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Der Wanderer von Abusam

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama / P12 / Gen
14.10.2010
14.10.2010
2
2.250
 
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14.10.2010 1.151
 
Kapitel 1: Sophie

Wie bin ich hierher gekommen?
Wie konnte es passieren, dass ich genau heute hier sitze?
Wie konnte mich ein Mann nur so verletzten?

Ich fühle mich wie ein verletztes und angeschossenes Tier. Nichts ist mehr so, wie es vorher war, wie es vor dir war. Du hast mein Herz gestohlen und mitgenommen. Und nun sitze ich hier und mit einer unbeschreiblichen Leere in der Brust. Selbst weinen ist nicht  möglich. Was habe ich diesen Ort geliebt, wie oft habe ich mich hier versteckt. In all den Jahren war dies hier meine Zuflucht, mein Versteck, meine geheime Insel. Doch selbst die hast du entweiht und mir entrissen.

Eine endlose Leere erstreckt sich in mir. Du bist nicht da. Wieviele Hoffnungen und Sehnsüchte hast du geschürt, hast kleine Pflänzchen von Zukunftsbildern in mein Herz gepflanzt. Alles fing so harmlos an. Wir begegneten uns im beginnenden Frühjahr in einem Waschsalon. Ja, es stimmt. Selbst heute muss ich bei der Erinnerung daran lächeln, es ist kitschiger als jeder Rosamunde Pilcher Roman. Du hast dich in deinem riesigen Wäschekorb verkrochen und völlig verzweifelt Berge gebaut. Du sahst aus wie ein Welpe, der mit alten Laken spielte. Du hast innerhalb von Sekunden die Sonne in meinem Herzen aufgehen lassen. Dein Lachen werde ich nie vergessen können. Deine dunkle sonore Stimme klingt immer noch in meinen Ohren. Es war, als würden wir uns schon ewig kennen und als wäre dies nicht unser erstes Treffen. Grundsätzlich machtest du alles anders, als es normal war. Ich hätte es wissen müssen, dass das auch auf uns zutraf. Du hast mich vom ersten Moment an verzaubert, ich erlag deinem Charme. Die Sonne wärmte uns und schien allein wegen uns heller zu leuchten, die Bäumen erstrahlten in einem saftigeren Grün, als sie es jemals taten. Und ich flog mit dir zu den Wolken. Ich bin gerne mit dir dort gewesen, habe nie gefragt, woher du kamst und was du machtest. Vielleicht hätte ich das tun sollen, aber es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass du mich womöglich täuschen könntest. Das alles spielte nie eine Rolle für mich. Du warst da, nur das zählte. Du hast mir die Welt zu Füßen gelegt und ich habe dich dafür in meine Welt gelassen. Ich habe dir die tiefsten Winkel meiner Burg gezeigt, habe dich ohne Vorbehalte und Misstrauen zu mir gelassen.

War das ein Fehler? Hast du meine Vertrauen nicht verdient? Ich möchte es so gerne glauben, möchte wütend auf dich sein. Ich möchte dich anschreien, dich nach dem „Warum“ fragen. Will wissen, wieso du das getan hast. Warum bist du gegangen? War ich nur ein kleines Spiel? Nur ein Sommer unter vielen? Du warst soviel mehr für mich. Ich hätte dir die Sterne vom Himmel geholt, hätte für dich die Welt angehalten. Doch all das ist nun nicht mehr möglich.
Du brauchst mich nicht, hast du gesagt.
Es wäre an der Zeit zurück zu gehen, hast du gesagt.
Und das du mich nicht mehr liebst, hast du gesagt.
Es täte dir leid, hast du gesagt.
Und ich? Ich habe nichts gesagt. Deine Worte schnitten in meine Seele wie ein Samuraischwert. Allein meiner Verblüffung war es zu verdanken, dass ich nicht vor dir zusammen gebrochen bin. Allein mein nicht verstehen wollendes Hirn hat mir mein letztes bisschen Selbstachtung gerettet. So bin ich, anstatt zu weinen und vor deinen Augen zusammen zu brechen, einfach nur gegangen. Ich bin nicht stark. Nicht mehr. Du hast mir alles genommen, was mir einst lieb und teuer war. Selbst diese Bank hier ist nicht mehr so friedlich, wie sie vor dir war. Als letzten Beweis meiner Liebe und meines Vertrauens habe ich dich mit hierher zu dieser Bank genommen und habe dir das schönste gezeigt, was ich kenne. Den Sonnenaufgang in den Bergen, wie die Wolken erwachen und sich langsam aus dem Tal in den Himmel emporarbeiten. Du warst hier, hast das alles gesehen und genauso bewundert wie ich. Wie konntest du nur? Du hast diesen Ort entweiht.

Du hast dich noch nicht einmal gemeldet. Hast nicht angerufen oder mir eine Nachricht hinterlassen. Bist einfach gegangen. Und jetzt? Was wird jetzt? Wo soll ich hin? Egal, wo ich hingehe, überall bist du. Überall kann ich deinen Geruch riechen, sehe deine strahlenden braunen Augen, höre dein samtweiches sonore Lachen. In jedem Winkel meiner Wohnung und meines Lebens spüre ich deine Wärme, fühle deine Berührungen. Wieso nur hast du mir das angetan? Und dennoch bei all dem Schmerz den ich nicht spüren kann, ich bereue nichts. Keinen Moment unserer Zeit will ich missen, jeder Augenblick irrt durch meinen Geist wie in einer Endlosschleife, ohne Ende und ohne Anfang.

Müde gleitet mein Blick über das Tal vor mir, meine Hände zittern. Doch ich spüre die Kälte des Herbst morgens nicht. Ich weiß, dass ich viel zu dünn angezogen bin, aber es ist mir egal, alles ist egal. Ich will einfach aufhören zu existieren. Ob ich sterben will? Nein, sterben ist etwas aktives, dass müsste ich tun. Selbst dafür fehlt mir die Kraft und die Leere in mir wird größer, hat schon längst meinen Magen erreicht und wandert nun allmählich in meine Beine und Arme. Fast ist es so, als würde es ihr Spaß machen mir den letzten Rest meines Lebens zu rauben. Der Wunsch nach Rettung ist schon lange ausgeträumt. Feine graue Nebelschwaden kräuseln sich bei jedem Atemzug vor meinem Gesicht. Früher hätte ich sie bewundert, jeden einzelnen Hauch fasziniert beobachtet. Wer bin ich? Und wer war ich? Und wer werde ich sein?

„Guten Morgen Sophie.“
Ein altes Ehepaar grüßt mich auf ihrem Morgenspaziergang. Ich habe sie gar nicht kommen sehen. Die Beiden sind Nachbarn von mir, wohnen nur eine Straße weiter und ich weiß von ihnen, dass sie diesen Weg jeden Tag gehen. Seit 40 Jahren. Immer wieder. In guten, wie in schlechten Zeiten. Ich will das nicht sehen, will nicht gesehen werden. Lasst mich allein. Doch ich winke zurück, sie können nicht wissen, dass du weg bist. Zum Glück scheinen sie nicht stehen bleiben zu wollen und ich sehe ihnen nach, wie sie ihren täglichen Weg weitergehen. Er stützt sie und sie stützt ihn. Nach all diesen unendlich vielen Jahren gemeinsamen Lebensweg haben diese beiden Menschen sich. Ich möchte nicht wissen, wie groß die Hürden ihres Lebens waren, die sie zu meistern hatten. Aber sie sind noch da, halten sich aneinander fest, trotzen jedem Sturm. All das habe ich mir auch gewünscht, in all meinen Phantasien warst du derjenige, mit dem ich dieses Glück teilen wollte. Ich wollte dir meine Zukunft schenken. Doch scheinbar war dir das zuviel. Oder war es nicht genug? Was habe ich falsch gemacht? Du bist nicht mehr da. Ich sitze hier auf dieser  - meiner – Bank ganz allein.

Der Wind trägt aus der Ferne ein altes zerbrechliches Lachen zu mir herüber und es dringt tief in mich ein. Löst mich aus meiner Starre, öffnet meine Schatulle der Pandorra.

Und endlich weine ich.
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