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Blindgänger

von Mirfineth
Kurzbeschreibung
GeschichteRomance, Schmerz/Trost / P16 / Het
21.04.2011
11.01.2023
145
140.490
6
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Dieses Kapitel
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28.01.2022 1.118
 
Jeremy atmete tief durch, und er hasste die schwarze Dunkelheit um ihn herum und die UFO-Explosion und sein gesamtes verfluchtes Schicksal, doch ein kleiner Teil in ihm, der trotz all der Verzweiflung noch bei klarem Verstand geblieben war, sagte ihm mit erschreckender Deutlichkeit, dass Mrs Courteney höchstwahrscheinlich Recht hatte. Wie oft hatte es sich zugetragen, dass er im Krankenhaus nicht hatte zu seinem Esstisch hinübergehen wollen, um sein Mittagessen zu sich zu nehmen, und Damien hatte ihm mit schier endloser Geduld und bemerkenswertem Einfühlungsvermögen zu verstehen gegeben, dass er, Jeremy, sich durch sein Verhalten im Endeffekt nur selbst schadete…
Schweigend griff Jeremy nach seinem Löffel, füllte ihn mit Spaghetti und Soße und beförderte ihn in seinen Mund, und natürlich musste er zugeben, dass Mrs Courteneys Kochkünste nichts zu wünschen übrig ließen, so wie es schon Jeremys gesamtes bisheriges Leben hindurch der Fall gewesen war.
Während Mrs Courteney in die Gläser von Jeremy, Nicolas und Matthew Cola einschüttete, schmatzte Nicolas ein paar Mal laut und mit Absicht, und er brachte alle Anwesenden zum Lachen, einschließlich Jeremy. Nun setzte sich auch Mrs Courteney an den Küchentisch, und es verging nicht besonders viel Zeit, bis der große Topf auf dem Herd leer war und sämtliche Spaghetti den Weg in die vier hungrigen Mäuler gefunden hatten. Anschließend servierte Mrs Courteney ihr selbstgemachtes Tiramisu, was Matthew zu der Aussage verleitete, einen derartig leckeren Nachtisch habe er noch niemals gegessen, und das wolle etwas heißen.
Jeremy ließ versehentlich ein wenig Tiramisu auf den Boden fallen und steckte sich mehr als einmal eine leere Kuchengabel in den Mund, aber zum Glück gaben Mrs Courteney, Nicolas und Matthew keine negativen Kommentare dazu ab. Als das Mittagessen irgendwann beendet war und Nicolas mit einem wohligen Seufzer verkündete, nun sei er aber wirklich vollkommen satt, begann Mrs Courteney damit, das benutzte Geschirr und Besteck in die Spülmaschine zu räumen. Matthew bot an, ihr dabei zu helfen, aber Mrs Courteney lehnte lächelnd ab und sagte, sie müsse für ihr Geld schon selbstständig arbeiten.
„Was möchtest du denn mit dem heutigen Tag noch anfangen?“, wandte sich Matthew daraufhin an Jeremy. „Wollen wir noch irgendwo hinfahren, oder möchtest du einfach nur zu Hause bleiben und quatschen und einen Film gucken und Chips essen und Bier trinken?“
Er unterbrach sich und biss sich beschämt auf die Unterlippe.
„Bist du mir jetzt böse, Jerry?“, fragte er kleinlaut. „Weil ich ‚einen Film gucken‘ gesagt habe?“
Jeremy schüttelte den Kopf.
„Nein, natürlich bin ich dir nicht böse. Du kannst doch auch nichts dafür, dass ich nicht mehr gucken kann und dass Filme eher was für sehende Menschen sind.“
Er erhob sich von seinem Stuhl, biss die Zähne zusammen und versuchte, mit langsamen, vorsichtigen Schritten die Küche zu durchqueren, wobei er mit beiden Händen um sich herum tastete. Einmal stieß sein rechter Fuß gegen die Holzkiste für Altpapier, weil er vergessen hatte, dass das Ding dort stand. Er war beinahe froh, als Nicolas ihm schließlich seinen Arm anbot und er sich wieder führen lassen konnte, anstatt den Weg durch die unsichtbaren Zimmer seines unsichtbaren Hauses selber finden zu müssen, zumal hier in seinem Zuhause alles viel größer und viel weiter voneinander entfernt war als im Krankenhaus.
Matthew holte Jeremys Reisetasche aus dem Hausflur, und die Freunde gingen zu dritt durch den Korridor hinüber zu Jeremys Schlafzimmer. Als Nicolas die Tür öffnete und sie das Zimmer betraten, fragte sich Jeremy mit einem Mal, welchen Bezug sein Bett wohl hatte. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, welchen Bezug sein Bett in jener schicksalshaften Nacht vor knapp fünf Wochen gehabt hatte, und in der Zwischenzeit hatte Mrs Courteney mit Sicherheit sowieso das Bettzeug gewaschen und gewechselt.
Jeremy löste seinen Griff um Nicolas’ Arm, machte ein paar Schritte in das Zimmer hinein, tastete sich zu seinem Bett, setzte sich auf die Bettkante und strich mit seinen Fingerspitzen über die Bettdecke. Der Bettbezug schien ein sehr kompliziertes Muster zu haben, aber nach einer Weile konnte Jeremy die Farben in seinem Gedächtnis zu einem vollständigen Bild zusammensetzen, und er erkannte, dass auf dem Bettbezug der Kopf des berühmten Comic-Cowboys Lucky Luke mehrmals abgebildet war. Diese Bettwäsche war ein Überbleibsel aus Jeremys Kindheit, während derer Lucky Luke zu seinen großen Vorbildern gehört hatte, und zu seinem zwölften oder dreizehnten Geburtstag hatten ihm seine Eltern diese Bettwäsche geschenkt. Mrs Courteney hatte offenbar die Absicht gehabt, ihm mit dieser Bettwäsche etwas Gutes tun zu wollen, ihn verwöhnen zu wollen, so als sei er nur wegen eines gebrochenen Beins oder eines aggressiven Grippevirus im Krankenhaus gewesen und könne sich problemlos auskurieren, indem er in seiner Lieblingsbettwäsche schlief…
Jeremy ließ sich rücklings auf sein Bett fallen, streckte Arme und Beine weit von sich, genoss das Gefühl der weichen Bettwäsche unter sich und starrte mit seinen verschlossenen, funktionslosen Augen in Richtung der Zimmerdecke.
„Liebe Mrs Courteney!“, flüsterte er und war beinahe genauso gerührt wie vorhin, als er gehört hatte, was Linda in ihrem Brief geschrieben hatte. Plötzlich war er sich hundertprozentig sicher, dass er heute Nacht sehr gut und erholsam schlafen würde, mochte er auch noch so große Angst vor dem morgigen Tag und vor seiner gesamten Zukunft als blinder Mensch haben…
Nicolas und Matthew saßen inzwischen nebeneinander auf dem Teppichboden und packten Jeremys Reisetasche aus.
„Sämtliche Klamotten schmeiße ich in den Wäschekorb!“, sagte Nicolas. „Die Bücher stelle ich zurück ins Bücherregal, und den MP3-Player, das Citomyrtan und das Tasimelteon lege ich auf dein Nachtschränkchen. Einverstanden, Jerry? Jerry?“
Jeremy richtete sich langsam auf und fuhr sich mit den gespreizten Fingern seiner linken Hand durch die Haare.
„Ja, das kannst du gerne machen“, erwiderte er. „Ich habe irgendwie noch gar nicht richtig realisiert, dass ich jetzt wieder zu Hause bin. Das erscheint mir alles noch so unwirklich. Ich glaube, ich werde noch einige Zeit brauchen, bis ich mich daran gewöhnt habe…“
„Soll ich heute Nacht hier schlafen?“, bot Matthew an. „Wir müssen ja nicht im selben Bett schlafen, schließlich sind wir kein Paar mehr, aber du hast doch noch zwei Gästezimmer im ersten Stock, neben dem ehemaligen Schlafzimmer deiner Eltern. Theoretisch könnte Nick auch über Nacht hier bleiben, wenn du möchtest. Ich fühle mich einfach nicht wohl dabei, dich heute Nacht allein zu lassen. Mrs Courteney geht doch auch irgendwann nach Hause, und dann bist du ganz allein in diesem großen Haus, ohne etwas sehen zu können… Ich will nicht, dass dir noch mal etwas Schlimmes passiert!“
Jeremy holte tief Luft.
„Ihr braucht euch um mich keine Sorgen zu machen. Ich komm schon klar. Ich bin doch kein kleiner Junge mehr. Ihr müsst morgen arbeiten, und deswegen wäre es vermutlich keine gute Idee, wenn ihr heute hier übernachten würdet. Ich kann euch ja morgen eine SMS schreiben und euch sagen, wie es mir geht.“
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