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Schattenlicht

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama / P12 / Gen
Martin van Kerk
05.11.2010
05.11.2010
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Schattenlicht

Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Es war nicht die Aufregung, es war die Anstrengung. Er klammerte sich an den Querholm seiner Koje und versuchte seinen Atem zu beruhigen.
„Dummer Körper!“, dachte er. „Du brauchst dich nicht mehr zu schonen. Begreifst du das nicht?“
Die Knie zitterten leicht, aber sein Atem beruhigte sich tatsächlich. Er inhalierte tief die Luft. Sie roch und schmeckte wie immer an Bord eines Schiffes, welches durch die Weiten des Raumes seine Bahn zog. Ein wenig ölig, ein wenig nach Desinfektionsmittel und vor allem nach dem widerlichen Zeug, welches Grischa ihm ständig verabreichte.
Nein, er wollte nicht schlecht von dem Zigeuner denken, er hatte sich als Freund erwiesen. Den Begriff verwandte er nur selten, doch hier war eine der seltenen Ausnahmen, wo es zutraf: Grischa war sein Freund.
Noch vor ein paar Jahren hätte er niemals einen Zigeuner als Freund bezeichnet, ja nicht einmal als Mensch. Nur der arische Stammbaum beinhaltete das Menschsein. Nur wer reinen Blutes war, durfte sich ungeschoren in seiner Nähe aufhalten.
Er lachte, doch es war kein fröhliches Lachen.
„Danke William, dass du mir die Augen geöffnet hast!“
Er meinte es ernst. Der ebenholzschwarze Bordingenieur hatte ausgerechnet ihm, Martin van Kerk, die Augen geöffnet. Wie lange war das jetzt her? Er konnte sich nicht mehr erinnern, konnte sich kaum konzentrieren auf das Jetzt und Hier. Es war auf dem Uranus. William hatte ihm das Leben gerettet. Gleich zweimal. Einmal wörtlich und das andere Mal im übertragenen Sinn. Er hatte ihm die Augen geöffnet für den tatsächlichen Wert eines Menschen.
Nicht die Farbe, nicht die Herkunft war es, was einen Mann ausmachte, oder – er wollte gerecht bleiben – eine Frau. Es war das Herz, die Gesinnung, die Seele. Wie immer man es nennen wollte.

Sein Atem ging jetzt fast gleichmäßig und er wusste nun, es war soweit. Wusste, wenn er es jetzt nicht machte, würde seine Kraft zu schnell schwinden und er würde nicht mehr in der Lage sein, es zu tun. Ganz abgesehen, dass sein Pfleger, sein Freund, jeden Moment zurückkommen konnte. Die letzten Tage hatte er kaum einen Schritt von ihm weggemacht, war ihm einfach nicht von der Seite gewichen.

Es war ein seltsames Gefühl, ein ungewohntes Erlebnis und es hatte ihm gut getan, auch wenn es ihn ablenkte von dem Problem, mit dem er sich beschäftigt hatte: Diese verdammte Sonde!

Fortschritt sollte sie geben, doch sie würde nur Verderben bringen. Gier nach Macht hatte sich breit gemacht. Auch der Commander hatte es gesehen und alles getan, was in seiner Macht stand, um sie zu vernichten. Doch es gab noch eine Möglichkeit. So einfach und doch so effizient.

Er schloss die Augen und atmete erneut ein, mobilisierte seine Kräfte für den letzten, den entscheidenden Schritt.
„Wenn es doch wirklich nur ein Schritt wäre“, dachte er.
Dann ging er los, Schritt für Schritt. Einen Fuß vor den anderen. Der Weg war nicht weit, zumindest für einen Mann im Besitz seiner vollen Gesundheit. Für ihn war er lang, aber er setzte nicht nur seine schwindenden Kräfte ein, er setzte auch seinen ganzen Willen ein. Lenkte alle Gedanken in die eine Richtung.

An der Kabine von William vorbei, an der Messe und weiter zur Schleuse. Niemand begegnete ihm. Niemand hielt ihn auf. Und das war gut so, denn eine Auseinandersetzung hätte er nicht gewinnen können, und er hatte keine Zeit, seinen Plan zu erklären, den Argumenten der anderen zu widersprechen. Er hatte selbst nicht alle Fragen für sich beantwortet, aber er wusste: Er musste es tun. Musste das vollenden, was Commander Brandis nicht geschafft hatte, musste die Menschheit retten.
Manche würden es Verrat nennen, Hochverrat sogar. Das Militärgericht – schließlich war er noch immer Mitglied der Strategischen Raumflotte – würde nur ein Urteil für seine Tat kennen: Todesstrafe.

Wie jämmerlich sie ihm jetzt vorkamen, die hohen Militärs. Ja, lächerlich in ihren Plänen. Sie waren es, die zuerst Verrat begangen hatten. Sie hatten sich der demokratisch gewählten Regierung widersetzt, hatten beschlossen, dass nur sie die richtige Institution waren, um die Sonde auszuwerten.
Militärischer Fortschritt, Herrscher über die ganze Erde und das All. Wie einst der General, wie einst Attila, Dschingis Khan, Hitler. So würde es enden. Die VOR in die Knie gezwungen, die Menschheit unterjocht. Wer die absolute Macht hatte, musste sich nicht um Menschenrechte, Demokratie und solche Nichtigkeiten kümmern.
Wie lange würde das gut gehen? Würde es einen neuen General geben, würde das Volk rebellieren? Hätte es überhaupt eine Chance gegen solch eine Machtfülle?
Egal, er würde es verhindern. Mochten sie ihn posthum als Verräter abstempeln, mochten sie den Stab über ihn brechen und seine Ehre in den Schmutz ziehen. Seine Ehre war nicht mehr das Wichtigste, auch das hatte ihn William gelehrt und Grischa und natürlich der Commander.
Die letzten Jahre seines Lebens hatte er in guter Gesellschaft verbracht, hatte mehr gelernt, als er für möglich gehalten hatte, war ein anderer Mensch geworden.

Endlich tauchte sie vor ihm auf: Die Schleuse und dahinter: Die Sonde. Irgendwie schaffte er es, sich in den Raumanzug zu zwängen, irgendwie schaffte er es, die Schleusensicherung zu umgehen, sonst leuchtete auf der Brücke sofort ein rotes Licht auf. Und wäre das geschehen, würden seine Kameraden kommen und nachsehen, was da vor sich ging.

Die Schleuse fuhr zischend auf. Er zuckte zusammen. Das Geräusch musste doch jemand gehört haben, doch niemand kam, um nachzusehen.
Vor ihm breitete sich die samtene Schwärze des Alls aus. Wie sanft das Licht der Sterne war, wie majestätisch sich alles zeigte. Das war seine Heimat gewesen. Nicht Südafrika, nicht die Erde, sondern der Weltraum. Hier konnte man spüren, dass man nicht das allmächtige Wesen war, für das man sich gerne hielt, nicht jene gottgleiche Gestalt, die einem der Größenwahn vorspiegelte. Hier war man nichts, als eine handvoll Atome. Das All würde sich nicht darum scheren, ob man lebte oder starb. Das All hatte kein Interesse daran, hatte keinen Nutzen davon. Es würde weiterexistieren, auch wenn er starb, selbst wenn die Erde nicht mehr wäre, es würde keinen Unterschied machen. Nur für ihn war es wichtig. Wichtiger als sein eigenes Leben.
Hätte er sich auch dafür entschieden, wenn er nicht sowieso sterben müsste? Er wusste es nicht, er war nie in der Situation. Gerne hätte er voll Inbrunst gesagt: ja, natürlich. Doch in diesem Moment war er sich nicht sicher, und er wollte sich nicht belügen. Zu oft in seinem Leben hatte er sich selbst belogen, hatte sich etwas vorgemacht und hatte es geglaubt. Doch hier und jetzt in seinen letzten Minuten wollte er ehrlich sein. Zu sich, zu der Welt, zu allem.

Hand über Hand schob er sich an der Verbindungsleine näher an die Sonde heran. Noch 5 Meter, noch 3 Meter, noch einen. Er griff nach der Tür, die in das Innere führte, und entriegelte sie. Er schaffte es beim ersten Versuch, in die Sonde zu gelangen und zog die Schleuse hinter sich zu.

Ein leises Zischen verriet ihm, dass sich eine Atmosphäre aufbaute, doch ein rotes Licht hielt ihn davon ab, den Helm abzunehmen. Schon seltsam. Dieses Ding kam so viele Lichtjahre daher. Wesen hatten es gebaut, die er sich nicht einmal vorstellen konnte und dennoch mussten sie ihm ähnlich sein. Sauerstoff war auch ihre Lebensgrundlage. Oder war das Gefährt so konstruiert, dass es den Lebensraum vieler Wesen nachempfinden konnte? Eine interessante Frage. Und wie kommt es, dass auch die Fremden Rot als Warnfarbe benutzten? Und Grün als Zeichen dafür, dass alles in Ordnung war? Fragen über Fragen, zu denen es keine Antwort mehr geben konnte.
Das Licht sprang um auf grün. Er öffnete vorsichtig den Helm. Er hatte schon viel Zeit im Inneren verbracht. Hatte nachgedacht, gegrübelt und sich hingegeben in die Rätsel dieses Mysteriums.

Es war ein enger Gang, der von der Schleuse in die Zentrale führte. Hier waren viele Bedienelemente, viele Lichter und ein Sessel, in den er sich nun fallen ließ.
Er brauchte eine Weile, um sich von der Anstrengung zu erholen und wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Es ging schneller, als er erwartet hatte. Die Sonde schien zu spüren, dass dieser Mensch hier am Ende seiner Kräfte war, schien aber auch zu spüren, dass dieser Mensch vorhatte, ihr selbst ein Ende zu bereiten und es schien sie nicht zu stören. Nirgends Verteidigungsmaßnahmen! Keine Abwehr! Nichts!

„Es ist nur ein Raumfahrzeug, kein Lebewesen“, schallt er sich. „Was erwartest du denn? Alles, bei dieser fortschrittlichen Technologie!“, antwortete er sich selbst.

Er ging die einzelnen Knöpfe durch. Die Beschriftung war natürlich unlesbar. Die Buchstaben fremd und die Symbole unverständlich. Wo würden die fremden Wesen den Knopf zum Ausklinken angebracht haben? Hatten sie überhaupt solch eine Vorrichtung? Hatten sie an so etwas gedacht? Passte solch ein Verhalten in die Vorstellungen einer Rasse, die der Menschheit 13.000 Jahre voraus war, oder war dies nicht vorgesehen, hatte keinen Platz in den Vorstellungen der Fremden?

Martin van Kerk stellte fest, dass sein schöner Plan eine kleine, winzige Lücke hatte. Doch diese Kleinigkeit entschied über das Gelingen seines Vorhabens. Noch hatte er einen Moment Zeit. Er durfte die Sonde nicht zu früh auskoppeln, sonst würde sie in einen Orbit einschwenken und einfach von dem nächsten Schiff auf den Haken genommen werden. Es durfte erst in dem Augenblick erfolgen, wenn die Zeus in die Atmosphäre eintrat. Sonst wäre alles umsonst gewesen.

Ein leichtes Rucken zeigte ihm, dass das Landemanöver begonnen hatte.
„Wo ist dieser verdammte Knopf?“
Er stand kurz davor, einfach alle Knöpfe zu drücken, das Einzige, was ihn davon abhielt, war der Umstand, dass dann alles passieren konnte. Keiner hatte herausgefunden, wozu diese Sonde fähig war, welche kleinen Spielereien sie verbarg. Vielleicht würde er die Zeus vernichten, vielleicht auch nur Musik abspielen. Er wusste es nicht. Ein Blick aus dem kleinen Fenster der Sonde verriet ihm, dass es nun an der Zeit war, seinen Plan zu verwirklichen, oder aber den Schwanz einzuziehen und aufzugeben.

Gerade wollte er es wirklich versuchen, auf sein Glück vertrauend, irgendeinen Knopf zu drücken, als ein erneutes Rucken ihn innehalten ließ. Er sah erneut aus dem winzigen Fenster und traute seinen Augen nicht. Die scheinbar dünne, doch unheimlich stabile Leine, welche die Sonde gezogen hatte, war gerissen. Unmöglich, dachte er und dann erkannte er die Wahrheit: Die Leine war ausgeklinkt worden.

„Der Commander ist also doch noch auf die richtige Lösung gekommen.“
„Ja, er hat die Lösung gefunden, ihr seid seltsame Wesen.“
„Wer bist du?“
„Du würdest mich einen Bordcomputer nennen.“
„Und wie nennst du dich?“
„Integriertes Sondengehirn. Aber das ist nur eine Bezeichnung und tut nichts zur Sache.“
„Eine Maschine?“
„Wenn du so willst.“
„Aber wieso kannst du unsere Sprache? Und wieso – hast du dich nicht früher gezeigt?“
„Eure Sprache habe ich durch eure Funksprüche gelernt und das andere? Was hätte es für einen Sinn gemacht?“
„Aber – aber vielleicht hätten wir dann eine andere Lösung gefunden?“
„Ja, vielleicht, aber das Ergebnis wäre dasselbe gewesen. Nur die Vernichtung der – wie nennt ihr sie? – Epsilon Bootes Sonde konnte die Vernichtung dieser Rasse verhindern.“
„Vielleicht hätten wir lernen können, sie richtig zu nutzen?“
„Entschuldige, wenn ich widerspreche, aber eure Rasse hätte das nicht gekonnt – noch nicht.“
„Also war es wirklich ein Zufall, dass du hier gestrandet bist?“
„Ein Unglück. Durch einen kleinen Stein, den ich zu spät bemerkte, wurde der Antrieb geschädigt und ich konnte nicht mehr zurück.“
„Werden deine Erbauer dich nicht vermissen?“
„Nein, denn ich habe ihnen eine Nachricht zukommen lassen. Und sie haben geantwortet.“
„Sie haben geantwortet? Aber das ist unmöglich. Die Entfernung ist viel zu weit.“
„Unmöglich? Aus deiner Perspektive gebe ich dir Recht, aber unsere Technik ist etwas weiter.“

Martin van Kerk wurde sich bewusst, dass er hier die seltsamste Unterhaltung führte, die er jemals hatte. Die Stimme war sanft, und klang alles andere als künstlich. Wahrscheinlich bildete er sich das alles nur ein. In der Tat dauerte die Unterhaltung schon viel zu lange, er hätte schon längst verglüht sein müssen, zu Asche zerfallen. Es gab nur eine Erklärung: Er hatte ein Übergangserlebnis. Oft hatte er von solchen Erlebnissen gehört und gelesen. Menschen, die im Begriff waren zu sterben, hatten so etwas. Aber für gewöhnlich war es ein helles Licht, oder eine leuchtende Gestalt – von so etwas hatte er gelesen, aber nie von solch einem Gespräch.

Er flüsterte: „Bist du real, oder bilde ich mir nur ein, dich zu hören?“
„Das spielt keine Rolle mehr. Ich will dir nur eines sagen, bevor dies zu Ende ist: Solange es Wesen wie dich und diesen Commander gibt, besteht Hoffnung für diesen Planeten. Vielleicht entschließen sich meine Erbauer eines Tages wirklich, Kontakt mit euch aufzunehmen.
Ich sage dir jetzt Lebewohl, obwohl ich diese Redensart nicht wirklich verstehe. Lausche den Worten, die dein Commander eben in das All sendet.“

„Ich sterbe, aber mit mir stirbt die Macht. Asche des Friedens wird niedergehen über der Erde. Möge sie der Menschheit jenen dreizehntausendjährigen Fortschritt bringen, dessen sie so dringend bedarf: den Fortschritt der Moral, der Brüderlichkeit, der Liebe.“

Martin van Kerk konnte nicht bestimmen, wo die Lautsprecher waren. Die Stimme von Mark Brandis kam aus allen Richtungen. Tränen liefen über seine Wangen, doch es waren keine Tränen des Schmerzes, keine Tränen der Trauer. Es waren Tränen der Freude und der Hoffnung. Ein berstendes Geräusch umgab ihn. Dann brach die Sonde auseinander. Asche ging auf die Erde nieder.







Genre: SF- Drama

Art: Seitenstory zu den Erzählungen um Mark Brandis


Einführung: Martin van Kerk, Pilot, Militär, arrogant und selbstsicher, trifft die wichtigste Entscheidung in seinem Leben. Es gibt nur eine Möglichkeit, die Menschheit vor sich selbst zu schützen.

Disclaimer: Die Namen der Orte und Namen von Personen dieser FF sind fast alle Eigentum des Autors Nikolai von Michalewsky und seiner Erben. Diesen Part in der Geschichte um Mark Brandis hat der Autor in einigen Sätzen in dem Buch „Raumsonde Epsilon“ beschrieben. Ich habe die Lücken etwas ausgeschmückt.
Ich verknüpfe keinerlei finanzielle Interessen mit dieser Geschichte.


Altersempfehlung: PG (ab 12) Diese Geschichte beinhaltet keinerlei grausame Szenen, die körperliche Gewalt enthalten. Allerdings hat die Geschichte kein Happy End. Dies bedauere ich, aber das Original lässt mir keine Wahl.
Für das Verständnis der Zusammenhänge gehe ich davon aus, dass der Leser mindestens 12 Jahre alt sein sollte. Das Lesen von „Raumsonde Epsilon“ ist nicht zwingend erforderlich, erleichtert aber das Verständnis mancher Zusammenhänge.


Danksagung: Meine gute Seele Anóriel wacht über meine Rechtschreibung, Kommata, Satzgestaltung und Sinnzusammenhänge. Auch die Formulierungen stehen unter ihrer Aufsicht. Das Wort "Beta" passt nicht so richtig, denn sie führt eher ein Lektorat durch und wird von mir Lektorin genannt. Dafür ein herzliches Dankeschön! Ohne sie wäre die Geschichte nur halb so gut.
 
 
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