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Der Erzähler und seine Perspektiven

Kurzbeschreibung
GeschichteAllgemein / P12 / Gen
21.01.2011
28.01.2011
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Kapitel 3: Das Fernglas des Erzählers


Perspektive. - Das Thema ist komplizierter als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Die meisten Hobby-Autoren und Hobby-Analytiker (im Folgenden als HAA abgekürzt) werfen mit diesem Begriff wild um sich, ohne zu wissen, was das überhaupt ist ihn vorher definiert zu haben. Daher versuche ich erstmal zusammenzukratzen, was man je nach Kontext unter "Perspektive" so versteht (nur auf erzählende literarische Werke bezogen, die zeichnerischen, erkenntnistheoretischen, was-auch-immer-welche Definitionen spare ich mir natürlich):

Erzählperspektive: Ich habe es im ersten Kapitel bereits angedeutet: Es gibt Pi mal Daumen 20.000 Definitionen von "erzählen". Hinzu kommen noch 20.000 Definitionen der Perspektive. Das macht etwa 400.000.000 Definitionen für Erzählperspektive. Da ich längst nicht alle kenne und nicht den Nerv habe, wenigstens die mir bekannten aufzuzählen, beschränke ich mich darauf, eine Definition zu formulieren, mit der (hoffentlich) möglichst viele Leute einverstanden sein dürften, zumindest jene, die mit meiner Definition des Erzählens einverstanden waren: Wahrnehmung, Verarbeitung und Darstellung einer Zustandsveränderung durch eine Erzählinstanz. Das Filter, das für das Zustandekommen einer Erzählung von zentraler Bedeutung ist. "Die Beziehung des Erzählers zur erzählten Geschichte" (Percy Lubbock), um es wirklich GANZ allgemein und mehrheitstauglich zu sagen.

PoV: "Erzählperspektive" auf Englisch. Aber ein großes Aber: Ich kenne mich mit der Narratologie im englischsprachigen Raum überhaupt nicht aus, aber mit "point of view" scheint in 99,99% aller Fälle Stanzels Typenkreis gemeint zu sein (gibt es hier einen Experten, der es widerlegen oder bestätigen kann?), während ich vom deutschen Raum (natürlich nur an Unis, die Schulen hinken mit der "Bildung" traditionellerweise ja immer 30 bis 40 Jahre hinterher) den Eindruck habe, dass Genette sich hier eher durchgesetzt hat.

"PoV" (in Anführungsstrichelchen): Da in gewissen filmgeprägten HAA-Kreisen die Erzählinstanz nur eine unsichtbare Pseudo-Existenz fristet und es dort nur den Autor, die Charaktere und nichts dazwischen gibt, hat sich das Modell einzelner sog. "PoV"-Passagen herausgebildet. Unter PoV verstehen HAA normalerweise den Fokus auf einen bestimmten Charakter oder mehrere Charaktere, oft hat jeder genauer zu betrachtende Charakter ein eigenes "PoV"-Kapitel oder zumindest eine "PoV"-Szene innerhalb eines Kapitels. "PoV" im HAA-Sinne ist daher nicht zu verwechseln mit "point of view" im ursprünglichen Sinne, der Erzählperspektive. Letzteres ist, wie schon weit und breit erläutert, das Filter, das aus bloßem Geschehen eine Erzählung macht, ersteres müsste man eher Charakterfokus* nennen - oder man greift gleich zum Begriff der Reflektorfigur.
(* Ich möchte nicht, dass der abfällige Ton missverstanden wird: Ich habe absolut nichts gegen den Charakterfokus. Aber die Bezeichnung PoV finde ich extrem ungeschickt und vor allem missverständlich. Ach ja, und natürlich ist wechselnder Charakterfokus nicht zwangsläufig durch Filme und HAA-Kreise entstanden, aber heutzutage spielen Filme nun mal eine entscheidende Rolle für das Anwenden bestimmter Kunstgriffe durch HAA-Aktivisten.)

Wahrnehmung und Verarbeitung des Geschehens durch eine Figur und das daraus resultierende Handeln: unabhängig davon, ob die Figur nun eine eigene "PoV"-Passage bekommt oder nicht. Es gehört sicherlich zu einem guten Autor, zu wissen, wie jede einzelne seiner Figuren die Welt um sich herum wahrnimmt, schließlich ist die subjektive Wahrnehmung einer Figur der Kernpunkt einer guten Charakterisierung. Sie gibt Aufschluss über seine Denkweise und Motivation und macht somit das Handeln verständlich.

Sooooh, nach dieser knappen Trennung der Begriffe erkläre ich nun feierlich und zum x-tausendsten Mal, dass es in diesem Essay um die Erzählperspektive geht. Die anderen Punkte werden aber wohl oder übel ebenfalls - wenn auch indirekt - angesprochen werden müssen. Da ich euch aber spätestens seit dem PS in Kapitel 1 einen Vergleich der Modelle von Stanzel und Genette schuldig bin, kommt hier eine knappe Zusammenfassung, die hoffentlich noch komprimierter ist als der Wikipedia-Artikel.

Franz Karl Stanzel, geb. am 4.8.1923, österreichischer Anglist, erarbeitete in den 50ern, 60ern und 70ern (die letzte Aktualisierung war 1979, so weit ich weiß) das sog. "Typologische Modell der Erzählsituationen", auch kurz als Typenkreis bezeichnet. Es besteht aus drei Idealtypen der Erzählsituationen: der auktorialen Erzählsituation, der personalen Erzählsituation und der Ich-Erzählsituation.

Wie bereits in Kapitel 2 erwähnt, zeichnet sich der auktoriale Erzähler in erster Linie dadurch aus, dass er das Hirn des Autors besitzt, in 99,999999999999999999% aller Fälle auch seine Überzeugungen und Moralvorstellungen, seinem Kulturkreis entstammt und dasselbe vom Leser erwartet, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Was die Diegese betrifft, so kann man sich über den auktorialen Erzähler folgende Dinge merken: Er kann alles, er weiß alles, er hat immer recht, er lügt den Leser nie an, bereitet ihm alles auf einem Silbertablett und ist gesellschaftskonform (denn falls nicht, wird der Autor verantwortlich und öffentlich platt gemacht). Eine solch gottähnliche Gestalt kann natürlich kein Subjekt sein, weswegen sie sich vorzugsweise an der grammatikalischen Form der dritten Person Singular bedient.

Der Erzähler der personalen Erzählsituation ist unsichtbar. Er sitzt nicht im Kopf des Autors, sondern im Kopf einer Figur, der sog. Reflektorfigur. Es kann auch mehrere Reflektorfiguren geben, solange nur nicht ALLE Figuren der Story zu Reflektorfiguren mutieren ... Der personale Erzähler nutzt fast ausschließlich die Festplatte und die Sinne der Reflektorfigur, was seinen Wahrnehmungs- und Denkhorizont deutlich eingrenzt. Es ist offiziell erlaubt und erwünscht, seine Aussagen zu hinterfragen und seine moralischen Ansichten nicht zu teilen (eine Ausnahme bilden hier die HAA-Kreise, wo der personale Erzähler einzig und allein dem besseren Hineinversetzten und keineswegs dem Hinterfragen dient). Auf diese Möglichkeit der Nicht-Identifikation und des Hinterfragens verweist der Gebrauch der distanzschaffenden dritten Person Singular. Da sich aber zur Reflektorfigur unweigerlich eine emotionale Nähe und die Tendenz, die Worte des Erzählers für bare Münze zu nehmen, einstellt, ist der personale Erzähler ein ideales Werkzeug, um die Leser zu verar*****, ohne dass die meisten es merken. *muhaha*

Die Ich-Erzählsituation erkennt man vor allem daran, dass der Erzähler das Wörtchen "ich" benutzt. Um es hochwissenschaftlichseriös auszudrücken: Der Erzähler ist mit einer Figur identisch. Das ist oft die Hauptfigur, kann aber auch locker eine Nebenfigur sein. Dass die Sicht der Erzählers eingeschränkt ist, merkt man hier deutlicher als bei jeder anderen Erzählsituation, aber gleichzeitig wird auch das maximale Hineinversetzen in die Figur ermöglicht, da man die Erzählung ja quasi aus ersten Händen bekommt und sie auch viel natürlicher wirkt als aus dem Munde eines auktorialen und eines personalen Erzählers.

Eine weitere Erzählsituation wäre die neutrale. Der Erzähler wird auf eine bloße Kamera degradiert, er schildert nur das, was "äußerlich" wahrgenommen werden kann. Da er keine Wertungen vornimmt, wird er auch als objektiver Erzähler bezeichnet. Und an diesem Begriff merkt man, dass der neutrale Erzähler völliger Humbug ist. - Oder glaubt hier tatsächlich noch jemand an den Mythos der Objektivität? Dass ein Bild nicht kommentiert wird, bedeutet ganz und gar nicht, dass es nicht manipuliert ist. Und das weiß man nicht erst seit Photoshop, sondern es ist ein sehr gängiger unterbewusster Irrtum, dass Fotos und (Doku-)Filme ein unverfälschtes Abbild der Realität wären. Man fragt sich oft nicht, wie es z.B. außerhalb des gezeigten Bereichs aussieht, warum die Kamera ausgerechnet an diesem Ort installiert wurde und nicht irgendwo weiter rechts, blablabla. Genauso ist es mit dem ach so neutralen Erzähler. Objektiv zu erzählen würde bedeuten, wirklich ALLES zu erzählen: Was Iks Üpsilon sagt, wie Iks Üpsilons Haare liegen, was sich in Iks Üpsilons Verdauungstrakt tut und dass in China ein Sack Reis umgefallen ist. Da ALLES zu erzählen offenbar eine extrem sinnfreie Angelegenheit ist, setzt der ach so neutrale Erzähler Prioritäten und trifft eine Auswahl, was ihn automatisch zu einem Filter, einer selektierenden Instanz macht und ihn somit all seiner "Objektivität" beraubt. Wir Leser können auch nicht wissen, was der ach so neutrale Erzähler so weggelassen hat. Wenn Iks Üpsilon nervös ist und Schweißausbrüche bekommt, kann der neutrale Erzähler die Information einfach dezent weglassen und wir merken nicht, dass Iks Üpsilon nervös ist. Wir folgern daraus: Der neutrale Erzähler ist ein MYTHOS! ... Aber auch ein interessantes Instrument zum Leserverar*****.

Um mal endlich einen direkten Angriff auf Stanzels Modell auszuführen ... Für alle, die (so wie ich *sich ganz wichtig und intelligent fühl*) schon in der Schule Überlegungen hatten, ob ein Erzähler nicht auch dann ein "ich" sein kann, wenn er nicht explizit "ich" sagt, und sich fragten, ob sie die einzigen Idioten sind, die so denken, habe ich eine frohe Botschaft: Nein, ihr seid nicht die einzigen Idioten, die Stanzels Modell hinterfragen. Um genauer zu sein, seid ihr überhaupt keine Idioten, sondern die Schule ist ein Idiot, der nur ein Modell als die einzig wahre Wahrheit predigt und selbst dieses einzig wahre Modell nicht wirklich vollständig und systematisch darzulegen vermag (war zumindest bei mir so, aber ich war ja auch nicht umsonst auf dem Charlie-Brown-Gymnasium).

Nein, Gérard Genette z.B. geht davon aus, dass ein Erzähler immer ein Subjekt ist. Kein Gott, kein abstraktes Etwas, sondern ein selektierendes Subjekt (also ein "ich", ob er es nun explizit sagt oder nicht). Und was noch besser ist: Stanzel hat ja einen Kreis von Idealtypen und das grundsätzliche Problem von Idealtypen ist ja bekanntlich, dass sie für gewöhnlich viel zu idealtypisch sind. Ihr werdet euch bei den Interpretationsaufsätzen in der Schule sicherlich die Köpfe zerbrochen haben, ob das nun ein auktorialer oder ein personaler Erzähler ist. In der richtigen Wissenschaft gibt es unzählige hochkomplizierte und verwinkelte Kritikpunkte an Stanzel, die ich kaum verstehe, aber wichtig für mich persönlich ist die sehr schwammige, unklare und verwirrende Anwendbarkeit des Modells in der Praxis. Idealtypen sind einfach zu gut für diese Welt. Ja, Herr Stanzel macht überhaupt kein Geheimnis daraus, dass es sich um Idealtypen handelt, er betont das sogar, daher denke ich, dass ich weniger ein Problem mit dem Typenkreis an sich habe als mit Idealtypenmodellen generell. Idealtypen werden der Vielfalt der Realität einfach nicht gerecht.

Was schlägt also Genette vor und was ist noch besser als die Erkenntnis, dass jeder Erzähler ein auswählendes, selektierendes, wertendes und daher mental eingeschränktes Subjekt ist: Genette unterteilt seine Analyse der Erzählperspektive in zwei Hauptkategorien: vision (Wer sieht?) und voix (Wer spricht?). Diese Unterteilung erlaubt eine viel detailliertere und präzisere Analyse des Erzählers als Stanzels Idealtypen und wird somit auch der herausragenden Stellung der Erzählinstanz gerecht.

Was vision und voix nun konkret bedeuten:

Zu voix, der Stimme, verweise ich hochoffiziell auf Kapitel 2. Schlagworte: homodiegetisch, heterodiegetisch, autodiegetisch, extradiegetisch, intradiegetisch, metadiegetisch, metametadiegetisch, metametametadiegetisch, metametametametadiegetisch, metametametametametadiegetisch ... Sprich: Die Frage nach Zeit und Ort (bezogen auf die Erzählebenen) der Wiedergabe.

Vision ist nach dieser Logik also die Wahrnehmung. Bei Genette nennt sich dieser Part "Fokalisierung". "Fokalisierung" kommt ja offensichtlich von "Fokus", bedeutet also die Konzentration aus etwas. Für mich selbst und heimlich spreche bzw. denke ich auch von "Zoom", weil die Fokalisierung anzeigt, wie stark der Erzähler bzw. Wahrnehmer in eine oder mehrere Figuren "hineinzoomt". Oder wie Wikipedia es erklärt: "das Verhältnis zwischen dem Wissen einer Erzählinstanz und einer Figur".

Das heißt grob:

Nullfokalisierung: Der Erzähler weiß mehr als die Figur. -> Allwissend.
Interne Fokalisierung: Der Erzähler und die Figur befinden sich auf demselben Stand. -> Innensicht.
Externe Fokalisierung: Die Figur weiß mehr als der Erzähler. -> Außensicht.

Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass hier ein paar direkte Parallelen zu Stanzels Modell bestehen: Die Nullfokalisierung erinnert verdammt an die auktoriale Erzählsituation, die interne Fokalisierung an die personale Erzählsituation und die externe Fokalisierung an die neutrale Erzählsituation, die wir bereits als Unsinn gebrandmarkt haben. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass Genettes Fokalisierung im Gegensatz zu Stanzels Typenkreis nur die Wahrnehmung umfasst.

Aber dennoch ist die Fokalisierung in höchstem Grade angreifbar, nicht zuletzt auch der Punkt mit der externen Fokalisierung, weil neutrales Erzählen ja ein Mythos ist. Auch der Begriff der Nullfokalisierung muss heftige Attacken aushalten, so wie Genettes Modell insgesamt (nennt mir ein Modell, das nicht umstritten ist).

Ich lehne die Fokalisierung nicht ab, aber da Monsieur Genette offenbar nicht so genau definiert hat (und gerade deswegen so viel Kritik geerntet hat), muss ich wohl oder übel selbst entscheiden, wie ich die einzelnen Fokalisierungstypen verstehe.

Also deswegen das Ganze noch einmal, nur diesmal in meinem Verständnis:

Nullfokalisierung: Der Erzähler hat keine Figur als konkretes Wahrnehmungszentrum. Er schaut aus dem Fenster seines Häuschens auf der Bergkuppe und beobachtet das Geschehen durch ein Fernglas und "zoomt" mal näher, mal weiter, in die Figuren hinein, aus den Figuren heraus, um das zu sehen, was ihn gerade interessiert und was ihm im Moment wichtig erscheint, er bekommt eigentlich von allem etwas mit und kann dem Leser deswegen einen umfassenden Bericht liefern. Im Gegensatz zum auktorialen Erzähler ist der nullfokalisierte Erzähler aber ein Subjekt, das ein Geschehen durchaus falsch sehen und/oder bewerten kann (aber natürlich nicht muss).

Interne Fokalisierung: Der Erzähler sitzt nach wie vor am Fenster seines Berghäuschens, aber er hat sich ein Beobachtungsopfer ausgesucht und in sein Inneres "hineingezoomt". Nun beobachtet er die auserwählte Figur, ohne die Einstellung zu ändern, was bedeutet, dass er nicht mehr und nicht weniger weiß und wahrnimmt als die Figur selbst und daher über das Geschehen im Großen keinen Überblick hat. Er kann mit der Figur verschmelzen, er kann sie leicht distanziert betrachten, dieselben Ereignisse völlig anders bewerten und die Reflektorfigur offen verurteilen, er kann alles tun, solange er im Inneren der Figur bleibt. Der Fall ist eigentlich fast (aber auch wirklich nur fast) derselbe wie beim personalen Erzähler (der übrigens prinzipiell unsichtbar zu bleiben hat), nur dass die interne Fokalisierung eine Ich-Erzählung (also eine Sichtbarwedung des Erzählers) nicht ausschließt. Allerdings sollte auch nicht vergessen werden, dass nicht jede Ich-Erzählung intern fokalisiert ist. Auch ein nullfokalisierter Erzähler kann sich explizit "ich" nennen. Ein extern fokalisierter ebenso.

Externe Fokalisierung: Der Erzähler betrachtet das Geschehen ausschließlich ohne näheren "Zoom". Er schaut nicht in die Figuren hinein, er sieht nur, wie sie handeln. Im Gegensatz zum neutralen Erzähler ist er nicht objektiv und bemüht sich auch nicht darum, weil er weiß, dass er es als Subjekt eh nicht schafft. Er setzt durchaus Akzente. Er "zoomt" mal näher und mal weiter, aber niemals in die Personen hinein.

Mein Verständnis der Fokalisierung ist also anscheinend eine abgeänderte/korrigierte Version des Stanzelmodells. Die wichtigste (von Anfang an durch Genette vorhandene) Änderung ist die Auflösung der Einordnung des Erzählers anhand von Personalpronomina, die ich ziemlich unsinnig finde. Pronomina gehören für mich in den Bereich der Grammatik und haben in der Erzähltheorie nichts verloren. Wie ich bereits mehrmals angedeutet habe, hat ein Ich-Erzähler nicht zwangsläufig etwas mit Innensicht und der Identität mit einer Figur zu tun, wie der Stanzelsche Typenkreis einem suggeriert. "Ich" bedeutet zunächst gar nichts. Und "er" und "sie" genauso wenig. Dass die Zuschreibungen bestimmter Erzählmerkmale zu bestimmten Pronomina heute üblich sind, ist sicherlich nicht an allerletzter Stelle der Stanzel-Propaganda an den Schulen zu verdanken.

Und nun ... der ultimative Vergleich von Stanzel und Genette:

Herr Stanzel bietet uns: 3-4 idealtypische Erzählervarianten.

Monsieur Genette bietet uns: den homodiegetischen und den heterodiegetischen Erzähler (die extra-, intra- und metadiegetischen Varianten lasse ich an dieser Stelle weg) und drei Fokalisierungstypen, was theoretisch 6 wesentlich präziser skizzierte Erzählertypen ergibt.

Genette hat gegenüber Stanzel eben den Vorteil, dass er nicht irgendwelche Idealtypen liefert, denen die Praxis mehr oder weniger entspricht, sondern ein Arsenal an Kombinationsmöglichkeiten bietet, das dem Interessenten ermöglicht, den Erzähler und seine Perspektive tatsächlich zu beschreiben und nicht nur bloß zuzuordnen.

Also dann ... Mit Stanzel und Genette wäre ich am Ende. Für alle, die bis hierher durchgehalten haben, zum Abschluss dieses Essays zwei kleine Extras:

1. Eine Anmerkung, die ich nicht geschafft habe, irgendwo im Text unterzubringen, obwohl sie mordswichtig ist: Bei der Analyse einer homodiegetischen (Ich-)Erzählung (homodiegetisch ist ja immer "ich") ist es wichtig, darauf zu achten, in welchem Verhältnis das erzählte und das erzählende Ich zueinander stehen. Das erzählte Ich ist das Subjekt, das an der erzählten Handlung teilhat, das erzählende Ich ist der eigentliche Erzähler, der entweder in derselben Zeit angesiedelt ist wie das erzählte Ich oder sich in einer späteren Zeit befindet, also von vergangenen Ereignissen berichtet. Ein erzählendes Ich, das sich temporal gesehen VOR dem erzählten Ich befindet, dürfte abgesehen von Zukunftsspekulationen einzelner Figuren schwer zu finden sein, aber ich möchte diese Möglichkeit mal nicht ausschließen.

Beispiele: a) Der Erzähler im "Stationsaufseher" erzählt von einem späteren Zeitpunkt aus, das erzählende Ich weiß, wie die Geschichte endet und dass Dunja nicht in der Gosse gelandet ist, aber er hält dieses Wissen bewusst zurück und beschränkt sich darauf, die Sicht des erzählten Ich zu übernehmen. Dass das erzählende Ich Informationen vorwegnimmt, ist aber auch ein sehr häufiger Fall. Das trifft z.B. auf Bernhard Schlinks "Der Vorleser" zu ("Jahre später kam ich darauf, daß [...]" und andere). b) In Sachen Grammatik bin ich bei Erich Maria Remarque in "Im Westen nichts Neues" auf erste Person Singular Präsens gestoßen, wodurch das erzählte und das erzählende Ich miteinander verschmelzen. Der Erzähler gibt direkt das wieder, was er gerade im Moment wahrnimmt, empfindet und denkt und er weiß nicht, wo das Ganze hinführt.

2. Wolf Schmid schlägt statt einer Fokalisierung und Konsorten ein Arsenal an Parametern der Perspektive vor, die wiederum mit vier Erzählertypen kombiniert werden. Diese Erzählertypen sind nicht die Perspektive, wie Schmid besonders betont. Es sind Typen, die eine bestimmte Perspektive nach den fünf Parametern einnehmen. Aber sie sollten dennoch angesprochen werden:

Zunächst sollte erwähnt werden, dass Schmid von einer figuralen und einer narratorialen Perspektive spricht. Die figurale Perspektive ist die Übernahme der Sichtweise einer oder mehrerer Figuren auf das Geschehen, also der Bericht aus ihrer Perspektive, durch ihr ganz persönliches, subjektives Prisma. Das ist nicht ganz das, was ich persönlich unter einer "internen Fokalisierung" verstehe, denn die Übernahme der Sicht einer Figur schließt eine distanzierte Betrachtung aus. Ein intern fokalisierter Erzähler dagegen kann durchaus von der Möglichkeit Gebrauch machen, eine eigene Meinung zu haben, obwohl er vom selben Wissensstand in Bezug auf die dargestellte Handlung ausgeht wie die Figur. Die narratoriale Perspektive ist logischerweise der große ganze Rest. Jeder Fall, in dem der Erzähler nicht komplett die Sicht einer Figur übernimmt.

Das alles wird nun mit dem bereits in Kapitel 2 angesprochenen diegetischen und nichtdiegetischen Erzähler kombiniert. Das Ergebnis sind die bereits angesprochenen vier Kombinationsmöglichkeiten:

1. Ein nichtdiegetischer Erzähler besitzt seine höchst eigene Perspektive. Er kann durchaus in die Personen hineinschauen, braucht es aber nicht zwangsläufig. Wichtig ist nur, dass er nicht Teil der Diegese ist und seine Wiedergabe (weitestgehend) unabhängig ist von der Wahrnehmung der Figuren.

2. Ein diegetischer Erzähler besitzt seine höchst eigene Sicht. Der Erzähler übernimmt nicht die Sicht einer Figur, denn er ist SELBST die Figur, die gerade wahrnimmt und wiedergibt. Kann in der Praxis zweierlei bedeuten: a) erste Person Singular (z.B. "Im Westen nichts Neues" von Remarque); b) das erzählende Ich ist mit dem erzählten Ich NICHT identisch, hat also eine andere Sicht auf das Geschehen, und macht dies auch deutlich, indem es beispielsweise Vorausdeutungen einbringt und das Handeln des erzählten Ich von seinem "jetzigen" Standpunkt aus bewertet, vom "damaligen" Standpunkt also auf Distanz geht (z.B. Schlinks "Vorleser").

3. Ein nichtdiegetischer Erzähler erzählt aus der Sicht einer Figur, der sog. Reflektorfigur. Für gewöhnlich ist der Erzähler unsichtbar und hat vollen Einblick in das Innere seines "Opfers".

4. Ein diegetischer Erzähler übernimmt die Sicht seines früheren - also des erzählten - Ich. Bedeutet für uns: Keine Vorausdeutungen und Co., aber dennoch grammatikalische Vergangenheitsformen, denn eine Erzählung im Präsens wäre ja Punkt 2 (z.B. "Stationsaufseher").

Sooooh, jetzt haben wir die vier Erzählertypen. Diese werden nun, wie gesagt, mit den Parametern kombiniert, wobei die Unterscheidung des diegetischen und nichtdiegetischen Erzählers hier weniger eine Rolle spielt. Wichtig sind die figurale und die narratoriale Perspektive, die nach den fünf Parametern gestaltet werden:

Räumliche Perspektive: Wo hat sich das wahrnehmende Subjekt zum Zeitpunkt des geschilderten Ereignisses befunden? War es mitten im Geschehen, stand es etwas abseits, teils das eine, teils das andere oder war es an einem völlig anderen Ort? Hat das Subjekt die Situation von der Seite beobachtet, von oben oder war es sogar direkt betroffenes Opfer?
Figural: Das Geschehen wird durch die (physischen) Augen/Sinne einer Figur wahrgenommen. Sprich: rechts, links, oben, unten sind bei Figur und Erzähler gleich.
Narratorial: Der Erzähler hat seine eigene "Kamera", seine eigene räumliche Position. Er sagt: "Rechts, links etc. von der Figur (also nicht von mir) aus".

Ideologische Perspektive: Zwei Personen, die Zeugen des gleichen Ereignisses werden, nehmen es aufgrund ihrer Mentalität verschieden wahr. Die eine Person achtet mehr auf AB, die andere eher auf XY, je nach dem, was sie interessiert, was sie im Leben für Erfahrungen gemacht haben, was für Charakterzüge sie besitzen ...
Figural: Übernahme der Wertungen der Figur. Werte-/Ideologiekonsens zwischen Figur und Erzähler.
Narratorial: Der Erzähler hat seine eigenen Wertungskriterien.

Zeitliche Perspektive: Mit fortschreitender Zeit verändert sich die Sicht einer Person auf das Wahrgenommene. Sie bekommt evtl. mehr Informationen eingeflößt, hat über dieses und jenes nachgedacht, sich andere Standpunkte angeschaut, dann haben sich noch W und Z ereignet ...
Figural: Der Erzähler übernimmt die zeitliche Position einer Figur, sprich: Übernahme vom "Heute", "Gestern" etc. der Figur.
Narratorial: Der Erzähler nimmt Distanz vom Nullpunkt der Figur, also statt "heute" steht da z.B. "an jenem Tag", statt "gestern" "am Tag zuvor" usw.

Sprachliche Perspektive: Wie stellt die Person das Wahrgenommene dar? Frage nach Wortwahl, Syntax etc. Die sprachliche Perspektive spielt aber auch für die Wahrnehmung eine Rolle, da wahrgenommenen Ereignissen sofort irgendwelche Begriffe zugeordnet werden.
Figural: Der Erzähler übernimmt die Sprech- und Ausdrucksweise der Figur.
Narratorial: Der Erzähler spricht seine eigene Sprache.

Perzeptive Perspektive: Wessen Sichtweise wird angenommen? Übernimmt der Erzähler die Sicht einer Figur? Eine Innensicht bedeutet im Übrigen nicht, dass der Erzähler die Sicht der Figur übernimmt, also sie ebenfalls vertritt. Die perzeptive Perspektive zeigt also an, ob Erzähler und Figur sozusagen dieselbe Meinung/Sicht/Denkweise haben oder nicht.
Figural: Die Sichtweisen von Erzähler und Figur sind identisch, weil der Erzähler sie auf seine eigene Festplatte transplantiert, ihr also 100% Glauben schenkt.
Narratorial: Die Sicht des Erzählers weicht von der der Figur ab.

Zugegeben, diese sehr knappe Zusammenfassung ist sehr dürftig, aber ich hoffe, ich konnte dennoch einen Eindruck geben ... Übrigens kann es sein, dass eine Perspektive in allen fünf Parametern entweder nur figural oder nur narratorial ist. Diese nennt sich dann kompakte Perspektive. Wenn die figurale und die narratoriale Perspektive in den Parametern gemischt werden, also ein Parameter figural, der nächste narratorial, bla, bla ... Das bezeichnet Schmid als distributive Perspektive.

Aber jetzt mal zum Fazit: Ich will diesmal nicht ausrechnen, wie viele Kombinationsmöglichkeiten Schmids Modell bietet. Es sind mordsmäßig viele, was mir persönlich auch wunderbar gefällt. Ich zögere noch, das Modell zu übernehmen, aber wahrscheinlich werde ich es mit Genette kombinieren. - Ähem! Jetzt mal abgesehen davon, dass Schmids Modell zum Teil von Genette abstammt ...

Aber ... egal. Ich muss mich ja noch nicht festlegen. Mein Ziel war es lediglich, einen kleinen Einblick in die moderne Narratologie zu geben, und ich hoffe, es ist mir gelungen, obwohl ich stellenweise recht wirr und unpräzise geschrieben habe. Ich habe mich bemüht, das Thema nicht allzu trocken und wissenschaftlich zu behandeln, also das Ganze insgesamt etwas zugänglicher zu gestalten.

So viel zu meinen Zielen. Ob ich sie erreicht habe, entscheidet ihr. Aber wie euer Urteil auch ausfallen mag:

Vielen lieben Dank fürs Lesen!!
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