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... und es gab Tage, an denen er mich einen Engel nannte

von FleDacula
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama / P12 / Gen
30.10.2010
30.10.2010
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Mein Name ist Melissa, ich bin 21 und ich wohne in einem kleinen Ort nahe einer der größten Städte Deutschlands.
Das Schöne an unserer Ortschaft ist, dass trotz der Nähe zur Anonymität der Großstadt einfach eine familiäre Atmosphäre herrscht. Man kennt sich, man grüßt sich, man ist freundlich zueinander, man ist hilfsbereit.
Nun, wo besser kann man den "Mann für's Leben" finden, als hier bei uns?

So dachten auch die vielen anderen jungen Frauen in meinem Alter, von denen Rund neunzig Prozent schon verheiratet sind und davon mehr als die Hälfte schon zum zweiten Mal Mutter geworden sind.
Tja, ich gehöre also quasi zu den Außenseitern, mit 21 noch nicht verheiratet, geschweige denn, dass ein Kind unterwegs ist. Schwanger sein, das ist hier ohne vorherige Eheschließung sowieso ein Tabuthema. Soweit ich weiß, ist es bisher auch nie vorgekommen. Und wenn es doch einmal geschehen sein sollte, wird es hervorragend vertuscht. Was soll man sagen? Wir sind halt alle sehr konserativ erzogen. Finde ich gut. So ist hier wenigstens ausgeschlossen, dass Kinder schon Kinder bekommen.

Nun ja, verheiratet bin ich nicht, noch nicht. Es ist ja nun nicht so, dass es da niemanden gibt. Verliebt bin ich seit mittlerweile vier Jahren. Glücklich verliebt in einen wundervollen jungen Mann, meinen Sebastian.
Wir haben schon im Kindergarten zusammen gespielt und die Lehrer in der Grundschule sagten damals schon, dass wir irgendwann heiraten würden. Uns verband schon damals so etwas wie eine Seelenverwandtschaft. Im Kindergarten stürzten wir uns grundsätzlich auf das selbe Spielzeug, wir verstanden uns schon damals ohne Worte. Und auch wenn wir viel miteinander gemacht haben, war es nie so, dass wir uns aufeinander eingeschossen haben. Wir konnten auch immer gut mit anderen Kindern spielen. Wie unsere Erzieherinnen damals sicherlich gerne sagten, waren unsere sozialen Kompetenzen stark ausgeprägt. Somit mussten unsere Eltern sich nie wirklich sorgen.

Unsere Verbundenheit ließ sich auch in der Schule bemerken. Dadurch, dass wir immer zusammen lernten und unsere Hausaufgaben zusammen erledigten, waren wir notenmäßig immer gleichauf. Nur die Sportnote unterschied sich. Sebastian war generell einer von den Sportassen mit einer Eins, während ich es meistens nur auf eine Drei brachte. Das aber bereitete niemandem Kopfzerbrechen. Schließlich wollte ich schon immer Bankkauffrau werden und nicht als Sportskanone an den Olympischen Spielen teilnehmen.

Selbst die Berufswahl verbindet mich und Sebastian. Wir haben beide eine Lehre in einer Bank gemacht und sind nun auch beide in unserem Lehrbetrieb angestellt.

Seit fast genau einem Jahr wohnen wir jetzt auch zusammen. Unsere Eltern sind anfangs gegen unsere gemeinsame Wohnung gewesen, da sie immer noch der Meinung sind, dass man erst zusammen ziehen sollte, wenn man eine Hochzeit plant. Schließlich haben sie das früher ja auch so gemacht. Sebastian und ich sind ihnen aber sehr dankbar, dass sie uns dennoch keine Steine in den Weg gelegt haben und uns tatkräftig unterstützt haben bei unserem Umzug. Besonders bei der Renovierung waren wir froh, dass mein Vater, gelernter Maler und Inhaber einer Firma, die sich mit Raumdesign beschäftigt, uns unter die Arme gegriffen hat. Einige Wochen nachdem wir zuzsammengezogen sind, haben wir uns dann auch, sehr zur Freude unserer Eltern, verlobt.

Soviel dann zu unserer Vorgeschichte.

Es gibt immer wieder diese wundervollen und unbeschwerten Tage, an denen Sebastian mich einen Engel nennt. Schon immer habe ich mich gefragt, wann ich mich endlich wagen würde, meine Flügel auch zu nutzen.
Diese Frage musste ich mir unweigerlich stellen, denn Sebastian hat sich in der Zeit, in der wir zusammen wohnen sehr verändert. Er ist nicht mehr der liebevolle Mensch, der er einmal war. Zumindest mir gegenüber nicht mehr.
Nach außen hin wahrt er den Schein, sobald jemand in Reichweite ist, spielt er gekonnt den Gentleman, der alles für seine zukünftige Frau macht, damit es ihr gut geht und sie glücklich ist.
Doch kaum sind wir wieder alleine, zeigt er das Gesicht, dass selbst ich bisher nicht gekannt habe.
Er benimmt sich mir gegenüber wie ein Herrscher, lässt sich von vorne bis hinten bedienen, mäkelt an mir herum, wie es ihm gerade passt. Ich musste mittlerweile sogar meine Arbeit kündigen. Es ist sein Wunsch gewesen. Sebastian möchte, dass ich die hausfräulichen Arbeiten übernehme. Er wird für uns sorgen, sagt er dann. Schließlich kann ich auch nicht mehr arbeiten gehen, wenn wir endlich Kinder bekommen.
Er möchte es alleine machen, ich glaube mittlerweile, dass es ihm unangenehm ist, dass wir noch immer nicht geheiratet haben und noch keinen Kindern das Leben geschenkt haben.

Er gibt mir an der ganzen Situation die Schuld, da ich nach wie vor ein klares "Nein!" zum Sex vor der Ehe vertrete. Dann steht er wieder vor mir und haucht mir ins Ohr, dass ich doch sein Engel bin und dass er mich von ganzem Herzen liebt. "Bald bist du ganz mein, bald wirst du meinen Namen tragen, meine Frau sein, Engel. Und wir werden eine glückliche Familie werden." Das klingt für mich weniger wie ein Versprechen. Es klingt wie eine Drohung nach dem Motto: Du kannst mir nicht entkommen, du bist mir versprochen, du bist meine Verlobte und du gehörst auf eweig mir.
Meine konserative Erziehung unterstützt ihn in dieser Hinsicht auf ganzer Linie. Niemals würden meine Eltern es zulassen, eine Verlobung aufzulösen. Hatte ich erst einmal zugesagt, ihn zu heiraten, stand mein Schicksal fest.
Ich werde den Rest meines Lebens zu ihm stehen, in guten, wie in schlechten Zeiten, egal was auch kommen mag.

Nun ja, ich vertrete diese Ansicht ja auch, aber immer öfter schleicht sich abends, wenn ich nicht einschlafen kann, eine unangenehme Frage in meinen Kopf und pocht darauf, eine Antwort zu finden. "Habe ich das Richtige getan? Ist es wirklich das Richtige, den Rest deines Lebens an der Seite dieses Mannes zu verbringen?"
Doch mal ganz ehrlich, was bleibt mir denn schon anderes übrig, als seine Frau zu werden? Ein Leben lang schon sind wir unzertrennlich, schon als ich 13 war, hat meine Mutter mit mir die Hochzeit geplant. Für meine Eltern steht schon seit vielen Jahren fest, dass ich einmal mit Sebastian vor den Traualtar treten werde.
Also werde ich mich meinem Schicksal fügen und genau das tun, was jeder von mir erwartet. Ganz das wohlerzogene Mädchen, welches ich in jedermanns Augen bin.

Oft liege ich am Abend neben meinem Verlobten im Bett und verliere mich in meinen Gedanken, wie die Zukunft aussehen wird.
Und jedes Mal liege ich wie ein offenes Buch vor Sebastian. "Mein Engel, wenn wir erst mal verheiratet sind... Was für Türen uns dann erst offen stehen...", schwärmt er dann.

Ja, er freut sich auf unsere Hochzeit, das sage ich mir dann immer wieder. Und wie ein Mantra wiederhole ich dann rund zwanzig mal in meinem tiefsten Innersten, dass auch ich mich darauf freue. Es ist quasi so, als müsste ich mich selber davon überzeugen, dass dies der Fall ist.

Doch freue ich mich wirklich auf unsere Hochzeit? Freue ich mich auf das Leben, dass ich ab diesem Tag führen werde? Wird es das Leben sein, welches ich mir immer vorgestellt habe?
Das Leben an der Seite dieses Mannes, den ich schon mein ganzes Leben lang kenne...
Immer wieder denke ich darüber nach, wenn ich mich sicher fühle. Sicher davor, dass meine Gedanken ihm wieder so offenliegen, wie ein Buch. Er kennt mich halt zu gut, er braucht mich nur ansehen und er weiß, was in mir vorgeht. Nun, genau das war es ja immer, was unsere Freundschaft und später unsere Liebe zueinander so besonders gemacht hat.

Doch manchmal habe ich regelrecht Angst. Ich habe Angst, zu denken. Denn er weiß ja immer gleich, was in mir vorgeht. Und dann schaut er mich direkt so an, als wenn er sagen wollte: "Vergiss nicht, ich weiß ganz genau, wie du tickst, du kannst mir nichts vormachen."

Deswegen denke ich über solche Sachen nur nach, wenn er arbeiten ist oder leise schnarchend neben mir liegt und friedlich schläft.

Die ersten zwei Monate nach unserem Zusammenzug waren wundervoll. Sebastian beweiste mir mit vielen kleinen Gesten immer wieder auf's Neue, dass ich für ihn das größte Glück auf Erden bin. Und immer wieder nannte er mich seinen Engel. Dies bewirkte irgendwann, dass ich mich sogar wie einer von diesen fühlte, denn ich kam mir dann immer vor, als würde ich auf Wolken gehen.

Heute weiß ich, dass es ledglich meine Blindheit gewesen ist, die mich schweben lassen hat.

Und kaum nennt er mich einen Engel, frage ich mich wieder einmal, warum ich niemals wage, meine Flügel zu nutzen. Warum nur fliege ich nicht einfach davon in eine wundervolle Welt? Irgendetwas lähmt mich, sodass ich an Ort und Stelle bleibe. Eben da, wo ich hin gehöre, an Sebastians Seite.

Nach eben besagten acht Wochen beginnt Sebastian, sich zu verändern.
Er möchte, wie ja vorhin schon gesagt, dass ich zu Hause bleibe und den Haushalt mache. Mein Chef ist nicht begeistert, als ich eines Morgens zu ihm in Büro komme und ihm meine Kündigung auf den Tisch lege. Entgeistert stellt er mir nur die Frage nach dem Warum. Und so erkläre ich ihm, dass ich nun bald heiraten würde und Kinder bekommen möchte. "Mein Verlobter wird von nun an für uns sorgen. Er ist der Meinung, das gehöre sich so, wenn man zusammen lebt und ich kann ja auch nicht arbeiten gehen, sobald die Kinder erst einmal da sind."
Verständnisvoll lächelt mein Chef mir zu, er versteht, worum es uns geht, beziehungsweise nicht uns, sondern Sebastian. Schließlich lebt er in der selben konserativen Welt, wie wir.

Schon bald darauf muss ich mich das erste Mal krankschreiben lassen, denn mein ganzer Körper ist übersäht von merkwürdigen blauen Flecken. Ich erzähle meinem Arzt, dass ich die Treppe herunter gefallen bin und mir dabei verschiedene Quetschungen zugezogen haben muss.
Als meine Mutter mich zu Hause besucht, um mir ein wenig unter die Arme zu greifen während meiner Krankheit, schüttelt sie nur lächelnd den Kopf. "Melissa, sowas kann auch nur dir passieren. Du warst schon immer ein wenig ungeschickt." Und somit wird mein dummes Missgeschick lächelnd abgeschoben. Meine Mum hilft mir, die täglichen Arbeiten zu verrichten, fährt dann wieder heim, bevor Sebastian von der Arbeit da ist und kommt dann am nächsten Morgen wieder.

Sebastian kommt nach Hause und begrüßt mich. Oft bringt er mir Blumen mit oder eine andere kleine Aufmerksamkeit. "Er ist ein so guter Mann." pflegt meine Mutter zu sagen, wenn sie eines seiner Präsente entdeckt. "Er nennt dich nicht nur einen Engel, er behandelt dich auch wie einen."
Lächelnd stimme ich ihr zu.

Wenige Tage später rutsche ich ungeschickt in der Küche aus und breche mir einen Arm. Sebastian hilft mir auf und schaut mich entschuldigend an. "Es tut mir leid, Engel, dass ich nicht besser auf dich aufpasse." Und wieder wird ein gelber Schein auf dem Schreibtisch meines Chefs landen. Eine weitere Woche später falle ich beim Fenster putzen von der Leiter und verstauche mir den rechten Knöchel am Fuß. Krankenschein Nummer drei für die Arbeit.
Bei der Untersuchung durch meinen Hausarzt bittet eben dieser um ein Gespräch mit mir. Unter vier Augen. Argwöhnisch verlässt Sebastian das Untersuchungszimmer und lässt mich verwirrt mit dem Doktor zurück.
Dieser fackelt nicht lange und fragt mich direkt, ob ich häuslicher Gewalt ausgesetzt wäre, denn er könne sich nicht vorstellen, dass ich so tollpatschig sei, dass mir nun schon zum dritten Male innerhalb so kurzer Zeit etwas so Ungeschicktes passiert sei.
Bestürzt schaue ich zu Boden und versuche, ihm entrüstet klar zu machen, dass mein Verlobter mir niemals etwas antun könne.

Nach der dritten Krankschreibung nahm ich meinen restlichen Urlaub in der Bank, sodass ich dort auch nicht mehr auftauchen brauchte. Denn ich habe inzwischen ein angeschwollenes Auge, welches sich mittlerweile in verschiedenen Nuancen lila verfärbt. "Ich bin gegen eine offene Schranktür gelaufen.", erkläre ich meinen Eltern meine neuerlichen Verletzungen. "Sebastian kümmert sich um mich und versucht mittlerweile, mich von allen Gefahren unserer Wohnung fernzuhalten.", ergänze ich lachend.
Meine Eltern glauben mir und ich bin ihnen dankbar dafür.
Mutter ist völlig in die Hochzeitsvorbereitungen vertiefet, welche in wenigen Wochen stattfinden wird. Sie freut sich so, dass auch ihre jüngste Tochter nun endlich heiraten wird und ihr hoffentlich bald ein Enkelkind schenken wird. Ich muss an dieser Stelle mal erwähnen, dass ich zwei ältere Geschwister habe. Mein großer Bruder ist sieben Jahre älter und schon seit neun Jahren verheiratet. Er ist mittlerweile dreifacher Vater und lebt glücklich mit seiner kleinen Famile zwei Straßen weiter, als meine Eltern. Meine Schwester ist 25 und zur Zeit mit ihrem zweiten Kind schwanger.
Und nun wird auch endlich die kleine Melissa erwachsen.


Dass ich mich kaum an den Vorbereitungen der großen Festlichkeit beteilige, wird darauf geschoben, dass ich einfach nervös bin und mich noch nicht mit dem Gedanken anfreunden kann, schon sehr bald verheiratet zu sein. Somit wird auch fleißig ohne mich geplant. Nur mit einer Sache liegt meine Mutter mir immer wieder in den Ohren. Nämlich, dass wir bald losziehen werden müssen, um das passende Kleid zu kaufen.
"Du wirst wundervoll aussehen, mein Engel. Ich kann es kaum abwarten, dass dein Vater dich zum Altar leitet." pflegt Sebastian nahezu jeden Abend zu sagen.

Und wieder nennt er mich einen Engel und wieder einmal frage ich mich, warum ich nicht wage, meine Flügel zu nutzen.

Der große Tag rückt immer näher und wie durch ein Wunder bin ich auch nicht mehr so ungeschickt, mich zu verletzen. So kommt es dann auch soweit, dass ich nach langem Drängeln mütterlicherseits endlich mit eben dieser und meiner Schwester losziehe, um nach einem Brautkleid Ausschau zu halten.
Schon im zweiten Fachgeschäft für Brautmoden werden wir fündig. Es ist ja auch nicht schwer, das passende Kleid zu finden, habe ich doch schon seit Kindertagen genaue Vorstellungen, wie ich als Braut aussehen möchte. Ein schlichtes Kleid, weiß natürlich, mit einem schlichten Schleier und einer langen Schleppe.
Ich sehe das Kleid, schaue meine Mutter und meine Schwester an und wir drei wissen sofort, dass hiermit die Suche schneller beendet ist, als wir erwartet hatten.
Wir bitten die Verkäuferin, uns das Kleid in der passenden Größe zu bringen, welches zum Glück auch vorrätig ist und somit probiere ich es an. Es passt perfekt, meine Mutter sowie meine Schwester sind sichtlich begeistert.
Dass ich mich gar nicht so wirklich dafür begeistern kann und eher bedrückt als glücklich aussehe, wird natürlich wieder leichtfertig auf meine Nervosität geschoben.

Schon eine Woche später ist der Tag gekommen. Ich werde heute Sebastians Frau werden. Mir ist schlecht und ich sitze ganz elend in meinem Schlafzimmer, während meine Mutter nervös in meinen Haaren rumfummelt, weil diese eben immer noch nicht so sitzen, wie sie sich das vorstellt. Plötzlich springe ich auf und renne ins angrenzende Badezimmer, um mich zu übergeben.
"Melissa, du musst dich zusammenreißen." höre ich die durch die geschlossene Badezimmertür gedämpfte Stimme meiner Mutter. "Es ist ja nun nicht so, als würdest du einen Fremden heiraten. Du wirst die Liebe deines Lebens zu deinem Mann nehmen und wirst glücklich an seiner Seite leben. Kein Grund, so nervös zu sein, Schätzchen."

Was sie nicht weiß, ist dass ich mich nicht aus Nervosität übergeben muss. Ich habe vor zwei Tagen einen Schwangerschaftstest durchgeführt, mit einem positiven Ergebnis. Und genau das ist eben der Grund, warum ich hier nun so verstört vor der Toilettenschüssel hocke. Sebastian weiß noch nichts davon, was wahrscheinlich auch besser so ist, denn auch das wäre dann mit großer Sicherheit meine Schuld gewesen.
Wahrscheinlich wäre ich dann wieder total ungeschickt in der Dusche ausgerutscht, wodurch ich mir neuerliche Verletzungen zugezogen hätte. Und das hätte natürlich nicht toll ausgesehen, auf der Hochzeit.
Heute Abend noch werde ich es ihm erzählen müssen, sage ich mir.

Die Hochzeit verläuft ohne besondere Vorkommnisse.
Die Trauung und die anschließende Feier im wundervoll geschmückten Garten meiner Eltern sind gespickt von vielen Tränen der Rührung. Auch bei mir fließen viele Tränen. Natürlich vor Freude, wie alle annehmen.
Wie es sich gehört, hält der frisch gebackene Ehemann eine schwungvolle Rede, bevor das Bufett eröffnet wird. "Endlich ist mein Engel zu meiner Frau geworden." schließt er seine Ansprache. "Und nun wünschen wir euch einen wundervollen Abend." füge ich noch lächelnd bei. "Lasst es euch schmecken." Natürlich treten mein Angetrauter und ich zuerst an den Tisch mit den reichlichen Speisen und füllen dezent unsere Teller. Anschließend folgen die ersten Feiergäste, um von den vielen Leckereien zu nehmen.
Es wird viel gelacht, auch ich lache. Und es wird viel getanzt und natürlich tanze auch ich. Obwohl mir die Füße schmerzen. Und irgendwann nimmt auch dieser Abend ein Ende. Wie es sich gehört werde ich über die Türschwelle getragen. "Nun gehörst du endlich mir, mein Engel." wird mir ins Ohr geflüstert. Nein, es ist nicht romantisch, nicht mit diesem drohenden Unterton, der diese Worte begleitet. Und ich habe Angst.

Ich weiß, dass ich Sebastian noch etwas erzählen muss. Er muss wissen, was in mir vorgeht, dass dort schon ein Wesen wächst, was erst ab heute Nacht hätte entstehen dürfen. Angstvoll schaue ich ihn an und spreche die Worte leise, fast unhörbar aus. Ich sinke in mich zusammen, denn ich weiß, was nun passieren wird.

Ich werde wieder eine Treppe herunter fallen, oder ich werde ausrutschen oder gegen eine offene Schranktür laufen. Doch dieses Mal kommt es noch schlimmer. Ich werde mich nicht nur ungeschickt verhalten und durch meine Dusseligkeit verletzen. Nein, der Engel wird endlich wagen, seine Flügel zu nutzen.
Erst ein gezielter Schlag in den Bauch, ein zweiter hinterher. Zur Sicherheit ein Tritt noch zielsicher versetzt. Ich merke, dass er getroffen hat, denn schon läuft Blut meine Beine hinab und färbt mein wunderschönes Brautkleid unterhalb der Hüfte bedrohlich rot. Und ich schreie. Alles tut weh und ich habe Angst. Ich schreie immer weiter und sehe gar nicht, dass er immer wütender wird. Und schließlich wird er so wütend, dass er hinausläuft. Und ich denke, dass alles wieder gut wird und er hinaus ist, um sich zu beruhigen.
Zitternd schaue ich hinunter und greife mir zwischen die Beine, betaste meine Intimbereich, den er schon vor Monaten gewaltsam beschmutzt hat, spüre das Blut an meinen Fingern und fange an zu weinen. Ich will gerade aufstehen, um einen Notarzt zu rufen. Ich verliere zu viel Blut, wird mir bewusst. Ich muss ins Krankenhaus. Fehlgeburt.

Ein lauter Knall, Sekundenbruchteile vergehen, in denen ich noch versuche, mich zu fragen, was das für ein Geräusch ist, als mich auch schon siedend heiß ein Schmerz durchfährt. Ein Schmerz, der erblinden lässt. Ich sinke schreiend auf die Knie. Ein zweiter Knall und ich spüre nur noch, wie die Kugel meinen Kopf trifft. Ich sacke gänzlich zusammen.

Und es gab diese Tage, an denen er mich einen Engel nannte, und ich nie wagte meine Flügel zu nutzen, sodass ich für immer an meinem Platz verharrte.

Doch jetzt war die Zeit gekommen, meine Flügel zu nutzen und ich flog unaufhaltsam für immer davon.
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