Geschichte: Freie Arbeiten / Prosa / Drama / Überleben

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Überleben

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Tragödie / P16 / Gen
20.02.2011
20.02.2011
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15.758
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Dieses Kapitel
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20.02.2011 15.758
 
Hallo meine Lieben Leser,
ich heiße Euch herzlich bei meinem neuen Projekt willkommen.

Die Geschichte hatte ich ehrlich gesagt schon ziemlich lange in meinen Kopf und habe auch ewig an hier herum gebastelt. Die, die mich und meine Geschichten schon kennen, werden merken, dass es mal wieder eine komplett andere Geschichte ist, anderes Genre, andere Hintergründe...

Es war nicht immer leicht und vermutlich werde ich manche Stellen noch mal verändern, bis sie mir wirklich hundert Prozent gefallen...

Aber hier schon mal das Ergebnis Tagelanger Überlegungen...

Freue mich auf Reviews, will unbedingt wissen, wie dieser OneShot bei euch ankommt.

Eure Apollon-klio







Überleben ist ein Beruf, der gelernt werden muss wie jeder andere.
-  Hans Sahl




Ich liege hier auf dem staubigen Boden, bewege mich kaum, blinzle kaum und schaue nur durch das Zielfernrohr meiner Waffe. Die Erde ist trocken, die Luft nicht wirklich feuchter. Kein Luftzug weht über uns hinweg. Wir liegen einfach nur so da.

Ich liege da, starre durch das Zielfernrohr meiner Barrett M82, welche ich im Schlaf auseinander nehmen kann. Sie wird auch Special Applications Scoped Rifle, kurz SASR, genannt und ich vertraue ihr blind. Ich vertraue ihr mein Leben an. Sie ist inzwischen ein Teil meines Körpers geworden, ohne sie fühle ich mich unwohl. Ich vertraue ihr, genauso wie ein Polizist seiner Dienstwaffe vertraut oder wie ein Feuerwehrmann dem Wasserschlauch vertraut, mit dem Menschenleben gerettet wird.

Die Luft ist trocken und warm, wie so oft in Afghanistan.

Am Anfang war das eine ziemliche Umstellung für mich, wo ich doch aus Forks stamme. Den Ort in Amerika mit der höchsten Niederschlagsrate des ganzen Landes. Dort ist es feucht und regnet spätestens jeden zweiten Tag, die Wolken verdecken die Sonne immer. Man kann die Sonnentage im Jahr an einer Hand abzählen.

Doch nun bin ich hier. In der Hitze einer trockenen Wüste. Es gibt nur wenige Pflanzen hier, nicht viele der Bauern können es sich leisten die Felder zu bestellen, denn sie müssen sehr oft bewässert werden und Wasser ist in diesem Land genauso teuer wie Benzin. Neben den meistern Häusern stehen Feigenbäume und Dattelpalmen, die wenigen Pflanzen die mit wenig Wasser auskommen und trotzdem gedeihen, doch von ihnen leben kann keiner.

Ich bin Scharfschütze. Und ich bin im Krieg.
Ich bin einer der wenigen Scharfschützen im Krieg gegen Afghanistan. Meine Aufgabe ist es, auf dem Boden zu liegen, verdeckt hinter Bäumen, unter Büschen, im Gestrüpp, unter speziell angefertigten Netzen, damit uns keiner entdecken kann. Damit uns wirklich niemand entdeckt. Nicht mal ein streunender Hund darf uns entdecken. Wir müssen eins mit unserer Umgebung sein. Tagsüber genauso wie nachts. Das sichert unser Überleben.

Wir dürfen nicht niesen oder husten. Wir dürfen uns nicht kratzen und schnell bewegen. Wir dürfen nicht aufschreien, wenn ein Skorpion direkt vor unserer Nase entlang läuft oder wenn eine Schlange in unserer Nähe zischt. Und Gott verdammt, hier wimmelt es nur so von Giftschlangen, fast so als wäre man im australischen Outback.

Wir bewegen uns nicht.
Wir sagen nichts.
Wir essen nichts.
Wir gehen nicht mal aufs Klo.
Wir liegen einfach nur so da und tun unsere Arbeit, so wie jeder andere auch.
Nur das mein Beruf doch etwas anders ist. In meiner Stellenbeschreibung würde es wohl so stehen: Beruf: Scharfschütze, Auftrag: Töten. Doch ich bin kein James Bond. Ich bin kein Geheimagent des britischen Geheimdienstes MI6. Ich existiere nicht in der Welt eines Autors, sondern lebe in der Realität.

Ich brauche mir keine Kinofilme über den Krieg anzusehen. Ich stecke mitten drin. Bis zum Hals stecke ich im Staub des Krieges. Der Geruch des Krieges, des Schießpulvers und des Todes kleben an mir wie eine zweite Haut. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, so wie man sich einfach an alles gewöhnen muss, wenn man überleben will.

Ich wurde speziell auf das Töten trainiert. Auf das Töten von Menschen, die keine Waffen tragen, die nicht kämpfen. Ich töte aus dem Hinterhalt heraus, wenn die Männer die Taliban sind, von ihren Schwester, Brüdern, Ehefrauen und Kindern umgeben sind. Ich töte sie, wenn sie das Haus verlassen, um vom Brunnen Wasser zu holen. Ich töte sie, wenn sie aus dem Fenster sehen und sich ein wenig die Gegend anschauen. Ich töte sie, wenn sie mit ihren Kindern spielen.
Ich töte sie.
Ich habe eine tödliche Trefferquote von 98%, das heißt, ich treffe immer. Und wenn die Zielperson nicht sofort stirbt, weil die Windrichtung sich plötzlich geändert hat, schieße ich einfach noch mal.
So einfach ist das nun mal.

Dann drehen sich alle um, schreien und suchen nach uns. Doch sie finden uns nicht, während wir einfach weiter auf dem Boden liegen. Tagsüber suchen sie mit ihren Hunden nach uns, lassen alles beschnüffeln und wir hoffen, dass die Tiere nur den Geruch der Umgebung aufnehmen, denn zu der sind wir geworden. Nachts suchen sie uns mit Taschenlampen, doch sie finden uns nicht.
Wir warten dann, bis die Situation sich beruhigt hat und verlassen nachts unser Lager, wenn keine Lampen mehr auf uns gerichtet sind.  

Ich töte.

Viele können diesen Job als Scharfschütze nicht ausfüllen. Vielen fällt es schon schwer, wenn sie im Gefecht jemanden töten müssen, obwohl dieser selber mit einer Waffe auf sie zielt. Doch ich muss auf Menschen zielen, die  keine Waffe auf mich gerichtet haben. Ich erschieße sie im Hinterhalt. Kaltblütig. Ohne Emotionen und schlechtem Gewissen.

Man muss alle Gefühle abstellen, man muss einfach seinen Job tun. Für den Krieg. Man darf nicht blind und taub sein, muss aber alle Gefühle abstellen können, wenn man so daliegt. Man darf nicht an die Familie denken, die in Amerika auf einen wartet. Man darf nicht daran denken, was es für ein Gefühl gewesen ist, als man mit ansehen musste, wie ein Freund und Soldat in einem Sarg nach Amerika geflogen wurde. Die amerikanische Flagge lag dabei jedes Mal auf dem Sarg, als Zeichen, dass man für sein Vaterland gestorben ist. Ein Zeichen dafür, dass der Tod nicht umsonst war. Dass man stolz auf jeden einzelnen Soldaten war.

Manche fragen mich, warum ich mich für die Laufbahn des Scharfschützen entschieden habe. Manche fragen, warum ich überhaupt in den Krieg gezogen bin.
Manche Fragen kann ich nicht beantworten, doch diese kann ich beantworten.
Weil ich zu den Amerikanern gehöre, die etwas tun müssen. Wir kämpfen, weil wir unser Land beschützen wollen. Wir kämpfen, weil wir Rache wollen für all die Menschen, die sie getötet haben. Für all die Amerikaner, deren Familie nun ohne sie auskommen muss. Für die Menschen, die beim Anschlag auf das World-Trade-Center und das Pentagon am 11.09.2001 gestorben sind.
Für meine Eltern.

In Amerika ist es so: Entweder du stehst auf der einen oder auf der anderen Seite. Entweder du bist dafür oder du bist dagegen. Schwarz oder weiß. Republikaner oder Demokrat.
Einen Graubereich kennen wir nicht.
Obwohl ich Demokrat bin, stehe ich auf dieser Seite.
Ich bin nicht gegen diesen Krieg, ich halte ihn für sinnvoll und notwendig. Aber ich heiße nicht alles gut und befürworte auch nicht alles, was im Namen dieses Krieges getan wird.

Die Sonne wird bald untergehen und ich liege hier, blicke durch das Zielfernrohr meiner Waffe, habe mich schon seit Stunden nicht bewegt, genauso wie die beiden Männer, die mit mir hier im Dreck liegen.  Neben mir liegt mein Spotter, mein Beobachter, der mich unterstützt. Luke Carter und ich arbeiten schon eine Weile zusammen, er ist aus Missouri und hat ähnliche Beweggründe wie ich, hier zu sein. Der Spotter ist mit keiner Waffe ausgestattet, sondern nur mit einem Fernrohr, dessen Reichweite noch weit über die meines Zielfernrohrs hinaus geht. Seine Aufgabe ist es, das ganze Gebiet zu beobachten, er sieht alle Einzelheiten. Kann durch die Fenster der Häuser sehen und die Beschriftung auf den Tassen oder auf dem Kalender an der Wand erkennen. Seine Aufgabe ist es auch, die Flugbahn zu berechnen. Er berechnet die Windgeschwindigkeit, den Gegenwind, den Vorhaltewinkel, damit ich mein Ziel auch beim ersten Schuss sofort tödlich treffen kann. Er ist ein super Mathematiker und auch in Physik eine Eins. Er misst die Entfernung genau, gibt mir alle möglichen Daten durch. Wir sind ein super Team und ich vertraue ihm absolut blind. Wenn er seine Arbeit falsch macht, sind wir genauso dran, wie wenn ich daneben schieße. Wenn wir unseren Job nicht richtig machen, sind wir dran.

Hinter uns liegt Mike Stone, er ist für unsere Rückendeckung zuständig, falls sich hinter uns etwas tut, was wir so nicht mitkriegen können. Die beiden unterliegen meinem Befehl, doch sie sind schon länger mehr als nur meine Soldaten. Sie sind meine Freunde geworden. Ich vertraue ihnen mein Leben an, anders würde man hier auch nicht überleben können.

Ich brauche sie genauso, wie sie mich brauchen. Wenn man eine Woche hier liegt, kaum was isst, kaum was trinkt, kaum was spricht, sich kaum bewegt, ist man für jegliche Nähe dankbar. Wir reden zwar nicht viel, doch dass jemand da ist, auf den du dich verlassen kannst, mit dem du dich im Notfall unterhalten kannst, sorgt schon dafür, dass du nicht verrückt wirst.

Wir wechseln uns beim Schlafen immer wieder ab. Man gewöhnt sich sogar daran, auf staubigem, steinigem Boden einzuschlafen. Denn Schlaf ist kostbar. Wenn wir nicht ausgeschlafen, nicht klar bei Verstand, sind, sind wir genauso fällig. Jedes Zögern, jedes Zittern kann ein Fehler bedeuten. Kann unseren Tod bedeuten.

Scharfschützen haben ein besonderes psychologisches Anforderungsprofil: Scharfschützen sollen besonders stressresistent, ausgeglichen, geduldig und intelligent sein. Diese Fähigkeiten werden benötigt, da Scharfschützen im Einsatz meistens auf sich gestellt sind, häufig einer sehr monotonen Aufgabe nachgehen und unabhängig in kleinen Gruppen bzw. alleine operieren. Deshalb müssen sie in der Lage sein, Entscheidungen selbst zu treffen, auf neue Situationen zu reagieren und zahlreiche Informationen auszuwerten. Die besondere Einsatzart des Scharfschützen, aus dem Hinterhalt zu töten und nicht aus einer konkreten Notwehrsituation, kann besondere psychische Probleme verursachen.

Beispielsweise lernt der Schütze während einer Observation, die Stunden oder Tage dauern kann, das Ziel mit all seinen menschlichen Eigenheiten (Lachen, Essen und andere Dinge des normalen Lebens) kennen und kann dessen Mimik sehen. Wir sehen, wie er mit seinen Kindern spielt oder wie er seine Frau küsst. Wir sehen, wie er den Hund vor die Tür setzt, damit dieser sein Geschäft erledigen kann oder wie er mit seinen Söhnen den Koran liest.
Gleichzeitig stellen die beobachteten Personen keine persönliche Bedrohung dar und wissen im Normalfall nicht von der Gegenwart des Schützen. Dabei kann eine Subjektivierung einsetzen, bei der die Zielperson zu einem Menschen wird, den man zu kennen glaubt.
Deshalb muss der Schütze fähig sein, auch bei vermeintlicher Individualisierung der Zielperson abzudrücken, ohne dabei übermäßig unter dem von ihm verursachten Tod des getöteten Menschen zu leiden. Nicht selten ist wegen dieser Individualisierung psychologische Betreuung nach einem Einsatz erforderlich, viele Scharfschützen treten auch nach ihrem ersten Einsatz an der Front zurück, weil sie es nicht weiter ertragen können.

Die Laufbahn des Scharfschützen ist eine der schwersten und es gibt nur wenige, die sich überhaupt zutrauen, als Scharfschütze ausgebildet zu werden. Und wenn sie die Ausbildung durchstehen, werden sie danach erkennen, dass das wirkliche Leben noch einen Schritt härter ist als die Ausbildung.

Das Leben ist immer härter, wie man es in der Schule gelernt hat. Wenn ich hier auf dem Boden liege, interessiert es keinen, dass ich in der zweiten Klasse den Buchstabierwettbewerb gewonnen habe oder dass ich es geliebt habe, wenn meine Eltern mit mir ins Aquarium gefahren sind.

Wenn du immer wieder ein Haus beobachtest, immer wieder die gleichen Gesichter siehst, immer wieder das Lachen und die Stimmen der Kinder hörst, die im Garten mit Murmeln spielen, siehst du sie irgendwann nicht mehr als Bedrohung. Wenn du siehst, wie der Vater die Kinder hochnimmt und durch die Luft wirbelt, fällt es dir schwer zu glauben, dass er zu den Taliban gehört und für dich eine Bedrohung darstellt. Wenn du erkennst, dass die Mutter die Kinder genauso zum Essen ruft, wie es deine Mutter früher getan hat, dann fällt es dir schwer, die Menschen noch als Zielpersonen zu sehen.

Doch genau das ist die Arbeit eines Scharfschützen. Man muss emotionslos bleiben, keine Gefühle und Zuneigungen zulassen. Sie haben hier keinen Platz. Sie sind einfach falsch im Krieg.
Du darfst kein schlechtes Gewissen haben, wenn du abdrückst. Du darfst nicht an Entschuldigungen denken, wenn du den Kindern ihren Vater nimmst. Du musst objektiv bleiben. Deinen Job machen.





Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.
– Bertold Brecht



„Autos fahren vor“, höre ich Luke flüstern.

Ich nicke nicht, zeige Luke auch nicht, dass ich ihn gehört habe. Er weiß es.
Ich sehe durch das Zielfernrohr, wie mehrere dunkle Pickups vorfahren. Auf der Ladefläche wie in der Fahrerkabine sitzen Männer mit dichten Bärten. Sie halten vor dem Haus an und steigen langsam aus.

Die Mutter der Familie ruft die Kinder ins Haus und der Vater tritt heraus. Ich kann sehen, wie sein Adamsapfel sich bewegt, als er die Männer zu erkennen scheint, die ihn besuchen. Es ist offensichtlich, dass der Besuch ihn überrascht. Er hat Angst. Wovor? Vor den Männern? Fürchtet er sie?

Aber vermutlich nicht hat der Mann Angst um sich selber, sondern um seine Familie. Egal ob in Amerika, Norwegen, Japan oder Afghanistan, es geht immer um die Familie. Sie ist das Wichtigste, was man hat. Sie ist der wunde Punkt eines jeden Menschen, es sei denn, man ist ein Soziopath. Sozipathen sind Personen, die nicht oder nur eingeschränkt fähig sind, Mitgefühl zu empfinden, sich nur schwer in andere hineinversetzen können und die Folgen ihres Handelns nicht abwägen können.

Die Männer tragen die Waffen über der Schulter und wirken alles andere als freundlich. Der Fahrer des ersten Pickups redet auf den Vater ein, dieser nickt immer wieder, stimmt irgendetwas zu.

Durch die Entfernung kann ich nicht wirklich verstehen, was sie sagen, versuche mich auch nicht im Lippenlesen. Luke wird es versuchen, wie ich ihn kenne, sein arabisch ist eh besser, als meines. Aber ich erkenne einige der Gesichter, welche sich immer wieder umsehen. Sie beobachten die Gegend, würden jegliche Veränderung und Bewegung sofort bemerken. Sie sind genauso militärisch ausgebildet, wie wir es sind und deshalb würde ich sie nie unterschätzen. Sie sind genauso gefährlich wie wir. Nicht nur, weil sie eine Waffe tragen.

Wir beobachten die Szenerie genau, versuchen jedes Gesicht in unseren Köpfen abzuspeichern, um sie später dem Captain in der Basis weiter zu geben.

Solche Treffen wie dieses hier sind nicht selten und letztendlich ist dieses Treffen auch der Beweis für uns, dass unsere Zielperson zu den Taliban gehört. Zumindest hat er irgendetwas mit ihnen zu tun. Da der Anführer der Gruppe in den Pickups mit unserer Zielperson spricht, mit ihr verhandelt und sie nicht bedroht, ist es ein echtes Zeichen dafür und bedeutet für uns auch, dass wir hier nicht umsonst auf dem Boden unter unserem Tarnnetz liegen. Sobald die Besucher wieder verschwunden sein würden, würde ich die Zielperson wieder aufnehmen und so bald wie möglich abdrücken.

„Da stimmt etwas nicht“, flüstert Luke wieder, dieses Mal warnend und ich blicke sofort in die einzelnen Gesichter der Personen, versuche die Regungen und Ausdrücke darauf zu deuten. Sie wirken verbissen, ernst, doch so sehen sie immer aus. Durch meine Zeit als Scharfschütze habe ich gelernt in den Gesichtern der Leute nach Emotionen zu suchen. Ich erkenne, wenn sie Angst haben oder sich fürchten. Ich sehe, wenn sie wütend oder angespannt sind.

Ich muss Luke zustimmen, irgendetwas stimmt nicht, aber noch kann ich nicht sagen, was.

Zwei der Männer gehen plötzlich ins Haus und unsere Zielperson fällt schluchzend auf die Knie, vergräbt sein Gesicht in den Händen. Er heult auf und wiegt sich leise vor und zurück.

Dann höre ich die Schreie des kleinen Mädchens aus dem Inneren des Hauses. Ein Schuss fällt und unsere Zielperson schreit ebenfalls auf. Ein weiterer greller Schrei kommt aus dem Haus. Ich kann nicht deuten, ob es der der Frau ist oder der des kleinen Jungen.
Wen haben sie umgebracht? Wer wird am Ende in die Arme des Vaters stürzen?

Die Männer kommen wieder raus und gehen zu ihren Wagen, steigen nach und nach wieder ein. Sie wirbeln Staub und Dreck auf, schränken unsere Sicht deutlich ein. Entweder ich muss Husten wegen dem trockenen Staub, der sich nun in meiner Lunge sammelt, oder ich muss die Augen zusammenpressen, weil diese nun auch brennen. Ich entscheide mich dafür, die Augen zusammen zu pressen. Nur für einen kleinen Moment halte ich auch kurz die Luft an, in der Hoffnung, dann nicht mehr so viel Staub einzuatmen.

Und im nächsten Moment weiß ich, dass ich die falsche Entscheidung getroffen habe.

Meistens hat man nur eine Wahl. Entweder man geht nach links oder nach rechts. Man weiß nicht, welche in den Tod führt. Doch man hat nur diese eine Chance, die Entscheidung zu treffen. Entweder man trifft die richtige oder die falsche Entscheidung.
Und ich habe die falsche Entscheidung getroffen.

Das erkenne ich, als ich höre, wie eine Granate in die Luft gesprengt wird und wir aus unserem Unterschlupf gerissen werden.






Die Welt ist ein schöner Platz und wert, dass man um sie kämpft.
– Ernest Hemingway




Ich erkenne die Wirkung von Morphium und weiß daher sofort, dass es sich in meinen Adern befindet.

Mein Vater John Walker Senior war Arzt, ein verdammt guter, wenn ich das sagen darf. Früher wollte er immer, dass ich mal in seine Fußstapfen trete und selber Arzt eines angesehenen Krankenhauses werde. Vielleicht hätte ich das auch wirklich getan, wenn man ihn mir nicht genommen hätte. Vielleicht wäre ich wirklich Arzt geworden, wenn ich nicht das Gefühl in meiner Brust hätte, dass ich ihn rächen müsste.

Daher kenne ich die Wirkung und Nebenwirkung des stärksten bekannten natürlichen Schmerzmittels Morphin. Es ist ein Analgetium. Im Idealfall unterdrückt ein Analgetikum die Schmerzempfindung, ohne das Bewusstsein, die sensorische Wahrnehmung und andere wichtige Funktionen des Zentralnervensystems zu beeinflussen bzw. die Leitung von Aktionspotentialen in afferenten Nervenfasern zu unterdrücken.
Wie gesagt, im Idealfall.

Jedoch hatte Morphin auch viele Nebenwirkungen: Abhängigkeit, Euphorie, Apathie, Atemdepression, Bewusstseinsstörungen sowie Halluzinationen, Zeitverlustempfinden/Erinnerungslücken und Übelkeit.

Doch ich wurde nicht Arzt.

Ich half und rettete keine Menschen. Ich brachte sie unter die Erde.

Als meine Eltern damals gestorben sind hatte sich einfach alles in meinem Leben verändert. Ich war gerade 16 Jahre alt, als sich mein bisheriges Leben, von dem ich dachte es würde auf einem festen Fundament gebaut sein, plötzlich wackelte und Risse bekam. Ich stand mitten in der Pubertät, war dabei, herauszufinden, wer ich war und was ich wollte.

Die Probleme, die ich damals gehabt hatte, beschränkten sich auf die Fragen, Metal oder Rock zu hören. Das Mädchen aus der Parallelklasse oder doch das Mädchen aus der Nachbarschaft. Ich überlegte mir, wie ich meine Eltern zur Weißglut treiben konnte oder wie ich die Geschichtsstunde schwänzen konnte. Fußball spielen gehen oder sich mit Freunden einen Joint reinziehen. Eben Alltagsprobleme eines Teenagers.

Nach dem Tod meiner Eltern zog  ich von New York wieder nach Forks zurück, wo die Schwester meiner Mutter mit ihrer Familie lebte. Drei Jahre zuvor waren wir erst nach New York gezogen und plötzlich war ich wieder auf der anderen Seite von Amerika und versuchte, mit meinem Leben klar zu kommen.

Ich steckte mitten in der Pubertät und kämpfte mit dem Tod meiner Eltern. Es ging plötzlich nicht mehr um Mädchen, Musikgeschmäcker und Sport.

Ich wollte überleben. Ich wollte sie stolz machen.

Dennoch war ich wütend. Ich war wütend auf meine Eltern, weil sie gestorben waren und mich zurück ließen.

Ich war wütend auf die Regierung, weil sie zugelassen hatte, dass es in unserer Geschichte einen Tag wie den 9/11 gab.

Ich war wütend auf die Menschen, die an diesem Attentat Schuld waren.

Ich war sogar wütend auf die Menschen, die einfach weiterleben konnten, als wäre gar nichts passiert.

Meine Tante Molly, ihr Mann David und ihre beiden Kinder Elisha und Nick versuchten mich immer wieder auf den richtigen Weg zurückzubringen. Doch für mich gab es keinen Weg zurück mehr, denn für meine Eltern gab es auch keinen Weg zurück.

Vielleicht wäre ich, wenn meine Eltern noch leben würden, wirklich Arzt geworden.
Vielleicht wäre ich aufs College gegangen und hätte Medizin studiert.
Vielleicht wäre ich aber auch Astronaut geworden oder hätte Physik studiert. Vielleicht hätte ich auch Journalismus studiert und wäre als Berichterstatter durch die Welt getourt, immer auf der Suche nach tollen Storys.
Doch ein einziger Tag veränderte das Leben von so vielen Menschen, so auch meins.

Ich wurde nicht Arzt.

Ich wurde Soldat.

Ich ging nicht ans College, sondern nach Afghanistan. Ich ging nicht Lernen, sondern zog in den Krieg.



Ich hatte keine Ahnung, wo ich war, doch hoffte ich, dass ich in einem militärischen Krankenhaus war, vielleicht hatte man mich zur Bagram Air Base gebracht, das Hauptquartier der Streitkräfte der Vereinigten Staaten in Afghanistan. Vielleicht lag ich also in einem Militär-Lazarett und wurde von guten Ärzten behandelt.

Vielleicht lag ich aber auch irgendwo in der Wüste und wurde von Taliban mit Morphin vollgestopft, damit ich weiterhin in meinem Schlafzustand blieb, denn es fiel mir verdammt schwer, die Augen zu öffnen.
Um zu überleben, musste ich als  Erstes meine Umgebung begutachten. Ich musste herausfinden, wo ich war.
War ich in Sicherheit oder weiterhin in Gefahr? War ich bei meinen Leuten oder bei Feinden?
Doch ich konnte die Lider nicht öffnen. Das Morphin zeigte seine Wirkung.
Und wieder döste ich weg…




Man kann einen Krieg genauso wenig gewinnen wie ein Erdbeben.
- Jeannette Rankin



Als ich das nächste Mal wieder einen bewusstseinsähnlichen Zustand erlangte, schaffte ich es sogar, die Augen zu öffnen. Doch ich konnte kaum etwas erkennen. Alles war verschwommen und drehte sich. Mir wurde schlecht und ich glaubte, mich gleich zu übergeben. Allerdings konnte das auch eine Nebenwirkung des Morphins sein.

Ich konnte keine genauen Umrisse erkennen. Die Decke über mir war dunkel und eine Lampe leuchtete direkt über mir.

Ich hörte Stimmen um mich herum. Es waren laute Stimmen, viele auf einmal, hektische Stimmen und ich hörte auch jemanden schreien, doch ich konnte nicht sagen, was sie sagten, erkannte die Sprache nicht. Ich schien irgendwie taub zu sein, die vielen Stimmen schienen zu weit entfernt zu sein.
War ich bei Leuten von der Army? War ich in Sicherheit?

Ich starrte in das beißende, grelle Licht und verlor mich wieder in der Wirkung des Morphins.




Beim nächsten Mal fiel es mir leichter, die Lider zu öffnen. Jedoch sah ich wieder alles verschwommen und die Welt schien sich um mich herum zu drehen.

Ich schob es wieder auf das Morphin, das zwar immer noch in meinem Köper war, dieser nun aber versuchte, es abzusetzen. Oder war ich schon resistent gegen das Schmerzmittel geworden? Wie lange war ich schon in diesem Zustand?

Da ich den Kopf noch nicht drehen wollte, versuchte ich so etwas von meiner Umgebung wahrzunehmen. Mein Blick wurde etwas klarer und ich sah die Stromleitungen, die zu der Lampe führten, welche über meinem Bett hing. Unter meinem Kopf fühlte ich ein Kissen, welches nicht wirklich weich war und die Federn darin waren schon abgeknickt und eingesunken. Die Decke, die über meinem Körper lag, war dünn und etwas rau.

Über mir sah ich wieder das grelle Licht und erkannte nun auch ein paar Mücken, die um das Licht herum ihre Kreise zogen. Es roch nach Desinfektionsmittel, aber auch nach Blut und Erbrochenem.

„Oh, Sie sind ja aufgewacht“, sagte eine Person plötzlich ziemlich nah neben mir und ich war erleichtert, dass ich sie verstand. Ich war also nicht irgendwo als Geisel in der Wüste, wo ich festgehalten und gefoltert wurde.

In mein Sichtfeld schob sich ein weibliches Gesicht mit warmen braunen Augen. Sie hatte schöne rosafarbene Lippen und lächelte mich freundlich an. Sie sah wunderschön aus und ich war mir sicher, noch nie eine so schöne Frau gesehen zu haben. Ich war mir nicht sicher, ob ich vielleicht vom Morphin Halluzinationen bekommen hatte, denn sie wirkte wunderschön. Doch in ihrem sanften Blick lag auch Härte und vermutlich hatte der Krieg auch von ihr seinen Tribut gefordert. Wie von uns allen. Wenn wir nach Hause zurück gekehrten, waren wir nicht mehr dieselben. Wir hatten Dinge mit ansehen müssen, die jeden verändern würden. Wirklich jeden.

Wenn man mich fragte, wie es hier war, wie der Krieg war, wusste ich nie, was ich den Leuten erzählen sollte. Ich konnte ihnen von der Sonne erzählen, die hier heller zu sein scheint, als bei uns in Amerika. Ich konnte ihnen von dem Geruch erzählen, den der Wind mit sich bringt. Der Geruch von Blut und Verderben, gemischt mit der Süße von Feigen.
Und ich konnte ihnen vom Sand erzählen. Der trocken ist, kratzt und sich überall festsetzt. Man kann stundenlang unter der Dusche stehen und meinen jede Stelle des Körpers gewaschen zu haben und man findet immer noch irgendwo den Sand wieder. Doch das ist nur eine Sicht des Krieges. Die andere will keiner hören. Es will keiner vom Blut hören. Oder von den entsetzlichen Schreien.

„Verstehen Sie mich?“

Ich starrte sie an und konnte aus irgendeinem Grund nicht antworten. Mein Blick war einfach auf ihre braunen Augen gerichtet, welche mich nun besorgt ansahen. Sie hatte goldene Sprengel in dem warmen Braun, welche die Iris von der Pupille trennten.

„First Leutnant Dearing, verstehen Sie mich?“

Ich schaffte es schließlich zu einem Nicken, was sie wieder lächeln ließ.

Sie wirkte sofort erleichtert. „Gut. Mein Name ist Julia Swan, ich bin Ihre behandelnde Ärztin hier im Lazarett von Bagram“, erklärte sie mir und wieder nickte ich nur.

Ich war also wirklich nach Bagram gebracht worden. Ich lebte und das war erst mal das Wichtigste. Kein Army-Captain würde mit einem Seelsorger an der Haustür meiner Tante Molly klingen und ihr sagen, dass ich für das Vaterland gestorben war. Meine Familie würde nicht zu meiner Beerdigung kommen müssen, wo man ihr eine amerikanische Flagge reichte. Ich wusste, dass sie das nicht verkraften würde. Sie hatte schon ihre Schwester und ihren Schwager verloren, meine Eltern.

Tante Molly war außer sich gewesen, als ich ihr damals gesagt hatte, ich würde nach Afghanistan gehen. Sie hatte geschrien und getobt und schließlich geweint und mich an sich gedrückt. Sie hatte mir gesagt, dass sie mich nicht auch noch verlieren wollte. Ich war doch das Einzige, was ihr von ihrer Schwester noch geblieben war. Wir waren doch eine Familie.
Doch was war mit Luke und Mike? Hatten sie es auch geschafft?

„Was…“ Ein Krächzen kam aus meinem Mund heraus und ich musste sofort husten. Meine Lungen fühlten sich unglaublich trocken an, als hätte ich literweise Staub eingeatmet. Vermutlich hatte ich das sogar. Es war ein schwerfälliger Husten und ich hatte das Gefühl, als würde ich mir die Lunge aus dem Leib herausreißen. Mein Hals fühlte sich wie Schmirgelpapier an, rau und beißend.

Die junge Frau verschwand aus meinem Sichtfeld, tauchte sogleich wieder auf und hielt mir einen Strohhalm an die Lippen. „Trinken Sie, dann wird es Ihnen besser gehen.“

Ich sog an dem Strohhalm und frisches Wasser feuchtete meinen Mund sofort an. Das war wirklich das beste Wasser, das ich je getrunken hatte. Es schmeckte frisch, frei von dem Chlorgeschmack, den das amerikanische Leitungswasser hatte. Es schmeckte nicht wie frisches Quellwasser, welches man in Europa oft zu Trinken bekam, dennoch war es unglaublich lecker. Es fühlte sich gut an, fast so als hätte ich seit Tagen nichts mehr getrunken. Und vermutlich stimmte das auch. Wie lange lag ich schon hier? Welcher Tag war heute?

Ich nickte wieder und sie nahm mir den Strohhalm von den Lippen, stellte den Becher weg und sah mich wieder  besorgt an.

„Was ist passiert?“

„Erinnern Sie sich nicht mehr daran?“, fragte sie mich besorgt.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich…“ Und dann, ganz plötzlich, erinnerte ich mich wieder an die Explosion einer Granate. Sie musste direkt bei uns in der Nähe eingeschlagen sein. Ich hatte sie nicht kommen sehen, wusste auch nicht, wer sie abgefeuert haben könnte. Ich hatte die Augen geschlossen gehabt und vielleicht war das jetzt auch gar nicht so die falsche Entscheidung gewesen. Denn es gab viele Opfer von Granaten, die dadurch, dass sie in die grelle Flammen der Explosion sahen, ihr Augenlicht verloren hatten.

Wieder fragte ich mich, wie es meinen Soldaten ging. Ich war für sie verantwortlich. Es war meine Aufgabe, mich um sie zu kümmern und im schlimmsten Fall zu ihren Familien zu gehen.

„Wie geht es Korporal Luke Carter und Korporal Mike Stone?“, fragte ich aufgebracht und wollte mich sofort aufrichten. Doch ein dumpfer Schmerz in meinem Brustkorb hinderte mich daran und drückte mir jede Luft aus den Lungen. Waren meine Rippen gebrochen?

„Sie müssen liegen bleiben, First Leutnant Dearing“, sagte die Frau mit ernster Stimme und drückte mich an den Schultern wieder aufs Bett. „Sie haben drei gebrochene Rippen und diese müssen heilen.“ Sie sah mich ernst an.

Ich wollte sie anschreien, dass sie mir nichts von drei gebrochenen Rippen erzählen sollte, wo so viele Leute da draußen starben. Manche Soldaten kamen mit nur einem Bein zurück, weil sie auf eine Tretmiene getreten waren. Andere hatten Metallplatten im Kopf, weil eine Kugel sie dort getroffen hatte. Was waren denn da schon drei gebrochene Rippen?

Meine Atmung wurde oberflächlich und hektisch, weil die Wut mich übermannte.  

„Sie müssen sich beruhigen, damit Sie ruhig atmen können.“

„Gebrochene Rippen?“, fragte ich sie atemlos und versuchte mich wieder zu beruhigen, wie die Ärztin es mir riet, doch das war ein verdammt schwieriges Unterfangen. Ich hatte Verantwortung für die beiden Soldaten übernommen. Sie standen unter meinem Befehl und ich war für sie verantwortlich. Ich hatte mir geschworen, dass wir alle drei lebend aus dem Krieg herauskommen würden.

„Ja, Sir“, sagte die Ärztin und es war etwas überraschend, dass sie mich mit >Sir< ansprach. Ich war selber erst 25 Jahre alt, kannte das selber nur von Soldaten, die unter mir standen.
Offensichtlich war die Ärztin in ihrem Dienstgrad auch meinem untergestellt. „Sie wurden von einer Granate erwischt. Es war nicht sehr leicht, Sie aus dem Gebiet zu bergen“, erzählte sie, als sie meinen Puls und Blutdruck überprüfte. „Es hat eine Weile gedauert, bis man Sie überhaupt entdeckt hatte. Die beiden Soldaten, die mit Ihnen vor Ort waren, hatte man schneller entdeckt, doch Sie selber lagen noch unter der Tarndecke.“ Sie zog die Manschette wieder von meinem Arm und bettete diesen wieder neben meinen Körper auf die Decke. „Sie haben eine Gehirnerschütterung und gebrochene Rippen. Doch das wird heilen.“

Ihr Blick wanderte über meinen Körper und hielt bei meinen Beinen an. Was war mit meinen Beinen?
Ich versuchte sie zu sehen, doch etwas versperrte mir die Sicht auf meine Beine. Waren sie noch da? Ich glaubte, sie noch zu fühlen, doch das konnten auch Phantomschmerzen sein. Davon las man doch immer wieder.

„Man musste einen Teil ihres rechten Unterschenkels entfernen. Granatensplitter hatten sich tief ins Fleisch gebohrt und konnten nicht einfach entfernt werden.“ Dann sah sie mir wieder in die Augen.
Ein Teil meines Unterschenkels? Würde ich wieder laufen und rennen können? Würde es so schlimm sein, dass ich eine Prothese tragen musste? Wie viel von meinen Muskeln hatte man mir rausschneiden müssen?

Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus und es brauchte einen Moment, bis ich erkannte, dass ich mir auf die Lippe gebissen hatte, so tief, dass ich Blut schmeckte.
„Wie geht es den Soldaten?“

Die Ärztin sah mich besorgt an. „Ich weiß nicht, ob ich befugt bin, Ihnen das mitzuteilen, First Leutnant Dearing.“

Das war kein gutes Zeichen, das wusste ich sofort. Wenn es den beiden gut ging, würde sie es mir sagen können. Doch schlechte Nachrichten durfte nicht jeder überbringen. Schlechte Nachrichten würde man von Leuten gesagt bekommen, die über einem standen.

„Sagen Sie es mir“, forderte ich ernst. Ich wollte es wissen. Ich würde mit dieser Nachricht nicht warten, bis ein Captain Zeit dafür hatte.

Sie biss sich auf die Unterlippe und nickte schließlich. „Man hat Soldat Mike Stone heute Morgen überführt“, erklärte sie mir und ich wusste sofort, was das bedeutete.

Mike Stone hatte nicht überlebt. Mike Stone war bei diesem Einsatz gestorben. Mike Stone würde  nie der Frau, die er liebte, seine Gefühle gestehen können. Er hatte mir auf dem Weg zu unseren Einsatzort von ihr erzählt. Sie hieß Rachel und er liebte sie wohl schon seit Jahren. Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten sogar Limonade in den Sommermonaten an der Straße verkauft.

Ich war mir nicht sicher, warum mir gerade das einfiel, wo er mir doch so viel von sich erzählt hatte. Er hatte mir auch gesagt, dass sein Vater verdammt stolz auf ihn gewesen war, als er diesem erzählt hatte, er würde zur Armee gehen. Seine Mutter wollte diese Idee aus ihrem Sohn heraus prügeln, doch Mike war in den Krieg gezogen. Er hatte sich seinem Land verpflichtet gefühlt. Er hatte mir erzählt, dass er, wenn er nach Hause zurückkehren würde, sofort zu Rachel gehen würde. Da er im Krieg war, würde sie erkennen, dass er nicht mehr der Nachbarsjunge war, sondern ein Mann geworden war. Er wollte ihr seine Liebe gestehen und sie heiraten.

Nur, dass er nun nie die Chance dazu haben würde. Er würde ihr nichts von seinen Gefühlen erzählen können. Er würde ihr keinen Antrag machen oder sie vor den Altar führen. Er würde seine Gefühle mit ins Grab nehmen, ohne dass sie je etwas davon erfahren würde.


Die junge Frau mit den braunen Haaren, welche sie sich zu einem strammen Zopf gebunden hatte, musterte mich besorgt. Offensichtlich versuchte sie zu erkennen, ob ich mit dieser Nachricht umgehen konnte.

Ich nickte nur, was anderes konnte ich in diesem Moment nicht tun.

„Soldat Luke Carter hat Glück gehabt. Neben ein paar äußeren Wunden hat er nur mit einer Gehirnerschütterung zu kämpfen. Er ist nicht mehr hier im Lazarett und besucht Sie jeden Tag. Er wird die nächsten Tage in die Heimat zurückfliegen.“

Ich nickte wieder nur und riss den Blick von der jungen Frau und starrte wieder auf die Lampe über mir. Es sollte meine Aufgabe sein, Mike Stone zu begleiten, doch ich lag immer noch in meinem Morphin-Zustand und hatte wohl kaum etwas von der Welt mitbekommen. Mike Stone würde nun auf einem Militärfriedhof begraben werden, unter einem weißen Grabstein liegen. Einem Grabstein, der aussah wie jeder andere auch, auf dem sein Name, sein Geburtsdatum, das Sterbedatum und sein Dienstgrad stehen würde.

Diese Militärfriedhöfe hatten etwas Erschreckendes. Sie wirkten so neutral und irgendwie emotionslos. Als wäre der Krieg genau das. Jeder Grabstein glich dem anderen, da war es egal, welchen Dienstgrad man hatte, man würde auf einen dieser Friedhöfe kommen, neben einem Unteroffizier und vielleicht einem Captain liegen. Im Leben waren wir Menschen verschieden, schmückten uns mit Dienstgraden, Auszeichnungen und sonstigen Dingen, die uns ausmachten.
Doch sobald wir auf diesem Friedhof lagen, waren wir wie jeder andere tote Soldat auch. Alle würden unter weißen Marmorgrabsteinen liegen, wie ein riesiges Massengrab.




Der Krieg wird niemals zu Ende sein, solange noch eine Wunde blutet, die er geschlagen hat.
- Heinrich Böll




„Wie geht es Ihnen, Soldat?“, fragte Captain Mitchell Quarter, mein Vorgesetzter. Er stand vor meinem Krankenbett und sah mich ernst an. Die buschigen, weißen Augenbrauen, die über seinen glasblauen Augen waren, waren zusammengezogen, berührten sich über seiner Nase.

„Gut, Sir“, antwortete ich und sah ihn ebenso ernst an. Ich würde ja gerne aufstehen und salutieren, wie man es seinem Vorgesetzten gegenüber tat, doch jede Bewegung schmerzte.

Er nickte und sah sich um, blickte wohl zu den anderen Krankenbetten, die ich mir noch nicht hatte ansehen wollte. Mir war es egal, wer neben mir lag, ich wollte hier einfach nur liegen und meine Ruhe haben. Irgendwie war ich schrecklich müde und ich wusste, dass das nicht am Morphin lag.

Ich ging die ganze Zeit die Dinge durch, die ich den Eltern von Mike Stone sagen wollte. Wie sollte ich ihnen sagen, wie wichtig ihr Junge für mich gewesen war? Wie sollte ich ihnen glaubhaft machen, dass er ein toller Soldat gewesen war? Wie sollte ich ihnen sagen, dass er keine Probleme damit hatte, andere umzubringen? Würde ich auch zu Rachel gehen und ihr von Mikes Gefühlen erzählen? Doch was würde es für das Mädchen ändern? Würde ich sie vielleicht dadurch in ein Unglück schmeißen? Aber was würde sein, wenn sie auch etwas für Mike empfand und immer darauf gewartet hatte, die Worte aus seinem Mund zu hören?

Das waren zu viele Fragen und ich wusste keine einzige Antwort.

„Das nächste Mal sollten Sie sich lieber in ein Hotelzimmer einquartieren“, meinte Captain Mitchell Quarter. Ich hatte schon oft bemerkt, dass Menschen Witze machten, wenn sie mit Situationen nicht umgehen konnten. Sie vergruben sich in Witzen und Späßen, wenn sie für die Wahrheit keine richtigen Worte fanden.

„Ja, Sir. Das Hilton wäre klasse. Oder ein Bad mit einem Whirlpool“, machte ich schließlich mit, um ihn nicht zu kränken.

„Ich sehe, Soldat, Ihnen geht es gut.“ Er sah mich wieder an, ein stolzer Blick in seinen Augen. „Sie haben gute Arbeit geleistet. Da draußen.“ Er nickte mir zu. „Sie waren gut und Sie sollten auf sich und Ihre beiden Soldaten stolz sein.“

„Das bin ich, Sir.“ Doch ich war mir nicht wirklich sicher, ob ich stolz sein sollte. Es war meine Aufgabe gewesen, dafür zu sorgen, dass meine Soldaten sicher wieder nach Hause kommen. Ich hatte diesen Auftrag nicht erfüllt. Einer war gestorben. „Doch ich glaube nicht, dass die Mutter von Mike Stone das hören will“, sagte ich zu ihm und der Captain sah weg.

Die Wahrheit war nicht immer etwas Gutes. Meistens war sie erschreckend, jagte einem Angst ein. Also wollte man sie nicht wahrhaben, versuchte, ihr zu entkommen. Doch man konnte sich vor der Wahrheit nicht ewig verstecken, schon gar nicht, wenn sie in unserem Inneren war. Mit der Wahrheit war es wie bei den Fettaugen auf einer Suppe. Man konnte sie mit einem Löffel herunterdrücken, doch sie würden immer wieder an die Oberfläche zurückkommen.

„Wenn Sie wieder fit sind, können Sie sich bald auf den Weg zu seiner Familie machen.“

„Ja, Sir, das werde ich.“ Es würde vermutlich sogar das Erste sein, was ich machen würde, wenn ich wieder amerikanischen Boden unter meinen Füßen hatte.

„Gut. Ich habe hier noch etwas für Sie.“ Er zog ein Bündel Briefe aus der Innentasche seines Jackets hervor und reichte sie mir. „Post von Ihrer Familie.“

Ich nickte und starrte auf das Bündel Briefe. Es war ein Halbes Dutzend Briefe. Vermutlich von meiner Cousine Elisha, meinem Cousin Nick und seiner Frau und von meiner Tante Molly und ihrem Mann.

Es kam oft vor, dass Briefe von Verwandten einen nur in Bündeln erreichten. Oft schaffte es die Militärpost, einen nicht immer zu erreichen, also wurden sie irgendwo aufbewahrt und einem erst wieder überreicht, wenn man bei seinem Stützpunkt wieder ankam. Und wenn nicht, dann wurden sie zurückgeschickt. An die Hinterbliebenen. Eltern. Ehepartner. Geschwister. An alle, die auf eine Antwort warteten und die nie wieder eine bekommen würden.  

„Danke, Sir.“

„Bis dann, Soldat.“ Er nickte mir noch mal zu und drehte sich dann um.

Meine Finger zitterten etwas, als ich die Schleife löste, die die Briefe zusammenhielt. Sie fielen mir auf den Bauch und ich griff nach einem, drehte ihn um und starrte auf den Namen des Absenders. Es war ein Brief meiner Tante Molly. Vermutlich waren die Hälfte dieser Briefe von ihr, sie machte sich die größten Sorgen um mich. Mit einem Ruck riss ich den Umschlag auf und sofort schmerzte mein Brustkorb wieder. Die gebrochenen Rippen machten es mir nicht wirklich einfach.

Ich konnte mich nicht wirklich aufrichten und bei jeder Bewegung hatte ich es mit Schmerzen zu tun, die nicht schwächer zu werden schienen.



„Mein liebster John,
ich hoffe es geht dir gut und du bist nicht krank. Ich hoffe so vieles. Ich kämpfe mit der Angst, dass ich dich auch verloren habe. Jedes Mal, wenn es an der Haustür klingelt, zucke ich zusammen und zittere, wenn ich die Tür öffne. Ich habe Angst, dass dort jemand steht und mir sagen wird, dass du nicht zurückkommen wirst. Jemand, der mir sagen wird, dass auch du für dieses Land gestorben bist. Jemand der mir etwas sagen wird, was ich nicht hören will.

Ich hoffe, du isst und trinkst genug. Aber bitte halte dich an Wasser und lass die Finger vom Alkohol. Bei der Hitze ist das nicht wirklich gut. Aber du trinkst ja eh nicht, was ich ja weiß. Dennoch sage ich es dir.

Ich habe mich letzte Woche mit einer Frau getroffen, deren Mann und deren Sohn selber im Krieg sind. Ich finde es ja schon schrecklich, wenn du dort bist. Ich würde es nicht ertragen, wenn auch noch David gehen würde. Doch er hat mir versprochen, nicht zu gehen. Genauso wie es mir Nick, Rosalie und Elisha versprochen haben. Genauso, wie du mir versprochen hast, dass du wieder kommen wirst.

Ich brauche diese Versprechen. Ich muss sie hören.

Die Frau, heißt Jules Campbell. Ihr Sohn ist bei der Luftabwehr und ihr Mann arbeitet in einem Lazarett. Sie hat mich dazu eingeladen, zu einer Frauensitzung zu gehen. Dort sind viele Frauen, deren Männer oder Kinder im Krieg sind. Sie reden einfach darüber.
Ich war gestern da. Ich bin mir nicht sicher, ob es mir gefällt und ob ich wieder hingehen werde. Sie haben Angst, die gleichen Ängste wie ich.
Aber als ich da hinging, hoffte ich, dass sie mir Hoffnung machen würden. Ich hatte gehofft, sie würden mir sagen, dass sie glauben, dass ihre Männer zurückkommen werden. Doch sie wissen es nicht.
Sie wissen es genauso wenig wie ich.
Sie sitzen da, die eine strickt, die andere redet über Rezepte und reden einfach. Sie reden nicht nur über den Krieg. Nicht primär zumindest. Sie reden über ihr Leben. Über die Regierung und die Politik. Und sie reden über ihre Ängste.
Ich weiß nicht, ob es das ist, was ich mir erhofft habe.

John, versprich mir, dass es dir gut geht. Versprich mir, dass ich dich wieder sehen werde. Lebend und nicht in einem Sarg, auf dem die amerikanische Flagge liegen wird. Ich will, dass du irgendwann heiratest. Ich will, dass du das Vaterglück erlebst. Ich weiß, dass du ein wundervoller Vater sein würdest. Du hast so viel Güte  und Liebe in dir. Ich will, dass du anfängst, dir ein Leben aufzubauen.
Ich habe dir das schon so oft gesagt. Um deine Eltern zu rächen musst du nicht in den Krieg ziehen.
Es würde schon reichen, wenn du dein eigenes Leben lebst. Es würde reichen, wenn du eine Familie gründest und deiner Frau und deinen Kindern von deinen Eltern erzählst. Ich weiß, du wirst jemandem erzählen, wie wundervoll sie waren und wie sehr sie dich geliebt haben….“  



Ich hörte auf zu lesen und schob den Brief wieder in seinen Umschlag. Tränen standen mir in den Augen und ich kämpfte mit ihnen.

Noch heute fiel es mir schwer, an meine Eltern zu denken.

Ich hasse das brennende Gefühl in meiner Brust, als man sie mir weggerissen hatte.
Ich hasse es, nicht mehr mit ihnen reden zu können.
Ich hasse es, dass sie nicht da waren, wenn ich sie brauchte.
Ich hasse, dass man sie mir genommen hatte.




Einen Krieg beginnen, heißt nichts weiter, als einen Knoten zerhauen, statt ihn aufzulösen.
- Christian Morgenstern



Die Ärzte setzten das Morphin schneller ab, als sie es eigentlich wollten. Doch ich wollte nicht länger von diesem Schmerzmittel abhängig sein.

Ich hasse es generell, von irgendetwas abhängig zu sein. Genauso hasse ich es, hier an dieses Bett gefesselt zu sein. Man ließ mich nicht mal aufstehen, um die Toilette aufzusuchen. Man ließ nicht mal zu, dass ich meinen Unterschenkel sehen konnte. Die Ärzte hielten das noch für zu früh. Manchmal war ich mir nicht sicher, ob sie sich bewusst waren, wo wir uns befanden. Wir waren im Krieg. Ich hatte schon Weiß Gott schlimmere Wunden gesehen, als diese an meinem Bein, dessen war ich mir sicher.

Alle zwei Tage wurde der Verband gewechselt und die Wundheilung kontrolliert. Doch sie sorgten immer dafür, dass ich nichts sehen konnte. Dabei wollte ich verdammt noch mal sehen, wie mein Unterschenkel nun aussah. Ich wollte verstehen, von was für einer Wunde wir hier sprachen. Meine Zehen konnte ich noch bewegen und ich spürte auch alles, also hoffte ich, dass das Loch nicht zu groß war. Doch es konnte auch ein Phantomschmerz sein.



Ich starrte auf die Briefe in meinen Händen und schaffte es immer noch nicht, sie zu lesen. Sie fühlten sich schwer an, voller tröstender und liebender Worte. Sie wünschten sich, mich wieder zu sehen und fragten bestimmt auch, wann ich wieder zurückgeschickt werden würde. Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Ich hatte nicht mal den Brief meiner Tante, die nach dem Tod meiner Eltern wie eine Mutter für mich gewesen war, zu Ende zu lesen. Ich wollte eigentlich nur bei ihr sein, sie wieder in die Arme nehmen und sie trösten.
Doch ich war hier in Afghanistan. Gefangen.
Ich konnte ja nicht mal mein Bett verlassen.


„Wie geht es Ihnen heute?“, fragte die Assistentsärzten Julia Swan und setzte sich wieder zu mir. Sie versuchte, sich jeden Tag Zeit für die Patienten zu nehmen, sich mit ihnen zu unterhalten. Manchen las sie die Briefe vor, die die Soldaten bekamen. Manchen half sie beim Essen, manchen hielt sie die Hand und manche tröstete sie einfach nur.

In dem Saal, in dem ich auch lag, gab es noch ungefähr 20 andere Soldaten, verwundet und gezeichnet vom Krieg. Manchen sah man den Stolz an, manche wirkten verängstigt oder depressiv.
Ich mochte die Momente, wo sie sich zu mir ans Bett setzte und ein wenig mit mir sprach. Viel erzählte ich ihr nicht, eigentlich war es eher so, dass ich ihr zuhörte, statt umgekehrt. Sie hatte eine schöne Stimme und obwohl sie von ernsten Dingen sprach, fand ich jedes Wort schön. Sie erzählte mir vom aktuellen Kriegsstand oder von Nachrichten aus Amerika. Manchmal brachte sie mir auch eine Zeitung mit, damit ich selber lesen konnte, was zu Hause passierte. Doch am liebsten lauschte ich ihrer Stimme.
Sie war so viel besser als das Morphin, das immer noch in meinen Adern war. Man konnte Morphin nicht einfach so absetzen, die Entzugserscheinungen waren zu groß, also drosselte man nach und nach die Dosis, bis man ganz darauf verzichten konnte.

„Gut“, antwortete ich ihr und bemerkte die dunklen Ringe unter ihren Augen. Sie schien die Nacht nicht gut geschlafen zu haben. Das kannte ich selber. Wenn wir draußen waren, fiel es mir auch immer sehr schwer, zu schlafen. Doch es war notwendig, denn wir mussten uns konzentrieren. Der ganze Körper war angespannt und das war mehr als anstrengend.

„Wollen Sie mir heute etwas über sich erzählen?“, fragte sie mich und schob den Stuhl näher an mein Bett. Der weiße Kittel, den sie trug, hatte sicherlich schon bessere Zeiten gehabt, er wirkte grau und fleckig. Das Stethoskop hing um ihren Hals und in den Taschen ihres Kittels hatte sie immer ein paar frische Handschuhe parat.

„Was wollen Sie denn hören?“, fragte ich sie und wusste absolut nicht, was ich ihr aus meinem Leben erzählen sollte. Wollte sie hören, wie ich als Fünfjähriger das Schwimmen gelernt hatte oder wie ich als Kleinkind von meinem Fahrrad gefallen war und wegen jeder noch so kleinen Wunde zu meiner Mutter geeilt war? Sollte ich ihr vielleicht von der Leere in meiner Brust erzählen, die meine Eltern dort hinterlassen hatten?

Sie zuckte mit den Schultern und lächelte mich dabei sanft an „Vielleicht sagen Sie mir, warum Sie hier sind?“

Ich starrte sie an und war mir zuerst nicht sicher, ob ich die Frage richtig verstanden hatte. Vielleicht sollte ich einen Scherz daraus machen und sie fragen, ob sie das Krankenhaus oder Afghanistan meinte. Jedoch stellte ich diese Frage nicht, sondern warf dann schließlich den Kopf in den Nacken. „Ich bin hier, weil Krieg ist.“

„Nein“, meinte sie und schüttelte den Kopf. „Deswegen sind Sie nicht hier.“ So wie sie es sagte, schien es fast so, als kenne sie mich besser. Als wüsste sie, dass das nur eine Ausrede von mir war. „Niemand ist hier, weil Krieg ist. Etwas anderes hat Sie hierher geführt.“

Ich starrte sie an und dachte über diese Frage nach. Diese Frage hatte man mir schon oft gestellt, doch bisher hatte meine Antwort immer gelangt. Warum wollte sie also etwas anders hören?
Doch die Antwort hing wie ein Damokles-Schwert über mir.

Die Wahrheit war immer da gewesen, nur hatte ich sie nicht akzeptiert gehabt. Die Wahrheit war, dass ich nichts anderes konnte. Alles, was ich angefasst hatte, war in die Brüche gegangen. Bevor ich in den Krieg zog, hatte ich es sogar geschafft, dass meine Cousine Elisha nicht mehr mit mir reden wollte. Sie war sauer auf mich gewesen und vermutlich wollte sie immer noch nicht mit mir reden.
„Weil ich der Meinung bin, dass ich zu nichts anderem tauge.“

„Kein Mensch wird dazu geboren, andere zu töten“, erklärte Julia mir und sah mich mit einem sanften Lächeln auf den Lippen an. „Wir sind für so viel mehr geschaffen, als nur zu töten oder nur zu kämpfen.“

Ich starrte sie an und war mir nicht sicher, ob ich wütend auf sie sein sollte oder überrascht. Ich wollte sie fragen, warum sie hier war, was sie an einem Ort wie diesen zu suchen hatte, doch da wurde sie auch schon von einem Kollegen gerufen, so dass sie aufstand und mich verließ.


Es ehrt unsere Zeit, dass sie genügend Mut aufbringt, Angst vor dem Krieg zu haben.
- Albert Camus



„Hallo Kumpel,
Wie geht’s dir so? Ich hoffe, du hältst die Ohren steif dort drüben? Hast du noch genug Sonnenmilch dabei? Soll ich dir eine neue Tube nachschicken? Wir kennen doch deine empfindliche Haut. Als Kind hattest du immer schon schnell Sonnenbrand bekommen und ich kann mir vorstellen, dass es deiner Kopfhaut nun, wo deine schönen, weichen Haare (wofür dich immer alle beneidet haben, außer ich) ab sind, kriegst du bestimmt einen roten Kopf.

Ey man, es ist nur halb so lustig, Scherze und Witze zu reißen, wenn du nicht dabei bist. Ehrlich, wann kommst du zurück? Ich brauch dich so langsam wieder als männliche Unterstützung in dieser Familie.

Rosalie musste ihrer Schulklasse letztens vom Krieg erzählen. Es fiel ihr nicht so leicht. Sie hatte sich auf diese Stunde vorbereitet gehabt, aber dennoch war es verdammt schwer für sie. Du kennst sie doch. Sie sollte ihnen laut Lehrplan erzählen, dass der Krieg etwas Gutes, etwas Wichtiges ist. Aber wie soll sie Zehnjährigen das erklären, wenn sie nicht mal selber glaubt?
Wir wissen, dass du glaubst, dass das, was du machst, richtig ist. Du musst das glauben, denn sonst würdest du es ja nicht machen. Wir akzeptieren das. Wir verstehen das auch irgendwie.
Aber wir sitzen jeden Tag vor den Nachrichten. Beten, bangen, hoffen, dass dein Name nicht unter den Gefallenen sein wird. Jeden Tag, John.

Rosalie hat wohl geweint, als sie mit den Kindern darüber reden musste. Vor allem, als sie erfuhr, dass die Väter von zwei ihrer Kinder schon gefallen waren.

Denkst du, das ist richtig?
Wo ist diese Moral in diesem Land?
Nein, verdammt, das ist nicht richtig.

Mom dreht durch, weil wir nichts von dir hören. Sie geht inzwischen jeden Tag in die Kirche und betet zu Gott. Dabei waren wir vor dieser Sache nie gläubig. Gott, wir sind meistens nur zu den Weihnachtsaufführungen in die Kirche gegangen.
Aber Gott antwortet ihr nicht.
Sie zündet jeden Tag eine Kerze für dich an.

Aber er antwortet ihr nicht.
Das ist nicht richtig, Alter.
Komm endlich nach Hause. Lebend. Sonst mache ich dir die Hölle heiß,
Nick.“




Ich war mir nicht sicher, ob ich weinen oder lachen sollte. Nick war wie mein älterer Bruder, er war ein Jahr älter als ich und schon von klein auf haben wir nur Dummheiten angestellt. Als ich mit meinen Eltern noch in Forks gelebt habe, haben wir in der gleichen Straße wie die Familie meiner Tante gelebt. Wir gingen zusammen zur Schule, besuchten die gleichen Vereine und machten auch sonst alles zusammen.

Er war mir ein wichtiger Halt gewesen, als meine Eltern gestorben waren. Er und Elisha.
Tante Molly hatte nur geweint, was ich verstand. Ihr Mann David versuchte mit der Trauer seiner Frau umzugehen, nebenbei die Vaterrolle für mich zu spielen und die Familie zusammen zu halten. Nick und Elisha waren für mich da. Sie waren meine Freunde. Sie waren meine Geschwister. Nein, sie sind meine Geschwister.

Man kann sich seine Familie nicht aussuchen. Aber man kann entscheiden, wen man liebt. Für wen man kämpft. Für wen man stark ist.

Ich reiße mich hier nur zusammen, weil ich sie wieder sehen will. Weil ich sie vermisse, jeden Gott verdammten Tag. Jede Stunde. Jede Minute. Jede Sekunde.
Sie sind meine Familie und ich brauche sie. Heute mehr denn je.



Jetzt fängt mein Leben erst wirklich an. Gegen Ungerechtigkeit kämpfen, gegen Rassismus, Verbrechen, Analphabetismus und Armut, mit diesem Gesicht, das die Welt so gut kennt. - Muhammad Ali  



Vielleicht werde ich eine Prothese tragen müssen, aber vermutlich werde ich sie zum Laufen nicht brauchen, meinen die Ärzte. Jeden Tag kommt eine Schwester vorbei und dehnt mein rechtes Bein. Sie massiert die Muskeln. So langsam setzte ich mich auch richtig auf und schiebe meine Beine vom Bett, berühre den Boden. Doch aufstehen darf ich noch nicht. Ich soll mir nicht zu schnell zu viel erhoffen, sagen die Ärzte. Sie meinen, die Heilung, der Prozess der Muskelrückgewinnung, würde noch eine Weile dauern. Ich solle mir Zeit lassen.

Anscheinend hatten die Ärzte vergessen, dass wir uns im Krieg befanden. Wir hatten nun mal keine Zeit. Über uns flogen Drohne und Jets. Wie konnten sie die ignorieren, waren sie nicht das beste Zeichen für den Krieg?

„Sie haben die Ärzte doch gehört, First Leutnant Dearing“, sagte Ryan Evans. Er lag in dem Bett neben mir, seit genau vier Tagen, und inzwischen habe ich mich sogar mit ihm angefreundet. Er ist gerade mal 19 Jahre alt und liegt nun hier neben mir auf der Krankenstation. Mit nur einem Bein. Das andere wurde ein Opfer des Krieges. Doch obwohl er nur mit einem Bein nach Hause zurückkehren wird, nimmt er es einfach hin.

Er setzt sich in seinem Krankenbett auf, legt das Buch zur Seite, in welchem er las, die Bibel, und sieht mir zu, wie ich gegen die Anordnungen der Ärzte trete.

Doch ich kann einfach nicht mehr hier liegen bleiben und warten, dass eine Schwester Zeit für mich hat. Ich will nicht auf andere angewiesen sein, das war doch das erste, was man im Krieg lernte.

Du hast Kameraden, Soldat, aber was ist, wenn diese alle durch den Feind fallen und du auf dich alleine gestellt bist? Wirst du klar kommen? Wirst du alleine überleben und in der Wüste nicht durchdrehen?

Meine nackten Füße berührten den kalten Lehmboden. Durch die Operation hatte ich nicht mehr so viel Gefühl in meinem rechten Fuß wie in meinem Linken. Aber wenn das das Einzige sein würde, würde ich damit klar kommen.

„Warum sind Sie hier?“, fragte ich Ryan Evans und sah ihn an, während ich versuchte, mit meinem rechten Fuß den Boden unter meiner Haut zu spüren.

„Weil wir im Krieg sind, Sir“, antwortete er mir und sah mich ernst an.

Ich nickte, unterdrückte aber ein Schmunzeln. Diese Antwort hätte von mir sein können. Vor einem halben Jahr, vermutlich sogar noch vor ein paar Wochen, hätte ich genauso geantwortet. Doch nun sah ich ein, dass ein 19jähriger nicht hier sein sollte. Es sollte nicht passieren, dass einem 19jährigen ein Bein durch eine Miene weggesprengt wird. Er hatte doch noch sein ganzes Leben vor sich.

„Was denkt Ihre Familie darüber, dass Sie hier sind, Private?“, fragte ich ihn.

„Alle Männer der Familie Ryan waren im Krieg, Sir. Mein Vater war es. Mein Onkel war es und mein Großvater war es. Wir waren nicht im gleichen Krieg, aber wir waren immer an der Front.“

Ich starrte ihn an und wusste nicht, was ich ihm erwidern sollte. War es okay, dass unser Land seit Jahren im Krieg war?
War es richtig, dass so viele Generationen Waffen tragen mussten?

„Mein Großvater war sehr stolz, dass ich auch in den Krieg gehe. Er hat mir auf die Schulter geklopft und gesagt, dass ein Mann nun mal tun muss, was ein Mann eben tun muss.“ Er starrte auf sein einziges Bein hinab. „Ich hoffe, er wird noch da sein, wenn ich wieder zurückkomme.“  

Wann setzte endlich jemand einen Schlussstrich?
Wann hörte das Ganze endlich mal auf?
Wie viele Menschen mussten noch sterben, damit endlich jemand erkannte, dass es falsch war, hier zu sein?

Bei mir hatte es selber ziemlich lange gedauert, bis ich das erkannt hatte. Doch späte Erkenntnis war immerhin auch eine Erkenntnis.

„Warum sind Sie hier, Sir?“, fragte mich Ryan Evans und ich sah ihn an.

Hätte er mich in einem anderen Moment, an einem anderen Tag gefragt, hätte ich ihm wohl die gleiche Antwort gegeben, die er mir gegeben hatte. Doch nun sah ich ihn an. Er war 19 Jahre alt und hatte nur noch ein Bein und dennoch erzählte er mir voller Stolz, dass jeder seiner männlichen Familienmitglieder im Krieg waren.

„Ich weiß es nicht“, antwortete ich Ryan Evans schließlich. „Ich glaubte, ich wusste es mal. Doch ich habe mich geirrt.“




Die Zeit weilt, eilt, teilt und heilt. - Sprichwort



„Machen Sie langsam“, sagte Julia Swan zu mir und ich konnte nur mit einem Grinsen den Kopf schütteln. Nein, ich würde garantiert nicht langsam machen. Ich gehöre zu den Menschen, die rennen, laufen, sprinten. Aber ich hasse es zu gehen, spazieren zu gehen.

Dass ich jetzt Schritt für Schritt wieder Laufen lernen muss, dass ich mein rechtes Bein trainieren muss, ist anstrengend. Dass ich lernen muss, wie es sich anfühlt, Schritt für Schritt zu gehen, ist nicht wirklich einfach, wenn ich eigentlich nur rennen will. Doch das geht nicht. Ich merke es selber. Dennoch versuche ich es.

„Ich will Sie doch beeindrucken, Frau Ärztin“, scherze ich und grinse sie an. Ich hatte den Arm um sie gelegt, sie stützte mich auf meinem Weg durch das Zelt.
Schritt für Schritt. Langsam. Einen Schritt nach dem anderen.

„Sie machen das aber schon sehr gut.“

„Ich habe mich aber mit gut noch nie zufrieden gegeben“, meinte ich und starrte meine Füße weiterhin an. „Ich bin schon immer gerannt, wenn ich gehen sollte. Ich habe geschrien, wenn ich reden sollte.“

Die junge Frau neben mir lächelt und hält meinen Arm weiterhin fest. „In der Medizin sind gute Fortschritte sehr viel wert.“

„Tja, aber ich will nun mal Ihr Wunderpatient sein.“

„Sie meinen wohl eher, der Patient, der am auffälligsten mit mir flirtet“, korrigiert sie mich, doch ich sehe das Schmunzeln um ihre Mundwinkel herum und weiß, dass sie sich darüber nicht aufregt.

„Sie sind aber nun mal auch die hübscheste Frau hier“, erkläre ich ihr, klammere mich fester an sie, als mein rechtes Bein ein wenig nachgibt. Es ist ein hartes Training und die Schweißperlen stehen mir auf der Stirn. Mein ganzer Körper ist angespannt und alles starrt auf die Muskeln in meinem rechten Bein.

„Und Sie sind ein Charmeur.“

Statt mich wieder aufs Bett zu setzten, wie es die anderen Schwestern und Ärzte tun, wenn sie erkennen, dass es mich überanstrengt, geht sie noch eine Runde mit mir. Sie weiß ganz genau, dass ich hier wieder raus will. Auf meinen eigenen Beinen.

Ich habe was zu erledigen.
Die Eltern von Mike Stone warten auf mich und ich würde garantiert nicht im Rollstuhl vor ihre Haustür fahren.




Ich wundere mich oft darüber, wie leichtfertig man um Zeit bittet und sie anderen gewährt. Es ist gleichsam, als wenn um ein Nichts gebeten wird. - Lucius Annaeus Seneca  




„Die Frauen von dem Frauentreffen sagen einem immer, man soll den Soldaten fröhliche und harmlose Briefe schreiben. Aber das halte ich für Schwachsinn. Ich werde dich nicht anlügen und dir sagen, dass hier in Forks die Sonne scheint.
Ich werde dich nicht anlügen und dir sagen, dass es allen gut geht.

Ich werde dich nicht anlügen und dir sagen, dass wir uns keine Sorgen um dich machen.
Heute ist der Todestag deiner Eltern und ich denke dabei nur an dich.

Ich sitze auf der Schaukel, die unser Vater damals für deine Mutter und mich gebaut hat und starre vor mich hin.
Ich weiß, ich sollte auch an sie denken, doch ich sorge mich nur um dich. Es macht keinen Sinn mehr, wenn ich mich frage, wie es meiner Schwester oder meinem Schwager geht. Etwas haben sie dir voraus. Um sie muss ich mir keine Sorgen mehr machen.

Doch ich weiß, dass sie sich genau so große Sorgen um dich machen würden, wie ich es tue.
Hast du dich jemals gefragt, was sie gesagt hätten, wenn du ihnen gesagt hättest, dass du in den Krieg ziehst?
Und komm mir nun nicht mit der Antwort, dass du nur wegen ihnen in den Krieg ziehst. Wir wissen beide, dass das nicht die komplette Antwort ist. Du bist so vielfältig und eigentlich so sensibel, dass nicht mal du glauben kannst, das wäre die einzige Antwort. Du warst schon immer jemand, der sich NICHT mit einer einfachen Antwort zufrieden gibt. Du wolltest alles hinterfragen, du wolltest allem auf den Grund gehen. Auf Feiern hast du all deine Verwandten mit deinen Fragen richtig genervt, aber das warst eben du. Du hast dich nicht einfach zufrieden gegeben. Du wolltest immer mehr. Du wolltest die Welt selber erkennen.

Und ich glaube, dass du deswegen auch dort bist.
So weit weg von mir und all den Menschen, die dich lieben.
Du kannst deiner Familie den Rücken kehren, John, aber wir lieben dich.
Wir werden nicht zulassen, dass du uns auch verlässt.
Wir werden dafür kämpfen, dass du wieder mit uns am Tisch sitzen wirst. Nick wird wieder mit dir streiten und du wirst Elisha aufziehen, dass sie sich was Ordentliches anziehen soll. Du wirst wieder hier her zurückkommen.

Das weiß ich.
Daran glaube ich einfach.
Und weil ich daran glaube, werde ich auch nicht weinen. Nicht heute und auch nicht morgen.
Ich werde hier sein, mein kleiner John.
Ich werde auf dich warten, weil es deine Eltern nicht mehr können.
Ich werde hier sein, bis du wieder bei mir bist.

Ich liebe dich,
Deine Molly.“  




Ich starre auf den Brief meiner Tante. Ich habe es endlich geschafft, ihn zu Ende zu lesen. Doch es war verdammt schwer gewesen. Die ganze Zeit haben meine Finger gezittert und ich habe ihn eigentlich nur wieder in den Umschlag zurück stecken wollen. Ich weiß, dass sie sich alle Sorgen um mich machen und sich wünschen, ich würde ihnen einen Brief schreiben.

Ehrlich gesagt habe ich das schon verdammt oft probiert, seit ich in Afghanistan bin. Doch ich weiß nie, was ich ihnen schreiben soll. Ich will ihnen nichts vom Krieg erzählen. Ich will ihnen nicht sagen, wie viele Menschen ich getötet habe oder dass die Betten nichts weiter als Pritschen sind. Ich will ihnen nicht schreiben, wie viele Soldaten von uns schon gefallen sind.

Es war meine Entscheidung gewesen, in den Krieg zu ziehen und nicht ihre. Sie waren nicht hier. Sie wollen von diesem Krieg nichts wissen und ich akzeptiere das. Ich kann ihnen ihre Ängste und Sorgen nicht nehmen, aber ich kann dafür sorgen, dass sie nicht noch mehr Ängste zu haben brauchen. Sie sollen sich nicht noch mehr Sorgen machen.

Also schreibe ich ihnen nicht, in der Hoffnung, sie würden es verstehen.

Doch wenn ich den Brief meiner Tante lese, weiß ich, dass sie ein Lebenszeichen von mir brauchen. Etwas, woran sie sich klammern können. Etwas, das ihnen zeigt, dass es mich noch gibt und dass ich trotz dieses Kriegs immer noch an sie denke.

Als ich den Brief aus meinen Händen lege sehe ich, dass Julia Swan sich wieder zu mir ans Bett gesetzt hat. Sie wirkt ein wenig abgehetzt und gestresst, dennoch scheint sie sich auch zu entspannen.

„Ist das ein Brief Ihrer Familie?“, fragt sie mich nach einer Weile.

Ich nicke. „Ja, ein Brief meiner Tante." Ich stoppe und starre den Brief an. „Sie ist wie eine Mutter für mich.“

Ich betrachte sie und sehe, dass sie sich auf die Unterlippe beißt. Ich weiß sofort warum. Eine Frage quält sie in ihrem Inneren, doch sie würde sich nicht sicher sein, ob sie das Recht hatte, diese Frage zu stellen. „Stellen Sie Ihre Frage“, fordere ich sie auf und klinge dabei nicht befehlend. Zumindest will ich das nicht.

Sie starrt mich einen Moment an und nickt dann: „Was ist mit Ihrer Mutter?“

Da war sie. Die Frage, die ich wie die Pest hasse. Eine Frage, worauf man immer mit Mitleid angesehen wird und ich hasse Mitleid. Es gibt nichts Schlimmeres.

„Meine Eltern kamen beim Anschlag auf das World Trade Center ums Leben.“
Ich sehe ihr ins Gesicht, will zum ersten Mal wirklich bei einer Person sehen, wie sie diese Aussage aufnimmt. Bisher hat es mich nie interessiert, wie die Leute darauf reagieren. Ich war bei diesem Thema einfach in einer Trotzphase. Es war mir egal, wie andere Leute über den Tod meiner Eltern dachten, denn letztendlich ging es nur um mich.
Es ging nur darum, wie ich mit dem Tod meiner Eltern klar kam und ich kam damit absolut nicht klar. Nicht damals und auch nicht heute. Vermutlich wird die Wunde in mir immer verdammt tief sitzen. Der Schmerz wird nicht angenehmer werden und einfach zu mir gehören.
Ich muss mich immer noch an ihn gewöhnen.

„Das tut mir Leid“, sagt sie und ich glaube es ihr. Es gibt vielen Menschen, die ich diese Floskeln  nicht abnehme. Doch ihr glaube ich.
Warum soll sie mich auch anlügen? Sie hat nichts davon. Sie ist nur eine Ärztin und ich bin nur Soldat. Letztendlich sind wir nur Spielfiguren auf einem Spielbrett, welches sich Krieg nennt.
„Vermissen Sie sie sehr?“

Auf diese Frage bin ich nicht vorbereitet. Es ist eine Frage, die ich mir nicht mal selber wirklich beantworten kann. Nein, eigentlich will ich sie mir selber nicht beantworten. Ich versuche so wenig wie nur möglich an meine Eltern zu denken, weil ich hoffe, so besser mit dem Schmerz klar zu kommen. Ich weiß, dass meine Tante Molly jeden Tag an ihre Schwester denkt und sich immer wieder fragt, wie sie mich aufgezogen hätte, welche Antworten sie mir gegeben hätte.
„Jeden Tag“, antworte ich Julia schließlich und lasse den stechenden Schmerz in meiner Brust zu. Doch dieses Mal hat dieser Schmerz nichts mit meinen gebrochenen Rippen zu tun und ich bin mir sicher, dass kein Schmerzmittel der Welt diesen Schmerz betäuben könnte. „Jeden Tag denke ich an sie.“

„Denken Sie, sie wären stolz auf Sie?“, fragt sie mich und ich zucke mit den Schultern.

Ich bin mir sicher, dass meine Mutter es genauso wenig wie es ihre Schwester  akzeptiert hätte, dass ich in den Krieg zog.
Mein Vater hätte mich zur Seite genommen und ein ernstes Vater-Sohn-Gespräch mit mir geführt. Vermutlich hätte er mich aber gehen lassen und hätte meiner Mutter dann erzählt, dass das wohl so eine Männersache war. Das ich einfach gehen musste, um erwachsen zu werden. Das hatte er schon so oft getan, wenn meine Mutter mal nicht weiter wusste, was mich anging. Sie war eine wundervolle Mutter, die mich liebte und mich das auch jeden Tag spüren ließ. Doch irgendwann muss man sich einfach selbst entdecken, seine Grenzen erforschen. Dann klaut man vielleicht mal ein paar Kaugummis aus dem Supermarkt und hofft, nicht erwischt zu werden. Natürlich wird man erwischt. Aber da der Ladenbesitzer die eigenen Eltern verdammt gut kennt, drücken alle ein Auge zu und meinen, es wer nur ein Teenagerstreich.

„Ich weiß es nicht“, antworte ich ihr, da sie immer noch neben mir sitzt und mich fragend ansieht. „Vermutlich wäre ich aber gar nicht hier, wenn sie noch leben würden.“

Sie sieht mich an und ich glaube, dass sie in meinem Gesicht nach weiteren Antworten auf Fragen sucht, die sie mir noch nicht gestellt hat.

„Sie waren tolle Eltern. Aber ich denke, das sagt jeder über seine Eltern. Aber sie waren nie so etwas wie Superhelden-Eltern für mich. Sie haben mir von Anfang an irgendwie gezeigt, dass sie auch Schmerzen empfanden und Angst und Furcht spürten.“ Sie sieht mich interessiert an und hört mir einfach nur zu. Es ist komisch über meine Eltern mit jemanden zu reden, der sie gar nicht kannte. Und sie nur dadurch kennen lernen würde, in dem ich etwas von ihnen erzählte.
„Doch sie liebten sich. Sie schafften es immer wieder, dass ich als Kind aufseufzte, wenn sie sich in der Öffentlichkeit küssten. Auch nach Jahren Ehe hielten sie sich immer noch bei den Händen und schlenderten so durch die Stadt, wenn sie ihre Einkäufe erledigten. Sie waren einfach Eltern, denke ich…“ Ich habe noch mit niemanden über meine Eltern gesprochen, der nicht zu meiner Familie gehört. Mit Molly und David habe ich oft über meine Eltern gesprochen und sie haben mir etwas von meinem Kummer nehmen können, wenn wir einfach über sie sprachen. Alleine, dass sie mir ein paar Geschichten über sie sagten, sorgte dafür, dass sie immer bei mir zu sein schienen.

Ich blicke Julia an, sie mustert mich immer noch. Ich frage mich, ob sie nun als Ärztin oder als Frau bei mir am Bett sitzt.  Sie sieht wunderschön aus, auch wenn sie ausgebrannt und müde wirkt und vermutlich mal eine Nacht mit mehr als nur vier Stunden Schlaf braucht. Wenn ich sie in Amerika kennen gelernt hätte, hätte ich sie vermutlich gefragt, ob sie mit mir ausgehen würde. Doch ich liege in einem Krankenbett und sie ist meine Ärztin. Außerdem befinden wir uns im Krieg.

Auf dem Schlachtfeld geht es nicht darum, dass man ein Candle-Light-Dinner plant oder sich überlegt, welches Kleid die Frau wohl anziehen würde. Es geht ums überleben. Jeden Gott verdammten Tag.

Aber wir lernen im Krieg auch, dass jeder Tag unser letzter sein könnte. Wenn wir Dinge, die wir tun wollen, jedes Mal auf Morgen hinausschieben, würden wir irgendwann mal erkennen, dass es vielleicht irgendwann mal keinen Morgen für uns geben wird. Ich kann mir also sagen, dass ich sie genauso gut Morgen fragen könnte, doch genauso gut konnte es sein, dass ich morgen nicht mehr die Gelegenheit dazu haben würde. So wie Mike Stone nun nicht mehr die Gelegenheit haben würde, seiner Rachel von seinen Gefühlen zu erzählen.

Für Mike, meinen Soldaten und Freund, kratze ich also all meinen Mut zusammen und grinse sie an. Vermutlich ist es ein hässliches und ganz grässliches Grinsen, weil ich doch etwas nervös bin. Es ist schon verdammt lange her, dass ich mit einer Frau geflirtet habe und das letzte Mal ist das ziemlich in die Hose gegangen.

„Was würden Sie eigentlich sagen, wenn ein Patient Sie um ein Date bitten würde?“

Julia sieht mich überrascht an und Röte zeichnet sich auf ihren Wangen ab. Dann wird sie wieder ernst und professionell. „Ich würde ihm sagen, dass ich nie mit einem Patienten ausgehen würde.“

„Sagen wir aber, dass er Sie nicht fragen würde, ob Sie im Hier und Jetzt zusammen ausgehen würden, sondern wenn Sie sich irgendwann mal wieder sehen. Wenn er also nicht mehr Ihr Patient ist.“

Sie lächelt mich sanft an und ich bin froh, dass sie mir nicht meine Patientenakte um die Ohren schlägt. „Wenn er dann nicht mehr mein Patient wäre, würde ich durchaus mit ihm ausgehen wollen, wenn er mich fragen würde.“ Sie lächelt noch mal und steht dann auf.



Im Frieden werden die Väter von ihren Kindern begraben, im Krieg aber die Kinder von den Vätern.
- Krösus




„Hallo, John“, sagte Luke Carter, der sich zu mir setzt. Er wirkt müde und erschöpft, doch das Wichtige ist doch, dass er überlebt hat. Er würde nach Hause zu seiner Familie zurückkehren und vielleicht irgendwann die schrecklichen Bilder in seinem Kopf vergessen können.

Luke ist, seit ich aufgewacht bin, jeden Tag zu mir gekommen. Ich weiß, dass er heute zurück fliegen wird. Wann ich selber nach Hause fliegen darf, ist noch nicht klar. Doch so langsam halte ich es hier in diesem Bett nicht mehr aus. Es wird unerträglich und ich will endlich mal was anderes sehen, als die Lampe über meinem Bett, wo die Fliegen sich tummeln und ihre Kreise fliegen. Jedoch gibt es auch Fortschritte, wenn ich mich ganz langsam bewege, kann ich mich inzwischen halbwegs aufsetzen, was wirklich angenehmer ist, als die ganze Zeit zu liegen. Allerdings würde es wohl noch eine Weile dauern, bis die Ärzte mich gehen lassen würden.

Luke legt die Kissen in mein Rücken, als ich mich aufsetze, so dass ich mich an die Kissen anlehnen kann und doch aufrecht sitze, um ihn anzusehen. „Wie geht es dir, Soldat?“

„Gut“, meint er mit einem Lächeln. Ich sehe sofort, dass ihn etwas bedrückt. Durch die Monate, die wir zusammen gearbeitet haben, zusammen auf staubigen Boden gelegen haben, habe ich gelernt, auch seine Mimik zu verstehen.

„Also, was ist los?“, frage ich ihn deswegen sofort. Bevor wir wieder zu einem Auftrag los sind, haben wir uns alle Probleme und Sorgen von der Seele gesprochen, der Familie vielleicht sogar einen Abschiedsbrief geschrieben. Einfach damit wir ohne Gedanken und Dinge in uns, die uns vielleicht hinderlich sein könnten, zu unserem Auftrag gingen. Wenn man dort draußen unter der brennenden Sonne liegt, Staub einatmet und sich in das Leben fremder Menschen einschleicht, die vielleicht die Feinde sind, darf nichts in unserem Kopf sein. Wir dürfen uns keine Sorgen darüber machen, ob es unserer Familie vielleicht gut geht. Wir dürfen uns keine Gedanken darüber machen, dass der Großvater vielleicht einen neuen Schlaganfall erleiden könnte.

Dort draußen geht es um das Überleben und Gefühle und Erinnerungen haben da einfach nichts zu suchen.

Natürlich klingt das hart, aber ist das nicht genau der Krieg? Hart, kalt und unerbittlich. Er würde dich nicht fragen, wie es dir geht oder ob du vielleicht jemanden zum Reden brauchst. Es interessiert keinen Taliban, der eine Waffe auf dich richtet, dass du einer Frau deine Liebe gestehen willst.

„Ich frage mich nur, wie es sein wird, wenn ich nach Hause komme“, erzählt er mir und ich nicke.

Ja, diese Frage beschäftigt sehr viele Soldaten, wenn es für sie heißt, wieder nach Hause zurückzukehren. Es gibt viele Soldaten, die nicht damit klar kommen, sich wieder der Normalität anzupassen. Es fällt ihnen schwer, jeden Morgen eine Krawatte und ein Jackett anzuziehen und zur Arbeit zu gehen, wie jeder andere Mensch auch. Es fällt ihnen schwer, mit ihren Kindern im Garten zu tollen und alles hinter sich zu lassen.

Man kann die Bilder in einem Kopf nicht so einfach abstellen. Sie sind da. Es ist ein Kopfkino, das einen immer aufsucht. Vor allem dann, wenn man es absolut nicht gebrauchen kann. Man sitzt im Kino und sieht sich mit seiner Verlobten einen Film an, um den es absolut nicht um Krieg geht und dennoch ist da vielleicht ein Geräusch oder ein Satz und man erinnert sich sofort an seine Kollegen und Freunde. Man erinnert sich plötzlich wieder an die Menschen, mit denen man in Hütten und Zelten geschlafen hat oder mit denen man gekämpft hat.

„Du wirst das hinkriegen, Soldat. Und wenn nicht, ich werde hoffentlich selber bald wieder nach Hause kommen und dann wirst du mich anrufen. Verstanden?“

„Ja, Sir“, sagt er und nickt mir zu.

Ich nicke ihm auch zu. „Gut, das wollte ich hören.“ Doch wieder muss ich an Mike denken. Er hätte diesen Zuspruch ganz sicherlich nicht gebraucht. Er hatte die ganze Zeit schon gewusst, was er machen würde, wenn er wieder nach Hause kommen würde. „Was wirst du tun, wenn du wieder da bist?“

„Ich werde erst mal in das Geschäft meines Vaters einsteigen. Buchhaltung.“

„Ernsthaft?“, frage ich amüsiert und kann mir Luke nun wirklich nicht als langweiligen Buchhalter vorstellen.

„Ja, klingt nicht wirklich glaubhaft, ich weiß“, meint er und fährt sich übers kurzgeschorene schwarze Haar. „Meine Mutter und meine Schwestern wollen eine Party für mich veranstalten. Wäre schön gewesen, wenn Sie dabei sein könnten.“

„Na ja, die Ärzte hier wollen mich nicht entlassen“, antwortete ich ihm entschuldigend. „Ich bin schon am überlegen, mit wem ich ins Bett gehen muss, damit man mich hier raus lässt.“

In diesem Moment tritt Julia Swan an mein Bett und nickt Luke Carter zu. Ich hoffe sehr, dass sie meinen letzten Kommentar nicht bemerkt hat, doch ich bin mir da absolut nicht sicher.
„Sie kehren heute zurück, nicht wahr?“, meint sie zu Luke und greift dabei nach meiner Patientenakte, um sich die letzten Werte anzusehen.

„Ja, Mam“, antwortet Luke förmlich. „Meine Mutter backt meinen Lieblingskuchen für mich und ich muss rechtzeitig dort sein, sonst isst mein Bruder alles auf.“

Wir müssen alle grinsen und ich ignoriere mal wieder den Schmerz meiner gebrochenen Rippen. Lachen tut eindeutig immer noch weh. Zum Glück gehöre ich nicht unbedingt zu den Menschen, die viel lachen.

„First Leutnant Dearing will entlassen werden“, meint Luke und sieht die Ärztin, welche auf der anderen Seite meines Bettes steht, an.

„Ja, ich wünsche mir auch, dass er geht. Er ist nämlich ziemlich anstrengend.“

„Das kann ich mir vorstellen. Aber Sie mussten nicht 24 Stunden am Tag neben ihm im Staub liegen“, wirft er ein und ich sehe Julia wieder lächeln. Es ist ein wunderschönes Lächeln und ich bin der festen Überzeugung, dass sie viel öfter lächeln sollte. Aber vielleicht gibt es hier zu selten Momente, die zum Lächeln sind.

„Sir“, meint Luke und steht schließlich von seinem Stuhl auf. Er hält mir seine Hand hin und ich nehme sie mit einem Nicken entgegen.

„Wir sehen uns dann in Amerika wieder.“

„Ja, Sir“, meint Luke, salutiert und verlässt dann das Lazarett.

„Sie scheinen ein guter First Leutnant zu sein“, meint Julia und hängt die Patientenakte wieder an mein Bett.

„Nein, der bin ich nicht. Wenn ich ein guter First Leutnant gewesen wäre, dann hätte ich keinen meiner Soldaten verloren.“

Julia sieht mich an und wieder habe ich das Gefühl, dass sie irgendwelche weiteren Antworten in meinem Gesicht sucht.

Sie setzt sich auf den Rand meines Bettes und sieht mich sanft an, dann blickt sie von mir weg, starrt geradeaus.
„Mein Freund Jacob war Pilot einer Drohne“, fängt sie an, mir zu erzählen. „Er war schon als Kind begeistert von Flugzeugen gewesen. Wir kannten uns seit dem Kindergarten und waren immer ein eingespieltes Team. Ich war schrecklich sauer gewesen, als er nicht mit mir an die Uni gehen wollte und stattdessen in diesen Krieg gezogen ist. Ich habe nie verstanden, warum er unbedingt kämpfen musste. Er musste sich doch irgendetwas beweisen wollen. Ich habe es nie verstanden. Bis heute nicht.“ Sie stockt und ich sehe, wie sie ihre Finger umklammert, weil sie zittern.
„Er ist vor einem Jahr gestorben. Man hat seine Drohne abgeschossen, als er über feindliches Gebiet geflogen ist.“ Sie schluckt schwer und starrt geradeaus.

Ich habe das Gefühl, dass sie nicht sehr oft darüber gesprochen hat. Vermutlich genauso wenig, wie ich über den Tod und Verlust meiner Eltern hatte reden können. Es gibt einfach Dinge im Leben eines Menschen, die man todschweigen will. Vielleicht will man nicht darüber reden, weil man hofft, sich dann einbilden zu können, dass es nicht real sein würde.

Allerdings verstehe ich eins nicht. Sie hatte jemanden in diesem Krieg verloren. Warum ist sie dann hier? Sie hat doch schon vorher diesen Krieg nicht gemocht und ihn nicht verstanden. Warum ist sie dann genau hier?

„Warum sind Sie dann hier?“, stelle ich ihr schließlich genau diese Frage, die mir gerade durch den Kopf geht.

Sie sieht mich verwirrt an und zuckt dann mit den Schultern. „Warum sind Sie hier?“

„Zum Kämpfen“, antworte ich ihr ehrlich. Schließlich ist es meine Aufgabe, Leute umzubringen. Ich erschieße sie aus dem Hinterhalt. Man kann vermutlich verdammt viele Berufe irgendwie schön reden oder interessanter machen. Doch bei meinem geht das nun mal nicht. Ich bin hier, um Leute hinterlistig umzubringen. Da gibt es nichts Schönes und auch nichts Romantisches dran. Es ist wie es ist.

Sie lacht auf und schüttelt den Kopf. „Das tut jeder auf seine Art und Weise. Du bist Scharfschütze und ich bin Ärztin. Du nimmst Leben, ich rette Leben. Spiel dich also nicht so auf, als wärst du der Einzige in diesem Krieg. Du bist kein Märtyrer, du bist genauso wie jeder andere ein Soldat.“ Sie steht auf und verlässt die Krankenstation.

Ich starre ihr nach und noch Tage danach starre ich immer wieder zum Eingang des Zeltes, doch sie kam nicht wieder.

Sie setzte sich nicht mehr zu mir ans Bett und redete mit mir.






„John, ich vermisse dich…
Ich habe schreckliche Angst um dich. Du bist doch mein Bruder und ich weiß nicht mal, wie es dir geht.
Wir hatten einen Streit, bevor du damals gegangen bist.
Ich weiß nicht mal mehr, worüber wir uns so sehr in die Haare bekommen haben, dass wir nicht mehr miteinander gesprochen haben. Wie konnten wir nur so dumm sein? Wie konnten wir uns nicht mal voneinander verabschieden, wo uns doch beiden klar gewesen war, dass wir uns vielleicht nie wieder sehen werden? Aber ich wollte es nicht wahr haben.
Ich habe mich damals nicht von dir verabschiedet, weil ich so stinkwütend auf dich war.

Ich wollte nicht, dass du gehst.
Ich wollte nicht, dass du in diesen Krieg gehst. Was wissen wir denn wirklich über diesen Krieg?
Nun bist du da und kannst du nun sagen, dass du schlauer bist? Weißt du nun mehr über Kriege und Waffen?
Was bringt dir das?
Du wirst doch zu uns zurück kommen und ich hoffe ohne Krieg. Ohne Waffe.

Ich will nur dich. Meinen Bruder.
Ich will, dass du wieder hier bist. Dass wir Filmabende machen und du dich über meinen Männergeschmack lustig machst. Ich will mit dir über Gott und die Welt reden. Ich will dir von meinen Sorgen erzählen. Ich will mit dir reden, dich umarmen, dich wegen deiner tollen Haare hassen.
Komm zurück…
Mom macht sich schreckliche Sorgen um dich. Sie zuckt jedes Mal zusammen, wenn es an der Haustür klingelt. Sie hat Angst, dass da jemand von der Armee stehen könnte und ihr sagt, dass sie dich nie wieder sehen wird.
John, komm wieder. Sei wieder mein Bruder. Mecker wieder an mir herum. Sei einfach wieder da.

Ich brauche dich. Hier bei mir.

Du hast genug für unser Land getan.
Nun braucht dich deine Familie wieder.

Ich liebe dich,
Elisha.“
 







Kriege werden um ihrer selbst willen geführt. Solange man sich das nicht zugibt, werden sie nie wirklich zu bekämpfen sein.
- Elias Canetti





Drei Jahren sind vergangen, seit ich Afghanistan verlassen habe. Drei Jahre waren vergangen und ich habe eine Waffe nie wieder angerührt. Als ich damals zurückkehrte, habe ich meiner Tante versprochen, nie wieder eine Waffe anzufassen und ich habe mein Versprechen gehalten.
Ich habe angefangen zu leben.

Es fiel mir am Anfang nicht leicht. Mein Schlafrhythmus war gestört. Ich hatte Alpträume.

Tante Molly fand mich oft mitten in der Nacht, wie ich auf der Veranda auf der Hollywoodschaukel saß und las. Ich habe in den letzten drei Jahren verdammt viele Bücher verschlungen, habe nach Antworten gesucht, jedoch nur wenige gefunden. Ich wusste nicht mal wirklich, welches meine Fragen waren, aber ich brauchte diese Antworten.

Es ist schwer, ein normales Leben zu führen. Es ist schwer, sich wieder an die Zivilisation und die Gemeinde zu gewöhnen. Es ist schwer sich zu bestimmten Zeiten an den Tisch zu setzen, zu essen und sich anzuhören, wie der Tag der anderen war.
Am Frühstückstisch wird besprochen, was man im Laufe des Tages erledigen will.
Beim Mittagessen wird besprochen, was man schon erledigt hat.
Und beim Abendessen wird besprochen, was man am nächsten Tag noch erledigen will.

Es ist schwer, wieder daran zu denken, dass es einen nächsten Tag geben wird. Ich muss jedoch lernen, den Krieg hinter mir zu lassen. Für meine Familie.

Ich bin nun zweimaliger Patenonkel. Nick und Rosalie haben vor zwei Jahren eine kleine Tochter bekommen, welche sie nach meiner Mutter Elizabeth nannten.
Und Elisha und ihr Ehemann Kyle hatten vor einem halben Jahr einen kleinen Sohn bekommen, welchen sie Lucas nannten. Als Nick mir seine Tochter zum ersten Mal in den Arm gelegt hat, war es ein unglaubliches Gefühl gewesen, das ich bis heute nicht beschreiben kann.

Aber als ich in die Augen des kleinen Mädchens gesehen habe, das den Namen meiner Mutter trug, wusste ich, dass es eine Zukunft gibt, die nichts mit dem Krieg zu tun hat. Ich würde nie zulassen, dass Elizabeth oder der kleine Lucas in den Krieg ziehen und zum ersten Mal verstand ich wirklich, was meine Tante Molly gefühlt hatte, mit welchen Sorgen sie gekämpft hatte, als ich damals gegangen war.


Ich habe nicht alles hinter mir lassen können. Da sind immer noch Bilder in meinem Kopf, die ich nicht los werde. Eine Zeitlang habe ich eine Therapie gemacht, doch schnell gemerkt, dass mich das nicht weiterbringen wird. Ich besuche dann wieder Mikes Eltern und sie sind mir jedes Mal dankbar, wenn ich vorbei komme. Nach meinem ersten Besuch hielten wir immer Kontakt und irgendwie brachten mich all diese Menschen dazu, zu leben.

Mikes Eltern zeigten mir Fotos von ihrem Sohn und sie erzählten mir von ihm. Ich war derjenige, der ihnen die Ehrenmedaille für ihren Sohn überreichte. Seine Mutter hat sich heulend in meine Arme geworfen und mir nur gedankt. Durch seine Eltern bin ich meinen Eltern selber sehr viel näher gekommen. Sie haben mir elterliche Liebe gezeigt, gezeigt, dass sie auch stolz auf ihren Sohn waren, auch wenn er nicht mehr da war.

Rachel habe ich gesagt, dass Mike sie die ganze Zeit geliebt hat. Sie war nicht überrascht gewesen und hat mir gedankt, dass ich ihr die Worte gesagt hatte, denn sie hatte jahrelang darauf gewartet, dass Mike sie zu ihr sagen würde. Sie erzählte mir, dass es falsch gewesen war, zu hoffen, dass ein anderer den ersten Schritt tat. Als sie mir das letzte Mal eine E-Mail geschrieben hatte, hatte sie mir ein Foto von sich und ihrem Verlobten geschickt. Sie wollte nicht mehr warten, hatte sie mir geschrieben. Sie hatte erkannt, dass die Zeit gegen die Liebe arbeitete.

Luke Carter ist inzwischen so etwas wie mein bester Freund.
Wir treffen uns jeden Samstag und reden. Manchmal sitzen wir auch einfach nur so da und sagen gar nichts. Doch diese Treffen tun mir gut. Wir wollen beide nichts mehr mit dem Krieg zu tun haben. Luke ist inzwischen verlobt und glücklich verliebt. Er hat mir gesagt, dass er durch den Krieg gelernt hat, jeden Augenblick zu genießen und dass er nun viel bewusster leben wird.

Tante Molly und ihr Ehemann David.
Ich liebe sie wie meine Eltern. Sie haben mich damals aufgenommen, als meine Eltern gestorben sind. Ich habe nie wirklich erkannt, dass ich nicht der Einzige gewesen bin, der geliebte Menschen verloren hat. Sie haben mich auch aufgenommen, als ich zurückgekehrt bin. Müde und erschöpft und wütend, weil es anstrengend war, jeden Tag in die Physiotherapie zu gehen und nicht wirklich schnelle Fortschritte zu machen. Doch Molly und David waren da. Sie unterstützten mich, sprachen mir Mut zu und waren einfach da. Sie hetzten mich nicht und forderten auch keine Wunder von mir. Sie nahmen mich einfach als den Menschen an, der ich war.
Ein Mensch mit Fehlern und Makeln.

Julia Swan.
Ich muss oft an die Ärztin aus dem Lazarett denken. Ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr und weiß nicht mal, ob sie noch immer stationiert ist. Ist sie vielleicht inzwischen schon wieder in Amerika oder kümmert sie sich immer noch um die Menschen, die andere umbrachten? Ich hatte sie damals nach unserem letzten Gespräch nicht mehr gesehen. Als ich die anderen Ärzte nach ihr befragte, meinten diese nur, dass sie nun für eine andere Station tätig wäre. Doch ich wusste, dass da mehr war. Ich wusste nicht, ob ich sie verletzt hatte oder es etwas anderes gewesen war, was sie von mir fernhielt. Ich würde es wohl auch nie erfahren.

Nick, Rosalie und Elizabeth.
In Nick habe ich einen Bruder gefunden, einen Freund, der immer für mich da ist. Wenn ich wütend wegen meinen wenigen Fortschritten war, nahm er mich mit zum Fluss, zum Basketballplatz und wir spielten Mann-gegen-Mann. Er war besser, er konnte ja auch richtig laufen. Doch er hatte auch kein Mitleid mit mir, nahm mich nicht als Invaliden wahr. Dadurch wurde ich immer stärker, meine Muskeln wuchsen wieder und inzwischen kann ich auch ohne Gehhilfe gehen. Ich humpele hin und wieder, doch ich kann wieder laufen. Ich werde nie wieder Marathon laufen können und sobald ich Shorts trage, starren viele Leute meinen rechten Unterschenkel an, doch es ist okay.

Elisha, Kyle und Lucas.
Elisha ist die Erste gewesen, die mich stürmisch umarmt hat, als ich zurück gekommen bin. Vergessen war der Streit, den wir damals gehabt hatten. Während Nick mich förderte und half, wieder laufen zu können, half sie mir dabei, mich wieder in die Gemeinschaft einzugliedern. Sie ging mit mir einkaufen oder zu Ämtern. Sie suchte mit mir Jobs und nach einer Wohnung. Sie war einfach da und dafür war ich ihr sehr dankbar. Alleine hätte ich vieles nicht hinbekommen.

Und sogar meine eigenen Eltern sorgten dafür, dass ich von vorne anfing.
Seit ich Afghanistan verlassen habe, sind sie mir noch bewusster als es vorher der Fall gewesen war. Sie waren tot und dennoch weiß ich, dass sie mich nie verlassen werden. Es hat Jahre gedauert, bis ich das verstanden habe. Damals mit 16 war ich unglaublich wütend auf sie gewesen, weil sie mich alleine gelassen hatten. Doch nun verstehe ich das alles. Sie waren nie weg. Sie sind immer da und begleiten mich jeden Tag.






Zeit ist es, wenn der wilde Krieg vorüber, der Angst zu lächeln, der bestandnen Not. (Lucentio)
- William Shakespeare (Quelle: Der Widerspenstigen Zähmung V, 2)



Es war eines dieser Dinge, die man einfach tun muss, wenn man zurückkehrt. Man geht auf Demos. Gegen den Krieg. Man hat ihn gesehen. Man kennt das hässliche Gesicht des Krieges, das wie eine grässliche Fratze über einem schwebte. Der Krieg hat kein schönes Gesicht, schon gar nicht hat er Erbarmen.

Ich befinde mich in Washington D.C., höre mir Reden von anderen Soldaten an, wie sie den Krieg erlebt haben. Sie erzählen von den Menschen, die sie haben sterben sehen. Sie erzählen von den Menschen, die sie töten mussten und sie erzählen von ihren Albträumen, die sie bis heute heimsuchen.
Vielleicht war ich mal für diesen Krieg gewesen.

Jetzt, wo ich ihn kennen gelernt habe, bin ich es nicht mehr. Ich will nicht, dass noch mehr Menschen ihr Leben verlieren. Ich will nicht, dass es noch mehr Menschen wie Mike Stone gibt, die ihre Chancen verlieren.

Ich will nicht, dass noch mehr Scharfschützen ausgebildet werden, die andere Menschen hinterhältig erschießen sollen. Ich will nicht, dass überhaupt noch mehr Leute für diesen Krieg ausgebildet werden.

Wissen wir denn überhaupt wirklich, warum wir diesen Krieg führen?
Wissen wir das wirklich?

Sind wir letztendlich nicht wirklich nur Schachfiguren auf einem riesigen Spielfeld und irgendjemand zieht die Strippen, die uns bewegen? Irgendjemand, der selber nie die Wüste Afghanistans kennen gelernt hat. Irgendjemand, der nie diesen Staub schlucken musste oder sehen musste, dass Männer der Taliban auch Familien haben.

Worum geht es in diesem Krieg überhaupt?

Deswegen bin ich hier. Nicht, um Antworten zu bekommen. Ich habe aufgehört, nach Antworten zu suchen.

Aber ich bin hier, um meine Stimme zu erheben. Ich werde mit all den anderen Demonstranten  rufen, dass wir gegen diesen Krieg sind, dass die Truppen sich endlich zurückziehen sollten.
Die Zelte sind vor dem weißen Haus aufgebaut worden und all die ehemaligen Soldaten, die mit mir hier sind, schrieen ihre Worte laut gegen genau dieses Haus.




Ich stehe vor einem Plakat und sehe es mir an. Ein Kriegsfotograf hat hier ein paar seiner Werke aufgestellt und alle zeigen sie die Schrecken des Krieges. Ein Krieg ist nicht romantisch, es geht nicht darum, um die Liebe einer Frau zu kämpfen. Es geht um Macht. Gier und Politik.

„Was denken Sie, wenn Sie das Foto sehen?“, fragt mich plötzlich eine Person, die neben mir steht.  

Ich sehe die Person nicht an, sondern starre das Foto an. Es zeigt zwei kleine Jungen, die mit einer Plastikwaffe spielen. Sie spielen genauer gesagt Krieg. Sie kennen keine anderen Spiele, woher auch? Sie kennen ja überhaupt nichts anderes.

„Ich denke, dass es so etwas nicht geben dürfte. Kinder sollten mit Murmeln spielen, mit einem Gameboy oder mit einem Ball und nicht mit Waffen.“ Ich stelle mir vor, die kleine Elizabeth oder der kleine Lucas würden eines Tages mit einer Plastikwaffe spielen. Vermutlich würde ich der Erste sein, der sie ihnen aus den Händen reißen würde.

„Ja“, sagt die Person neben mir und nun sehe ich sie zum ersten Mal. Ich erstarre, als ich meine Ärztin erkenne. Julia Swan. Nur trägt sie nun keinen weißen Kittel und ihre Haare sind auch nicht zu einem straffen Dutt gebunden. Sie trägt eine ausgeblichene Jeans und ein weites Shirt, auf dem ein Anti-Kriegs-Logo abgebildet ist. Sie wirkt wie ein normaler Mensch, nicht wie eine Ärztin, die in Afghanistan Schwerstwunden verarzten musste.

„Es freut mich, Sie wieder zu sehen, First Leutnant Dearing“, sagt sie mit einem Lächeln, welches ich nur zu gerne erwidere. Sie sieht immer noch genauso wunderschön aus wie damals und als sie sich mit der Hand die Haare hinters Ohr streicht, suche ich sofort nach einem Ehering, kann aber keinen entdecken.

„Ich bin kein First Leutnant mehr“, sage ich und halte ihr meine Hand hin. „Ich bin nur noch John Dearing.“

Sie nimmt meine Hand entgegen und lächelt. „Freut mich, ich bin Julia Swan.“

Ich weiß nicht, warum ich genau das sage, als ich sie sehe, doch ich weiß einfach, dass ich nur diese eine Chance haben würde. Ich würde nicht wissen, ob es ein Morgen geben würde. Die Zeit wartete schließlich auf keinen.

„Was würdest du sagen, wenn ich dich zu einem Kaffee einladen würde?“, frage ich sie und halte ihre Hand immer noch in der meinen. Doch weder sie noch ich ziehen die Hand zurück, wir halten einander einfach fest.

„Ich würde sagen, dass ich gerne einen Kaffee mit dir trinken würde“, erwidert sie und lächelt mich liebevoll an.


Vielleicht war es Schicksal dass ich Julia Swan hier in Amerika wieder treffen sollte.

Vielleicht war es aber auch Schicksal, dass wir uns damals unter der brütenden Sonne Afghanistans kennen lernen sollten.




Es ist nicht wenig Zeit, die wir haben,
sondern es ist viel Zeit, die wir nicht nützen.
- Lucius Annaeus Seneca





   CHRISTINA STÜRMER - MAMA ANA AHABAK
http://www.myvideo.de/watch/4894116/Christina_Stuermer_Mama_ana_ahabak
MAMA, SAG' MIR WAS DU MEINST
SAG' MIR WARUM ES HIER SO DUNKEL IST
MAMA, SAG' WARUM DU WEINST
ICH WEISS NICHT WARUM DU TRAURIG BIST

SIND DAS STERNSCHNUPPEN DA OBEN ?
WAS IST DORT VORBEI GEFLOGEN ?
WARUM FRIERE ICH SO SEHR ?
WARUM SCHLÄGT DEIN HERZ SO SCHNELL ?
WIESO WIRD ES DORT HINTEN HELL ?
UND WO KOMMT DIESER DONNER HER ?

MAMA ANA AHABAK - MAMA ICH LIEBE DICH
MAMA ANA AHABAK - KOMM DOCH UND BESCHÜTZE MICH
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