Blindgänger
von Mirfineth
Kurzbeschreibung
Jeremy Stinger, 31 Jahre, ist die Hauptperson dieser Geschichte. Er hat von seinen verstorbenen Eltern reich geerbt und bewohnt ganz allein eine Villa am Rand irgendeiner Metropole in den USA. Er hat eine Abneigung gegenüber behinderten Menschen, weil er sich selbst, an Leib und Seele gesund, für etwas Besseres hält. Ohne für seinen Lebensunterhalt arbeiten zu müssen, lebt er sorglos in den Tag hinein und beschäftigt sich hauptsächlich mit Partys, Alkohol, Drogen und Sex... bis zu dieser einen bestimmten Nacht im Juni, als plötzlich ein seltsam grün funkelndes Objekt über Jeremys Vorgarten schwebt. Ein echtes UFO! ... ... ... Was ist dann passiert? Auf welche Art und Weise hat das Schicksal Jeremys bisheriges Leben zunichte gemacht? Wie lernte Jeremy seine große Liebe kennen? Und ist es wirklich zu spät, um noch einmal von vorne anzufangen? Das könnt ihr hier lesen. :-D (Jeremys Meinung über behinderte Menschen ist übrigens, das sei ganz deutlich gesagt, NICHT meine eigene Meinung.)
GeschichteRomance, Schmerz/Trost / P16 / Het
21.04.2011
11.01.2023
145
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6
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26.11.2022
963
Mrs Lomsdearn am anderen Ende der Leitung holte tief Luft.
„Sind Sie denn ein Notfall?“
Jeremy runzelte die Stirn, obwohl Mrs Lomsdearn das durch das Telefon hindurch natürlich nicht sehen konnte.
„Was verstehen Sie unter Notfall?“
„Als Notfall“, erklärte Mrs Lomsdearn, „bezeichnen wir es, wenn ein Mensch innerhalb von sehr kurzer Zeit, beispielsweise von einem Tag auf den anderen, den größten Teil seines Augenlichts verliert, oder sogar das Augenlicht komplett verliert.“
Jeremy seufzte.
„Okay, wenn Sie ‚Notfall‘ so definieren, dann bin ich ein Notfall. Eindeutig.“
„Wann sind Sie denn erblindet?“, erkundigte sich Mrs Lomsdearn.
Jeremy rechnete nach, überlegte.
„Am sechzehnten Juni. Vor etwas mehr als einem Monat. Ich habe bis gestern im Krankenhaus gelegen.“
Und weil Jeremy schon mehr oder weniger ahnte, was wohl die nächste Frage von Mrs Lomsdearn sein würde, fügte er noch hinzu:
„Ich habe explodierte Feuerwerkskörper ins Gesicht bekommen.“
„Oh, das tut mir leid!“, erwiderte Mrs Lomsdearn betroffen. „Ich kann mir ansatzweise vorstellen, wie Ihnen jetzt zumute sein muss… Ich kann Sie gerne sofort in unsere Klientenkartei aufnehmen. Sind Sie damit einverstanden?“
„Ja“, antwortete Jeremy. „Deswegen habe ich Sie doch angerufen.“
Er hörte, wie am anderen Ende der Leitung etwas auf einer Computertastatur eingetippt wurde. Dann fragte Mrs Lomsdearn:
„Wie ist denn bitte Ihr Name?“
Erst in diesem Moment wurde sich Jeremy dessen bewusst, dass er vor lauter Nervosität und Aufregung völlig vergessen hatte, am Anfang des Gesprächs seinen Namen zu nennen. Er schüttelte kurz den Kopf über sich selbst.
„Jeremy Stinger. S – T – I – N – G – E – R.“
„Vielen Dank. Ihr Geburtsdatum bitte, Mr Stinger.“
„19. Mai 1980.“
„Und was machen Sie beruflich? Beziehungsweise, was haben Sie vor dem sechzehnten Juni beruflich gemacht?“
„Weiß ich nicht…“, murmelte Jeremy unbehaglich. „Ich hab keinen Beruf. Ich hatte noch nie einen Beruf. Ich…“
Mrs Lomsdearn unterbrach ihn.
„Sind Sie bei der Agentur für Arbeit als arbeitslos registriert?“
„Nein…“
Jeremy schämte sich ein bisschen, genauso wie es ihm im Krankenhaus auch unangenehm gewesen war, wenn Nicolas, Matthew und Damien miteinander über ihre berufliche Situation gesprochen hatten und er, Jeremy, bei solchen Gesprächen stets irgendwie außen vor gewesen war.
„Meine Eltern sind vor drei Jahren gestorben und seitdem habe ich von dem beachtlichen Vermögen gelebt, welches sie mir hinterlassen haben. Ich habe noch nie selbst für meinen Lebensunterhalt gearbeitet.“
Nun war es an Mrs Lomsdearn zu seufzen.
„Haben Sie denn wenigstens eine abgeschlossene Ausbildung, ein Studium, irgendeinen Beruf erlernt?“
„Ich denke schon“, sagte Jeremy. „Ich hab BWL und Wirtschaftsmathematik studiert. Und ich habe dieses Studium auch abgeschlossen. Mit ziemlich guten Noten.“
„Na, immerhin, darauf lässt sich aufbauen“, meinte Mrs Lomsdearn freundlich. Anschließend sollte Jeremy ihr noch seine Adresse und Telefonnummer nennen, bevor sie in einem geschäftigen Tonfall verkündete:
„Sie haben wirklich großes Glück im Unglück, Mr Stinger. Momentan haben wir ausreichend Personal zur Verfügung und auch nicht übermäßig viele Klienten, sodass ich Ihnen schon für morgen Nachmittag einen Termin geben kann. Kommen Sie bitte um vierzehn Uhr in unsere Hauptgeschäftsstelle und melden Sie sich am Empfang. Sie werden dann mit Miss Alice Moorcer bekannt gemacht, die bei unserer Organisation als Rehabilitationslehrerin für Orientierung und Mobilität sowie für Lebenspraktische Fertigkeiten arbeitet. Die genauen Inhalte, die zeitliche Dauer und die Häufigkeit Ihres blindenspezifischen Unterrichts besprechen Sie dann mit Miss Moorcer persönlich. Sagen Sie mir zu guter Letzt bitte noch, in welchem Krankenhaus Sie bis gestern waren, damit ich das Krankenhaus kontaktieren und einen augenärztlichen Befund von Ihrem behandelnden Arzt anfordern kann.“
„Im St.-Charles-Hospital“, antwortete Jeremy.
Er glaubte zu träumen. Mit seiner freien linken Hand, die nicht das Handy hielt, kniff er sich heftig in den linken Oberschenkel. Doch da er nicht aufwachte, musste es sich bei dem, was Mrs Lomsdearn soeben zu ihm gesagt hatte, wohl um die Realität handeln.
Er brauchte nicht wochenlang darauf zu warten, dass ihm in seiner elenden Situation endlich geholfen würde, sondern er durfte sich bereits morgen Nachmittag auf den Weg zur TAB machen und diejenige Frau kennenlernen, die nun dafür zuständig war, sein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Die ihm alles zeigen und erklären würde, was er brauchte, um sich seinen Platz in der Gesellschaft zurückzuerobern, auch ohne Augenlicht, auch ohne je wieder etwas sehen zu können…
Es war anscheinend nicht das Ende der Welt, blind zu sein, so lange es solche Organisationen wie die TAB gab…
„Alles klar“, sagte Mrs Lomsdearn. „Wenn Sie keine weiteren Fragen mehr haben, dann würde ich mich jetzt fürs Erste wieder von Ihnen verabschieden. Bis morgen, Mr Stinger. Wir werden Ihnen helfen, auch als blinder Mensch weiterhin mit Ihrem Leben zurechtzukommen. Wir werden Sie wieder auf die Füße stellen. Ich verspreche Ihnen, alles wird gut. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“
Ist diese Frau mit Damien verwandt, oder was?, dachte Jeremy leicht amüsiert.
„Gleichfalls“, sagte er. „Bis morgen. Tschüss.“
Dann legte er auf.
Er blieb noch eine Weile lang mit seinem ausgeschalteten Handy in der Hand auf seiner Bettkante sitzen und versuchte zu verinnerlichen, was sich soeben ereignet hatte. Immer noch – oder schon wieder? – war er furchtbar nervös und angespannt angesichts der vielen bahnbrechenden Veränderungen, die ihm und seiner gesamten Lebenssituation nun bevorstanden, aber er wusste genau, dass ihm dabei niemand etwas Böses wollte. Die Mitarbeiter der TAB und vor allem diese Miss Alice Moorcer waren ihm bestimmt sehr wohlgesonnen und würden sich nach Kräften bemühen, wieder einen selbstbewussten, glücklichen und zufriedenen Menschen aus ihm zu machen. Einen Menschen, der Freude an seinem Leben hatte, trotz der schwarzen Dunkelheit um ihn herum…
Gab es nicht für alles eine Lösung, für alle noch so grausamen Widrigkeiten des Schicksals, lohnte es sich nicht doch immer wieder aufs Neue, weiterzumachen und sich nicht entmutigen zu lassen, auch wenn man gerade beim besten Willen keinen Ausweg erkennen konnte?
Plötzlich musste Jeremy lächeln und hatte das Gefühl, zum zweiten Mal erwachsen zu werden.
„Sind Sie denn ein Notfall?“
Jeremy runzelte die Stirn, obwohl Mrs Lomsdearn das durch das Telefon hindurch natürlich nicht sehen konnte.
„Was verstehen Sie unter Notfall?“
„Als Notfall“, erklärte Mrs Lomsdearn, „bezeichnen wir es, wenn ein Mensch innerhalb von sehr kurzer Zeit, beispielsweise von einem Tag auf den anderen, den größten Teil seines Augenlichts verliert, oder sogar das Augenlicht komplett verliert.“
Jeremy seufzte.
„Okay, wenn Sie ‚Notfall‘ so definieren, dann bin ich ein Notfall. Eindeutig.“
„Wann sind Sie denn erblindet?“, erkundigte sich Mrs Lomsdearn.
Jeremy rechnete nach, überlegte.
„Am sechzehnten Juni. Vor etwas mehr als einem Monat. Ich habe bis gestern im Krankenhaus gelegen.“
Und weil Jeremy schon mehr oder weniger ahnte, was wohl die nächste Frage von Mrs Lomsdearn sein würde, fügte er noch hinzu:
„Ich habe explodierte Feuerwerkskörper ins Gesicht bekommen.“
„Oh, das tut mir leid!“, erwiderte Mrs Lomsdearn betroffen. „Ich kann mir ansatzweise vorstellen, wie Ihnen jetzt zumute sein muss… Ich kann Sie gerne sofort in unsere Klientenkartei aufnehmen. Sind Sie damit einverstanden?“
„Ja“, antwortete Jeremy. „Deswegen habe ich Sie doch angerufen.“
Er hörte, wie am anderen Ende der Leitung etwas auf einer Computertastatur eingetippt wurde. Dann fragte Mrs Lomsdearn:
„Wie ist denn bitte Ihr Name?“
Erst in diesem Moment wurde sich Jeremy dessen bewusst, dass er vor lauter Nervosität und Aufregung völlig vergessen hatte, am Anfang des Gesprächs seinen Namen zu nennen. Er schüttelte kurz den Kopf über sich selbst.
„Jeremy Stinger. S – T – I – N – G – E – R.“
„Vielen Dank. Ihr Geburtsdatum bitte, Mr Stinger.“
„19. Mai 1980.“
„Und was machen Sie beruflich? Beziehungsweise, was haben Sie vor dem sechzehnten Juni beruflich gemacht?“
„Weiß ich nicht…“, murmelte Jeremy unbehaglich. „Ich hab keinen Beruf. Ich hatte noch nie einen Beruf. Ich…“
Mrs Lomsdearn unterbrach ihn.
„Sind Sie bei der Agentur für Arbeit als arbeitslos registriert?“
„Nein…“
Jeremy schämte sich ein bisschen, genauso wie es ihm im Krankenhaus auch unangenehm gewesen war, wenn Nicolas, Matthew und Damien miteinander über ihre berufliche Situation gesprochen hatten und er, Jeremy, bei solchen Gesprächen stets irgendwie außen vor gewesen war.
„Meine Eltern sind vor drei Jahren gestorben und seitdem habe ich von dem beachtlichen Vermögen gelebt, welches sie mir hinterlassen haben. Ich habe noch nie selbst für meinen Lebensunterhalt gearbeitet.“
Nun war es an Mrs Lomsdearn zu seufzen.
„Haben Sie denn wenigstens eine abgeschlossene Ausbildung, ein Studium, irgendeinen Beruf erlernt?“
„Ich denke schon“, sagte Jeremy. „Ich hab BWL und Wirtschaftsmathematik studiert. Und ich habe dieses Studium auch abgeschlossen. Mit ziemlich guten Noten.“
„Na, immerhin, darauf lässt sich aufbauen“, meinte Mrs Lomsdearn freundlich. Anschließend sollte Jeremy ihr noch seine Adresse und Telefonnummer nennen, bevor sie in einem geschäftigen Tonfall verkündete:
„Sie haben wirklich großes Glück im Unglück, Mr Stinger. Momentan haben wir ausreichend Personal zur Verfügung und auch nicht übermäßig viele Klienten, sodass ich Ihnen schon für morgen Nachmittag einen Termin geben kann. Kommen Sie bitte um vierzehn Uhr in unsere Hauptgeschäftsstelle und melden Sie sich am Empfang. Sie werden dann mit Miss Alice Moorcer bekannt gemacht, die bei unserer Organisation als Rehabilitationslehrerin für Orientierung und Mobilität sowie für Lebenspraktische Fertigkeiten arbeitet. Die genauen Inhalte, die zeitliche Dauer und die Häufigkeit Ihres blindenspezifischen Unterrichts besprechen Sie dann mit Miss Moorcer persönlich. Sagen Sie mir zu guter Letzt bitte noch, in welchem Krankenhaus Sie bis gestern waren, damit ich das Krankenhaus kontaktieren und einen augenärztlichen Befund von Ihrem behandelnden Arzt anfordern kann.“
„Im St.-Charles-Hospital“, antwortete Jeremy.
Er glaubte zu träumen. Mit seiner freien linken Hand, die nicht das Handy hielt, kniff er sich heftig in den linken Oberschenkel. Doch da er nicht aufwachte, musste es sich bei dem, was Mrs Lomsdearn soeben zu ihm gesagt hatte, wohl um die Realität handeln.
Er brauchte nicht wochenlang darauf zu warten, dass ihm in seiner elenden Situation endlich geholfen würde, sondern er durfte sich bereits morgen Nachmittag auf den Weg zur TAB machen und diejenige Frau kennenlernen, die nun dafür zuständig war, sein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Die ihm alles zeigen und erklären würde, was er brauchte, um sich seinen Platz in der Gesellschaft zurückzuerobern, auch ohne Augenlicht, auch ohne je wieder etwas sehen zu können…
Es war anscheinend nicht das Ende der Welt, blind zu sein, so lange es solche Organisationen wie die TAB gab…
„Alles klar“, sagte Mrs Lomsdearn. „Wenn Sie keine weiteren Fragen mehr haben, dann würde ich mich jetzt fürs Erste wieder von Ihnen verabschieden. Bis morgen, Mr Stinger. Wir werden Ihnen helfen, auch als blinder Mensch weiterhin mit Ihrem Leben zurechtzukommen. Wir werden Sie wieder auf die Füße stellen. Ich verspreche Ihnen, alles wird gut. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“
Ist diese Frau mit Damien verwandt, oder was?, dachte Jeremy leicht amüsiert.
„Gleichfalls“, sagte er. „Bis morgen. Tschüss.“
Dann legte er auf.
Er blieb noch eine Weile lang mit seinem ausgeschalteten Handy in der Hand auf seiner Bettkante sitzen und versuchte zu verinnerlichen, was sich soeben ereignet hatte. Immer noch – oder schon wieder? – war er furchtbar nervös und angespannt angesichts der vielen bahnbrechenden Veränderungen, die ihm und seiner gesamten Lebenssituation nun bevorstanden, aber er wusste genau, dass ihm dabei niemand etwas Böses wollte. Die Mitarbeiter der TAB und vor allem diese Miss Alice Moorcer waren ihm bestimmt sehr wohlgesonnen und würden sich nach Kräften bemühen, wieder einen selbstbewussten, glücklichen und zufriedenen Menschen aus ihm zu machen. Einen Menschen, der Freude an seinem Leben hatte, trotz der schwarzen Dunkelheit um ihn herum…
Gab es nicht für alles eine Lösung, für alle noch so grausamen Widrigkeiten des Schicksals, lohnte es sich nicht doch immer wieder aufs Neue, weiterzumachen und sich nicht entmutigen zu lassen, auch wenn man gerade beim besten Willen keinen Ausweg erkennen konnte?
Plötzlich musste Jeremy lächeln und hatte das Gefühl, zum zweiten Mal erwachsen zu werden.