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Blindgänger

von Mirfineth
Kurzbeschreibung
GeschichteRomance, Schmerz/Trost / P16 / Het
21.04.2011
11.01.2023
145
140.490
6
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Dieses Kapitel
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28.01.2022 1.086
 
Jeremy, Nicolas, Damien und Aurélie erreichten den Aufzug. Sie betraten die Aufzugkabine, fuhren hinunter ins Erdgeschoss und stiegen wieder aus. Anschließend durchquerten sie das Foyer des Krankenhauses, wobei die Frau an der Rezeption ihnen freundlich einen guten Tag wünschte. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie bei der Haupteingangstür des Krankenhauses angekommen waren.
Jeremy fühlte sich unsicher und verloren, während er Schritt für Schritt durch die schwarze Finsternis ging und sich nichts sehnlicher wünschte, als mit seinen Augen wahrnehmen zu können, wo genau er sich befand und was es um ihn herum zu sehen gab.
Lebewohl, Krankenzimmer!, dachte er mit einem gewissen Anflug von Traurigkeit. Lebewohl, Krankenhaus! Jetzt muss ich mir selbst und meinen Mitmenschen beweisen, dass ich auch ohne Augenlicht einen wertvollen Platz in der Gesellschaft einnehmen kann, obwohl ich an dieser verfluchten UFO-Explosion völlig unschuldig bin…
Er war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie er und seine Freunde die Haupteingangstür des Krankenhauses hinter sich ließen und hinüber zum Parkplatz schlenderten. Er zuckte ein bisschen zusammen, als sich Nicolas plötzlich an Damien und Aurélie wandte.
„Dort drüben habe ich geparkt, das dunkelblaue Cabrio gehört Richard. Macht’s gut und bis bald! Viele Grüße an eure Kinder!“
Alle vier gaben einander die Hand und verabschiedeten sich.
„Tschüss, Damien“, sagte Jeremy leise. „Danke. Danke für… alles.“
Unwillkürlich wanderten die Fingerspitzen seiner linken Hand, nur wenige Sekunden lang, zu der Brusttasche seines Polohemds, in der neben der Visitenkarte der TAB der Zettel mit Damiens Handynummer steckte.
Damien hielt Jeremys Hand einen kurzen Moment länger gedrückt, als es eigentlich nötig gewesen wäre. Dann entfernten er und Aurélie sich und gingen zu ihrem eigenen Auto, und Jeremy und Nicolas waren allein.
Nicolas öffnete den Kofferraum von Richards Cabrio und verstaute Jeremys Reisetasche, danach half er Jeremy, in das Auto einzusteigen.
Jeremy war beklommen zumute, und es kam ihm so vor, als habe er noch nie in seinem gesamten bisherigen Leben in einem Auto gesessen. Seine Bewegungen, mit denen er sich auf den Beifahrersitz setzte und sich anschnallte, erschienen ihm sehr ungeschickt, und er ärgerte sich insgeheim darüber. Doch er biss die Zähne zusammen und sagte nichts, während Nicolas den Motor anließ und das Auto startete und vom Parkplatz des Krankenhauses auf die Straße fuhr.
Die schwarze, finstere Welt um Jeremy herum machte ihn schwindelig, und bereits nach kurzer Zeit hatte er überhaupt keine Ahnung mehr, in welcher Straße oder in welchem Stadtteil er und Nicolas gerade unterwegs waren. Die wirren, lauten Geräusche des Straßenverkehrs, die von allen Seiten auf ihn einprasselten, lösten in ihm Angst aus. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Häuser und die Bäume und die Autos um ihn herum wohl aussehen mochten, aber die Bilder in seinem Kopf waren sehr unscharf und schwach, tausendmal schwächer als sie gewesen wären, wenn er sie wirklich mit seinen Augen gesehen hätte. Er wollte nicht daran denken, dass diese Situation, die er jetzt erleben musste, für immer sein würde. Er wollte nicht daran denken, dass die Welt für ihn unsichtbar geworden war, dass er sein Augenlicht endgültig verloren hatte. Er konnte sich die Welt nur noch in seinen Gedanken vorstellen, aber mit seinen Augen sehen würde er sie nie wieder können.
„Wollen wir Musik hören?“, fragte Nicolas nach ein paar Minuten, doch Jeremy schüttelte den Kopf. Seine Ohren hatten eindeutig schon genug zu verarbeiten.
Wenigstens ließ das Wetter nichts zu wünschen übrig. Ein warmer, beinahe schon heißer Sommerwind blies in das Auto hinein, zerzauste Jeremys und Nicolas’ Haare und trieb ihnen Schweißtropfen auf die Stirn. Jeremy lehnte sich in seinem Sitz zurück und dachte an Damien. Ob er wohl schon zu Hause angekommen war? Denn wo genau Damien wohnte, wusste Jeremy nicht. Bestimmt würde er von seinen Kindern liebevoll in die Arme geschlossen werden, sobald er und Aurélie die Haustür geöffnet hatten. Und eine solche Begrüßung würde ihm helfen, die durch die Prothesen verursachten Schmerzen in seinen Oberschenkeln und das mühevolle Laufen an Krücken zu ertragen…
Auf mich wartet niemand, wenn ich nach Hause komme, dachte Jeremy wehmütig. Ich bin ganz allein in meinem großen unsichtbaren Haus, eingesperrt in dieser furchtbaren Finsternis…
Der Straßenlärm um Jeremy herum wurde leiser, der Geruch der Autoabgase schwächer. Das Auto wurde langsamer, fuhr eine kurze Strecke sanft bergauf und hielt schließlich an.
Nicolas drehte sich zu Jeremy um.
„Wir haben es geschafft! Wir sind da! Willkommen zu Hause!“
Jeremy atmete tief durch, löste den Sicherheitsgurt und stieg aus dem Auto aus.
Jetzt stand er mitten auf dem gepflasterten Weg, der vom Fuß der Anhöhe, auf welcher sein Haus stand, bis hinauf zu seiner Haustür führte. Das hier war sein Zuhause, das Haus, in dem er sein gesamtes bisheriges Leben lang gewohnt hatte, während seiner Kindheit und seiner Jugend und als Erwachsener, zuerst zusammen mit seinen Eltern und später allein, nachdem seine Eltern gestorben waren. Wie oft hatte er sein Haus aus dieser Perspektive gesehen, wie oft hatte er hier gestanden, das Haus direkt vor ihm, nur wenige Meter von ihm entfernt…
Und jetzt stand er wieder hier vor seinem Haus, und er konnte es nicht mehr sehen. Es war genauso in dieser schwarzen Dunkelheit um ihn herum verschwunden wie alles andere auch, wie die ganze Welt.
„Du bist ja ganz blass im Gesicht!“, sagte Nicolas. „Bin ich zu schnell gefahren? Ist dir schlecht geworden?“
Jeremy antwortete nicht. Er war erschöpft und verzweifelt und mutlos, und am liebsten hätte er sich in sein Schlafzimmer verkrochen und sich unter der Bettdecke versteckt, sodass die anderen Leute ihn genauso wenig sehen konnten, wie er die anderen Leute sehen konnte.
Es fühlte sich in seinem Empfinden so an, als sei er schon seit einer Ewigkeit nicht mehr hier gewesen, ungefähr seit mindestens einem ganzen Jahr, nicht nur seit vier oder fünf Wochen. Aber andererseits erinnerte er sich so deutlich daran, wie sein Haus aus dieser Perspektive von außen aussah, dass der Gedanke wie ein schneidender Schmerz durch ihn hindurchging, sein eigenes Haus nie wieder mit seinen Augen sehen zu können…
Plötzlich spürte er, wie Nicolas ihm den linken Arm um die Schultern legte.
„Komm schon!“, sagte er. „Lass uns reingehen. Mrs Courteney wartet mit dem Mittagessen auf uns. Sogar Mattie ist hier, damit wir alle zusammen deine Entlassung aus dem Krankenhaus feiern können. Ich schwöre dir, wir haben dich wirklich sehr vermisst.“
Gegen seinen Willen musste Jeremy lächeln, und eine angenehme Wärme breitete sich nun in seiner Magengegend aus.
Ja, er würde jetzt sein Haus betreten und die Gegenwart der Leute genießen, denen er anscheinend etwas bedeutete.
Er war wieder zu Hause.
Endlich.
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