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Blindgänger

von Mirfineth
Kurzbeschreibung
GeschichteRomance, Schmerz/Trost / P16 / Het
21.04.2011
11.01.2023
145
140.490
6
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28.01.2022 1.026
 
Das ließ sich Mrs Courteney nicht zweimal sagen. Bereits wenige Sekunden später hielt Jeremy das Paket in den Händen, welches offenbar geduldig in einer Zimmerecke der Küche auf seinen Empfänger gewartet hatte. Das Paket war mit Klebeband umwickelt und nicht besonders groß – eigentlich war es mehr ein kleines Päckchen als ein richtiges Paket. Jeremy, der sich von Mrs Courteney beobachtet fühlte, während er das Päckchen betastete, bemühte sich, seine Fingerspitzen nicht allzu auffällig über den Postaufkleber mit dem Absender gleiten zu lassen. Trotzdem konnte er lesen, dass es sich bei dem Absender in der Tat um Linda handelte, und seine Neugier steigerte sich rasant.
Auch Nicolas und Matthew setzten sich an den Küchentisch, dorthin, wo früher Jeremys Eltern gesessen hatten, und Mrs Courteney holte aus einer Schublade eine Schere. Dann schnitt sie energisch das Päckchen auf, klappte die Oberfläche auseinander und machte sich am Inhalt zu schaffen.
„Ach wie entzückend, ein handgeschriebener Brief!“, sagte sie freudig zu Jeremy gewandt. „Soll ich vorlesen, was Ihre Cousine Ihnen schreibt?“
Sowohl Jeremy als auch Nicolas als auch Matthew verzichteten darauf, Mrs Courteney zu erklären, dass Jeremy den Brief auch selber lesen könne, und Mrs Courteney räusperte sich.

Lieber Jeremy!
Ich frage dich jetzt nicht, wie es dir geht, weil ich mir die Antwort auf diese Frage denken kann. Stattdessen schicke ich dir diese Armbanduhr. Du kannst die Abdeckung über dem Ziffernblatt am unteren Rand öffnen und das Ziffernblatt abtasten, sodass du immer fühlen kannst, wie spät es ist. Meiner Meinung nach ist es ein Aberglaube, dass man Schokolade essen soll, wenn es einem schlecht geht – diese Uhr ist bestimmt viel nützlicher für dich.
Lass den Kopf nicht hängen. Ich hab dich lieb, mein verrückter, blinder, einziger Cousin.
Alles Gute,
Linda.
PS: Viele herzliche Grüße auch von Pascal, Matilda, Anthony und Kimberley.

Jeremy war so gerührt, dass er einen Kloß im Hals bekam. Er spürte, wie Mrs Courteney ihm eine schmale, längliche Plastikverpackung in die Hände schob, und als er es nach einigem Herumprobieren geschafft hatte, diese Plastikverpackung zu öffnen, kam wirklich und wahrhaftig eine Armbanduhr zum Vorschein. Eine wunderschöne, ziemlich edel aussehende Herrenarmbanduhr mit einem silbrig schimmernden Gehäuse und einem glatten, stabilen Lederarmband. Und genauso wie Linda es in dem Brief versprochen hatte, ließ sich die gläserne Abdeckung über dem Ziffernblatt am unteren Rand aufklappen, sodass Jeremy mit der Fingerspitze seines rechten Zeigefingers mühelos das Ziffernblatt abtasten konnte.
„Donnerwetter!“, sagte Nicolas in die Stille hinein. „Deine merkwürdige Cousine ist anscheinend doch netter, als wir alle miteinander jahrelang geglaubt haben. Wenn sie gehässig gewesen wäre, dann hätte sie dir in deinem gesamten Leben niemals wieder irgendetwas geschenkt, und schon gar nicht eine solche Luxusuhr.“
Matthew pfiff leise durch die Zähne, wie um Nicolas beizupflichten.
Während Mrs Courteney den Brief, das Päckchen und den Verpackungsmüll beiseite räumte, versuchte Jeremy, sich die Uhr um das linke Handgelenk zu binden. Dies erforderte durchaus eine gute Feinmotorik, aber Jeremy gab nicht auf, bis es ihm gelungen war.
Jetzt habe ich eine Uhr, die man fühlen kann, dachte er. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass es mir im Krankenhaus hin und wieder gehörig auf die Nerven gegangen ist, immer andere Leute fragen zu müssen, wie spät es ist. Linda muss wirklich intensiv darüber nachgedacht haben, was ein blinder Mensch wohl am nötigsten braucht und womit sie mir eine Freude machen könnte. Ich muss sie unbedingt heute Abend anrufen oder ihr eine SMS schreiben, um mich bei ihr zu bedanken. Ich weiß gar nicht, womit ich ein derartig teures, derartig nützliches Geschenk überhaupt verdient habe…
Jeremys Gedanken kreisten immer noch um Linda und seine neue Armbanduhr, als er Mrs Courteney plötzlich sagen hörte:
„Wollen wir nun zu Mittag essen, bevor das Essen wieder kalt wird? Bestimmt haben Sie inzwischen längst Hunger. Sie können ruhig sitzen bleiben, ich fülle Ihnen die Spaghetti auf die Teller.“
Irgendwo in der schwarzen Dunkelheit um Jeremy herum hantierte Mrs Courteney am Herd, und im nächsten Moment stand ein dampfender Teller vor Jeremy, der mit einer großen Portion Spaghetti mit einer Käse-Schinken-Soße gefüllt war.
„Soll ich Ihnen beim Essen helfen, Master Jeremy?“
Mrs Courteneys Stimme klang sehr fürsorglich.
„Ich habe die Spaghetti schon kleingeschnitten, damit Sie sie bequem mit einem Löffel essen können und nicht mit einer Gabel aufwickeln müssen.“
Jeremy schüttelte den Kopf.
„Nein, danke. Das habe ich im Krankenhaus auch immer alleine geschafft, auch wenn ich ziemlich oft gekleckert habe…“
„Du kannst so viel kleckern, wie du willst, Alter“, sagte Matthew und begann damit, sich genüsslich über seine Portion Spaghetti herzumachen. „Das stört uns nicht.“
Jeremy konnte riechen, wie lecker das Essen duftete, doch er brachte es trotzdem nicht über sich, nach seinem Löffel zu greifen. Schlagartig wurde er sich dessen bewusst, dass er in seinem tiefsten Herzensgrunde gehofft hatte, auch wenn dies selbstverständlich absoluter Unsinn war, die schwarze Dunkelheit um ihn herum würde verschwinden, sobald er wieder zu Hause war und am Küchentisch saß und etwas zu essen bekam. Als ob die vertraute Umgebung seiner eigenen vier Wände seine Blindheit irgendwie heilen könnte, als ob die vergangenen knapp fünf Wochen nichts weiter als nur ein grotesker Albtraum gewesen seien…
Doch die schwarze Dunkelheit um ihn herum hielt an, fortwährend, erbarmungslos. Kein noch so kleiner Lichtschimmer, kein Funken Helligkeit, niemals wieder. Niemals…
„Ich kann nichts essen…“, flüsterte Jeremy verzweifelt und starrte mit seinen blinden, zerstörten Augen dorthin, wo der Teller stehen musste, aber er sah natürlich nichts.
Plötzlich spürte er, wie Mrs Courteney ihm mit der Hand übers Haar streichelte, so wie sie es früher während seiner Kindheit immer getan hatte, wenn er auf dem Spielplatz hingefallen war und sich das Knie aufgeschürft hatte.
„Eines Tages wird alles wieder gut“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Geben Sie sich selbst nicht auf, egal wie schlimm es ist.“
„Ich will wieder sehen können…“, erwiderte Jeremy und fühlte sich den Tränen nahe. „Ich würde alles dafür tun, um meine Augen wieder heil und gesund machen zu können…“
Mrs Courteney seufzte.
„Nun essen Sie doch erst mal was, Master Jeremy. Sonst sind Ihre beiden Freunde schon mit dem Essen fertig, und Sie haben noch nicht einmal angefangen. Wahrscheinlich verwechseln Sie lediglich gerade die Verzweiflung über Ihr Schicksal mit Hunger.“
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