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Blindgänger

von Mirfineth
Kurzbeschreibung
GeschichteRomance, Schmerz/Trost / P16 / Het
21.04.2011
11.01.2023
145
140.490
6
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Dieses Kapitel
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29.01.2022 1.092
 
In dieser Nacht schlief Jeremy also zum ersten Mal seit knapp fünf Wochen wieder in seinem eigenen Haus, in seinem eigenen Schlafzimmer, in seinem eigenen Bett.
Einerseits wurde er wehmütig bei dem Gedanken, dass er als Blinder aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Keine Operation und keine ärztliche Behandlung hatte ihm sein Augenlicht zurückgeben können. Die Fähigkeiten des Krankenhauspersonals hatten ihre Grenzen erreicht. Wenn er weiterleben wollte, dann musste er von nun an zu Hause lernen, mit seiner Blindheit zurechtzukommen. Das Krankenhauspersonal hatte nichts mehr für ihn tun können, und er fühlte sich sehr unglücklich und verzweifelt, als er sich dieser Machtlosigkeit gegenüber dem unbarmherzigen Schicksal bewusst wurde.
Aber andererseits war es auch gut, sehr gut sogar, endlich wieder zu Hause zu sein. Sein Kopfkissen und seine Bettdecke fühlten sich genauso an wie früher, so als sei sein Krankenhausaufenthalt nur ein undeutlicher, seltsamer Traum, und in Wirklichkeit sei er nie fort gewesen. Jedoch kam es ihm gleichzeitig so vor, als sei eine halbe Ewigkeit vergangen, seitdem er zum letzten Mal in diesem Bett gelegen hatte, damals in jener schicksalshaften Nacht, die sein gesamtes Leben auf einen Schlag verändert hatte, die Nacht, in der das UFO in seinem Vorgarten erschienen und explodiert war.
Es war sehr beruhigend, in einem Zimmer zu sein, das er kannte und in dem er genau wusste, wo was war, im Gegensatz zu den fremden Krankenhauszimmern, die er niemals zuvor mit seinen Augen gesehen hatte. Während er langsam und sanft in den Schlaf hinüberglitt, wanderte er in Gedanken durch sein ganzes Schlafzimmer und versuchte sich an alles zu erinnern, was es dort gab, an jeden Gegenstand, an jedes Möbelstück, an jede Farbe, an jedes noch so kleine Detail.
Ich kann von Glück sagen, dass ich nicht blind geboren bin, dachte er. Wenn ich noch nie in meinem gesamten bisherigen Leben mit meinen Augen gesehen hätte, dann wären die Bilder in meinem Kopf bestimmt viel undeutlicher. Ich hätte mir nur mit meinen Ohren, meinen Händen und meiner Nase erarbeiten müssen, wie mein Haus eingerichtet ist und was es hier drin alles gibt und wie überhaupt die ganze Welt funktioniert. Ich weiß, wie die einzelnen Gegenstände aussehen und wozu sie gut sind und was man damit machen kann. Für jemanden, der von Geburt an blind ist, muss das wesentlich anstrengender sein, weil er sich das alles nicht so realistisch vorstellen kann. Ich bin sehr dankbar für die einunddreißig Jahre, in denen ich mit meinen Augen sehen konnte. Das, was ich in dieser Zeit alles gesehen habe, sollte ausreichen, damit ich die nächsten einunddreißig Jahre lang davon zehren kann…
Nun hatte der Schlaf Jeremy endgültig übermannt. Er träumte zwar nicht von Xerenade, aber dafür von einer ganzen Menge lustiger, amüsanter, erheiternder Begebenheiten:
Das Foyer eines Kinos, in dem die Popcornmaschine plötzlich explodierte und das Popcorn literweise den gesamten Fußboden bedeckte und für ein heilloses Durcheinander sorgte.
Ein Linienbus, der an der Bushaltestelle in der Nähe von Jeremys Haus hielt. Jeremy stieg ein und stellte fest, dass sämtliche Fahrgäste, einschließlich des Busfahrers, splitterfasernackt waren.
Linda kümmerte sich in ihrer Tierarztpraxis um ein Pferd, das unter einem lang andauernden Anfall von Schluckauf litt und deswegen jeden Reiter immer wieder abwarf.
Nicolas und Matthew füllten einen ganzen Eimer mit Monopoly-Spielgeld und schütteten es Jeremy von hinten über den Kopf, während er am Küchentisch saß und frühstückte.
Die Speditionsfirma der Familie Griseau. Jean-Pierre machte einen Handstand auf einem Gabelstapler und streckte Celestina, die ihn dabei beobachtete, neckisch die Zunge raus.
„Ich finde es wirklich sehr schlimm für dich, dass du bei diesem Zugunglück deine Unterschenkel verloren hast“, sagte Damiens ältere Schwester zu Damien. „Das tut mir von Herzen leid. Darfst du denn trotzdem weiterhin alles essen?“
Jeremy kicherte im Schlaf, und er schlief tief und fest die ganze Nacht hindurch und hatte lauter angenehme Träume.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich sehr wohl. Er hatte gut geschlafen, war körperlich und geistig ausgeruht und voller Tatendrang. Er gähnte herzhaft, reckte und streckte sich genüsslich und tastete nach seiner Blindenarmbanduhr, die Linda ihm geschenkt hatte und die er gestern Abend auf sein Nachtschränkchen gelegt hatte. Er öffnete die gläserne Abdeckung über dem Ziffernblatt, um herauszufinden, wie spät es war.
Es war Viertel vor neun, und Jeremy beschloss, jetzt gleich Nicolas und Matthew eine SMS zu schreiben, um ihnen mitzuteilen, dass es ihm immer noch gut ging. Danach wollte er duschen und sich rasieren und frühstücken. Aber zunächst einmal wollte er den neuen Tag begrüßen. Den ersten Morgen, den er in seinem eigenen Zuhause verbrachte, nach so vielen Wochen im Krankenhaus…
Jeremy schlug die Bettdecke zurück, setzte sich auf die Bettkante, stand langsam auf und durchquerte mit vorsichtigen, zögerlichen Schritten die schwarze Finsternis des Zimmers, bis er auf der gegenüberliegenden Seite beim Fenster angekommen war. Er öffnete das Fenster, streckte seinen Oberkörper hinaus und versuchte, so viel wie möglich von der dunklen, unsichtbaren Welt dort draußen in sich aufzunehmen.
Der Tag versprach schön zu werden.
Die Luft war warm und roch nach Sommer, und Jeremy hörte kleine Singvögel in den Bäumen und Büschen zwitschern, genauso wie er dies im Krankenhaus morgens auch gehört hatte. Ein paar Insekten summten und brummten fröhlich herum, und eine zarte Windbrise strich über Jeremys verschlossene Augenlider. Er schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr und atmete ruhig und entspannt ein und aus.
Ein guter Tag, um ein komplett neues Leben zu beginnen, dachte Jeremy und fand, dass sich das ziemlich kitschig anhörte, aber irgendwie war es trotzdem die Realität. Heute würde er die TAB anrufen, deren Visitenkarte Dr Williac ihm gegeben hatte, und er war schon jetzt sehr gespannt darauf, was ihn dort erwarten würde.
Es würde nicht einfach werden. Es würde eine große Herausforderung werden, die größte Herausforderung seines gesamten bisherigen Lebens. Hoffentlich war er stark genug, um alle Veränderungen zu meistern, die das Schicksal nun für ihn bereithielt.
Aber er wusste, dass er mindestens drei gute Freunde hatte, die ihn unterstützen würden. Und er hatte eine Haushälterin und eine Cousine und eine geträumte Alienfreundin, und alle diese Personen hatten ihn gern und würden mit ihm gemeinsam durch alle Schwierigkeiten und Hindernisse gehen, die ihm als blindem Menschen nun bevorstanden. Wenn er es wirklich aus tiefstem Herzen wollte, dann konnte er es schaffen, das wusste er ganz genau.
Jeremy schloss das Fenster wieder, tastete sich zurück zu seinem Bett und ergriff sein Handy, welches ebenfalls auf seinem Nachtschränkchen lag. Sein Nachtschränkchen wurde allmählich ziemlich voll – der MP3-Player, das Citomyrtan, das Tasimelteon, die Blindenarmbanduhr, die Visitenkarte der TAB, der Zettel mit Damiens Handynummer, Jeremys Wecker und Jeremys Handy.
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