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Blindgänger

von Mirfineth
Kurzbeschreibung
GeschichteRomance, Schmerz/Trost / P16 / Het
21.04.2011
11.01.2023
145
140.490
6
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Dieses Kapitel
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16.10.2022 1.135
 
Jeremy schaltete sein Handy ein und schrieb zweimal dieselbe SMS, einmal an Nicolas und einmal an Matthew.
GUTEN MORGEN. HIER IST ALLES IN ORDNUNG. MACH DIR KEINE SORGEN UM MICH. MIR GEHT ES GUT. ICH WERDE JETZT DUSCHEN UND FRÜHSTÜCKEN.
Er wollte das Handy gerade wieder ausschalten, als ihm plötzlich etwas einfiel.
Er hatte sich immer noch nicht bei Linda für die Blindenarmbanduhr bedankt. Nachdem er gestern Mittag im Beisein von Nicolas, Matthew und Mrs Courteney die Uhr ausgepackt und bewundert hatte, hatte er sich vorgenommen, Linda am Abend desselben Tages anzurufen oder ihr eine SMS zu schreiben, um sich für die Uhr zu bedanken. Doch das hatte er nicht getan. Er hatte es einfach vergessen, was wohl damit zusammenhing, dass er gestern Abend für seine Verhältnisse enorm früh zu Bett gegangen war…
Er suchte in der Liste der Kontakte in seinem Handy nach Lindas Nummer. Ein nicht unerheblicher Teil seines Verstandes rechnete damit, dass er Lindas Nummer überhaupt nicht mehr gespeichert hatte; zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, wann er Linda zum letzten Mal eine SMS geschrieben hatte. Doch zu seinem größten Erstaunen fand er in der Liste der Kontakte tatsächlich eine Handynummer von Linda – zwar konnte er sich nicht hundertprozentig sicher sein, dass es sich wirklich um Lindas aktuelle Handynummer handelte und sie nicht in der Zwischenzeit schon längst ihre Nummer gewechselt hatte, doch einen Versuch war es auf jeden Fall wert.
GUTEN MORGEN, MEINE LIEBLINGSCOUSINE. *GRINS* VIELEN HERZLICHEN DANK FÜR DAS PÄCKCHEN MIT DER BLINDENARMBANDUHR, DAS MRS COURTENEY MIR GESTERN ÜBERREICHT HAT. DIE UHR IST SEHR NÜTZLICH UND GEFÄLLT MIR SEHR GUT. ICH BIN JETZT WIEDER ZU HAUSE UND VERSUCHE MEIN LEBEN ZU SORTIEREN. WÜNSCH MIR DABEI VIEL GLÜCK.
Er atmete tief durch und schickte die SMS ab. Hoffentlich würde die SMS Linda erreichen, hoffentlich würde sie sich darüber freuen und ihm zurückschreiben. Aber diesbezüglich würde er sich wohl noch eine Weile gedulden müssen.
Er beschloss, sich jetzt frische Kleidung aus dem Kleiderschrank zu holen und sich anschließend ins Badezimmer zu begeben, um zu duschen und sich zu rasieren.
Dabei stieß er plötzlich mit seinem rechten Fuß gegen irgendetwas, das auf dem Teppichboden neben seinem Nachtschränkchen lag.
Jeremy bückte sich und betastete den Gegenstand, den er gefunden hatte. Er brauchte nicht besonders lange, um herauszufinden, was es war. Es handelte sich um sein Portemonnaie, das er in seinem Schlafzimmer zurückgelassen hatte, als er damals vor fünf Wochen mitten in der Nacht aus dem Haus gerannt war, um das UFO zu fotografieren. Wahrscheinlich war das Portemonnaie versehentlich vom Nachtschränkchen heruntergefallen, als Nicolas hier gewesen war und sich das Geld herausgenommen hatte, welches Jeremy ihm noch für das Zyankali schuldete.
Jeremy legte das Portemonnaie sowie sein Handy zu den anderen Utensilien auf sein Nachtschränkchen, dann ging er langsam hinüber zum Kleiderschrank und suchte nach geeigneter Kleidung, die er heute anziehen könnte.
Er hatte nicht vor, heute das Haus zu verlassen. Als Blinder konnte er ohnehin nicht mehr Autofahren, und er hatte auch nicht wirklich Lust darauf, sich von Nicolas oder Matthew abholen und in die Innenstadt fahren zu lassen und dort an irgendwelchen Partys, Sportveranstaltungen oder Kinovorführungen teilzunehmen. Solche Aktivitäten mussten wohl oder übel warten, bis er dazu in der Lage war, sich als Blinder selbstständig in der Öffentlichkeit zu orientieren, mit einem Blindenstock umzugehen und mit einer einigermaßen schlagfertigen Antwort zu reagieren, wenn unhöfliche Mitmenschen eine blöde Bemerkung über seine Blindheit machten…
Jeremy seufzte und ergriff ein dunkelblaues T-Shirt, auf dem ein neongrünes Krokodil abgebildet war, eine knielange Hose aus Jeansstoff und eine Unterhose. Auf Socken und ein Unterhemd konnte er im Hochsommer natürlich verzichten.
Immer noch fühlte er sich unternehmungslustig und energiegeladen, auch wenn er sich hin und wieder am Kleiderschrank festhalten musste, weil er das Gefühl hatte, dass sich die schwarze Dunkelheit um ihn herum immerzu im Kreis drehte. Er war kein Versager. Er war kein Feigling. Niemals. Er wollte es schaffen, ohne fremde Hilfe in seinem eigenen Haus zurechtzukommen, obwohl er nichts mehr sehen konnte…
Aber als er schließlich und endlich in seinem Badezimmer stand, sein Geschäft auf der Toilette verrichtet hatte und sich nun zum Duschen bereitmachen wollte, verließ ihn der Mut. Er musste sich jetzt alles zusammensuchen, was er zum Duschen brauchte. Einen Waschlappen, ein Handtuch, Duschgel, Shampoo, vielleicht einen Fön. Er spürte, wie er mehr und mehr nervös wurde, und das schien seine gesamten Gedanken zu verlangsamen. Er hatte den Eindruck, dass jedes Mal, wenn er einatmete oder wenn er den Mund öffnete, etwas von der Finsternis um ihn herum in ihn hineinkroch und ihn von innen her lähmte und blockierte. Er versuchte sich fieberhaft daran zu erinnern, wo in seinem Badezimmer das Duschgel stand, und das Shampoo, und die ganzen anderen Sachen… doch er schaffte es nicht. In seinem Kopf war alles schwarz und dunkel, und je mehr er sich bemühte, sich in Gedanken sein eigenes Badezimmer vorzustellen, desto weniger gelang es ihm.
Zitternd setzte er sich auf den Toilettendeckel und senkte den Kopf.
„Ich will nicht, dass es weitergeht…“, flüsterte er verzweifelt. „Ich bin ganz kaputt, ich wünschte, ich wäre so tot wie meine zerstörten Augen…“
Warum musste ausgerechnet er blind sein? Schwarz. Schwarz. Schwarz. Er war ganz allein in diesem großen unsichtbaren Haus – hier konnte er nicht problemlos nach einer Krankenschwester klingeln oder seinen Zimmergenossen ansprechen, wenn er aufgrund seiner Blindheit Hilfe brauchte. Hier musste er ganz auf sich allein gestellt zurechtkommen. Aber das war so verdammt anstrengend…
Nein. Hier bei sich zu Hause konnte er natürlich nicht seinen Zimmergenossen um Hilfe bitten. Aber was würde Damien jetzt wohl zu ihm sagen, wenn er hier wäre?
Das Leben geht immer weiter, egal ob wir wollen oder nicht, selbst nach dem allerschlimmsten Schicksalsschlag!, sagte Damiens Stimme in Jeremys Kopf.
Wenn wir anfangen, darüber nachzudenken und uns darüber zu grämen, was wir verloren haben, dann ist es wirklich kaum auszuhalten. Also dürfen wir nicht darüber nachdenken und uns erst recht nicht darüber grämen. Du musst die Zähne zusammenbeißen, Jeremy. Du darfst dich nicht in einer Ecke verstecken und dir selber leid tun. Dafür ist dein Leben viel zu kostbar und wertvoll. Obwohl du nichts mehr sehen kannst.
Ja. So etwas würde Damien jetzt zu ihm sagen, wenn er hier wäre…
Jeremy atmete ein paar Mal tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Keine Panik. Du schaffst das. Du kannst dich in deinem eigenen Badezimmer zurechtfinden, und du kannst dich alleine duschen. Auch ohne Augenlicht.
Stück für Stück löste sich die Blockade in seinem Kopf wieder, und er sah in Gedanken sein Badezimmer vor sich, so wie er es früher mit seinen Augen gesehen hatte. Er konnte sich wieder daran erinnern, wo hier in diesem Zimmer was war, und nach einer Weile erhob er sich vom Toilettendeckel und tastete auf einem niedrigen Regal an der Wand links von ihm nach Duschgel und Shampoo.
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