Geschichte: Freie Arbeiten / Prosa / Action / Belongo

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Belongo

Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer / P16 / Gen
12.09.2011
23.02.2017
37
260.000
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12.09.2011 6.974
 
"Und? Was machen wir jetzt?", fragte Niklas ein wenig verblüfft. Sie hockten zu sechst beieinander, im Deckschatten des hoch stehenden Flussgrases neben der Hauptbrücke, die einmal Teil einer kontinentalen Verbindungsstrecke gewesen war, und diskutierten die aktuellen Ereignisse. Die Panzer und der Panzerwagen hatten sich zurückgezogen, und die Verrückten auf der anderen Flussseite hielten sich auffallend bedeckt. Ab und an bellte mal ein Schuss auf, aber der kam von den eigenen Snipern, nicht von denen.
"Was werden wir wohl machen?", fragte Axel widerstrebend. "Wir fliegen die Verletzten aus. Tun wir es nicht, wird uns Meike die Hölle heiß machen."
Jorge Androweit sah den Chef der Belongo Mining skeptisch an. "Bei unserer Flucht in die Moschee hast du noch Anweisung gegeben, jedem dieser Irren eine Kugel in den Kopf zu verpassen."
"Ja, weil wir die Situation nicht haben kontrollieren können. Jetzt aber beherrschen wir die Lage, und genügend Kabelbinder haben wir auch", erwiderte Axel.
"Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir diesen Spinnern damit einen Gefallen tun, wenn wir sie aus ihrer trauten Welt rausreißen", sagte Lieutenant Morelli skeptisch. "Und was machen wir anschließend mit ihnen? Es gibt keinen Knast in Belongo."
Scott strich sich übers Kinn. Eine blutverkrustete Schmarre zog sich dort entlang, und seither hatte der Captain der Army Ranger-Kompanie der Versuchung nicht widerstehen können, daran herumzupulen. "Fakt ist, dass Sie Recht haben, Axel. Wir kontrollieren die Situation. Nicht zuletzt, weil Ihre Kavallerie eingetroffen ist, um uns den Arsch zu retten."
Boxie grinste ins Rund. "Und das auf eigene Verantwortung und unter größtmöglichen Druck. Ich denke, besser hätten sich unsere Neuen nicht einführen können."
"Sicher nicht", sagte First Lieutenant Austin, der stellvertretende kommandierende Offizier der Ranger. "Also schaffen wir die Verletzten zu Ldungas Ranch?"
Niklas wollte etwas dazu sagen, aber die Ankunft von zwei Männern der Ranger unterbrach ihn.
"Sir, Sergeant Ryback hat uns geschickt. Sie meinte, Sie würden sich freuen, mich und Private Polonski zu sehen." Corporal Leod, der Scharfschütze vom Minarett, grinste die Männer an wie eine Honigkuchenpferd.
"Teufel auch, Corporal, ich habe gedacht, wenn ich Sie und Polonski lebend wiedersehe, dann nur mit gebrochenen Knochen! Wie haben Sie den Hinterhalt überlebt?"
Leod leckte sich über die Lippen. "Pflichtvergessenheit, Sir."
"Wie, Pflichtvergessenheit? Erklären Sie sich, Mann."
"Sir, als die Verrückten aus der Kanalisation gequollen kamen, um uns in den Rücken zu fallen, waren Polonski und ich gerade etwa in der Mitte des Turms, weil unsere Ablösung auf sich warten ließ. Als der Turm von der MANPAD getroffen wurde, wurden wir ordentlich mit Geröll zugeschüttet, aber das war nicht annähernd so schlimm, wie zwanzig Meter in die Tiefe zu stürzen." Er räusperte sich. "Sir, ich und Private Polonski bitten um eine harte und gerechte Bestrafung."
Fassungslos sah Scott die beiden Männer an. "Wissen Sie was, meine Herren? Sie beide gehören zu den diszipliniertesten Rangern unter meinem Kommando. Würde ich es Ihnen befehlen, Sie würden eine Woche am gleichen Platz verharren. Wenn Ihnen Kugeln und Granaten um die Ohren fliegen, verlässt Sie zwei nie die Ruhe. Wenn Sie ausgerechnet jetzt Ihre Aufgabe vernachlässigt haben und dadurch dem sicheren Tod entgangen sind, dann muss das göttliche Fügung sein. Und wer bin ich, dass ich dem Herrn in seinem Tun widerspreche? Fühlen Sie zwei sich getadelt, und seien Sie nächstes Mal wieder exakter als heute. Das wäre alles."
"Ja, Sir", sagte Leod. "Danke, Sir", meldete sich Polonski zu Wort. "Aber was machen wir jetzt eigentlich mit den Gefangenen?"
"Wir einigen uns darauf, die Verletzten auszufliegen, denke ich, damit es keinen Ärger mit der Chefärztin der Minengesellschaft gibt. Wir können später entscheiden, was danach mit ihnen geschehen soll", erwiderte Scott.
"Und die Gefangenen?"
"Private, ich habe mich doch gerade unmissverständlich ausgedrückt, oder?"
"Verzeihung, Sir, aber Sergeant Ryback hat uns auch geschickt, um Ihnen mitzuteilen, dass die Razzia in der Kanalisation siebzehn Gefangene ergeben hat", sagte Leod schnell. "Mensch, Polonski, lass doch nicht immer die Hälfte aus."
"Gefangene?", echote Axel.
"Ja. Sie haben sich ergeben. Augenscheinlich haben sie sich in kleinen Gruppen aufgeteilt da unten versteckt. Wir haben ihre Gewehre, und im Moment verhalten sie sich noch lammfromm."
"Ich glaube, jetzt wird es interessant." Axel betätigte die Funktaste. "Hannes, übergib deinen Posten und komm sofort zu uns."
"Habe verstanden. Ist was passiert?"
"Wir brauchen deine Sprachkenntnisse. Wir haben unverletzte Gefangene gemacht."
"Oh. Jetzt wird es interessant", erwiderte der Deutsche.
Axel sah ins Rund. "Wir machen es wie folgt. Ihre Sanitäter sollen die Verletzten sedieren, bevor sie fortgeschafft werden. Wie gehabt zuerst zu Meike, die sie vorsortiert, danach ins Lazarett. Wir geben jedem Transport zusätzliche Wachen mit. Ich schlage vor, dass Sie, Jason, mit Ihren Leuten das Flussufer halten und Niklas Sie mit seinen Leuten dabei unterstützt. Währenddessen werde ich mit Hannes unsere Gefangenen verhören. Vielleicht können sie uns nicht nur etwas über die Panzer verraten, sondern auch diesen ganzen Wahnsinn erklären."
"Einverstanden. Dick, Sie gehen mit."
Der First Lieutenant nickte. "Verstanden, Sir."
"Axel, wenn es weiterhin so ruhig bleibt, sollten wir die Moschee als Basislager benutzen. Die Decke hat dem Absturz des Minaretts ja standgehalten."
"Ich stimme dem zu, Jason. Und, wenn wir schon dabei sind, die Lage zu klären, wäre es vielleicht eine gute Idee, wenn Sie sich ebenfalls zu Doktor Herryhaus begeben, um Ihre Schussverletzung wenigstens ambulant behandeln zu lassen. Das Gleiche gilt für dich, Jorge. Mit dem nächsten Flug, der Platz hat, geht es für dich nach Hause."
"Ich habe absolut nichts dagegen", erwiderte der Pilot. "Ich fühle mich zwar nicht schlecht soweit, aber gegen ein weiches Bett habe ich im Moment gar nichts. Und nichts gegen dich und deine Erste Hilfe-Kenntnisse, Axel, oder gegen die Fähigkeiten von Private Oslovski, aber ich würde mich über die fürsorgliche Pflege unserer Ärzte im Lazarett eindeutig mehr freuen."
"Dann ist ja alles geklärt. Jason, Sie fliegen doch raus zu Meike?"
Der Captain brummte etwas Unverständliches. Als er Axels Blick erwiderte, sagte er lauter: "Sobald es die Kampflage erlaubt, werde ich eine Stippvisite bei ihr machen, versprochen."
"Gut. Trotz unserer Verwundeten haben wir genügend Leute hier, um die Stellung bequem zu halten, Panzer hin, Panzer her. Wir haben sechs Javelins ausgeteilt, die ständig schussbereit sind, falls die Tanks oder der freche BRDM-2 wieder auftauchen. Die drei gut positionierten Mörser werden ebenfalls ihren Teil tun. Wir können mit wenigen Leuten halten und den Rest zum Verschnaufen schicken. Die Westseite gehört praktisch uns. Das sollte einen kurzen Flug ohne weiteres ermöglichen, Jason", sagte Axel mahnend.
"Sie klingen schon wie mein First Sergeant, Axel", murrte der Captain. "Ich habe doch schon gesagt, wenn die Kampflage es erlaubt, werde ich rüber fliegen."
"Ich werde nicht zögern, Sie dran zu erinnern", erwiderte der Deutsche.
Mittlerweile hatte Hannes sie erreicht. Er hockte sich neben die Gruppe . "Von mir aus kann's losgehen."
"Okay. Corporal, wo sammelt Sergeant Ryback die Gefangenen?"
"Auf dem Platz vor der Moschee, Sir. Sie sind an Händen und Füßen mit Kabelbindern gebunden, sicherheitshalber."
"Stinken sie schlimm?", fragte Axel.
"Wie, schlimm? Wenn Sie damit andeuten wollen, dass..."
"Sie kommen aus der Kanalisation, richtig? Ich habe eher selten Menschen getroffen, die dort unten waren und nach Rosenblüten duften."
"Ach so. Nein, Sir, sie stinken nicht schlimm. Das Kanalsystem liegt schon seit einer kleinen Ewigkeit trocken. Kein fließendes Wasser, keine Kanalisation. Also auch keine gärenden Fäkalien, die zum Himmel stinken."
"Na, immerhin ein Lichtblick. Richard, Hannes, wir wollen dann."
"Ja, Sir", erwiderte der Ranger und erhob sich zusammen mit den beiden Deutschen.
"Eines noch, Axel", sagte Niklas. "Der Soldat aus meiner Gruppe, der erwischt wurde, ist tot."
Axels Miene verdüsterte sich. "Wer?"
"Lars Rupert von den Pionieren."
"Mist. Sieh zu, dass er mit einem der Flüge ins Lager gebracht wird. Danach schaffen wir ihn so schnell wir können aufs Honiton City Airfield. Thomas wird alles Weitere regeln."
"Axel, nur um auf Nummer sicher zu gehen: Du weißt, dass er das Risiko kannte?"
Der ältere Herwig-Bruder schnaubte wütend aus. "Du weißt, dass er hier nicht gestorben wäre, wenn ich nicht drauf bestanden hätte, über Keounda City abzustürzen?"
"Das ist Quatsch, Axel, einfach nur Quatsch."
"Mag sein, aber so denke ich gerade. Da freut man sich, dass es eine Woche gutgeht, und dann erwischt es den Ersten ausgerechnet beim Versuch, mich zu retten."
Axel machte eine beschwichtigende Handbewegung. "Im Anbetracht dessen, was den Army Rangern passiert ist, bin ich wohl gerade mehr als arrogant. Die sind nämlich auch gestorben, um mich zu retten."
"Und mich", warf Androweit ein. "Vergiss das bitte nicht. Auch wenn ich nicht halb so wichtig bin wie du, Axel."
Verdutzt starrte der Chef der Mine den Piloten an. "Gut, vielleicht hast du Recht, Jorge, aber sehr viel besser fühle ich mich dadurch nicht. Immerhin habe ich dir befohlen..."
"Und dann hast du mich von der Absturzstelle bis ins Minarett hochgeschleift und mir das Leben gerettet", erwiderte er trocken. "Fang jetzt bloß nicht an, einen Schuldkomplex zu basteln. Die Welt dreht sich nicht um dich allein."
"Da ist was dran", erwiderte er. "Und über kurz oder lang hätten wir wahrscheinlich sowieso hierher kommen müssen." Axel winkte seinen beiden Begleitern. Geduckt eilten sie auf die Hauptstraße zu. Doch die Vorsicht schien unnötig zu sein. Niemand schoss auf sie. Zumindest noch nicht.

"Du, Axel", sagte Hannes nachdenklich, "weißt du, was mir gerade durch den Kopf geht?"
"Was denn, Herr Hauptmann? Dass du direkt neben dem armen Lutz gestanden hast, und das es auch dich hätte treffen können, und das ich dankbar sein sollte, dass es anders gekommen ist?", fragte Axel barsch.
"Natürlich nicht", erwiderte Hannes heftig. "Das stimmt zwar alles soweit, aber das beschäftigt mich nicht."
Axel blieb stehen und starrte den KSK-Offizier sprachlos an. "D-du..."
"Ja, ich ging direkt neben ihm. Ein Streifschuss hat mich am Arm erwischt, als das Russending angefangen hat zu feuern. Ich hatte Glück, dass der Richtschütze die Ziele von rechts nach links aufgenommen hat, denke ich."
"Dann hat wohl wieder dein enormes Glück zugeschlagen", sagte Axel beeindruckt.
"Und es färbt nicht auf andere ab. Ich will aber gar kein Glück mehr haben. Mein Nervenkostüm ist nicht dazu geschaffen, dem Tod ständig von der Schippe zu springen." Er lachte nervös. "Was ich sagen wollte, ist was vollkommen anderes. Hast du die Toten mal gezählt? Ich meine jetzt nicht unsere, sondern ihre Toten."
"Nein, habe ich nicht. Und?"
"Das würde mich jetzt auch interessieren, schätze ich", sagte Austin.
"Es sind fast fünfhundert. Wir haben sie wirklich hart zusammengeschossen. Ich frage mich die ganze Zeit, wie viele Leute die da überhaupt noch haben können. Wieviele sind über die Brücke gegangen, Austin?"
Der Ranger dachte kurz nach. "Achtzig, vielleicht neunzig über die Autobrücke, die wir beobachtet haben. Dazu noch mal die Hälfte über die kleinere Brücke in Ihrem Bereich, Malicke."
"Halten Sie es für möglich, dass das und die Panzer ihr letztes Aufgebot sind?"
"Möglich ist alles. Wahrscheinlich ist, dass wir sie tatsächlich schwer erwischt haben. Aber ob wir nun die Hälfte, ein Drittel oder achtzig Prozent dieser Bastarde erwischt haben, wird sich noch zeigen."
Axel ging weiter. "Auf jeden Fall sollten wir den Gedanken im Hinterkopf behalten, wenn wir die Gefangenen befragen."

Mit Axel an der Spitze trat die Dreiergruppe auf den Vorplatz der Moschee. Die getöteten Verteidiger Keounda Citys waren dort fein säuberlich nebeneinander abgelegt worden. Sie bildeten sieben ordentliche Reihen mit jeweils fünfzig Toten, wobei die unterste Reihe noch nicht vollständig war. Speere und Army Ranger brachten weitere Tote.
"Wir sollten uns schnell was für sie überlegen", sagte Axel nachdenklich. "Bei den Temperaturen und der starken UV-Strahlung auf dem Belongo-Hochplateau wird der Verwesungsprozess sehr schnell einsetzen."
"Damit werden wir mindestens einen Tag warten müssen", sagte Austin. "Von der Abraham Lincoln werden Experten für eine forensische Aufnahme der Vorfälle eingeflogen. Der Träger kommt gerade um Südafrika herum. Seine Hubschrauber sind frühestens in zehn Stunden in Reichweite."
"Abe?", fragte Axel.
Austin lächelte schmallippig. "Die USS Abraham Lincoln, einer unserer atomgetriebenen Flugzeugträger. Sie kommt von einem Besuch in Indien zurück.
Eventuell hilft sie uns auch mit ein paar Marines aus. Ich hätte wirklich nichts gegen zwei bis drei Squads im Moment, solange sie sich nicht anmaßen, unsere Oberhoheit in Frage zu stellen."
Hannes grinste breit zu Axel herüber. Er kannte derlei Quengeleien zwischen Elitetruppen und regulären Einheiten. Die regulären Einheiten sagten: Wir machen unseren Dienst nicht schlechter als Ihr. Und die Elitetruppen sagten: Würdet Ihr euer Ding so gut durchziehen wie wir, wärt Ihr bei uns, oder?
Axel winkte leicht ab, um anzudeuten, dass sie das Thema nicht unnötig vertiefen sollten. Er deutete in Richtung Moschee, vor der die Gefangenen gefesselt an die Westwand gelehnt worden waren. Ryback winkte ihnen zu, als sie die drei Männer sah. Sie wollte salutieren, aber Austin winkte ab.
"Lassen Sie das, Sergeant. Wir haben wahrlich genug erlebt und müssen uns jetzt nicht an Formalitäten klammern. Was gibt es?"
"Eindundzwanzig Gefangene, Sir. Zwei von ihnen hatten sich in den Häusern versteckt und haben sich ergeben, als sie gemerkt haben, das wir die Gefangenen nicht sofort standrechtlich erschossen haben." Sie zögerte. "Es sind Männer zwischen zwölf und vierzig, wenn ich das richtig abschätzen kann."
"Haben Sie schon mit ihnen gesprochen?", fragte Axel.
"Einige von ihnen sprechen Französisch. Beziehungsweise sind bereit zu sprechen. Die anderen bleiben stumm. Ich war so frei, einigen von ihnen in den Mund zu sehen, aber die Zungen haben sie noch. Außerdem habe ich mir erlaubt, ihnen Wasser geben zu lassen. Von mir haben sie keines genommen, aber von den Männern. Merkwürdig, oder?"
"Genau deshalb sind wir hier. Um Merkwürdigkeiten zu klären." Austin ließ seinen Blick über die einundzwanzig Schwarzafrikaner schweifen. "Wenn ich diese Männer sehe, dann sehe ich fleißige Arbeiter, Landwirte, Rechtsanwälte, Architekten, Berufssoldaten, Handwerker, Kaufleute. Nicht einen Haufen durchgeknallter Irrer, die sich mit getrockneten Körperteilen schmücken. Was ist bei diesen Menschen schief gelaufen?"
"Sehr poetisch von Ihnen, Richard", sagte Axel und klopfte dem Amerikaner auf den breiten Rücken, "aber manchmal ist ein durchgeknallter Irrer einfach nur ein durchgeknallter Irrer. Vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Wir sind hier, um das herauszufinden." Axel deutete auf die Gefangenen. "Hannes, dein Part."
Der Deutsche runzelte die Stirn. Er betrachtete die einundzwanzig Männer. Erneut wunderte er sich darüber, das keine Frauen unter ihnen waren. Ehrlich gesagt bereitete das seiner Phantasie Überstunden. Das reichte von Frauen, die zu Gebärmaschinen reduziert worden waren über eine Gesellschaft, die die Frauen keinen Gefahren aussetzen wollte bis hin zu einer rein homogenen Männergesellschaft, wie zum Beispiel früher beim Militär üblich. Okay, das war gelogen. Wie früher beim Militär gewünscht traf es besser.
Er sah sich die Männer genauer an. Ihre Augen waren nicht ängstlich, und sie musterten ihn mit aufgeweckten Augen.
Hannes griff beim Vordersten nach der Halskette. Sie bestand aus Fingern. Der Mann sagte etwas in einem Dialekt, den er nicht verstand, und neigte dann den Kopf, damit er ihm die Kette leichter vom Kopf ziehen konnte.
"Kann mir jemand dabei helfen herauszufinden, was er gerade gesagt hat?", fragte er auf Französisch.
"Er hat gesagt, Sie können die Kette behalten", sagte einer der Jüngeren. Auch auf Französisch.
"Ich will sie nicht behalten. Ich will sie nur ansehen. Sie ist ihm sicher einiges wert."
Der Junge griente und übersetzte.
Der Mann, dem die Kette aus Fingern gehörte, antwortete darauf, und seine Worte lösten große Unruhe unter den Männern aus. Dies ließ die Ranger reagieren, die Wache standen. Sie richteten ihre Gewehre auf die Gefangenen. Hannes hob die Rechte und machte eine beschwichtigende Geste, und die Ranger nahmen die Waffen wieder runter.
"Was hat er gesagt?", fragte er den Jungen.
"Er hat gesagt, Sie können sie behalten, wenn er dafür nach Hause gehen kann", übersetzte der Bursche.
"Nach Hause?", fragte Hannes. "Die Ostseite von Keounda City?"
Energisch schüttelte der Junge den Kopf. "Nein, nach Bafu, seinem Heimatdorf. Er hat es schon vier Jahre nicht gesehen. Viele von uns", sagte er und sah die Reihen von links nach rechts durch, "waren schon so lange und länger nicht Zuhause, weil der Riki es nicht wollte."
Die Männer zuckten zusammen, als das Wort Riki fiel.
"Wer ist das, dieser Riki?"
Einer der Männer wurde kreidebleich und übergab sich. Ein vielleicht Sechzehnjähriger schlug seinen Hinterkopf in gleichmäßigem Takt gegen die Mauer der Moschee und schien dabei zu beten. Drei oder vier von ihnen sprachen ein Gebet, das Hannes vom Rhythmus sehr an das Vater Unser erinnert.
"Sagen Sie den Namen nicht. Er erschrickt die Leute", bat der Junge. "Er ist unser Hohepriester, unser Herr, unser Gott, unser König. Er führt uns an, er entscheidet über Leben und Tod. Er sagt, wer in unsere Reihen kommen darf, und wer getötet wird. Er entscheidet auch, von wem Tikalak genommen werden."
Unschlüssig hielt Hannes die Kette mit den Fingern hoch. "Dies sind Tikalak?"
Der Junge nickte erneut. "Tikalak. Sie sind Belohnungen. Je wichtiger ein Körperteil, desto größer der Dienst, der dem König erwiesen wurde. Je mehr man davon hat, desto höher steht man in der Gesellschaft." Der Junge nickte an sich herunter. Er trug ebenfalls eine Halskette. An ihr waren Hautfetzen befestigt. "Mein Tikalak. Haut von denen, die ich töten half. Hätte ich sie allein getötet, hätte ich Finger bekommen, die Nase vielleicht, aber keine Ohren. Ohren sind ein starkes Tikalak. Am Wichtigsten ist der Penis. Nur die höchsten und wichtigsten Gefolgsleute tragen die Penisse der Toten um den Hals. Sie sind das mächtigste Tikalak."
Einige der Männer raunten bestätigend.
Hannes revidierte seine erste Meinung. Keiner dieser Männer war älter als dreißig. Vielleicht waren sie sogar noch jünger, aber Prügel, Psychoterror und andere Bestrafungen hatten sie schnell altern lassen.
Hannes ließ die Kette zu Boden fallen. "Keine Tikalak mehr."
Bei diesen Worten murmelten einige von ihnen durcheinander. Für die übrigen übersetzte der Junge. Auch sie begannen zu murmeln.
Der Mann, von dem die Fingerkette stammte, sprach erneut.
"Was sagt er?"
"Er will wissen, ob Sie den König besiegen werden. Ob Sie ihn töten können, damit er uns nicht mehr folgen kann."
"Ich habe schon viele Menschen getötet. Danach sind sie niemandem mehr gefolgt." Er griff in seine Uniforminnentasche und zog ein Päckchen Zigarillos hervor. "Raucht jemand?"
Sechs der Männer meldeten sich, weitere drei, nachdem sein Übersetzer seine Arbeit erledigt hatte. Hannes steckte jedem einen Zigarillo in den Mund und zündete ihn an. Genüsslich begannen die Männer zu rauchen. Einige von ihnen entspannten sich dabei so sehr, dass sie sich auf den Boden sinken ließen.
"Das ist sehr großzügig. Tabak gibt es nur selten vom König. Er ist seinen besten Kriegern vorbehalten. Oder jenen, die große Taten vollbringen. Die dürfen dann auch zu den Frauen."
"Hm." Hannes musterte seinen Übersetzer. "Magst du keine Zigaretten?"
"Nein. Ich rauche nicht, weil das Omonek darin gemischt sein könnte. Ich will nicht danach süchtig werden."
"Omonek?"
"Ein weißes Pulver. Der König teilt es vor der Schlacht aus für jene, die sich auszeichnen wollen, die ganz vorne gehen. Es macht sie stark und unbesiegbar. Wir haben viel Omonek verbraucht, seit die Hubschrauber so oft fliegen. Der König wollte unbedingt einen abschießen. Er wollte einen weißen Penis für sich."
"Drogen", sagte Axel auf Französisch. Damit mischte er sich das erste Mal in das Verhör ein.
Er hockte sich auf den Boden, griff in seine Jacke und zog ein Päckchen hervor. Es entpuppte sich als Schokolade von den Army Rangern. "Magst du das essen?"
"Was ist das?", fragte er misstrauisch.
Axel brach die Tafel auf und knickte sich ein Stück ab. "Süß", verkündete er. Das war natürlich gelogen, denn die Schokolade der Spezialstreitkräfte war so stark konzentriert, dass man nach einer Tafel drei Tage nicht mehr scheißen gehen konnte. Aber für einen Menschen wie den armen Burschen hier, der in einer Sekte, einer Drogenhölle gar seine Zeit verbracht hatte, war sie vielleicht süß genug. "Schokolade", fügte Axel an, als der Junge skeptisch blieb.
Das Wort schien wie ein Zauber zu sein. Alle Männer wurden aktiv, sogar jene, die bereits tiefenentspannt geraucht hatten.
Axel brach ein weiteres Stück ab und steckte es dem Übersetzer in den Mund. Der Junge aß das kleine Stück hastig. Dabei liefen ihm Tränen des Glücks über die Wangen. Von links und rechts redeten nun die Gefangenen auf ihn ein. Jeder wollte ein Stück Schokolade ergattern. Einer der Raucher war dabei so gierig, dass er das Zigarillo fallen ließ. Es kümmerte ihn nicht so sehr wie die Aussicht, Schokolade zu bekommen.
Geduldig brach Axel weitere Stücke ab und verabreichte sie den anderen Männern. Die Tafel war schnell alle, aber Austin ließ aus den Vorräten mehrere weitere Tafeln holen, mit denen Axel die Männer fütterte.
Axel sagte ernst: "Wisst Ihr was? Ich denke, Ihr dürft alle nach Hause gehen."
Diese Worte ließen die Männer erfreut aufraunen.
"Aber unser König muss dem zustimmen. Und ich denke, wenn Ihr uns alles erzählt, was Ihr erlebt habt, seit Ihr in Keounda City seid, dann wird das helfen, ihn gnädig zu stimmen."
Er erhob sich wieder. "Willst du anfangen?", fragte er den Jungen.
Der Bursche nickte, wenngleich eine gewisse Furcht in seinem Blick lag. Furcht, sich zu erinnern.
Axel wappnete sich vor dem, was er zu hören bekommen würde.
"Eins hätte ich vorher noch gerne gewusst", sagte Hannes. "Als Ihr euch in der Kanalisation versteckt habt... Warum habt Ihr das gemacht?"
"Weil wir gehofft haben, auf diese Weise frei zu werden, ist doch logisch", erwiderte der Junge verdutzt. "Keiner von uns wäre überhaupt noch in der Stadt, wenn er die Wahl gehabt hätte."
Nun hatte Axel erst Recht Bedenken vor dem, was ihm die Gefangenen erzählen würden. Nein, korrigierte er sich in Gedanken selbst: Die Deserteure.
***
Eine Stunde später kehrten die Männer nachdenklich und etwas bleich zu Scott zurück.
"Und? Was interessantes herausgefunden?", empfing sie der Captain der Ranger.
"Ja. Dass Sie trotz Waffenruhe noch immer nicht bei Doktor Herryhaus gewesen sind, Jason", sagte Axel. Ächzend setzte er sich neben den US-Offizier auf den Boden.
"Kaffee?", fragte Scott vorsichtig und deutete auf die über einem Esbit-Kocher köchelnde Instant-Mischung.
"Ich bin nicht sicher, ob ich heute noch was essen kann", seufzte Hannes und ließ sich ebenfalls zu Boden sinken.
"Ich für meinen Teil bin mir sehr sicher, dass ich heute nichts mehr essen werde", sagte Austin mit Grauen in der Stimme, als er sich setzte.
"So schlimm?"
"Jason, Sie haben keine Ahnung. Lassen Sie sich nachher von Jérome seine Leidensgeschichte erzählen, und Sie verstehen, was hier vor sich geht", sagte Axel. "Ich fasse das mal alles auf die Schnelle zusammen. Übrigens haben wir uns entschlossen, den Männern die Fußfesseln durchzuschneiden und die Hände nach vorne zu binden, damit sie selbst essen und trinken können."
Der Deutsche rieb sich mit beiden Händen über die Stirn und entblößte dabei den Ansatz zu Geheimratsecken. "Nennen wir sie Deserteure. Aber Opfer wäre wohl viel passender."
"Das ist zwar eine Zusammenfassung, aber eine etwas kurze", erwiderte Scott. "Was genau ist hier passiert? Was ist das da drüben? Wer regiert hier?"
"Oh, regieren ist schon das richtige Wort", kam es von Hannes. "Willst du, Axel?"
"Ja, ich übernehme das. Himmel, was würde ich jetzt für einen harten Klaren geben."
"Tut mir leid, Ranger haben nie Alkohol im Einsatz dabei. Nicht mal Alkohol zum desinfizieren."
"Schon klar. Moderne Desinfektionsmittel arbeiten ja auch effektiver", murmelte Axel.
"Eigentlich brennen wir alle Verwundungen aus", sagte der Captain trocken.
Entgeistert sahen die beiden Deutschen den Mann an, der aber nur lachte und eine abwehrende Handbewegung machte. "Nur ein Witz. Ich dachte, Ihr zwei könntet die Auflockerung gebrauchen."
"Also, als Ablenkung war es gut", sagte Hannes. "Aber es passt auch zur Erzählung des Jungen, den wir befragt haben."
"Ich glaube, ich fange besser mal an." Axel räusperte sich und machte eine allumfassende Handbewegung. "Zuerst einmal, alles hier, der kleine westliche Teil der ehemaligen Distrikthauptstadt Keounda Citys, und der weit größere Teil im Osten steht unter dem Kommando ihres Riki. Das ist so eine Art oberster Heerführer, König und Hohepriester in einem. Ihm unterstehen rund eintausend Leute, von denen er heute um die Hälfte eingebüßt haben dürfte. Neben den beiden Panzern und dem Panzerwagen hat er noch weitere Panzer, aber die sind defekt. Bei einigen funktionieren die Kanonen noch, also ist Vorsicht geboten. Dazu kommen ein paar Jeeps, und so ziemlich jedes Auto, das die ehemaligen Bewohner Keounda Citys zurückgelassen haben, als sie damals geflohen sind. Aber das nur am Rande. Das Wichtigste, was es in dieser Stadt gibt, ist wohl das Omonek. Ein weißes Pulver, das sie nehmen, um sich in einen Kampfrausch zu steigern. Den Symptomen nach handelt es sich wohl um LSD oder eine vergleichbare chemische Droge. Sie kriegen es von außen, genauso wie ihre Waffen." Axel seufzte. "Sie kriegen die Waffen von den Ndongoianern aus der Base de l'Air. Es gibt regelmäßige Kontakte zu ihnen, auf denen Waffen, Munition und technische Vorräte übergeben werden. Manchmal kriegen sie auch neue Rekruten oder Material für Tikalaks."
Austin ächzte, als dieses Wort fiel. Hannes verdrehte die Augen.
"Tikalaks sind diese Fetische, richtig?", riet Scott.
"Richtig. Sie töten die Menschen, schneiden ihnen die wichtigen Körperteile ab, trocknen sie und geben sie je nach Wert an die Untergebenen weiter, die sich bewiesen haben. Der geringste Tikalak ist ein Fetzen Leder aus Menschenhaut, der höchste ein Geschlechtsorgan. Dabei ist es egal, ob es ein Penis oder eine Klitoris ist." Axel schüttelte angewidert den Kopf. "Nur die wichtigsten und höchsten Krieger kriegen diese besonders begehrten Fetische. Siehst du also einen Penis mit vielen Penissen um den Hals, hast du einen hochrangigen Gefolgsmann des Riki vor dir. Nein, ich habe es bereits kontrollieren lassen. Viele der Toten tragen Finger, Ohren, Nasen und dergleichen, einige vereinzelt mal einen Penis. Aber keiner trägt mehrere."
"Das bedeutet dann wohl, dass der Riki und seine wichtigen Offiziere da drüben sind", sagte Scott. "Was uns zu einer wichtigen Frage bringt: Was tun sie hier?"
Axel zuckte die Schultern. "Leben."
"Wie, leben?"
Hannes grinste dünn. "Jetzt kommt der Geschichtsabriss."
"Richtig. Jason, was ich jetzt erzähle, ist nur die Zusammenfassung. Sie sollten unbedingt mit den Deserteuren reden, wenn Sie Zeit haben." Axel atmete langsam ein und musste husten. "Begonnen hat alles, als hier die Welt den Bach runterging. Als ganz Belongo ein wild um sich schießenden Tollhaus wurde. Keounda City als modernste Stadt im ganzen Umkreis war natürlich die bestgeschützte Stadt, und die Miliz behielt hier am längsten ihre Form, aber auch hier gab es Zerfallserscheinungen. Spätestens als Ndongo mit Luftangriffen begann und Teile von Ost-Keounda einäscherte, weil sie die Miliz als Teil des Aufstands identifiziert hatte. Die Stadt wurde schwer getroffen, und viele Menschen verließen sie aus Furcht vor den Bodentruppen, die Keounda City gefährlich nahe kamen. Danach brach hier natürlich jede Form der Ordnung zusammen. Ungefähr ein Jahr nach dem Beginn des Konflikts kam dann unser Riki hier vorbei, ein junger und gescheiterter Miliz-Offizier mit den Resten seines Kommandos. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, Keounda City zu retten, wie er es nannte, und er setzte sich mit seinen Leuten hier fest.
Als die Base de l'Air davon Wind bekam, bombardierten sie die Stadt erneut, aber sie konnten den Riki und seine Leute nicht vertreiben. Ein Bataillon, das den Auftrag bekam, die Stadt zu säubern, hatte bereits beim Anmarsch erhebliche Verluste durch weitere Reste der Miliz, den ersten entstehenden Privatarmeen der Warlords und Rebelleneinheiten. Als sie dann versuchten, sich in Keounda City festzusetzen, mussten sie feststellen, dass die Verteidiger das Gelände nicht nur sehr gut kannten, sondern es zu ihrem Vorteil verwenden konnten. Als sie halb aufgerieben waren, zogen sie sich wieder zurück.
Der Riki hatte gesiegt, aber er hatte viele Leute verloren. Die mussten ersetzt werden, deshalb rief er alle Männer in der Stadt zur Waffe. Außerdem schickte er Kommandos aus, die jeden Wehrfähigen im Umkreis der Stadt einfangen und herbringen sollte. Die Köpfe der toten Ndongoianer, soweit sie nicht mitgenommen hatten werden können, ließ er auf Spieße stecken und um die Stadt verteilen, die Körper in der Sonne verrotten, als Warnung an die anderen.
Natürlich sträubten sich die anderen Gruppen, Leute abzugeben oder selbst gezwungen zu werden, für den Riki zu kämpfen. Das erschwerte natürlich seine Anforderungen an die Stadtverteidigung. Aber es handelt sich beim Riki um einen gebildeten Offizier, der wusste, wie man unwillige Soldaten motiviert. Das MG war immer hinter ihnen platziert. Außerdem nutzte er ein eigenwilliges System von Belohnung und Bestrafung zur Motivation. Die Royal Navy aus der Zeit der napoleonischen Kriege hätte seine Freude an ihm gehabt. So brachte er seinen ersten Kader zur Räson. Die Ndongo'sche Armee versuchte es noch ein paarmal, scheiterte aber immer wieder. Was ihm diesmal tatsächlich einen gewissen Zulauf an Freiwilligen einbrachte.
Aber er marschierte nicht wie erhofft gegen die Base de l'Air, sondern beschränkte sich auf die Verteidigung Keounda Citys. Das gefiel vielen der Neuen nicht, und erneut hatte der Riki ein Disziplin-Problem. Er handelte harsch und mit Hilfe der Männer, die er sich gefügig gemacht hatte. Dutzende Männer starben einen grausamen Tod. Der Riki selbst schnitt ihnen Penis und Hoden ab und behielt sie als Trophäe.
Dies war ungefähr der Zeitpunkt, an dem er entdeckte, dass das Verhältnis von Männern zu Frauen doch recht unausgewogen war. Viele Frauen waren in den Konflikten und in der Stadt gestorben, während die Männer nicht in der Stadt gewesen waren, und der Riki hatte die Frauen seiner Leute, so sie denn noch lebten, meistens nicht mitgebracht. Also ersann er bei der Gelegenheit gleich eine neue Gesellschaftsform, basierend auf dem alten Gesellschaftsbild, nach der sein Stamm gelebt hat. Die Frauen verrichteten alle niederen Arbeiten, durften aber nur den Ranghöchsten zu Willen sein. Der Riki markierte diese Ranghöchsten mit den abgeschnittenen Genitalien. Also, hast du einen Penis um den Hals, darfst du den weiter unten benutzen. Ja, ich weiß, das war geschmacklos.
Jedenfalls geht es noch weiter. Der Riki begann mit seinen nunmehr gefügigen Truppen auch das Umland zu beherrschen und einen großen Bereich für sich zu beanspruchen. Das ging gut, bis er auf die ersten Grenzen stieß, die von den Warlords gezogen worden waren, die meistens von Gnaden der ndongoischen Armee ihren Teil Belongos beherrschten. Es gab einige Scharmützel, einige Überfälle. Hierbei erwarben sich seine Truppen einen grausigen Ruf, weil sie besiegten Gegnern - nicht unbedingt toten Gegnern - die Körperteile abschnitten, um sie als Schmuck zu tragen. Die Gegenangriffe waren natürlich besserer Wahnsinn in einem Gebiet, das die Verteidiger kannten und gut für sich zu nutzen wussten. Der Riki wurde mehr oder weniger zur größten Ratte im Bau, und das wusste er auch. Deshalb begann er von den Warlords Tribut für sein Wohlwollen zu fordern. Anfangs waren das Waffen, Munition und Nahrung. Später, als die Base de l'Air diesen Part übernommen hatte, waren es Menschen, die er forderte. Kindersoldaten, erwachsene Krieger, Frauen jeden Alters. Wer ihm nicht folgen wollte, wurde grausam gefoltert und getötet und diente als Quelle für weitere Tikalaks. Wer ihm folgte, musste sich auszeichnen, sich beweisen, sonst kam er niemals zu den Frauen und erhielt die schlechteren Teile der Nahrung.
Etwa zu diesem Zeitpunkt muss der damalige Général in der Base de l'Air de Belongo entdeckt haben, dass seine Interessen und die des Riki dieselben waren. Der Riki wollte seine Basis nicht mehr hergeben, und der Général wollte nicht, dass Ordnung in Belongo herrschte, geschweige denn freier Warenverkehr auf der alten Kontinentalstraße. Also näherte er sich den Riki vorsichtig an, mit ein paar Geschenken wie Gefangenen, die seine Leute gemacht hatten, einigen exotischeren Lebensmitteln, Munition, Waffen, alles in kleinen Dosen, um die Reaktionen seines Gegenübers abschätzen zu können. Siehe da, der Riki war verhandlungsbereit, und man vereinbarte, dass er bis ans Ende aller Tage über Keounda City herrschen sollte. Zu diesem Zweck wollte man ihn mit Waffen, Munition und Vorräten versorgen. Und mit der Herrschaft des Riki fiel die alte Distrikthauptstadt als Keimzelle einer neuen Ordnung in Belongo aus. Neben dem Interländerhandel, der so ausgeschaltet worden war - und mit ihm der Reichtum Belongos - fiel auch das Symbol des Bezirks. Und der Mann, der bewiesen hatte, dass man die ndongoische Armee abwehren konnte und ihre Luftangriffe nicht zu fürchten brauchte, machte es sich in seinem Nest bequem. Zusätzlich erhielt der Riki, um seine Leute besser kontrollieren zu können, das Omonek. Er machte sie süchtig und kontrollierte die Abgabe der Droge. Nun, nicht alle, aber eine bestimmte Schicht von Kriegern, die sich bewiesen hatten und sich weiter beweisen wollten. Also mindestens die, die Ohren oder Nasen um den Hals tragen. Ob er selbst süchtig ist weiß ich nicht. Wundern würde es mich nicht. Tja, und das ist der Status Quo in Keounda City. Wir sind wahrscheinlich die Ersten, die ihm richtig in den Arsch getreten haben, seit er die ndongoischen Einheiten aufgerieben hat, die ihn attackiert haben. Und jetzt gehört uns eine Seite der Stadt. Was ungefähr ein Drittel ausmacht von dem, was von der Stadt noch steht." Axel hielt dem Captain die Hand hin. "Jetzt hätte ich gerne einen Kaffee."
Scott nickte und schenkte einen Kochgeschirrdeckel mit Kaffee halbvoll. "Das ist also das ganze Geheimnis? Ndongo will nicht, dass wieder Ordnung in Belongo einzieht, weil das ihre Stellung und den Ölabbau gefährdet? Und dafür destabilisieren sie vor allem die Hauptstadt, die zufällig auf einer wichtigen Handelsroute erbaut worden ist?"
Hannes nickte. "Ja, das passt. Aber ein wichtiger Punkt kommt noch hinzu, von dem wir bisher nichts wussten. Wir..."
Hannes wurde unterbrochen, als ein lautes Signalhorn erklang. Das Geräusch erklang vom Fluss nördlich von ihnen.
Der KSK-Offizier grinste. "Da ist ja der wichtige Punkt schon."
***
Als die Offiziere die Strecke bis zum Besitzer des Horns bewältigt hatten, erwartete sie ein Flussboot, vielleicht dreißig Meter lang und gut beladen. Es waren Bewaffnete an Deck, die sich hinter provisorischen Barrikaden verschanzt hatten, die allerdings den Eindruck machten, des Öfteren aufgebaut worden zu sein. Der Kapitän verhandelte gerade lautstark mit Morelli und wies dabei immer wieder auf die Ostseite.
"Was gibt es hier, Mr. Morelli?"
Der Lieutenant deutete auf den großen Mann neben sich. "Sir, dies ist Mr. Akibo mit seiner Mannschaft und seinem Schiff Lugaba. Er ist ein Bridge-Breaker, wie er selbst sagt."
"Ein Bridge-Breaker?"
"Ja, Sir. Er hat gehört, das wir das rechte Ufer des Lagabandas erobert haben und bittet uns um Feuerschutz, wenn er die Blockade durchbricht. Normalerweise tut er dies nur bei Nacht, und nur zu bestimmten Zeiten in mondlosen Nächten. Aber mit unserer Unterstützung verspricht er sich, einen halben Tag zu sparen."
"Noch mal langsam und ganz von vorne, Morelli. Was?"
Der Lieutenant grinste. "Es gibt einen gewissen Warenhandel auf dem Fluss. Er wird allerdings von Keounda City und dem Bösen hier behindert. Die Diener des Bösen bringen die Schiffe auf, die hier zu passieren versuchen, und wenn sie es schaffen, ist es das Ende aller Menschen an Bord. Deshalb versuchen die Flussschiffer besonders trickreich, hier durch zu kommen und Keounda City so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Mr. Akibo sagt, er hätte die Stadt schon über fünfzig Mal passiert. Dies sei die schnellste Passage zum Elisabeth-See und verspricht großen Profit. Groß genug, um hier freiwillig vorbei zu fahren. Aber nur die Besten schaffen es. Viele waghalsige oder amateurhafte Kapitäne scheitern hier."
"Aha. Und er will uns anwerben, damit wir ihm Feuerunterstützung geben?", fragte Scott.
"Ja, Sir. Er befürchtet, wenn er am hellichten Tag die Brücken passiert, könnten die Diener des Bösen versuchen, auf die Brücken zu kommen und an Bord zu springen. Mit ein paar von ihnen werden seine Leute fertig, aber nicht mit Dutzenden."
Scott grinste hämisch. "Sagen Sie ihm, er kriegt seinen Feuerschutz. Und nein, er muss uns nichts bezahlen. Aber vielleicht fordern wir in naher Zukunft einen Gefallen von ihm ein."
Morelli nickte und begann dem Kapitän das Ergebnis auf Französisch mitzuteilen.
Der Mann wirkte hocherfreut, ging auf den Captain zu, und schüttelte ihm die Hand.
Scott erwiderte den Händedruck mit einem Lächeln.
"Sagen Sie Mr. Akibo, es würde uns freuen, wenn die Diener des Bösen auf die Brücken kommen würden. Er soll in zehn Minuten ablegen. Wir sorgen für seinen Feuerschutz."
Erneut drückte der Schwarze die Hand des Rangers. Er bedankte sich überschwenglich und beeilte sich, an Bord zu kommen.

Scott betätigte sein Funkgerät. "An alle von Ranger eins. Bereitmachen für Feuerschutz des Flussboots. Javelins klarmachen für Beschuss auf Panzer und Panzerwagen. Die Brücken werden besonders überwacht. Jeder Gegner, der sie betritt, ist zur Bekämpfung freigegeben. Wenn das Flussboot unbeschadet durchkommt, und das am hellichten Tag-", er sah nach oben und suchte die Sonne, "- ich meine in den letzten dreißig Minuten Sonnenschein, dann haben wir das Böse in dieser Stadt heute schon zweimal gedemütigt. Ranger eins aus."
Aus dem Funkgerät erklang mehrfaches Knacken, das entstand, wenn die Sende-Taste gedrückt wurde, aber niemand sprach. Die Army Ranger bestätigten die Befehle ihres vorgesetzten Offiziers.
"Jetzt wollen wir doch mal sehen, wer hier das Sagen hat: Der Riki, oder die US Army", erklärte Scott grimmig.
Axel war bei dem Gesicht, das Scott machte, froh, dass er bisher auf der guten Seite des Offiziers stand. Er musste ein furchtbarer Gegner sein.

Zehn Minuten später stieß das Boot wieder vom Ufer ab und nahm schnell Fahrt auf. Es hielt sich dabei möglichst eng am Westufer auf, das Sicherheit versprach. Noch bevor es zwanzig Meter in Richtung der Brücken gelaufen war, feuerte der erste Scharfschütze. Es blieb nicht dabei. Auf breiter Front eröffnete die Kompanie das Feuer. Ungeachtet der Gefahr liefen einige ihrer Gegner auf beide Brücken, zweifellos, um in die Position zu kommen, um auf das Schiff springen zu können. Die wütenden, von den Verlusten getriebenen Ranger ließen ihren Gegnern nicht wirklich eine Chance. Die ersten Diener des Riki, die über die Bodenwelle der Autobrücke stürmten, wurden von einem MG niedergemäht. Omonek hin oder her, das überlebte niemand.
Als einer der T-54 vorwitzig seine Nase aus dem Häusermeer steckte, um das Flussboot zu beschießen, zischte eine Javelin zu ihm herüber, während der zweite Mi-24D ebenfalls mit Dartraketen auf das gleiche Ziel schoss. Beides traf, und der Panzer wurde zerstört. Die Darts überzogen die Russenmaschine mit einem Dutzend Explosionen; die Javelin durchdrang die Panzerung und detonierte im Innern. Der Gefechtskopf und die eingelagerte Munition  verursachten bei ihrer Detonation eine solche Wucht, dass die Luken des Panzers aufgesprengt wurden und das Chassis selbst fast einen halben Meter von der Straße abhob, als die Bodenluke der Wanne nachgab.
Dann war der Spuk vorbei, und das Ergebnis war eine Menge verschossene Munition, ein abgeschossener T-54 und noch mehr tote Diener des Riki.
"So", sagte Captain Scott gutgelaunt, während er der Lugaba dabei zusah, wie sie die kleine Brücke passierte und unangefochten stromabwärts fuhr, "jetzt habe ich wirklich gute Laune. Dick, die Kompanie gehört Ihnen. Ich fliege zu Doktor Herryhaus raus und lasse mich behandeln."
Austin grinste. "Ja, Sir. Verlassen Sie sich auf mich, dass ich die Bande nicht über den Fluss lassen werde."
"Es reicht mir schon, wenn Sie nicht über den Fluss gehen, Dick", erwiderte Scott säuerlich. "Axel, begleiten Sie mich? Sie sind der einzige, der weiß, wie man mich stützen muss."
"Okay." Er griff zu seinem Funkgerät. "Niklas? Ich begleite Scott zurück zu Ldunga."
"Zurück zu Meike wolltest du doch sagen", erwiderte sein Bruder. Etwas an seinem Tonfall irritierte Axel, aber er konnte es nicht definieren.
"Ja, zurück zu Meike. Unser guter Captain will sich endlich behandeln lassen. Ich schicke dir Hannes zurück. Halt die Stellung, und versuche nicht, über den Fluss zu gehen."
"Noch nicht?", fragte Niklas hoffnungsvoll.
"Meinetwegen noch nicht", erwiderte Axel. "Ende und aus."
Gemeinsam mit Scott ging er in Richtung der Lichtung, die ihnen als Feldflughafen diente. Im Moment stand dort ein Black Hawk. Ihr Ticket raus aus der Scheiße. Obwohl Axel genau wusste, dass er sehr bald hierher zurückkehren würde. Und Scott sowieso. Mist. So waren sie halt.
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