Blindgänger
von Mirfineth
Kurzbeschreibung
Jeremy Stinger, 31 Jahre, ist die Hauptperson dieser Geschichte. Er hat von seinen verstorbenen Eltern reich geerbt und bewohnt ganz allein eine Villa am Rand irgendeiner Metropole in den USA. Er hat eine Abneigung gegenüber behinderten Menschen, weil er sich selbst, an Leib und Seele gesund, für etwas Besseres hält. Ohne für seinen Lebensunterhalt arbeiten zu müssen, lebt er sorglos in den Tag hinein und beschäftigt sich hauptsächlich mit Partys, Alkohol, Drogen und Sex... bis zu dieser einen bestimmten Nacht im Juni, als plötzlich ein seltsam grün funkelndes Objekt über Jeremys Vorgarten schwebt. Ein echtes UFO! ... ... ... Was ist dann passiert? Auf welche Art und Weise hat das Schicksal Jeremys bisheriges Leben zunichte gemacht? Wie lernte Jeremy seine große Liebe kennen? Und ist es wirklich zu spät, um noch einmal von vorne anzufangen? Das könnt ihr hier lesen. :-D
GeschichteRomance, Schmerz/Trost / P16 / Het
21.04.2011
11.01.2023
145
140.490
6
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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11.10.2021
969
Nachdem Dr Williac das Krankenzimmer von Jeremy und Damien wieder verlassen hatte, tastete Jeremy auf seinem Nachtschränkchen nach seinem Handy.
Er beschloss, Nicolas eine SMS zu schreiben, um ihn zu bitten, morgen um elf Uhr ins Krankenhaus zu kommen. Der morgige Tag war ein Montag. Hoffentlich würde Nicolas es irgendwie organisieren können, sich einen freien Tag zu nehmen, damit er ihn, Jeremy, aus dem Krankenhaus abholen konnte. Ansonsten würde er wohl auf Matthew oder Mrs Courteney zurückgreifen müssen.
Jeremy schaltete sein Handy ein und betastete den Bildschirm. Plötzlich fragte er sich, wie normale blinde Menschen ihr Handy benutzten, normale blinde Menschen ohne übernatürliche Fähigkeiten, denen es nicht möglich war, die Schrift für Sehende mit den Fingern zu lesen…
Es war eine ziemlich anstrengende und komplizierte Prozedur, eine SMS einzutippen, ohne die Buchstaben mit den Augen sehen zu können, aber es war immer noch besser, als überhaupt nichts mehr mit dem Handy anfangen zu können. Natürlich hätte er Nicolas auch anrufen können, aber er wusste, dass er früher oder später lernen musste, auch als Blinder wieder SMS zu schreiben. Und je schneller er damit begann, sich dies selber beizubringen, desto besser.
HALLO NICK, ICH WERDE MORGEN AUS DEM KRANKENHAUS ENTLASSEN. KÖNNTEST DU MICH BITTE UM 11 UHR ABHOLEN? DANKE SCHÖN. JERRY.
Er schaltete das Handy wieder aus und legte es auf sein Nachtschränkchen zurück.
Dann drehte er sich auf den Rücken, starrte inmitten dieser endlosen schwarzen Dunkelheit dorthin, wo die Zimmerdecke sein musste, und versuchte sich vorzustellen, was ihn während der nächsten Tage erwarten würde, innerhalb seiner eigenen vier Wände, bei der Hauptgeschäftsstelle der TAB, an jedem Ort seines gesamten bisherigen alltäglichen Lebens…
Ihm wurde furchtbar mulmig zumute, doch er wusste, dass er keine andere Wahl hatte, als dies alles auf sich zukommen zu lassen, zu versuchen es zu ertragen, es irgendwie zu bewältigen…
Eine gute Dreiviertelstunde später kam Damien von der Physiotherapie zurück. Schwester Margaret half ihm dabei, mit wackeligen, schmerzhaften Schritten auf seinen Prothesen das Krankenzimmer zu durchqueren, bis er es zu seinem Bett geschafft hatte. Er legte seine Prothesen neben seinem Bett auf den Boden und schlüpfte unter die Bettdecke. Schwester Margaret verabschiedete sich und verließ das Krankenzimmer.
„Verdammt noch mal, warum muss ausgerechnet ich mich mit dieser Scheiße rumschlagen?“, jammerte Damien, als die Tür hinter Schwester Margaret ins Schloss gefallen war. „Meine Oberschenkel tun höllisch weh und du glaubst gar nicht, wie wahnsinnig anstrengend und schwierig es ist, mit diesen bescheuerten Prothesen durch die Gegend zu laufen! Ich will meine richtigen Unterschenkel zurück!“
Damien holte tief Luft.
Jeremy beschloss, nicht lange zu zögern, sondern kurzen Prozess zu machen. Er würde es Damien ohnehin im Lauf des heutigen Tages sagen müssen.
„Ich werde morgen aus dem Krankenhaus entlassen. Nur damit du’s weißt. Morgen um elf Uhr kommt höchstwahrscheinlich Nick und holt mich ab.“
Damien hörte schlagartig auf zu jammern.
„Du auch…?“
Jeremy runzelte die Stirn.
„Erzähl mir jetzt nicht, dass du auch morgen aus dem Krankenhaus entlassen wirst!“
Damien lachte. „Genauso ist es. Ich muss zwar weiterhin an einer ambulanten Physiotherapie teilnehmen und werde noch wochenlang Krücken benötigen, aber ich kann morgen aus dem Krankenhaus entlassen werden. Aurélie wird mich abholen.“ Er seufzte. „Es ist doch wirklich sehr bedauerlich, dass Unterschenkel nicht einfach nachwachsen können, wenn man sie einmal verloren hat, so wie Haare oder Fingernägel…“
„Halt die Klappe!“, erwiderte Jeremy, doch der Klang seiner Stimme war dabei freundlich.
„Augäpfel und Hornhäute und Sehnerven können auch nicht nachwachsen. Wir müssen es zur Kenntnis nehmen, dass wir kaputt sind, ob wir wollen oder nicht, du an deinen Unterschenkeln und ich an meinen Augen. Das hast du selber gesagt, irgendwann im Lauf der letzten Wochen.“
„Ich werde dich und unser gemeinsames Krankenzimmer und das Personal in der Physiotherapie und den Krankenhauspark und Schwester Margaret und Schwester Andrea vermissen“, sagte Damien. „Aber jeder Lebensabschnitt geht irgendwann zu Ende. Und dann beginnt ein neuer Lebensabschnitt, mit neuen Herausforderungen, neuen Schicksalsschlägen, neuen Chancen und neuen Erfolgen.“
Jeremy nickte, und es tat ihm in der Seele schrecklich weh, bei dieser verfluchten UFO-Explosion sein Augenlicht verloren zu haben, aber gleichzeitig fühlte es sich unendlich gut, richtig und tröstlich an, dass das Schicksal ihm während seines Krankenhausaufenthalts einen solchen Zimmergenossen wie Damien Griseau geschenkt hatte.
Jeremy und Damien aßen ihr Mittagessen und hörten Musik und lösten Kreuzworträtsel und räumten ihre Kleidungsstücke und ihre sonstigen persönlichen Gegenstände zusammen, und Jeremy schenkte Damien einen der Krimis aus seiner Nachtschränkchenschublade, die im Wilden Westen spielten, und sie erzählten einander lustige Geschichten aus ihrer Kindheit und versuchten, sich nicht anmerken zu lassen, wie nervös und angespannt sie angesichts der Ereignisse des morgigen Tages waren. Es kam ausnahmsweise niemand zu Besuch, und irgendwann verwandelte sich der Nachmittag in den Abend. Sie erhielten ihr Abendessen, Jeremy schluckte eine Kapsel Tasimelteon, und für Damien wurde es im Krankenzimmer immer dunkler, und ihre letzte Nacht im Krankenhaus brach an.
„Bestimmt kann ich vor Aufregung die ganze Nacht nicht schlafen!“, scherzte Damien, doch dann war er es, der von den beiden Zimmergenossen zuerst einschlief.
Jeremy lag noch eine Weile wach und lauschte auf Damiens sanfte Atemzüge und auf das Rascheln der Bäume draußen vor dem Fenster des Krankenzimmers.
Morgen um diese Zeit würde er in seinem eigenen Haus liegen, in seinem eigenen Schlafzimmer, in seinem eigenen Bett…
Es kam ihm plötzlich so vor, als gehörten dieses Haus und dieses Schlafzimmer und dieses Bett überhaupt nicht ihm, sondern irgendeinem anderen Jeremy Stinger, der auf tragische Art und Weise tödlich verunglückt war und den er nun beerbt hatte…
Das war natürlich Unsinn, natürlich war er immer noch derselbe Mensch, nur eben ab sofort ohne Augenlicht…
Er war also zu einem dieser wertlosen behinderten Menschen geworden, die er jahrzehntelang für den letzten Abschaum der Gesellschaft gehalten hatte.
Damien drehte sich im Schlaf auf die andere Seite und murmelte irgendetwas auf Französisch.
Jeremy musste lächeln.
Er beschloss, Nicolas eine SMS zu schreiben, um ihn zu bitten, morgen um elf Uhr ins Krankenhaus zu kommen. Der morgige Tag war ein Montag. Hoffentlich würde Nicolas es irgendwie organisieren können, sich einen freien Tag zu nehmen, damit er ihn, Jeremy, aus dem Krankenhaus abholen konnte. Ansonsten würde er wohl auf Matthew oder Mrs Courteney zurückgreifen müssen.
Jeremy schaltete sein Handy ein und betastete den Bildschirm. Plötzlich fragte er sich, wie normale blinde Menschen ihr Handy benutzten, normale blinde Menschen ohne übernatürliche Fähigkeiten, denen es nicht möglich war, die Schrift für Sehende mit den Fingern zu lesen…
Es war eine ziemlich anstrengende und komplizierte Prozedur, eine SMS einzutippen, ohne die Buchstaben mit den Augen sehen zu können, aber es war immer noch besser, als überhaupt nichts mehr mit dem Handy anfangen zu können. Natürlich hätte er Nicolas auch anrufen können, aber er wusste, dass er früher oder später lernen musste, auch als Blinder wieder SMS zu schreiben. Und je schneller er damit begann, sich dies selber beizubringen, desto besser.
HALLO NICK, ICH WERDE MORGEN AUS DEM KRANKENHAUS ENTLASSEN. KÖNNTEST DU MICH BITTE UM 11 UHR ABHOLEN? DANKE SCHÖN. JERRY.
Er schaltete das Handy wieder aus und legte es auf sein Nachtschränkchen zurück.
Dann drehte er sich auf den Rücken, starrte inmitten dieser endlosen schwarzen Dunkelheit dorthin, wo die Zimmerdecke sein musste, und versuchte sich vorzustellen, was ihn während der nächsten Tage erwarten würde, innerhalb seiner eigenen vier Wände, bei der Hauptgeschäftsstelle der TAB, an jedem Ort seines gesamten bisherigen alltäglichen Lebens…
Ihm wurde furchtbar mulmig zumute, doch er wusste, dass er keine andere Wahl hatte, als dies alles auf sich zukommen zu lassen, zu versuchen es zu ertragen, es irgendwie zu bewältigen…
Eine gute Dreiviertelstunde später kam Damien von der Physiotherapie zurück. Schwester Margaret half ihm dabei, mit wackeligen, schmerzhaften Schritten auf seinen Prothesen das Krankenzimmer zu durchqueren, bis er es zu seinem Bett geschafft hatte. Er legte seine Prothesen neben seinem Bett auf den Boden und schlüpfte unter die Bettdecke. Schwester Margaret verabschiedete sich und verließ das Krankenzimmer.
„Verdammt noch mal, warum muss ausgerechnet ich mich mit dieser Scheiße rumschlagen?“, jammerte Damien, als die Tür hinter Schwester Margaret ins Schloss gefallen war. „Meine Oberschenkel tun höllisch weh und du glaubst gar nicht, wie wahnsinnig anstrengend und schwierig es ist, mit diesen bescheuerten Prothesen durch die Gegend zu laufen! Ich will meine richtigen Unterschenkel zurück!“
Damien holte tief Luft.
Jeremy beschloss, nicht lange zu zögern, sondern kurzen Prozess zu machen. Er würde es Damien ohnehin im Lauf des heutigen Tages sagen müssen.
„Ich werde morgen aus dem Krankenhaus entlassen. Nur damit du’s weißt. Morgen um elf Uhr kommt höchstwahrscheinlich Nick und holt mich ab.“
Damien hörte schlagartig auf zu jammern.
„Du auch…?“
Jeremy runzelte die Stirn.
„Erzähl mir jetzt nicht, dass du auch morgen aus dem Krankenhaus entlassen wirst!“
Damien lachte. „Genauso ist es. Ich muss zwar weiterhin an einer ambulanten Physiotherapie teilnehmen und werde noch wochenlang Krücken benötigen, aber ich kann morgen aus dem Krankenhaus entlassen werden. Aurélie wird mich abholen.“ Er seufzte. „Es ist doch wirklich sehr bedauerlich, dass Unterschenkel nicht einfach nachwachsen können, wenn man sie einmal verloren hat, so wie Haare oder Fingernägel…“
„Halt die Klappe!“, erwiderte Jeremy, doch der Klang seiner Stimme war dabei freundlich.
„Augäpfel und Hornhäute und Sehnerven können auch nicht nachwachsen. Wir müssen es zur Kenntnis nehmen, dass wir kaputt sind, ob wir wollen oder nicht, du an deinen Unterschenkeln und ich an meinen Augen. Das hast du selber gesagt, irgendwann im Lauf der letzten Wochen.“
„Ich werde dich und unser gemeinsames Krankenzimmer und das Personal in der Physiotherapie und den Krankenhauspark und Schwester Margaret und Schwester Andrea vermissen“, sagte Damien. „Aber jeder Lebensabschnitt geht irgendwann zu Ende. Und dann beginnt ein neuer Lebensabschnitt, mit neuen Herausforderungen, neuen Schicksalsschlägen, neuen Chancen und neuen Erfolgen.“
Jeremy nickte, und es tat ihm in der Seele schrecklich weh, bei dieser verfluchten UFO-Explosion sein Augenlicht verloren zu haben, aber gleichzeitig fühlte es sich unendlich gut, richtig und tröstlich an, dass das Schicksal ihm während seines Krankenhausaufenthalts einen solchen Zimmergenossen wie Damien Griseau geschenkt hatte.
Jeremy und Damien aßen ihr Mittagessen und hörten Musik und lösten Kreuzworträtsel und räumten ihre Kleidungsstücke und ihre sonstigen persönlichen Gegenstände zusammen, und Jeremy schenkte Damien einen der Krimis aus seiner Nachtschränkchenschublade, die im Wilden Westen spielten, und sie erzählten einander lustige Geschichten aus ihrer Kindheit und versuchten, sich nicht anmerken zu lassen, wie nervös und angespannt sie angesichts der Ereignisse des morgigen Tages waren. Es kam ausnahmsweise niemand zu Besuch, und irgendwann verwandelte sich der Nachmittag in den Abend. Sie erhielten ihr Abendessen, Jeremy schluckte eine Kapsel Tasimelteon, und für Damien wurde es im Krankenzimmer immer dunkler, und ihre letzte Nacht im Krankenhaus brach an.
„Bestimmt kann ich vor Aufregung die ganze Nacht nicht schlafen!“, scherzte Damien, doch dann war er es, der von den beiden Zimmergenossen zuerst einschlief.
Jeremy lag noch eine Weile wach und lauschte auf Damiens sanfte Atemzüge und auf das Rascheln der Bäume draußen vor dem Fenster des Krankenzimmers.
Morgen um diese Zeit würde er in seinem eigenen Haus liegen, in seinem eigenen Schlafzimmer, in seinem eigenen Bett…
Es kam ihm plötzlich so vor, als gehörten dieses Haus und dieses Schlafzimmer und dieses Bett überhaupt nicht ihm, sondern irgendeinem anderen Jeremy Stinger, der auf tragische Art und Weise tödlich verunglückt war und den er nun beerbt hatte…
Das war natürlich Unsinn, natürlich war er immer noch derselbe Mensch, nur eben ab sofort ohne Augenlicht…
Er war also zu einem dieser wertlosen behinderten Menschen geworden, die er jahrzehntelang für den letzten Abschaum der Gesellschaft gehalten hatte.
Damien drehte sich im Schlaf auf die andere Seite und murmelte irgendetwas auf Französisch.
Jeremy musste lächeln.