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Blindgänger

von Mirfineth
Kurzbeschreibung
GeschichteRomance, Schmerz/Trost / P16 / Het
21.04.2011
11.01.2023
145
140.490
6
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29.01.2022 1.150
 
Ein paar Minuten später saß Mrs Courteney Jeremy am Küchentisch gegenüber, und die beiden vertilgten genüsslich den Kartoffelsalat und die Würstchen, und Jeremy trank noch ein zweites und ein drittes und ein viertes Glas Rotwein, so lange, bis er sich angenehm benebelt und schläfrig fühlte. Mrs Courteney schnitt ihm die Würstchen in Stücke, so wie sie es früher getan hatte, als er noch klein war. Er verzichtete darauf, ihr zu erklären, dass er im Krankenhaus sein Essen auch immer selbstständig zurechtgeschnitten hatte, denn in seinem tiefsten Herzensgrunde fand er es doch ganz angenehm, so liebevoll umsorgt und verwöhnt zu werden. Außerdem steckte ihm sein Missgeschick mit dem heruntergefallenen Glas von vorhin noch in den Knochen, und er wollte nicht schon wieder einen unbeholfenen und tollpatschigen Eindruck machen, wenn er sich selbst darum bemühte, sein Essen zurechtzuschneiden.
Nach dem Abendessen räumte Mrs Courteney das benutzte Geschirr und Besteck in die Spülmaschine, säuberte den Küchentisch und machte sich anschließend dazu bereit, nach Hause zu gehen.
„Gute Nacht, Master Jeremy. Schlafen Sie gut. Bis morgen. Und denken Sie daran, dass Sie mich jederzeit anrufen können, wenn hier heute Nacht irgendein Notfall passiert. Was ich natürlich nicht hoffe.“
„Gute Nacht, Mrs Courteney“, erwiderte Jeremy. „Erholen Sie sich ein wenig vom heutigen Tag. Und vielen herzlichen Dank für das ganze leckere Essen.“
Mrs Courteney nahm Jeremy noch einmal kurz in den Arm, dann griff sie nach ihrer Handtasche und verließ das Haus. Jeremy wusste, dass sie es nicht besonders weit bis zu ihrer eigenen Wohnung hatte, nur ein paar hundert Meter zu Fuß.
Bestimmt war es draußen inzwischen dunkel geworden. Oder zumindest dämmerte es allmählich. Nicolas und Evelyn würden sich heute Nacht mit Sicherheit wieder hemmungslos miteinander vergnügen, und Matthew würde wohl auch irgendeine anregende Möglichkeit finden, um den Rest des Abends und die Nacht zu verbringen.
Jeremy holte tief Luft und beschloss, ebenfalls zu Bett zu gehen. Wahrscheinlich war ihm der Rotwein zu Kopf gestiegen, denn ihm war leicht schwindelig zumute, und überhaupt war er sehr müde angesichts des heutigen langen und ereignisreichen Tages.
Er tastete sich durch den Korridor hinüber zu seiner Schlafzimmertür. Noch immer hatte er Angst davor, sich ganz alleine in seinem großen unsichtbaren Haus zurechtfinden zu müssen, doch er versuchte fieberhaft, diese Angst zu unterdrücken und nicht zuzulassen, dass sie ihn vereinnahmte. Eine Panikattacke war das Letzte, was er jetzt gebrauchen könnte, nachdem alle sonstigen Anwesenden fortgegangen waren und niemand mehr da war, der ihm hätte helfen können.
In seinem Schlafzimmer angekommen, öffnete er seinen Kleiderschrank und suchte nach einem T-Shirt und einer Boxershorts, die er heute Nacht als Schlafanzug anziehen könnte. Positiv überrascht stellte er fest, dass Mrs Courteney anscheinend nicht nur seinen Kühlschrank, sondern auch seinen Kleiderschrank nahezu pedantisch ordentlich aufgeräumt und sämtliche Kleidungsstücke fein säuberlich sortiert hatte. Ein Stapel mit kurzen Unterhosen, ein Stapel mit langen Unterhosen, ein Stapel mit Unterhemden, ein Stapel mit T-Shirts und Polohemden, ein Stapel mit Pullovern, ein Stapel mit Boxershorts, ein Stapel mit Jeanshosen…
Jeremy fand nahezu auf Anhieb, was er suchte. Er schnappte sich eine knallrote Boxershorts und ein hellgrünes T-Shirt mit der Aufschrift „MY AMERICAN DREAM“. Dann schloss er den Kleiderschrank wieder, legte die Boxershorts und das T-Shirt aufs Bett und begann, sich langsam zu entkleiden. Dabei fiel ihm ein, was sich in der Brusttasche seines Polohemds befand – die Visitenkarte der TAB sowie der Zettel mit Damiens Handynummer.
Er holte beides heraus und legte es behutsam auf sein Nachtschränkchen. Nachdenklich saß er eine Weile lang auf seiner Bettkante. Das Krankenhaus, in dem er diese beiden Stücke Papier erhalten hatte, schien jetzt auf einmal schon so weit weg zu sein – es kam ihm genauso unwirklich vor, wie es ihm heute Mittag unwirklich vorgekommen war, wieder zu Hause zu sein. War er wirklich heute Morgen noch im Krankenhaus aufgewacht, hatte dort geduscht, sich rasiert und gefrühstückt, hatte sich von Schwester Margaret und Schwester Andrea und schließlich und endlich auch von Damien verabschiedet? Wie mochte es Damien im Lauf des heutigen Tages ergangen sein? Hatte er es geschafft, trotz seiner Unterschenkelprothesen in sein altes Leben zurückzukehren? Hatten Aurélie und seine Kinder es regelrecht gefeiert, dass er wieder zu Hause war? Waren seine Gedanken zwischendurch zu ihm, Jeremy, geschweift?
Ich werde Damien morgen eine SMS schreiben und ihn fragen, wie es ihm geht, beschloss Jeremy im Stillen. Und ich werde ihm auch sagen, dass ich ihn sehr vermisse. Wahrscheinlich wird es mir irgendwie komisch vorkommen, morgen früh aufzuwachen und festzustellen, dass Damien nicht da ist… Aber bevor ich Damien eine SMS schreibe, rufe ich bei der TAB an. Daran führt wohl kein Weg vorbei, egal ob es mir behagt oder nicht. Ich kann schließlich nicht mein gesamtes weiteres Leben lang in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa sitzen und in die schwarze Finsternis um mich herum starren und mir selber leid tun. Ich muss lernen, wie man mit dem Blindenstock umgeht. Und wie ich all die täglichen Verrichtungen in meinem Haus erledigen kann. Ich weiß, dass das ein verdammt hartes Stück Arbeit wird, aber etwas anderes bleibt mir nicht übrig. Egal wie ich es drehe und wende, Dr Williac hat Recht. Ich werde die TAB anrufen, weil ich es einfach tun muss… Und ich muss eine SMS an Nick und Mattie schreiben. Ich werde morgen viel zu tun haben…
Jeremy entkleidete sich vollständig, legte seine gebrauchte Kleidung auf einem Stuhl in einer Zimmerecke ab und zog die Boxershorts und das T-Shirt an. Danach ging er ins Badezimmer, welches direkt an sein Schlafzimmer angrenzte, und schluckte mit etwas Wasser eine Kapsel Tasimelteon. Während er in dem unsichtbaren Badezimmer herumlief, stießen seine nackten Zehen unverhofft gegen die Waage, die auf dem Fußboden neben der Toilette stand. Einem plötzlichen Impuls folgend, stellte sich Jeremy auf die Waage, weil ihm einfiel, dass er sich im Krankenhaus vorgenommen hatte, sich zu wiegen, sobald er wieder zu Hause war. Neugierig betastete er mit den Fingerspitzen das digitale Display.
„80,3 kg.“
Offenbar hatte er im Krankenhaus ein wenig abgenommen, aber das war nicht der Rede wert. Innerhalb weniger Tage würde er wieder genauso viel wiegen, wie er vor seiner Einlieferung ins Krankenhaus gewogen hatte. Vielleicht sogar ein bisschen mehr, weil ihm aufgrund seiner Blindheit viele Sportarten von jetzt an verwehrt bleiben würden…
Jeremy seufzte, erledigte auf der Toilette sein Geschäft und kehrte in sein Schlafzimmer zurück. Er checkte noch einmal sein Handy, doch er hatte keine neuen Nachrichten. Es war noch nicht einmal zehn Uhr, aber Jeremy hatte einfach keine Lust mehr, noch länger wach zu bleiben. Er schlüpfte unter seine Bettdecke, streckte seine Beine lang aus, schmiegte seinen Kopf in sein Kopfkissen und versuchte sich zu entspannen. Seine Augen waren leer und tot, aber der Rest seines Körpers lebte und war vollkommen gesund, oder jedenfalls so gut wie, wenn man seine gebrochenen Rippen mitrechnete. Es war gut zu leben, und es war so unendlich wohltuend, nach so langer Zeit wieder zu Hause zu sein.
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