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Blindgänger

von Mirfineth
Kurzbeschreibung
GeschichteRomance, Schmerz/Trost / P16 / Het
21.04.2011
11.01.2023
145
140.490
6
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Dieses Kapitel
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17.12.2022 1.021
 
Das Rumpsteak mit den Kartoffelecken und den grünen Bohnen sowie die Mousse au chocolat waren genauso köstlich, wie Jeremy es sich vorgestellt hatte. Während der letzten fünf Wochen schienen sogar seine Geschmacksnerven sensibler geworden zu sein, das Mittagessen wurde in seinem Mund zu einem viel intensiveren Erlebnis, und es bekümmerte ihn auch nicht mehr allzu sehr, essen zu müssen, ohne das Essen sehen zu können. Mrs Courteney kommentierte es mit keinem Wort, wenn er sich beim Aufpieksen der Kartoffelecken etwas ungeschickt anstellte, oder wenn ihm die Bohnen wieder von der Gabel herunterfielen, oder wenn er vorsichtig mit den Fingerspitzen nachfühlte, wo noch etwas auf seinem Teller lag.
Als Jeremy den gesamten Teller leergegessen sowie das Nachtischschälchen ausgelöffelt hatte, fühlte er sich behaglich und zufrieden. Auch die Nervosität und Angespanntheit aufgrund des morgigen Termins bei der TAB hatten glücklicherweise etwas nachgelassen. Jeremy wollte jetzt ohnehin nicht an die Zukunft denken, nicht an den morgigen Nachmittag, nicht an nächste Woche, an nächstes Jahr oder an einen Zeitpunkt irgendwann in zehn Jahren, sondern er wollte nur für die Gegenwart leben, sich immer nur auf die nächsten paar Minuten konzentrieren, womit er in seiner momentanen Situation eindeutig genug zu tun hatte. Nachdem Mrs Courteney das benutzte Geschirr und Besteck in die Spülmaschine geräumt hatte, wollte sie sich nämlich noch auf andere Art und Weise für Jeremy nützlich machen.
„Ich möchte Ihnen gerne dabei helfen, als blinder Mensch Ihr Haus sozusagen wiederzuentdecken“, sagte sie und nahm Jeremys Hände in ihre eigenen. „Lassen Sie mich gewähren und versuchen Sie einfach nur, sich alles so gut wie möglich zu merken.“
Anschließend führte sie Jeremy durch die Küche, durch das Wohnzimmer und durch jeden einzelnen Raum seines gesamten Hauses. Sie legte seine Hände auf die Möbel und die Einrichtungsgegenstände und erklärte ihm, wo sich was befand, teilweise schon ein wenig übertrieben fürsorglich, so als hielte sich Jeremy in einer völlig fremden Umgebung auf und habe die Räume dieses Hauses noch niemals zuvor mit seinen Augen gesehen.
Jeremys Aquarium, der Wohnzimmertisch mit acht Stühlen, der Fernseher, das Radio, mehrere Bücherregale, die an den Wänden hängenden eingerahmten Gemälde und Fotos, das ausklappbare Sofa, die Sofakissen, die beiden Sessel, eine hölzerne Truhe an der Wand, der Crosstrainer, mehrere Zimmerpflanzen in Vasen und Blumentöpfen, die kleine Kiste mit Fischfutter und anderem Zubehör für das Aquarium, der Aschenbecher, das Festnetztelefon, der Anrufbeantworter…
Jeremy zeichnete in seinem Kopf einen Lageplan seines gesamten Hauses mit allem Drum und Dran, so genau und detailliert, wie es ihm nur möglich war. Die Bilder in seiner Vorstellung waren sehr deutlich, weil er sein gesamtes Leben in diesem Haus verbracht hatte, weil er dieses Haus seit seiner Geburt als sehender Mensch kennengelernt hatte. Er bemühte sich darum, sich tief einzuprägen, wo er in seinem Haus welchen Gegenstand finden konnte, bis er sich sicher war, es fürs Erste nicht mehr zu vergessen.
Als Jeremy und Mrs Courteney ihren Rundgang beendet hatten, begann Mrs Courteney damit, den Wäschekorb auszuleeren und die Waschmaschine zu füllen, und Jeremy zog sich ins Wohnzimmer zurück. Er durchstöberte seine umfangreiche CD-Sammlung, entschied sich schließlich für eine CD mit relativ kitschiger Volksmusik, die früher einmal seinem Vater gehört hatte, legte sie in den CD-Player und schaltete ihn ein. Danach setzte er sich aufs Sofa und nahm sein Handy zur Hand, welches er zuvor aus seinem Schlafzimmer geholt hatte, zusammen mit dem Zettel, auf dem Damiens Handynummer zu lesen war.
Er stellte fest, dass Nicolas ihm eine Antwort-SMS geschrieben hatte und ihm mitteilte, er sei selbstverständlich dazu bereit, ihn, Jeremy, morgen um halb zwei abzuholen und zur Hauptgeschäftsstelle der TAB zu fahren. Jeremy brauche sich diesbezüglich keine Sorgen zu machen, er, Nicolas, freue sich, wenn er seinem besten Kumpel irgendwie helfen könne, in dieser unangenehmen neuen Lebenssituation…
Jeremy schrieb zurück und bedankte sich herzlich, dann strich er mit seinen Fingerspitzen über den Zettel mit Damiens Handynummer. Er hatte ganz spontan beschlossen, seinem ehemaligen Zimmergenossen aus dem Krankenhaus eine SMS zu schreiben und ihn zu fragen, wie es ihm seit gestern Mittag ergangen war. Er musste zugeben, dass er Damien wirklich sehr vermisste, und dass er seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus schon mehrere Male an Damien gedacht und sich gefragt hatte, wie Damien wohl in seine neue Existenz als behinderter Mensch gestartet war, zu Hause im Kreise seiner Familie, mit seiner Frau, seinen Kindern und der Speditionsfirma…
Er tippte die Nummer in sein Handy ein, speicherte Damien als Kontakt und schrieb ihm anschließend eine SMS.
HALLO DAMIEN. HIER IST JEREMY. WAS MACHST DU SO? WIE GEHT ES DIR? ALLES IN ORDNUNG?
Jeremy hätte überhaupt nicht damit gerechnet, dass Damien offenbar gerade in diesem Moment online gewesen war und Jeremys SMS sofort gelesen hatte, doch Damiens Antwort ließ nur wenige Minuten auf sich warten.
HALLO JEREMY, VIELEN DANK FÜR DEINE NACHRICHT! MIR GEHT ES GUT.
Jeremy hätte ihm das glauben können, doch ein untrügliches Bauchgefühl sagte ihm, dass Damien nicht ganz ehrlich zu ihm gewesen war. Er hatte den Eindruck, dass Damien etwas vor ihm verschwieg, und er wollte herausfinden, was es war.
MIR GEHT ES AUCH NICHT GUT!, schrieb Jeremy zurück.
DU HAST MICH TOTAL DURCHSCHAUT!, antwortete Damien und schickte ein zwinkerndes Smiley hinterher.
Na also!, dachte Jeremy. Ich wusste doch, dass Damien mir nicht die Wahrheit gesagt hat.
WARUM?, schrieb er. WAS IST PASSIERT?
MEINE PROTHESEN GEHEN MIR TOTAL AUF DEN SACK!, schrieb Damien. ICH BIN HEUTE ZWEIMAL FAST DIE TREPPE HERUNTERGEFALLEN UND UNZÄHLIGE MALE GESTOLPERT. ES IST WIRKLICH FÜRCHTERLICH!
DAS TUT MIR SEHR LEID, schrieb Jeremy. ABER ICH DENKE, WENN DU MORGEN FRÜH AUSGERUHT AUFWACHST, DANN SIEHT DIE WELT SCHON WIEDER GANZ ANDERS AUS.
FÜR DICH ABER NICHT!, schrieb Damien und schickte ein Smiley hinterher, das eine dunkle Sonnenbrille trug.
Bevor Jeremy irgendetwas darauf antworten konnte, schrieb Damien schon weiter.
ABER DA MÜSSEN WIR BEIDE JETZT WOHL DURCH. DAS IST NUN EINMAL SO UND LÄSST SICH NICHT ÄNDERN. JAMMERN UND KLAGEN BRINGT NICHT VIEL.
DU HAST RECHT, schrieb Jeremy. WIR MÜSSEN TAPFER SEIN.
Damien schickte nur zwei zufrieden lächelnde Smileys, schrieb aber ansonsten nichts dazu.
BIS SPÄTER, schrieb Jeremy. ICH WÜNSCHE DIR NOCH EINEN SCHÖNEN NACHMITTAG. VIELE GRÜßE AN AURÉLIE UND EURE KINDER.
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