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Blindgänger

von Mirfineth
Kurzbeschreibung
GeschichteRomance, Schmerz/Trost / P16 / Het
21.04.2011
11.01.2023
145
140.490
6
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05.08.2021 1.095
 
Der heutige Tag schien ein Tag voller angenehmer Überraschungen zu sein – Lindas Einladung, dass Jeremy sie und ihre Familie in Missouri besuchen kommen solle, war sozusagen nur der Anfang gewesen. Irgendwann im Lauf des Nachmittags, Damien döste ein wenig schläfrig vor sich hin und Jeremy widmete sich nun endlich wieder der heißen Affäre des mittellosen Architekturstudenten und seiner überaus attraktiven Freundin, betraten Aurélie und sämtliche Kinder freudig lärmend das Krankenzimmer.
Jeremy erschrak und schaffte es gerade noch rechtzeitig, das Buch zuzuklappen und in seiner Nachtschränkchenschublade verschwinden zu lassen, als er auch schon hörte, wie Jean-Pierre auf sein Bett zusteuerte und schwungvoll auf dem Besucherstuhl Platz nahm.
„Hallo, bester Großer-Bruder-Ersatz der Welt!“, sagte Jean-Pierre, und Jeremy konnte an seiner Stimme erkennen, dass seine Augen vor Glück und Zufriedenheit strahlten, auch ohne dass er Jean-Pierre wirklich ins Gesicht sehen konnte.
Das war offenbar auch so etwas wie eine besondere Fähigkeit blinder Menschen, über die sich Jeremy früher, vor der Explosion des UFOs, nie Gedanken gemacht hatte – anhand der unausgesprochenen Zwischentöne in der Stimme eines Menschen wahrzunehmen, wie sich der Mensch gerade fühlte, anhand des Klangs einer Stimme den Gesichtsausdruck des Sprechers erraten zu können, sogar ohne auf die Worte zu achten…
„Was ist los, Kleiner?“, fragte Jeremy grinsend. „Womit habe ich diese liebevolle Begrüßung verdient?“
„Ich war tatsächlich mit ihr im Kino!“, platzte es aus Jean-Pierre heraus. „Im Kino und bei McDonald’s und bei mir zu Hause. Wir haben stundenlang miteinander gequatscht, so als ob wir schon unser gesamtes bisheriges Leben miteinander verbracht hätten. Ich habe gar nicht gewusst, dass man sich mit einem Mädchen so gut unterhalten kann. Und – und – als ihr Vater schließlich kam, um sie wieder abzuholen, hat sie mich geküsst! Richtig auf den Mund! Das hat mich so von den Socken gehauen, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte!“
Die Dunkelheit um Jeremy herum füllte sich innerhalb von Sekundenbruchteilen mit überaus erotischen Hirngespinsten, obwohl er weder Jean-Pierre noch diese Celestina Okellambe, um die es in Jean-Pierres Schilderung zweifellos gehen musste, jemals mit seinen Augen erblickt hatte.
Er atmete tief durch.
„Erstens ist das keine Antwort auf meine Frage“, sagte er und bemühte sich um einen gespielt strengen Tonfall. Vor seinem inneren Auge sah er, wie Jean-Pierre enttäuscht auf seinem Stuhl zusammensackte…
„Und zweitens…“, fuhr Jeremy fort, richtete sich ganz plötzlich im Bett auf und erhob seine rechte Hand, sodass Jean-Pierre ihm High Five geben konnte, „… und zweitens HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!! Es mag sein, dass ihr euch in ein paar Monaten wieder trennen werdet, das war bei mir und meiner allerersten festen Freundin vor siebzehn oder achtzehn Jahren auch nicht anders, aber ich gratuliere dir hiermit von Mann zu Mann zu dieser grandiosen Eroberung!“
„Ich will nicht, dass wir uns in ein paar Monaten wieder trennen!“, entgegnete Jean-Pierre im Brustton der Überzeugung. „Dazu fühlt es sich einfach viel zu gut an.“
„Wissen deine Eltern, dass du und diese Celestina jetzt ein Paar sind?“, erkundigte sich Jeremy und versuchte sich vorzustellen, wie Damien und Aurélie wohl reagiert haben könnten, als ihr Sohn ihnen diese Neuigkeit… „beichtete“ wäre das falsche Wort…
„Ja…“, antwortete Jean-Pierre etwas verlegen. „Sie wollen schließlich immer wissen, mit wem ich meine Freizeit verbringe und wen ich zu uns nach Hause einlade. Also blieb mir nichts anderes übrig, als meiner Mom die ganze Geschichte zu erzählen. Wirklich die ganze Geschichte. Meine Mom fand es sehr nett von dir, dass du mich quasi in den Hintern getreten und ermutigt hast, Celestina eine SMS zu schreiben. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich mich das nie getraut. Während ich jetzt gerade mit dir rede, erzählt meine Mom bestimmt meinem Dad von mir und Celestina. Und weißt du, was das Lustige an der ganzen Sache ist? Celestina hat mir gesagt, dass sie schon seit drei oder vier Wochen in mich verliebt war, aber sie hat sich nie getraut, mir das zu gestehen. Zumal ihre Eltern ihr eingetrichtert haben, dass in einer solchen Situation immer der Mann derjenige ist, der den ersten Schritt machen muss. Celestina hätte also bis zum Sankt-Nimmerleinstag darauf gewartet, dass ich ihr eine SMS schreibe… Ich denke, Jeremy, in deinem vorherigen Leben musst du Heiratsvermittler gewesen sein, auch wenn du nicht an Wiedergeburt glaubst.“
Jeremy brach in schallendes Gelächter aus. Ob Damien, Aurélie und die anderen Kinder nun stirnrunzelnd zu ihm herüberschauten, war ihm vollkommen egal, das konnte er ohnehin nicht wahrnehmen.
„Hey, hör auf, mich auszulachen!“, beschwerte sich Jean-Pierre, doch er kicherte dabei selbst.
„Genieße jede Minute mit ihr“, sagte Jeremy, als er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. „Lies ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Verwöhne sie. Vor allem dann, wenn ihr irgendwann einmal miteinander im Bett landet. Sorge dafür, dass sie den Sex mit dir auch dann noch in guter Erinnerung behält, wenn ihr euch eines Tages wieder trennen solltet. Mach es ihr schwer, einen neuen Partner zu finden, der dir ebenbürtig ist. Ich weiß, wovon ich spreche. Und wenn ihr langfristig zusammenbleiben solltet, so wie deine Eltern, dann wünsche ich euch jede Menge süße, schwarz-weiß gestreifte Kinder.“
Jetzt war es an Jean-Pierre, herzhaft zu lachen.
„Mal abwarten!“, sagte er schelmisch und knuffte Jeremy freundschaftlich in die Seite. Jeremy unterdrückte einen Schmerzenslaut, weil seine gebrochenen Rippen an dieser Stelle immer noch sehr empfindlich waren.
„Vielleicht, wenn ich fünfundzwanzig oder dreißig Jahre alt bin“, fügte Jean-Pierre hinzu. „Da können wir uns noch alle Zeit der Welt lassen…“
Jeremy nickte und ließ sich wieder bequem in sein Kopfkissen zurücksinken.
So ist das jetzt also, dachte er. Alle haben plötzlich jemanden. Jean-Pierre hat Celestina. Nick hat Evelyn. Linda hat Pascal. Damien hat Aurélie, eindeutig und schon immer.
Und ich selbst?
Ich habe Xerenade. Xerenade, die mir in meinen Träumen die Kraft gibt, auch ohne Augen hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Xerenade, die vom Schicksal dazu auserwählt wurde, als Einzige die Explosion des UFOs zu überleben, nur um mich kennenzulernen. Xerenade, der ich bestimmt eines Tages auch in der Realität begegnen werde, sobald ich wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden bin.
Wenn ich Xerenade nicht hätte, dann wäre ich jetzt wohl sehr neidisch auf Jean-Pierre und Nick und Linda und Damien. Aber das bin ich nicht. Für mich ist die richtige Frau diejenige, die aus den Tiefen des Universums zu mir gekommen ist. Und dank ihr kann ich mein Schicksal ein kleines bisschen besser ertragen, meine Blindheit und meine zerstörten Augen und die Dunkelheit um mich herum sind nicht mehr ganz so grauenvoll, wenn ich ab und zu von Xerenade träumen kann.
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