonda das Gleiche mit seinem Volk am Westufer getan hatten. Heide sah den Teufelskreis, der hier geschah und der augenscheinlich von der Regierung Ndongos massiv gefördert wurde, um im zerstrittenen Belongo weiterhin ungestört und unhinterfragt Bodenschätze fördern zu können. Aber verstand es auch Wanagana? Er war einer der Profiteure in diesem Geschäft, und er verdiente nicht schlecht bei der Geschichte. Zudem waren seine Waffen zu einem Großteil belgisch und französisch, was dafür sprach, dass die Regierung hier ein wenig subventioniert hatte. Konnte er ein Partner werden? Konnte er die Vorteile sehen, die die Mine ganz Belongo brachte, und damit auch ihm? Oder war er ein Feind von Neuerungen? Wanagana war der erste Kriegsherr östlich des Lagabandas, den sie aufgesucht hatte, und mit Sicherheit die schwerste Nuss von allen, denn seine Position war seit fünfzehn Jahren gut zementiert. Zumindest war sie das gewesen, bis die Söldner aus Bindiru, die dem Riki hatten helfen sollen, auf dem Weg dorthin die Farm von Koluko überfallen hatten, einem weiteren Kriegsherrn der Kelegaba, der unter Wanagana „gelernt“ und sich vor gut fünf Jahren selbstständig gemacht hatte, als sich eine Öffnung nach Süden ergeben hatte. Das hatte Koluko sehr nahe an die verfluchte Stadt gebracht, aber die Nische hatte sich als recht groß erwiesen. Und da Koluko seinem Dienstherrn aus alten Tagen noch immer zu Dank verpflichtet war und Wanagana ebenfalls für eine dichte Südgrenze dankbar war, hatten sie ein anständiges Verhältnis miteinander. Gehabt, womöglich, denn bis auf die Nachricht, dass seine Farm überfallen worden war, hatte es noch keine weiteren Nachrichten über den Überfall gegeben. Außer natürlich, dass der Werksschutz von Belongo Mining die Söldnertruppe komplett aufgerieben und die Farm gesichert hatte. Das hatte Heide gemeint, als sie gefragt hatte: Sie verstehen? Belongo Mining war nun der größte Junge auf dem Spielplatz, und er bestimmte, was die kleineren Kinder spielten. Und da Belongo Mining kein Bully war, verprügelte er die kleineren Kinder auch nicht, solange sie seinem Willen gehorchten. Einer der Gründe, warum sie mit nur zwei Leibwächtern hier rein marschiert war und den großen Max markieren konnte. Wenn nur endlich eine Reaktion von Wanagana kommen würde.
„Ich sehe, ich verschwende meine Zeit“, seufzte sie, setzte das rechte Bein wieder auf die Erde und erhob sich. „Sie kennen meine Frequenz. Funken Sie mich an, wenn Sie bereit sind, mit uns zu verhandeln.“
Wanagana musterte sie mit steinerner Miene, sagte aber nichts. Dabei wusste sie genau, dass er sie verstand. Die Begrüßung hatte das eindeutig klar gemacht. Der Mann beherrschte sowohl französisch als auch den Wagonda-Dialekt fließend. Nun gut, es gab noch andere Kriegsherren, und zumindest Koluko, so er denn überhaupt noch lebte, würde Belongo Mining gegenüber sehr aufgeschlossen sein.
„Warten Sie“, sagte Wanagana auf englisch. „Ich möchte, dass jemand Sie kennenlernt.“
„Meine Zeit ist nicht unbedingt begrenzt, aber kostbar genug“, erwiderte sie eine Spur zu harsch. „Es gibt noch andere Warlords auf dieser Seite des Lagabandas, die ich sprechen werde, und weitere Dörfer, die ich aufsuchen muss.“
„Warten Sie, bitte, Miss Schuster. Es ist wichtig für mich.“
Sie sah dem Mann in die Augen. Er schien es ehrlich zu meinen. Allerdings war das Raunen, das von draußen herein drang, durchaus dazu angetan, ihr die Nackenhaare aufzurichten. Zudem wurde es lauter. Wagner, einer ihrer Leibwächter, entsicherte unauffällig seine Pistole. Sein Kamerad tat es ihm nach.
Dann wurde die Tür aufgerissen, ihre Wachen zögerten eine Sekunde, um die Lage einzuschätzen, und nahmen dann die Waffen von den Pistolentaschen. Auch Heide zog ihre Hand wieder vom Holster zurück. Nicht, dass sie eine große Hilfe gewesen wäre, aber sie hatte schießen gelernt, und sie würde diese neue Kunst benutzen. Notfalls, um sich selbst vor einem grässlichen Schicksal zu retten. Doch der Mann, der herein kam, zeigte durchaus Züge der Verrücktheit, aber nicht der Angriffslust, oder des Hasses. Er stürzte geradezu herein, kaum dass er die Tür aufgemacht hatte, rief aufgeregt etwas im Kelegaba-Dialekt, den Heide erst zur Hälfte verstand, und begann dann einen wahren Freudentanz. Dann stürzte er, hastig auf Kelegaba plappernd, fast vor Heide auf die Knie, riss ihre Hände an sich und legte sie sich auf den Kopf.
„Er möchte, dass Sie ihn segnen, Miss Schuster“, erklärte Wanagana.
„Was?“, fragte sie ungläubig.
„Meine Männer haben Sie in den Status einer Prophetin erhoben, scheint es mir. Dieser Mann, es ist mein Dritter Speer Hussain, hat mir gerade die Nachricht überbracht, dass der Riki mit all seinen Leuten Keounda City aufgegeben hat und im Dschungel verschwunden ist.“
Peinlich berührt sah Heide den Mann an, der einige Jahre jünger als sie war. Dann murmelte sie, vor Verlegenheit rot werdend: „Ich segne dich.“
Daraufhin sprang der Mann wieder auf, hielt erneut ihre Hände und schüttelte sie wild.
Die Szene wurde unterbrochen, als ein Mädchen, eine der Töchter Wanaganas, und gerade mal im Teenager-Alter angekommen, einen alten Mann in den Raum führte. Er war augenscheinlich blind, aber sein Gesicht zierte ein erlöstes Lächeln, dass sie so noch nie gesehen hatte.
„Abu“, sagte Wanagana.
Der Mann sah in seine Richtung, ohne ihn jedoch mit den fast weißen Augen sehen zu können. „Wo ist die Engelsbotin, Sohn?“
„Ich führe dich“, sagte das Mädchen. „Hier.“
Daraufhin fiel der Mann auf die Knie ergriff ihre Füße und küsste sie.
Peinlich berührt starrte Heide den Mann an. „I-ich bin keine Engelsbotin“, stammelte sie. „Sie müssen das nicht... Ich meine, Sie können doch nicht...“
„Allahu akbar. Sie sind die Botin des Himmels! Sie haben die Nachricht gebracht, dass Keounda City frei sein wird, und noch während Sie hier waren, ist Keounda City befreit worden! Egal, was ich tun werde und tun kann, ich kann meine Dankbarkeit gar nicht genug ausdrücken. Ich...“ Ihre Füße mit beiden Händen umschlungen begann der Mann zu weinen.
„Sie müssen ihm vergeben, Miss Schuster“, sagte Wanagana. „Sie haben hier den letzten noch lebenden Imam unserer Hauptstadt vor sich. Den letzten, der noch in unserer Moschee gepredigt hat.“ Die Miene Wanaganas hatte sich verändert. Die stoischen Gesichtszüge waren aufgebrochen und zierten nun ein Lächeln. „Sie haben wahrlich nicht zuviel versprochen, Sie und Ihr Axel.“
Der alte Mann hatte sich nun etwas mehr im Griff. Er erhob sich mit der Hilfe von Wanaganas Tochter wieder und tastete nach Heides Händen. Als sie ihm diese hinhielt, drückte er sie an sein Gesicht. „Allahu akbar. Nach zwanzig Jahren in der Dunkelheit scheint nun endlich wieder das Licht in Keounda City.“ Ein Ruck ging durch den alten Mann. Seine Stimme wurde furchtsam. „Steht... Steht die Moschee noch?“
„Ja, seien Sie unbesorgt. Sie wurde beschädigt, das Minarett wurde zerstört, aber die Moschee steht noch“, sagte Heide. Sie erhob sich. „Soll ich Sie hinbringen?“
„Das würden Sie tun?“, fragte der alte Imam mit zitternder Stimme.
„Nun, es wird wahrscheinlich etwas dauern, bis ein Hubschrauber frei ist, um uns zu holen, aber es dürfte schneller gehen als mit einem Wagen zu fahren. Mit Ihrem Einverständnis, Wanagana.“
„Es gibt nichts, was ich dem Vater vorzuschreiben oder zu befehlen hätte. Und ich würde mich gerne anschließen, um mir selbst ein Bild machen zu können.“ Er grinste noch immer.
„Ich warne Sie vor. Ldungas Leute sind in der Stadt. Die Leute, die Sie einst vertrieben haben.“
„Ich bin sicher, Sie finden einen Weg, meine Anwesenheit zu erklären. Nicht als Zeichen des Krieges, sondern als Zeichen der Verständigung, in dessen Auftrag Sie mich aufgesucht haben, Miss Schuster. Was die Bezahlung angeht, so werde ich...“
„Keine Bezahlung“, sagte Heide resolut. „Ich werde den Imam, Sie und weitere Begleiter, so sie in den Helikopter passen, nach Keounda City bringen, und auch wieder zurück. Dabei werden Sie unter meinem Schutz stehen. Aber ich bitte Sie und Ihre Begleiter, sich als meine Gäste gut zu benehmen. Über das, was wir danach tun werden, können wir während des Fluges sprechen oder einen neuen Termin aussuchen.“
„Das ist sehr großherzig von Ihnen“, gestand Wanagana.
„Wagner, fordern Sie einen Hubschrauber an“, sagte Heide zu ihrem Begleiter. „Und Sie, ehrwürdiger Imam, möchten Sie sich nicht setzen, während wir warten?“
„Danke, ja. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Doch heute soll das nichts machen, denn es ist ein Freudentag. Es ist der schönste Tag in meinem ganzen Leben.“
Wanaganas Tochter führte den alten Mann fort von Heide, in einen bequemen Sessel im Raum.
„Bestätigt. Boxie kommt uns holen“, sagte Wagner laut genug, damit alle Anwesenden es hören konnten.
„Erledigt“, sagte Heide zufrieden. Besser konnte es gar nicht laufen. „Darf ich Ihnen, während wir warten, vielleicht noch einmal nahebringen, welche Veränderungen wir anstreben, und wie wir die zu erreichen hoffen, Kriegsherr?“
„Ich habe beim ersten Mal schon gut zugehört“, sagte Wanagana. „Es brauchte aber einen handfesten Beweis, um mich von Ihnen zu überzeugen. Den haben Sie erbracht.“ Er dachte kurz nach. „Dadurch, dass die Hauptstadt und damit auch die Brücken aus der Hand des dunklen Übels befreit sind, ändert sich alles. Schiffe können diesen Weg nun wieder ungehindert und in größerer Zahl nutzen, und die Brücken werden uns helfen, den Fluss schneller überqueren zu können. Aber wann werden Sie die Minenwölfe auch auf diese Seite des Flusses bringen? Wann errichten Sie ein Landefeld und ein weiteres Feldlazarett? Und was tun Sie, wenn Ndongo etwas dagegen hat, was Sie hier tun und bereits getan haben?“
Heide lehnte sich wieder nach hinten und schlug erneut die Beine übereinander. „Viele Fragen, Herr Wanagana, viele Fragen.“ Sie lächelte. „Und ich habe viele Antworten.“
***
Das Schrappen der Hubschrauberrotoren am späten Nachmittag war ein Geräusch, das für die Eroberer von Axel City Erleichterung bedeutete. Mit der Ankunft von weiterem Nachschub, mit der Ankunft der Untersuchungskommission kehrte so etwas wie Normalität in die geschundene Stadt ein. Der Platz vor der Moschee war geräumt worden, um den Neuankömmlingen einen sicheren Landeplatz in der Stadt bieten zu können. Zudem waren vier Hubschrauber der Belongo Mining und drei der Army Ranger in der Luft, um die überfallene Farm von den Söldnern zu säubern und im Filz des Dschungels auf dem Hochplateau nach Spuren des Riki zu suchen und ihn diesmal endgültig auszuschalten.
Derweil waren jene Soldaten und Speere Ldungas, die nicht mit der Sicherung der Stadt beschäftigt waren, dabei, die Toten und Verletzten zusammenzutragen. Hannes hatte sich angeboten, die Koordination dieser Arbeit zu übernehmen, damit die Führungsspitze der Mine und der Ranger die Kommission angemessen empfangen konnte. Axel hatte dem dankbar zugestimmt, Niklas eher nicht so, weil er, wie er ganz ehrlich zugab, vor der Begegnung mit dem General Manschetten hatte, wie er es nannte.
Derweil wurde der Berg an Toten immer höher. Es würde wohl das Beste sein, die toten Leiber zu verbrennen, anstatt sie in Massengräbern zu beerdigen. Zuerst musste die sehr reale Gefahr von Seuchen gebannt sein. Auf der Strecke bleiben würden dadurch Menschenwürde, Anstand und die Chance, die toten Männer des Riki eindeutig zu identifizieren. Die meisten dieser Männer und der wenigen Frauen waren eben nicht von Anfang an bei ihm gewesen. Er hatte sie sich mit den verschiedensten Methoden zusammengestoppelt, geraubt, gefügig gefoltert und vieles mehr. Es wäre ein Akt der Würde gewesen, die Toten zumindest in ihre Heimatdörfer zu überführen. Aber manchmal war selbst Axels Willen Grenzen gesetzt, also hatte er zähneknirschend zugestimmt, die toten Männer des Riki stattdessen nur zu fotografieren, um wenigstens auf diese Weise eine Identifizierung zu ermöglichen.
„Da kommen sie also“, sagte Jason Scott. Er wirkte ein wenig... Verbissen. Kein Wunder, denn das, was die letzten beiden Tage hier passiert war, ging über die Kräfte der meisten Menschen, und er trug dafür die Verantwortung, auch wenn ihn keine Schuld traf. Moment, nein, das war falsch. Ob ihn eine Schuld traf und wie schwer sie wiegen würde, das würden die Mitglieder der Kommission um General Hugh Shatterfield entscheiden. Und auch wenn ihm keine Schuld am Feuertod von zwanzig seiner Männer und Frauen angelastet werden würde, so konnte diese Begegnung doch sehr schnell das Ende seiner Karriere bedeuten, oder noch schlimmer, einen Arbeitsplatz an einem Schreibtisch.
„Ich werde tun, was immer ich kann, um dich zu unterstützen, Jason“, sagte Axel. „Notfalls heuert dich Belongo Mining mit Kusshand an.
Scott ließ ein flüchtiges Lächeln sehen. „Das weiß ich, Axel, und ich bedanke mich für das Angebot. Es ist nur, der alte Bluthund Shatterfield ist ein sehr wichtiger Mann, und auf seine Meinung wird gehört. Und wenn er zu dem Schluss kommt, dass die ganze Sache mein Fehler war, dann werden alle auf ihn hören und er wird auch noch Recht haben. Das macht mir am meisten zu schaffen.“
Axel verstand. Das Urteil des erfahrenen Generals würde über das entscheiden, was Scott ausmachte, nämlich seine Arbeit als Offizier der Army Ranger. Es war eine essentielle Frage, ob er gut gedient oder versagt hatte.
„Na, na, malen Sie mal nicht das schlechteste Bild vom Wolf, Jason“, sagte Captain Sinclair. „Er ist ebenso wie wir ein Ranger, und er ist alle Ränge hinaufgestiegen, aus eigener Kraft, wurde verwundet, hat sich durch die Rekonvaleszenz gekämpft und sein Kommando zurückerhalten. Wenn er sieht, was Sie und Ihre Ranger hier geleistet haben – mit bescheidener Mithilfe der Belongo Mining und der Männer des Riki – wird er das anerkennen. Himmel, Sie haben eine Stadt zurückerobert, die am wichtigsten Kreuzungspunkt für den Verkehr in Schwarzafrika im Umkreis von dreitausend Meilen liegt. Ach, und außerdem haben Sie die Stadt dem Verrückten abgenommen, der sie zwanzig Jahre in seiner Gewalt hatte, was vielleicht die Chance auf dauerhaften Frieden bedeutet. Für die gesamte Region.“
„Denken Sie mal nicht zu weit, Irene“, mahnte Scott, aber zumindest lächelte er erneut flüchtig.
Axel gab dieses Mienenspiel zu denken. Denn abgesehen davon, ob der alte General, oder seinetwegen der Wolf, Jason Scott schuldig oder unschuldig sah, Jason würde sich sein ganzes Leben damit quälen, dass zwanzig seiner Leute in diesem Hinterhalt gestorben waren. Auf seinen Befehl hin. Gut, der Mann war Praktiker. Aber jetzt wurde es ruhiger für ihn und die Kompanie, was bedeutete, dass nicht nur er zum Nachdenken kommen würde. Zum Nachdenken und zum Trauern. Fazit: Für ihn wurde es nicht besser, und das, was er jetzt am wenigsten würde gebrauchen können, wäre, von seinem Posten abgezogen zu werden und dadurch noch mehr Ruhe zum Nachdenken zu erhalten.
„Aaach-TUNG!“, bellte jemand auf deutsch, und beinahe automatisch gingen auch die amerikanischen Offiziere in ihre Hab acht-Haltung.
„Rühren Sie bitte, Herrschaften“, sagte Shatterfield nach einem kurzen Salut und nachdem dieser erwidert worden war. „Wenn mich jemand über den Stand der Dinge informieren würde...“
Sinclair und Scott wechselten einen kurzen Blick, der zum Ergebnis hatte, dass Sinclair seinen längeren Dienst in der Stadt über ihren Status als Teil der Untersuchungskommission stellte. Er räusperte sich. „Natürlich, General. Möchten Sie die Lage vor Ort besichtigen, während ich die Situation erläutere?“
„Captain, ich werde hier einiges besichtigen, um nicht zu sagen alles. Aber ein Crashkurs wird mir erst einmal reichen. Wie ist also die militärische Situation?“
Scotts Miene war nichts zu entnehmen, als er wieder sprach, und bei den Worten wäre das selbst Bernd schwer gefallen. „Kurz und gut: Wir haben gewonnen, Sir. Die Stadt gehört uns.“ Scott nickte in Axels Richtung. „Oder vielmehr der Belongo Mining, und ich halte es für eine gute Idee, dass das in naher Zukunft auch so bleibt.“
Die Kiefer des Generals mahlten ein wenig, aber es war unklar, ob er dies tat, weil er mürrisch war, oder zufrieden. „Gut, wir haben also gewonnen. Dann können wir ja mit dem Grund unseres Besuchs beginnen.“ Er sah zu Axel, dann zu Niklas. „Ich nehme an, Sie zwei sind die beiden Teufelsbraten, die uns all das hier eingebrockt haben?“
Axel hob die Hand. „Ich wäre dann wohl der Teufelsbraten, Sir. Mein Bruder hat nicht mehr getan, als mich rauszuhauen zu helfen.“
„Sie sind also dieser Axel Herwig. Soldat?“, fragte der General und reichte ihm die Hand.
Axel ergriff sie automatisch und fühlte sich mit einem Mal verlegen. „Stabsgefreiter der Reserve, Sir, aber kein Teil der Mobilen Reserve.“
Nun zeigte der alte Army Ranger das erste Mal eine Reaktion. Es war ein dünnes Lächeln. „Könnte von den Krauts eventuell ein Fehler gewesen sein. Beides, meine ich. Sie sind dann Niklas Herwig, richtig?“
Auch ihm reichte Shatterfield die Hand, und Niklas ergriff sie und registrierte den festen, trockenen Händedruck des alten Soldaten. „Ja, Sir, Oberleutnant Herwig, zur Zeit krank Zuhause geschrieben, auf unbestimmte Zeit.“
„Was auch ein Fehler sein könnte“, schmunzelte der alte Mann, und für einen Moment schien es ihm, als amüsiere er sich recht gut, gemessen am Ernst der Situation. „Bevor ich meine guten Manieren vergesse, dies sind Major Dukakis, mein Stellvertreter, und Captain Frost, die die CIC-Untersuchung leiten wird.“
Die Leute reichten einander die Hände, aber Dukakis und Scott umarmten sich herzlich. „Dass ich dich hier mitten im Chaos treffen würde, Constantin. Wie geht es Beth und den Kindern?“
„Gut, gut, danke der Nachfrage. Mich wundert es nicht, dich hier zu treffen. Dieses Chaos passt zu dir.“ Dukakis seufzte. „Eine schöne Scheiße.“
„Ich glaube, daran ist diesmal nicht Scott schuld, Sir, sondern ich“, sagte Axel und reichte dem Ranger die Rechte.
Dukakis musterte ihn mit einem wachen Blick und lächelte. „Ich bin wahnsinnig gespannt auf Ihre Geschichte.“
„Wir sind wahnsinnig gespannt“, sagte Frost und drückte Axel und Niklas ebenfalls die Hand. „Im Moment kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen, dass der vorläufige Bericht, den Captain Scott eingereicht hat, mehr ist als eine Kriegspassage aus einem Tom Clancy-Roman, möge Gott ihm da oben das Schreiben erlauben.“
„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Folgen Sie mir, bitte.“ Axel marschierte ohne ein weiteres Wort nach Norden davon, die Ranger und sein Bruder knapp hinter ihm. Dabei achtete der ältere Herwig darauf, dass General Shatterfield Schritt halten konnte, trotz Prothese. Aber diese Sorge schien unberechtigt zu sein, der Mann ging nahezu normal.
Vor dem Wrack eines Hubschraubers blieben sie stehen. „Das ist unsere Mil Mi-24, mit der Leutnant Androweit und ich geflogen sind, als wir von Ldungas Farm kamen. Vor der Stadt hatte jemand Feuer gelegt, wahrscheinlich aus alten Autoreifen, und ich befahl meinem Piloten, heranzufliegen, damit ich mir die Sache näher ansehen konnte“, erläuterte Axel. „Dabei hielt ich einen respektvollen Abstand ein und ließ Androweit über der Baumlinie dort hinten kreisen. Leider hatte der Riki genau dort Männer mit russischen Panzerfäusten versteckt. Es war eine Falle. Der Riki wollte gerne einen weißen Penis haben, und mit dem Feuer hat er sich den erstbesten neugierigen Bastard angelockt, nämlich mich.“
„Einen weißen Penis?“, fragte Eureka Frost.
„Sie wissen, was ein Penis ist? Das Ding, das Männer vorne haben, um zu pinkeln, Ma'am?“
„Ich weiß, was ein Penis ist. Ich bin verheiratet und habe eine Tochter“, erwiderte sie frostig.
„Und Sie wissen, dass sich die Männer des Riki mit getrockneten Körperteilen zu schmücken pflegen? Besonders ranghohe Speeren wird erlaubt, Genitalien zu tragen. Penisse, Hoden, Brustwarzen, und so weiter. Der Riki wollte, das haben wir während der Kämpfe rausgefunden, einen weißen Penis haben, wenn möglich zwei. Das hätte sein Ansehen in den Himmel schießen lassen“, erklärte Axel.
„Ich verstehe.“ Es klang schon weit weniger frostig.
„Jedenfalls gelang es Androweit und mir, hier in der Straßenschlucht abzuschmieren, und nicht über dem Waldstück oder dem offenen Savannenstück. Wir wurden beinahe sofort attackiert, aber ein Teil der Bordbewaffnung funktionierte noch, und die Speere hatten nicht damit gerechnet, dass wir mitten in der Stadt abstürzen würden, weshalb wir die erste Attacke abwehren konnten und dann genug Luft hatten, um uns unsere Ausrüstung zu schnappen und den Hubschrauber mit Handgranaten hochzujagen.“ Axel deutete auf die Beschädigungen der umliegenden Häuser und an das getrocknete Blut an den Wänden, die noch standen. „Als der Mi-24 hochging, waren eine Menge seiner Speere hier und sind mit in die Luft geflogen.“ Axel ging weiter und folgte dem Weg, den er und Androweit genommen hatten. „Hier etwa fanden wir heraus, dass wir jedem Gegner eine Kugel in den Kopf geben mussten, um sicher zu gehen, dass sie tot sind. Und hier wurde Jorge, ich meine Leutnant Androweit, verletzt. Wir haben uns dann in die Moschee zurückgezogen.“ Er ging zur Moschee weiter. Seine Augen glänzten merkwürdig, während er sprach. Als sie wieder auf den Platz hinaustraten, schüttelte er ein paarmal den Kopf. „Entschuldigung. Ich hatte noch keine Zeit, dieses Kapitel zu rekapitulieren oder zu verarbeiten. Es ist, als wäre es erst gestern gewesen.“
„Axel, es war erst gestern“, sagte Niklas.
„Heute morgen dachte ich, es läge schon Monate zurück“, gestand Axel. Sie betraten die Moschee. Der Aufgang zum Minarett war noch immer voller Trümmer, aber der Vorraum war frei. „Hier legte ich mir Jorge auf die Schultern und erkletterte das Minarett. Oben angekommen suchte ich die Umgebung nach Feinden ab. Als ich mir sicher sein konnte, dass uns niemand da rauf gefolgt war, noch nicht zumindest, versuchte ich per Notruf meine Mine zu erreichen. Stattdessen bekam ich Captain Scott ans Rohr.“
„Dann ist die Erzählung wohl jetzt an mir“, sagte Jason.
„Vorher habe ich noch eine Frage, Mr. Herwig“, sagte Shatterfield. „Eigentlich zwei. Erstens, war das alles bis zum Eintreffen von Captain Scotts Leuten, oder ist noch mehr passiert?“
Axel lachte gehässig auf. „Sie meinen, abgesehen davon, dass Jorge und ich entdeckt und beschossen wurden und dass wir uns den Aufgang der Moschee mit ein paar Handgranaten freigehalten haben? Nein, Sir, nichts weiter.“
Shatterfield grinste breit. „Was mich schon zur zweiten Frage bringt: Was waren Sie wirklich in der Bundeswehr?“
Axel runzelte die Stirn. „Stabsgefreiter. Ich sagte es schon.“
„In welcher Einheit?“
„Pioniere. Ich war im Stab.“
„Mit Verlaub, Sir, aber das glaube ich Ihnen nicht. Kommen Sie, legen Sie die Karten auf den Tisch. Immerhin geht es um Captain Scotts Karriere.“
Axels Miene verdüsterte sich. „Sie glauben, dass ich lüge? Tun Sie das, meinetwegen. Ich kann nicht mehr tun, als die Wahrheit zu sagen.“
„Und das ist es, was mir schwerfällt zu glauben. Überlegen Sie mal, was es für einen Stabsdienstler der Reserve bedeutet, sich zu zweit durch dieses feindliche Gebiet zu kämpfen, dies teilweise im Nahkampf, dann den angeschossenen Kameraden zwanzig Meter die steile Rampe hinauf zu schleppen und von dort auch noch eine halbe Stunde lang die Stellung zu halten, bis Hilfe eintraf. Wären Sie an meiner Stelle, würden Sie sich selbst glauben, dass Sie nur Stabsgefreiter waren?“
Das verblüffte Axel ein wenig. „Wir hatten Glück, Sir. Verdammt viel Glück.“
„Ja, das hatten Sie wohl. Aber auch Eiswasser in den Adern, das Können und keinerlei Skrupel, für das eigene Überleben zu töten. Normale Menschen können das nicht so einfach, Mr. Herwig.“
„Ich... Wir standen unter enormen Druck, und die Speere des Riki sind ein wirklich angsteinflößender Anblick... Captain Frost, Sie stehen da gerade auf... Ups.“
Die CIC-Ermittlerin sah zuerst zu Boden, dann zu Axel. Sie nahm den Fuß einen halben Schritt zurück, bückte sich und hob das Objekt auf. „Ups“, echote sie. „Ist es das, was ich denke, was es ist?“
„Ja, Ma'am. Ein menschlicher Penis. Er muss hier runter gefallen sein, als man die Toten zusammengetragen hat.“
Sie musterte das Stück toter Mensch und seufzte. „Okay, ich glaube Ihnen. Ich nehme an, Sie werden auch diese Körperteile beisetzen?“
Niklas sagte: „Wir dachten eher an einer Feuerbestattung, um mögliche Seuchen zu verhindern. Aber eigentlich spricht nichts dagegen, wenn wir die Körperteile und die Genitalien separat bestatten. Sie sind ohnehin getrocknet und können nicht so leicht verwesen und Krankheiten verursachen.“
„Eine gute Idee“, sagte Axel. „Geben wir den Opfern einen Teil ihrer Würde wieder zurück.“
„Die Bundeswehr muss eine Menge Idioten in ihren Reihen haben“, sagte Shatterfield unvermittelt. Er grinste. „Den einen Herwig speisen sie mit einem Mannschaftsdienstgrad ab, obwohl er in die KSK gehört hätte. Und den anderen Herwig schicken sie auf Stubenarrest, obwohl er besser damit aufgehoben wäre, einen Auslandseinsatz der Bundeswehr zu koordinieren.“
„Sie schmeicheln uns“, wehrte Niklas ab.
„Natürlich schmeichle ich Ihnen“, sagte der General schmunzelnd. „Weiter. Scott, erzählen Sie, was passierte, bevor Sie sich entschlossen haben, die Herwigs zu entsetzen.“
„Ja, Sir. Wir waren...“
„Belongo 1 von Boxie“, knarrte Axels Funkgerät auf.
„Belongo 1 hier. Sprich.“
„Ich komme mit dem Paket rein. Sieh zu, dass ein paar unserer Leute in Reichweite sind, nur für den Fall, dass Ldungas Speere erst schießen und dann fragen.“
„Verstanden, Boxie. Belongo 1 Over und Out.“ Er sah zu den Amerikanern. „Entschuldigen Sie uns, bitte. Unsere Diplomatin hat einen der Kriegsherren eingeladen, um die eroberte Stadt zu besichtigen. Wir erhoffen uns von diesem Besuch einen Neuanfang in den Beziehungen, ja, die Neuordnung von Belongo. Wenn Sie auf mich und Niklas verzichten können...“
„Wenn Sie uns zur Verfügung stehen können, sobald wir Sie brauchen“, sagte Shatterfield. „Ein Kriegsherr?“
„Wanagana vom Ostufer. Er bringt den letzten Imam mit, der in dieser Moschee gepredigt hat“, erklärte Axel. „Das ist ein bedeutender Moment für ganz Belongo.“
Der General runzelte die Stirn. „Constantin, Eureka, bitte sprechen Sie mit Captain Scott, seinen Offizieren, mit Hauptmann Malicke und den Anführern der Speere Ldunga Abesimis. Ich stoße später hinzu und begleite bis dahin Direktor Axel Herwig und Major Herwig.“
Die beiden Offiziere bejahten wie erwartet.
„Sir?“, fragte Axel.
„Ich denke, Sie haben recht mit Ihrer Einschätzung, dass ein bedeutender Moment bevorsteht. Mein Instinkt sagt mir, dass ich dann besser bei Ihnen sein sollte, und nicht irgendwo in der Stadt, Axel. Ich meine Mr. Herwig.“
Axel konnte es nicht verheimlichen, er hatte Stolz empfunden, als der erfahrene Ranger ihn mit Vornamen angesprochen hatte. „Bleiben wir ruhig bei Axel, Sir.“
„Hugh, bitte. Das gilt für Sie beide, Axel, Niklas.“
Die Deutschen nickten bestätigend. Und dann landete der Hubschrauber inmitten den Platzes, nicht weit vom Leichenberg, den die Helfer auftürmten.
Axel lockerte seine Pistolentasche. Nicht, um die Waffe zu benutzen, aber um sie ziehen zu können. Niklas tat es ihm gleich. Manchmal reichte ein wenig Realität, um allzu aufbrausende Gemüter zur Raison zu bringen, und Realität war in diesem Fall eine schussbereite P8-Pistole.
Noch während die Rotoren von Boxies bevorzugtem Mil Mi-24D rotierten, öffnete der Lademeister die Luken, die Richtung Moschee zeigten. Die erste Person, die ausstieg, war Heide Schuster, wie Axel zu seiner Erleichterung feststellte. Dann kamen eine junge afrikanische Frau und ein alter Mann, den sie am Arm führte. Der alte Mann trug noch den Lärmschutz, aber er schien sich köstlich zu amüsieren. So gebrechlich er wirkte, so fröhlich war er auch. Nun stieg einer von Heides Begleitern aus, ihm folgten zuerst Wanagana, danach Heides zweiter Bodyguard. Die sechs Personen verließen den Radius der Rotoren so zügig sie konnten, und Heide führte die Gruppe zu Axel, Niklas und dem General.
„Willkommen in Keounda City, Wanagana“, empfing Axel den Warlord. Auf den ersten Blick hatte der Mann nicht viel von einem marodierenden, brandschatzenden Irren, der auf Blut und Gewalt aus war, aber Ldunga hatte ihn ja in dieser Beziehung auch schon enttäuscht. Vielleicht dauerte das Chaos in Belongo einfach schon zu lange. Vielleicht lag es daran, dass die Warlords in Belongo sich der Volksgruppe verbunden sahen, der sie entstammten, was sie eher zu Milizanführern machte. Vielleicht war es die Sesshaftigkeit, die Farmen, die die Warlords in Belongo betrieben, die sie vom Bild in Axels Kopf unterschieden.
Der große Schwarze reichte Axel die Hand. „Direktor Herwig, nehme ich an. Der Mann, der mit nur einem Begleiter eine halbe Stunde gegen das Böse überlebt hat.“
Axel war für einen Moment peinlich berührt, aber so formuliert konnte er nicht widersprechen. „Im Kern richtig, ja.“
„Wo ist Ihr zweiter Mann, der Pilot?“, fragte der Warlord.
„Er ist wegen dem Steckschuss in Behandlung. Drüben auf Ldungas Farm. Er wird es ohne bleibende Schäden überstehen.“
„Das freut mich zu hören, Direktor Herwig. Ist das Ihr legendärer Bruder? Der, der die Ärzte ohne Angst gerettet hat?“
Axel lachte leise. „Mein Bruder ja, aber die Ärzte ohne Angst hat der Chef unserer Infanterie gerettet.“ Er deutete neben sich. „Darf ich außerdem vorstellen: General Shatterfield von den US Army Ranger. Er ist hier für eine Untersuchung der Gefechte.“
Das Gesicht des Warlords verfinsterte sich. „Heißt das, die US Army wird sich wieder aus Belongo zurückziehen?“
Shatterfield reichte dem Mann die Hand, und der ergriff ohne zu zögern. „Das heißt, mein guter Wanagana, dass wir einige Zeit hier bleiben werden und dann weiter schauen. Im Moment beherrschen wir den Luftraum dank unseres Flugzeugträgers vor der Küste Ndongos und der Unterstützung durch die panadianische Luftwaffe. Und ich denke, das wird auch noch einige Zeit so bleiben.“
„Das ist immerhin besser als nichts. Aber Sie werden länger bleiben, Direktor Herwig und General Herwig?“
Niklas räusperte sich verlegen und reichte dem Warlord ebenfalls die Hand. „Major, aber eigentlich Oberleutnant. Ja, es sieht so aus, als würden wir länger hier bleiben, als wir ursprünglich vorgehabt haben.“ Er deutete an Wanagana vorbei. „Ist das der ehrwürdige Imam, der uns angekündigt wurde?“
„Abu. Ja, das ist unser Imam. Der letzte Imam, der in unserer Moschee gepredigt hat, vor über zwanzig Jahren, bevor das Chaos ausbrach und der Riki diese Stadt in einen Hort des Bösen verwandelt hat. Scheik Harun al Burj, um exakt zu sein.“
Heide war nun heran, in ihrer Begleitung der alte Imam und das Mädchen, das ihn stützte.
„Die Moschee, mein Sohn. Beschreibe sie mir. Wie sieht sie aus?“, fragte der alte Mann mit erstickender Stimme.
„Sie sieht gut aus. Das Minarett ist eingestürzt, aber die Wände stehen noch und die meisten Trümmer sind nicht auf die Moschee niedergegangen. Die Tore fehlen, und die Becken wurden zerschlagen, aber der Brunnen steht noch, wenngleich er kein Wasser führt.“
„Das ist besser, als ich zu hoffen wagte“, hauchte der alte Mann. „Verzeihen Sie, meine Herren, aber ich sehe nichts mehr. Welcher von Ihnen ist Axel Herwig?“
Axel trat vor den alten Mann, ergriff dessen Hände und legte sie sich aufs Gesicht. „Ich bin Axel Herwig.“
Der alte Mann nahm die Geste dankbar an und ertastete das Gesicht des Deutschen, so gut er es vermochte. „Ich sehe Sie, Axel Herwig. Sie haben Großes geleistet. Aber was werden Sie jetzt mit der Stadt tun?“
„Das Richtige, schätze ich. Kommen Sie, ich zeige Ihnen meinen Bruder.“ Er ergriff den blinden Mann am Arm und führte ihn zu Niklas. Der ließ sich ebenfalls ertasten. „Es freut mich sehr, auch Sie zu sehen, Niklas Herwig. Ebenso wie Ihrem Bruder bin ich persönlich und ist jeder Mensch in Belongo Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet. Wer ist der dritte Mann in Ihrer Begleitung, den ich atmen höre?“
Shatterfield schnaubte überrascht. „General Hugh Shatterfield von der US Army.“
„So. Sind die Amerikaner heute hier, um uns zu helfen, oder sollen sie uns wieder versklaven?“
Wenn ihn die offenen Worte des Imams entsetzten, zeigte er es nicht. Stattdessen lachte er. „Im Moment, denke ich, sind wir hier, um Ihnen zu helfen. Nehmen Sie das, was dabei Gutes für Belongo passieren wird, einfach an und sehen Sie zu, dass es nicht mehr verloren geht.“
„Ja, das sollten wir tun. Sie sind ein kluger Mann, General Shatterfield“, lobte der Imam. „Glauben Sie an Gott?“
„Ja. Trotzdem.“
„Trotzdem?“, echote der Imam überrascht.
„Trotzdem, obwohl ich in meinem Leben so viel gesehen habe, was mich daran zweifeln lässt, dass ein Gott, der tatsächlich existiert, all dieses Leid zugelassen hätte.“
Der alte Mann nickte. „Ich weiß, was Sie meinen. Und ich stimme Ihnen zu. Ihr Glaube muss rein und stark sein.“ Er wandte sich halb um. „Ich rieche Tote.“
„Die Männer des Riki. Wir haben viele von ihnen töten müssen“, gestand Axel. „Wir werden sie verbrennen, um zu verhindern,dass Seuchen entstehen. Vorher werden wir allerdings die getrockneten Körperteile, mit denen sie sich geschmückt haben, einsammeln und in einem eigenen Grab bestatten.“
Der Imam nickte dazu. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Axel Herwig. Es hätte gereicht, die Körperteile mit zu verbrennen, aber Sie erweisen jenen, denen diese Körperteile geraubt wurden, Respekt. Wenn Sie es erlauben, würde ich gerne das Gebet anführen, wenn Sie die Körperteile beerdigen lassen.“
Die beiden Herwig-Brüder wechselten einen Blick. „Selbstverständlich. Es wäre uns eine Ehre“, sagte Niklas. „Axel, du entschuldigst mich.“ Er zog seine Waffe und ging zwischen Heide und Wanagana hindurch nach Norden, wo sich mehrere Speere Ldungas zusammengerottet hatten. Sie deuteten aufgeregt immer wieder auf die Gruppe der Neuankömmlinge. Verdammt, er hatte Ldungas Speer Franc doch gesagt, er solle seine Männer im Zaum halten.
„Ärger?“, fragte der Warlord.
„Noch nicht“, sagte Axel und beobachtete, wie Niklas zur Gruppe Speere aufschloss. Es entsponn sich eine kurze, aber recht laute Diskussion, die damit endete, dass die Männer – glücklicherweise im Moment nicht mit ihren belgischen Sturmgewehren ausgerüstet, da sie geholfen hatten, die Toten zusammenzutragen – mit Axel an der Spitze zurückkehrten.
„Diese Männer wollen mit dem Scheik sprechen“, erklärte Niklas.
Der blinde alte Mann wirkte überrascht, aber er fasste sich schnell und lächelte strahlend. „Lassen Sie die Kinder zu mir kommen, Niklas Herwig.“
Die folgende Szene hatte etwas irritierendes für Axel. Die Männer waren Speere Ldungas, Lulugengo, dem Volksstamm zugehörig, den Wanagana einst vertrieben hatte, um das Land für seinen Kelegaba-Volksstamm nutzen zu können. Er hatte mit einigen von ihnen Seite an Seite gekämpft und diese Stadt mit ihnen vom Riki befreit. Aber er hatte erwartet, dass sie gegenüber Wanagana aufgebracht reagieren würden. Oder versuchen würden, ihn zu töten. Aber der alte Mann schien eine besondere Schlüsselfigur darzustellen, denn die Männer knieten sich nacheinander vor den Imam am Boden nieder und empfingen seinen Segen.
„Das ist nicht muslimisch, sondern afrikanisch“, erklärte Heide. „Ich musste auf diese Weise fast einhundert von Wanaganas Speeren segnen, weil sie mich plötzlich für eine Prophetin gehalten haben.“
In Axels Kopf machte es laut und vernehmlich Klick, laut genug, dass sogar Shatterfield es hatte hören können. Niklas, der den gleichen Gedanken bereits gehabt hatte, nickte seinem Bruder zustimmend zu. Der alte Imam konnte – und er würde – für Belongo, aber auf jeden Fall für Keounda City zu einem stabilisierenden Element werden, wenn man ihn ließ. Als diese Runde an Speeren ihren Segen erhalten hatte, machte sich Axel klar, dass die Ankunft des Imams über den Latrinenfunk längst zum Ostteil der Stadt auf der anderen Seite des Flusses geschwappt sein musste. Was bedeutete, dass jene Speere, die sich berufen fühlten und gerade Freizeit hatten, ebenfalls hierher kommen würden. Lange konnte das nicht mehr dauern.
„Ich hole Ldunga“, sagte Niklas zu seinem Bruder. Er sah Wanagana an. „Es ist nötig, dass Sie mit ihm reden. Auch wegen der Stadt.“
Der Warlord nickte zustimmend.
Axel trat nun an die Seite des blinden Mannes. „Abu“, so hatte Wanagana ihn genannt, und es hatte gut in Axels Ohren geklungen, „es werden bald mehr Männer kommen und sich wünschen, von Ihnen gesegnet zu werden. Wollen wir nicht in die Moschee gehen?“
„Darf ich das tatsächlich?“, fragte der alte Mann zweifelnd. Tränen netzten sein Gesicht. „Oh Allah, darf ich das? Darf ich zurückkehren, während so viele es nicht mehr vermögen?“
„Sie müssen sogar, Abu, um eben diese Menschen zu ehren. Und Sie müssen in der Moschee predigen.“
Bei diesen Worten brach der alte Mann fast zusammen, aber das Mädchen, das mit Wanagana gekommen war und Axel selbst griffen geistesgegenwärtig zu. „Ich bin nicht sicher, ob ich dafür noch würdig bin, nachdem ich die Moschee all die Jahre in Stich gelassen habe.“
Axel lachte leise. „Wer sonst sollte es tun, wenn nicht Sie? Wir haben keinen anderen Imam hier, Abu.“ In Heides Richtung gewandt sagte er: „Und wir sollten schnell hinein gehen, bevor die nächsten muslimischen Speere kommen.“
„Oh, nicht alle Männer waren Moslems“, sagte der Imam. „Sie kamen vor allem zu mir, weil ich der letzte lebende Offizielle bin, der einst diese Stadt vertreten hat. Deshalb haben sie meinen Segen gewünscht.“
„Dann sind Sie also eine Legende“, stellte Axel fest.
„Eher eine Hoffnung“, wandte Wanagana ein. „Eine Hoffnung dafür, dass Keounda City eines Tages vom Bösen befreit wird und wieder jene Stadt werden kann, die sie einst war. Nun, vom Bösen befreit haben Sie die Stadt ja schon mal. Was den Rest angeht, so hätte ich schon ein paar Ideen, die wir besprechen sollten.“
„Das sollten wir. Später. Jetzt gehen wir erst einmal in die Moschee“, sagte Axel. Noch während er dies sagte, sprinteten die fünf Speere Ldungas los und liefen an ihnen vorbei. Aber nicht in Richtung Moschee, sondern zur großen Autobrücke der Stadt. „Was...?“
„Sie holen Wasser, denke ich“, erklärte der Warlord. „Die Becken sind zerstört und der Brunnen führt kein Wasser mehr. Also werden sie wohl passende Behälter suchen und Flusswasser bringen. Sie sind kein Muslim, nehme ich an?“
„Nein“, gab Axel unumwunden zu. „Erklären Sie mir, warum das Wasser?“
„Man betritt eine Moschee barfuß. Zuvor aber wäscht man sich die Füße. Es ist ein Reinigungsritual.“
„Oh.“ Axel wirkte verlegen. „Abu, ich muss gestehen, wir haben die Moschee als Stützpunkt benutzt. Meine Soldaten und die Amerikaner schlafen in ihr, und wir haben auch aus ihr heraus gekämpft. Aber keiner hat die Stiefel ausgezogen und sich die Füße gewaschen.“
„Oh, das ist doch nicht so schlimm. Rituale sind für eine Zeit gedacht, in der man sie sich leisten kann, ohne Leib und Leben zu gefährden, Axel Herwig. Und eine Moschee ist für Menschen gemacht, nicht für Rituale. Ihre nächste Frage wird sicherlich sein, ob Sie die Soldaten aus der Moschee befehlen sollen, aber das wird nicht nötig sein. Bis wir sie in dem Sinne nutzen können, für den sie erbaut wurde, vergeht noch eine gewisse Zeit. Dann können wir immer noch darüber sprechen, ob und wann Sie uns die Moschee übergeben.“
„Danke. Das wäre in der Tat meine nächste Frage gewesen. Aber, und das ist die gute Nachricht, ich denke, dass wir sie nicht mehr lange als Unterkunft brauchen werden. Jetzt, wo der Riki vertrieben ist, ist es in Keounda City sehr viel sicherer, und hier am Westufer sowieso.“
„Wir werden ohnehin besser eine Zeltstadt auf dem Vorplatz errichten“, sagte Shatterfield. „Die Ranger sind dafür ausgerüstet, und ich denke, Belongo Mining wird uns mit Material unterstützen. Morgen könnten Sie Ihre Moschee bereits wieder für eine Predigt nutzen, Scheik Harun.“
„Ah, ah, nicht so viele gute Nachrichten auf einmal. Mein Herz macht die Aufregung nicht mehr so gut mit“, sagte er weit fröhlicher, als die Worte vermuten ließen. „Axel Herwig, wie sieht es innen aus?“
Axel druckste verlegen. „Der Altar ist leider weg. Die Männer des Riki müssen ihn fortgeschafft haben.“
„Der... Altar?“
„Ja, Abu. Der Altar ist weg.“
„Ach so. Jetzt verstehe ich.“ Der alte Mann lachte so sehr, dass er sich mit der Linken Tränen aus den Augen wischte. „Steht die Treppe noch? Sie sollte an der Ostwand stehen und zu einer kleinen Kanzel führen.“
Der ältere Herwig-Bruder strengte sein Gedächtnis an. „An die Treppe erinnere ich mich, ja. Sie steht noch. Die Kanzel habe ich nicht gesehen, wie ich zugeben muss.“
„Und die... Die Mulde? Sie muss ebenfalls in die Ostwand eingelassen sein. Sie ist mannshoch und verkleidet.“
„Die grüne Nische? Ja, die ist noch da.“
„Alluah akhbar. Sind Sie bereit, heute etwas über meinen Glauben zu lernen, Axel Herwig?“
Axel sah den alten Mann erstaunt an, dann aber drückte er mit der Rechten die Hand des Imams, die auf seinem linken Unterarm ruhte. „Ihnen zuliebe will ich das, Abu.“
„Dann wollen wir nicht zögern. Aber lassen Sie uns auf die jungen Männer warten, die Wasser holen wollen. Wir sollten ihre Mühen nicht nutzlos werden lassen, indem wir hasten.“
„Natürlich, Abu.“ Axel irrte sich selten, wenn er einen Menschen einschätzte, auch wenn er weder ihre Gedanken lesen, noch in ihre Zukunft sehen konnte. Und jetzt war er sich sehr sicher, dass dieser alte Mann sehr, sehr wichtig für die Zukunft der Stadt und auch für ganz Belongo sein würde.