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Blindgänger

von Mirfineth
Kurzbeschreibung
GeschichteRomance, Schmerz/Trost / P16 / Het
21.04.2011
11.01.2023
145
140.490
6
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Dieses Kapitel
5 Reviews
 
 
21.04.2011 791
 
Blind
Ich bin blind
und sehe
dass du blind bist
für mein Sehen... ...
(Autorin: Meine kleine Schwester)

Vorübergehend bewegt
Vorübergehend still
Vorübergehend Wasser
Vorübergehend Stein
Vorübergehend Tier
Vorübergehend Baum
Vorübergehend rot
Vorübergehend blau
(Eugen Gomringer, geb. 1925, bolivianisch-schweizerischer Schriftsteller)



Austin / Texas / USA, Juni 2011

Jeremy Stinger zündete sich eine Zigarette an und klemmte seine Sonnenbrille in den Ausschnitt seines T-Shirts. Dann griff er nach seinem Notizbuch, das vor ihm auf dem Tisch lag, und blätterte leicht gelangweilt die Seiten durch, die er soeben hingekritzelt hatte, während er auf seiner Veranda saß und auf seinen Kumpel Nicolas wartete, mit dem er um die Häuser ziehen wollte.
„Was ich mag“, stand auf der ersten Seite. Die Liste war lang.
Blonde Frauen. (Okay, brünette und schwarzhaarige tun’s auch, so lange sie einen knackigen Hintern haben.) Guten Sex. (Sex zu dritt oder Sex mit Männern ist dabei auch erlaubt.) American Football spielen, zugucken, egal. Bier trinken. Viel Bier. Und Cola. Und ab und zu Wein und Champagner. (Bei einem Date.) Pommes mit Mayo. Und ein großes Steak. Fernsehen gucken. Texas. (Jawohl, Texas.) Einen Joint durchziehen. Cowboyhüte. Ins Kino gehen. Geld ausgeben. Richtig viel Geld. Mit dem Flugzeug fliegen. One-Night-Stands. Sommersprossen. Achterbahn fahren. Hawaiihemden. Westernfilme. Heavy Metal. Fitnessstudios. Kondome mit Erdbeergeschmack. (Als er das las, musste Jeremy grinsen.) Pizza Margherita. Die Karibik. In die Disco gehen und so richtig abtanzen. Und – und – und…
Jeremy lehnte sich zurück und fuhr sich genüsslich mit der Zunge über die Lippen. Er genoss das Leben in vollen Zügen. Er kannte niemanden, der dies besser konnte, als er selbst.
„Was ich nicht mag“, stand auf der zweiten Seite. Diese Liste war etwas kürzer, hatte es aber nicht weniger in sich.
Ungeschminkte Frauen mit Pferdeschwanz. Alte, klapprige Autos. Spinat und Broccoli. Menschen ohne Handy und ohne Internetanschluss. Klugscheißer. Und Streber und Schleimer. Und Besserwisser. Tauben und andere Vögel in der Innenstadt. Frauen, die nur ohne Verhütung Sex mit mir haben wollen, weil sie sich Kinder wünschen. Kinder unter fünf Jahren. Öko-Freaks und Hippies. Das Mittelalter. Juckreiz an den unmöglichsten Stellen. Und behinderte Menschen. Behinderte Menschen aller Art.
Jeremy konnte einfach nicht verstehen, warum die Gesellschaft so viel Aufhebens um die Integration Behinderter machte. Für ihn waren behinderte Menschen nur unnötiger Ballast, der die Gesellschaft am Weiterkommen hinderte. Leute, die an den Rollstuhl gefesselt waren, noch nicht einmal alleine zur Toilette gehen konnten, geschweige denn sich duschen oder auch nur mit Messer und Gabel essen. Leute, die nicht sehen oder nicht hören oder nicht sprechen oder nicht lesen und schreiben, ja mitunter noch nicht mal richtig denken konnten, warum hatten sie einen ganzen Schwarm von Helfern, Pflegepersonal, Hunden, Stöcken, Hörgeräten, Krücken, Rollstühlen, Sonderpädagogen und ähnlichem Schrott um sich herum? Sollten sie doch sehen, wo sie blieben. Ach nein, viele von ihnen konnten ja nicht sehen. Sorry. Auf jeden Fall, warum investierte man so ungeheuer viel in diese Menschen, wenn sie der Gesellschaft nicht das kleinste bisschen zurückgeben konnten? Vernünftig und produktiv arbeiten konnten die wenigsten von ihnen, ihre hauptsächlichen Tätigkeiten bestanden im Zusammenfalten von Pappschachteln und Herumfuhrwerken mit Schraubenziehern, und hundert Prozent aller Freizeitaktivitäten, die Jeremys Leben ausfüllten und es so fantastisch und lebenswert machten, waren ihnen verwehrt.
Jeremys Eltern waren anderer Meinung gewesen. Aber als ihr Sohn älter wurde, hatten sie aufgehört, in ihn zu dringen, er möge sich sozialer engagieren. Sie versuchten nicht mehr, ihn zu irgendetwas zu überreden. Jeremy war ihr Ein und Alles, ihr einziges Kind. Und sie liebten (und verwöhnten) ihn so, wie er war.
Jeremys Eltern waren sehr wohlhabend. Sein Vater hatte direkt für den Gouverneur gearbeitet, und seine Mutter war Kriminalhauptkommissarin gewesen. Sie hatten beide zuerst eine steile Karriere hingelegt, bevor sie sich dazu entschlossen, Jeremy zu bekommen. Seine Mutter war bei seiner Geburt schon über vierzig gewesen, und sein Vater fast zwölf Jahre älter. Jeremy hatte das beste College besucht, das seine Eltern hatten finden können. Vor drei Jahren waren dann beide kurz hintereinander gestorben. Zuerst Jeremys Vater (an Altersschwäche), und danach Jeremys Mutter, die den Tod ihres Ehemannes nicht verkraftet hatte. Damals war Jeremy achtundzwanzig gewesen.
Und jetzt gehörten die Luxusvilla, das 1A-Auto, das ganze Grundstück und alle Aktien Jeremy. Damit war seine Zukunft vorerst gesichert. Und er war fest entschlossen, das Beste daraus zu machen.  
Er schnappte sich einen Kugelschreiber, und, die Zigarette von der rechten in die linke Hand wechselnd, kritzelte er auf die dritte Seite des Notizbuches: „Hey Alter, wo steckst du? Ich bin hier am Warten, Nick!!“
In diesem Moment klingelte es an der Haustür.
„Na endlich!“, rief Jeremy, sprang auf, griff nach seiner Lederjacke, schob sich die Sonnenbrille auf die Nase, steckte seinen Schlüsselbund in die Hosentasche und rannte los. Ein heißer Abend und eine lange Nacht lagen vor ihm.
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