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Das Traumtelefon

Kurzbeschreibung
GeschichteLiebesgeschichte / P18 / MaleSlash
17.09.2010
15.10.2010
3
26.185
49
Alle Kapitel
114 Reviews
Dieses Kapitel
20 Reviews
 
17.09.2010 8.914
 
-- Teil 2 --


Der Zug hat eine halbe Stunde Verspätung. Das dürfte mich eigentlich nicht wundern bei der Zuverlässigkeit der Deutschen Bahn. Trotzdem bin ich so pünktlich wie ein Schweizer Uhrwerk und lasse mich deshalb mit einem Coffee-to-go und meinem mp3-Player auf eine der bereit stehenden Bänke plumpsen, um zu warten. Mit einem guten Hörbuch im Ohr geht die Zeit gleich viel schneller vorbei.
Dummerweise kann ich meine Gedanken keine fünf Minuten lang beisammen halten.

Ich habe ein sehr, sehr schlechtes Gefühl bei dem Besuch aus meiner Vergangenheit, auf den ich hier gerade warte. Vorsichtshalber habe ich zwar alle anstehenden Aktivitäten der Leute von der Uni abgesagt, aber manchmal ist es ja doch immer wieder erstaunlich, wie klein die Welt ist.
Oder Hamburg. Ein Dorf. Ein mickriges Zelt.
Wahrscheinlich stolpere ich mit meinen fünf extrem homophoben Kindheitsfreunden gleich schon auf dem Weg zur U-Bahn Ingo und Jan in die Arme, wie sie sich gerade in aller Öffentlichkeit die Mandeln kitzeln.
Nein, sie sind nicht mehr zusammen, wer sagt das denn…?

Ich schnaufe und nehme einen Schluck Kaffee.
Ingo hat überhaupt nicht verstanden, warum ich mich dieses Wochenende von allen Aktivitäten ausgeschlossen habe.

„Du kannst deine Freunde doch mitbringen“, hat er nur schulterzuckend gemeint, aber das ist mir zu gefährlich gewesen. Die anderen kennen mich lange genug, um zu erkennen, dass ich in Ingos Anwesenheit nicht ganz zurechnungsfähig bin.
Also habe ich ihm irgendeinen Blödsinn aufgetischt, an den ich mich selbst nicht mehr so ganz erinnern kann. Sightseeing-Tour, die guten altern Zeiten wieder aufleben lassen, Insiderwitze…

Ingo hat mir zu Recht nicht geglaubt und wieder diesen verletzten Blick aufgesetzt. Vermutlich denkt er, es liegt an ihm, dass ich mich das ganze Wochenende abkapsle, und ausnahmsweise lasse ich ihn in diesem Glauben. Einfach weil ich hoffe, dass er mich dadurch diese zwei Tage in Ruhe lässt und nicht auf so dumme Gedanken wie Spontanbesuche oder ähnliches kommt.

Endlich wird der Zug durchgesagt. Ich stehe auf und stoppe das Hörbuch, während der Zug quietschend in den Bahnhof einfährt.
In nur wenigen Minuten ergießen sich zig Menschen mit unhandlichem Gepäck auf den Bandsteig, so dass es binnen Sekunden so voll wird, dass ich kaum noch den Zug sehen kann. Es dauert daher eine Weile, bis ich Peters braunen Haarschopf zwischen all den fremden Leuten ausmachen kann.
Er sieht sich ebenfalls suchend um und ich setze mich seufzend in Bewegung. Den kurz aufflammenden Fluchtdrang – ‚Was? Ihr wolltet mich schon dieses Wochenende besuchen kommen? Das tut mir jetzt aber Leid, ich bin gar nicht in Hamburg!‘ – bezwinge ich.

Ich berühre Peter kurz an der Schulter – nur nicht zu lange – und sage dann: „Hey.“

Peter dreht sich um und die braunen Augen weiten sich erfreut. „Uwe! Mensch, ist das lang her! Hätt‘ dich ja beinahe nicht erkannt!“ Er schlägt mir in sehr männlicher Manier auf die Schulter. „Sorry wegen der Verspätung, aber als sie das durchgesagt haben, war es wahrscheinlich schon zu spät, um dich anzurufen.“

„Kein Problem.“ Nach den anderen Ausschau haltend, drehe ich den Kopf in alle Richtungen. „Wo ist denn der Rest?“

„Der Rest? Oh, ach ja. Du weißt ja, wie das ist. Erst sind alle total begeistert und wenn’s dann ans Koffer packen geht, hat plötzlich jeder doch wieder was Besseres vor.“ Theatralisch rollte er mit den Augen.

„Wie? Du bist allein hier?“

„Nee, Michael hat auch noch die Zeit gefunden.“ Er stellt sich auf die Zehenspitzen, um über ein paar Leute hinwegsehen zu können. „Ah, da ist er ja. – MICHAEL! HIER RÜBER!“

Unwillkürlich zucke ich zusammen. „Ist er seit unserem letzten Treffen taub geworden?“

„Nee, wieso?“

„Ach, nichts.“

Eine schmale, strohblonde Gestalt mit viel zu großer Brille im Gesicht schiebt sich mit einer kleinen Reisetasche durch die Menschenmenge zu uns durch. „Hi, Uwe. Ist ja eine Ewigkeit her.“ Die großen, grünen Augen mustern mich neugierig.

„Stimmt.“ Ich weiß nicht, was ich mehr dazu sagen soll, und leite etwas unbeholfen über: „Wollen wir los?“

Ich glaube, was wird noch anstrengender, als ich befürchtet habe.



***



Den beiden meine Wohnung zu zeigen, dauert exakt zwei Minuten. Die Taschen werden einfach in eine Ecke meines Wohnschlafzimmers geworfen, weil man sich damit ja auch noch später beschäftigen kann. Wenn man im total betrunkenen Zustand ins Bett will zum Beispiel.
Mit eine der ersten Fragen ist nämlich, was ich denn so Schönes für das Wochenende geplant hätte. Party, St. Pauli, Sauftour…?

Wenig intelligent sage ich: „Äh, nichts.“
Dummerweise haben die beiden ein ausgeklügeltes Bespaßungsprogramm erwartet. Auf die Frage, was denn meine Freunde das Wochenende über hier so machen und ob wir uns denen nicht anschließen können, gerate ich erneut ins Stammeln.
„Ich… na ja, ich dachte… wir könnten… also, wo wir uns doch so lange nicht gesehen haben… hm, da würden andere… vielleicht könnten wir… in eine Kneipe gehen und… ein bisschen… in guten, alten Zeiten schwelgen?“

Begeistert sind sowohl Peter als auch Michael von diesem in ihren Augen eher langweiligen Vorschlag nicht, aber nach einer kurzen Diskussion lassen sie sich doch zu einer Kneipentour überreden, an der nur wir drei teilnehmen werden. Da so was aber eine gute Grundlage braucht, beschließen wir, schnell alles für eine selbst gemachte Pizza einzukaufen. Das ist günstiger, als eine zu bestellen und jeder kann sich drauf packen, was er will.

Im Supermarkt bin ich ziemlich nervös und ich sehe mich ständig paranoid um, ob jemand vorbeikommt, den ich kenne – Ingo zum Beispiel, was so ziemlich die schlimmste Person wäre, abgesehen von Jan. Aber wir bleiben unbehelligt. Genauso wie am Abend bei unserer Kneipentour. Gegen fünf Uhr morgens taumeln wir allesamt ziemlich betrunken zurück in meine Wohnung und kämpfen mit dem Schlafsofa. Wäre ja uncool gewesen, es schon früher am Tag auszuklappen!
Um halb sechs sind wir endlich alle in der Waagerechten und schlafen… und schlafen…

Ein ziemlich penetrantes Klingeln weckt mich.
In der ersten Schrecksekunde denke ich, es ist der Wecker und ich habe für die Uni verschlafen. Ich falle beinahe aus dem Bett in dem Bemühen, so schnell wie möglich aufzustehen, und habe gleichzeitig noch das Vergnügen, mit einem sehr launischen Kater zu kämpfen.
Moment mal.
Kater.
Da war doch irgendwas…

Mein Blick fällt auf Peter, der leise schnarchend in seinem Schlafsack auf meiner Schlafcouch liegt, jetzt aber wegen des anhaltenden Geklingels brummelig irgendetwas vor sich hin murmelt. Von Michael ist nichts zu sehen. Sein Schlafsack ist leer.
Scheiße. Wie spät ist es überhaupt?

Aus noch halb geschlossenen Lidern schiele ich auf meinen Wecker, der in der Tat nicht klingelt und der obendrein 12:47Uhr anzeigt. Halleluja. Jetzt könnten wir so langsam mal aufstehen.

„Geh‘ doch endlich ran“, nuschelt Peter knurrig aus seinem Schlafsack hervor und zieht sich ein Stück von Michaels Schlafsack über den Kopf. „Das is‘ ja nich‘ auszuhalten!“, fährt er dann noch gedämpfter fort.

Rangehen?, dringt es bis in mein schwer umwölktes Hirn vor. An wen? Peter vielleicht…? Ist das ein Angebot gewesen…? Nein, das kann nicht sein…

Michael kommt komplett angezogen und mit einer verführerisch duftenden Tasse Kaffee ins Zimmer getrabt und nimmt etwas vom Schreibtisch.
Ein Telefon. Ein Handy.
Mein Handy!
Hektisch setze ich mich im Bett auf, als sich der Raum einmal lustig um sich selbst dreht und ich automatisch eine Hand ins Nichts ausstrecke, um mich an irgendetwas festzuhalten. Ich erwische die Wand am Kopfende und Michael nimmt das Gespräch an. Auf meinem Handy!

„Ja, hallo? – Nee, hier ist Michael. – Ein Freund von Uwe.“

„Michael!“, krächze ich mit laut hämmerndem Herzen und leider so gut wie gar keiner Stimme. „Gib mir das Telefon!“

Michael wirft mir einen Blick zu, der eindeutig aussagt: ‚Du bist noch nicht ganz zurechnungsfähig, glaubst du, da lasse ich dich mit Dynamit spielen?‘ „Du kannst doch noch gar nicht richtig sprechen“, sagt er sehr vernünftig in meine Richtung, ehe er wieder in den Hörer spricht. „Was gibt’s?“

„Doch, kann ich, kann ich!“, beteuere ich heiser und rupfe hastig die Bettdecke weg. Wer könnte das sein? Ich bekomme nicht viele Anrufe. Hin und wieder mal von einem Kommilitonen, wenn irgendwas anliegt oder wegen der Uni oder so. Von dem einen oder anderen One-Night-Stand, der es auf einen zweiten Versuch ankommen lassen will. Und von Ingo. Meistens von Ingo.
„Wer ist es denn?“

„Warte mal kurz.“ Michael sieht mich schelmisch an. „Ich weiß, wer es ist, aber ich sag’s dir nicht. Zumindest nicht, solange du aussiehst, als würdest du jeden Moment umkippen. Also leg‘ dich wieder hin.“

Ich folge seinem Befehl nur aus einem einzigen Grund: Weil ich sonst wahrscheinlich tatsächlich der Länge nach hingeschlagen wäre. Mein Magen gibt grummelnde Geräusche von sich und mein Kopf dreht sich immer noch wie ein Karussell auf meinem Hals.

„Brav“, lobt mich Michael begütigend und kommt zum Bett rüber. „Irgendein Ingo. Willst du mit ihm sprechen?“

„Ja“, hauche ich und strecke unkoordiniert eine Hand aus. Ich spüre, wie Michael das Handy hinein drückt, dann verzieht er sich mit seiner Kaffeetasse wieder, während Peter ein abgrundtiefes Schnaufen von sich gibt. Hoffentlich ist er schon wieder auf dem besten Weg zurück ins Traumland.
„Hi“, begrüße ich Ingo leise. Im selben Moment frage ich mich, ob ich gerade säusle? Ich räuspere mich und sage etwas rauer: „Was ist los?“

„Wow, muss ja ein lustiger Abend gewesen sein gestern.“

„Hm“, mache ich vage und schließe die Augen, als das Kreiseln der Zimmerdecke schlimmer wird. Außerdem kann ich so seine Stimme intensiver wahrnehmen. Das ist ein bisschen wie Streicheleinheiten. Lange und zärtlich. Die beste Medizin gegen einen kratzbürstigen Kater.

„Hab‘ ich euch geweckt?“

„Hm“, mache ich wieder, dieses Mal ein bisschen zustimmender.

Es folgt eine verhältnismäßig lange Stille dafür, dass wir eigentlich gerade über nichts reden. Oder bin ich zwischenzeitlich eingeschlafen? Als er plötzlich wieder zu reden anfängt, schrecke ich zumindest ein wenig hoch.

„Oh Mann. Okay. Dann ist es wohl gerade ein schlechter Zeitpunkt, oder?“

„Für was?“ Ich zwinge meine Augenlider wieder auf, um nicht noch einmal zu riskieren, wegzudösen. Kann es sein, dass Ingo irgendwie… nervös klingt? „Was ist denn?“

„Ich… wollte dir was sagen. Oder besser… einen Rat geben. Wenn du so möchtest. Obwohl ich befürchte, dass du den gar nicht haben willst und in deinem Zustand vermutlich sogar falsch auffasst oder gar nicht richtig begreifst…“

Ich runzle die Stirn. „Du brabbelst, Ingo.“

„Tue ich das?“

„Und jetzt stellst du dumme Fragen. Was ist los?“, wiederhole ich ein bisschen nachdrücklicher und schiele gleichzeitig ein wenig angespannt zu Peter rüber. Aber so, wie sich sein Oberkörper in gleichmäßigen Zügen hebt und senkt, dürfte er tief und fest schlafen. Allerdings habe ich keine Ahnung, wo Michael sich rumtreibt, und langsam macht mich Ingo nervös.

„Ingo?“, hake ich nach, nachdem einige Zeitlang schon wieder Funkstille am anderen Ende ist.

„Ja. – Okay, pass auf, ich sage das jetzt einfach geradeheraus.“

„Ich bitte darum.“ Dieses Brabbeln macht mich jedenfalls wahnsinnig. Mein Herz peitscht das Blut wie wild durch meinen Körper, was das kribbelige, schwindelige Gefühl vom Alkohol noch ein wenig verstärkt.

„Du solltest… äh, vorsichtig bei Jan sein.“

Ich warte ein paar Sekunden lang, aber der Sinn seiner Worte will sich mir absolut nicht erschließen. „Hä?“

„Äh… na ja, wegen dem… wegen dem, was letzten Sonntag passiert ist. In der Beach Bar.“

„Was ist denn letzten Sonntag in der Beach Bar…“
MEINE EREKTION!
Mir entfährt ein entsetztes Keuchen. Ingo denkt, ich hätte die wegen Jan gehabt? Wegen Widerling JAN?!
Jan! Oh Gott, dieser saudämliche Volltrottel! Was zum Henker hat er Ingo erzählt?!
Mein Gesicht explodiert in Hitze, als ich stammle: „Das… ich… so ist das überhaupt nicht gewesen. Ich meine –“

„Schon gut“, unterbricht Ingo mich ruhig. „Ich hab‘ mir schon gedacht, dass du so reagierst. Eine Phase und so weiter. Und am Strand rannten schließlich auch jede Menge leicht bekleideter Mädels rum.“

„G-Genau!“
Um Himmels willen, mir ist es tausend Mal lieber, er hält mich für eine Hete, als dass er mir unterstellt, wegen Jan einen Ständer zu bekommen!

„Trotzdem bist du erst hart geworden, als Jan dich auf die Schultern genommen hat.“

„Nein!“
Verflucht! Ich werde Jan umbringen! Das ist gelogen! Ganz dreist und so offensichtlich!
„Hör zu, Ingo.“ Ich rolle mich etwas zur Seite und zur Wand hin und senke die Stimme zu einem beinahe lautlosen Flüstern. „Du denkst doch nicht wirklich, dass ich wegen Jan –“

„Wie ich schon sagte, Uwe“, fährt er mir erneut dazwischen, dieses Mal jedoch etwas kühler. „Ich kenne alle Ausreden, okay?“

„Was? Das hat doch damit überhaupt nichts zu tun!“ Meine Güte, was ist das für eine heterosexuelle Weichpflaume gewesen, die er da irgendwann mal flachgelegt hat?! „Du bist…“ Ich gerate ins Stocken und kann den Satz nur in Gedanken vollenden: … der Grund für die Erektion gewesen. Du! Und ganz mit Sicherheit nicht Jan!
Ich könnte mir dafür in den Hintern beißen, dass immer noch alles in mir blockiert, wenn ich doch so kurz davor stehe, es ihm zu sagen. Aber es geht nicht! Und nicht nur deshalb, weil ich es einfach nicht über die Lippen bekomme, sondern auch deshalb, weil sich zumindest Peter, wahrscheinlich aber auch Michael in absoluter Hörweite befinden. Vielleicht sollte ich erst Jan umbringen und anschließend mich. So ein feiges, schwaches Exemplar von Mensch wie ich hat ja wohl eindeutig nichts Besseres verdient…!

Dann ist der Moment für die Wahrheit erneut vorübergezogen – so was scheint mir echt öfter zu passieren, verdammter Mist.

„Ich will das jetzt auch gar nicht groß mit dir diskutieren“, nutzt Ingo das Schweigen, um den Faden wieder aufzunehmen. „Ich verspreche dir sogar, darüber nichts zu sagen oder dich damit aufzuziehen. Ich will nur… Solltest du auf den dämlichen Gedanken kommen, diese Phase irgendwie… auszutesten, also körperlich… dann pass bei Jan auf. Er ist nicht der Typ fürs… Sanfte. Wenn du verstehst, was ich meine.“

Sofern das irgendwie möglich ist, wird mein Schädel noch eine Spur heißer. Ich weiß nicht wieso, aber in meinem Kopfkino haben sich gerade die Vorhänge zur Vorstellung Ingo in Aktion mit dem wenig sanften Jan gehoben. Wie zum Henker soll ich das denn auffassen? Und glaubt er etwa wirklich immer noch, ich finde Jan auch nur eine Spur attraktiv…?!

„Ingo…“, appelliere ich ein bisschen flehend an die hoffentlich noch vorhandene Vernunft in seinem Kopf, „du hast da was ganz gewaltig missverstanden.“

„Natürlich.“ Wieder diese ätzende, unterkühlte Tonfall. „Ich wünsch dir noch viel Spaß mit deinem Besuch aus der Heimat. Bis Montag.“

„Was? Ingo, halt, warte mal. Ingo. Ingo?“ Ich nehme das Handy vom Ohr und starre auf das Display, das mir eine unterbrochene Verbindung anzeigt. Super. „Scheiße.“

Ich kämpfe mich aus dem Bett heraus und taste mich anschließend vorsichtig durchs Zimmer ins Bad vor, um schnell eine kalte Dusche zu nehmen. Hab‘ mal gehört, das soll die Lebensgeister am besten aufwecken können. Vielleicht hilft es wenigstens ein bisschen auch gegen meinen Kater.

Zwischenzeitlich steckt Michael den Kopf aus der Küche raus. „Was Wichtiges?“

„Hm? Nee. Wie lange bist du schon wach?“, schaffe ich es noch, der Höflichkeit halber zu fragen, während ich schon halb im Bad verschwunden bin.

„Och, ‘ne Stunde oder so. Was machen wir heute?“

Ich rolle mit den Augen und verschwinde hastig im Bad. „Überleg‘ dir was!“, rufe ich noch, ehe ich unter die Dusche steige.



***



Den Großteil des Tages rennen wir kreuz und quer durch die Stadt und klappern dabei die mehr oder weniger bekannten Touristenschauplätze ab. Da weder Peter noch Michael eine Kamera oder so was dabei haben oder sich gar groß für irgendetwas Kulturelles interessieren, ist das Ganze aber eher sinnlos. Unterwegs treffen wir zu meinem Schrecken auf einen meiner Kommilitonen, der aber zum Glück allein unterwegs ist. Peter und Michael stürzen sich sofort auf ihn und wollen wissen, was denn heute Nacht in Hamburg so geht, und ehe ich überhaupt auch nur im Ansatz protestieren kann, sind wir für den Abend für den Kiez verabredet. Unauffällig versuche ich, herauszufinden, wer denn noch alles so dabei sein wird. Von Ingo oder Jan sagt mein Kommilitone nichts, dafür wackelt er in sehr anzüglicher Art und Weise mit den Augenbrauen, als er Sybille erwähnt.

Kaum hat er uns dann allein gelassen, darf ich Peter und Michael erst einmal in aller Ausführlichkeit von Sybille erzählen. Ich erfinde ein paar Dinge dazu und scheine damit sogleich in ihrem Ansehen zu steigen. Offenbar sind sie bis eben davon ausgegangen, dass ich hier ein Einsiedlerleben als eifriger Student führe. Und plötzlich habe ich Freunde und Bekannte und ein Mädchen an der Angel.

„Dann müssen wir dich morgen ja doch nicht gewaltsam zurück nach Hause schleifen“, lacht Peter gut gelaunt, worauf ich aber nur mäßig begeistert einsteige.
Ich bin wirklich froh, wenn die zwei wieder weg sind.

Da ich so gut wie keine Minute für mich alleine bin, schaffe ich es nicht, Ingo zurückzurufen und über seinen kolossalen Irrtum aufzuklären. Einer meiner zwei Besucher aus der Vergangenheit ist immer um mich und so weit, dass ich mich mit meinem Handy auf der Toilette einsperre, bin ich noch nicht.
Meine Hoffnungen liegen auf dem Abend. Wenn wir in irgendeinem lauten, überfüllten Club sind – noch dazu mit ein paar Freunden von mir –, kann ich mich garantiert mal kurz wegschleichen, um Ingo anzurufen. Sofern der nicht selbst gerade Party macht, heißt das. Aber falls ich ihn tatsächlich ans Telefon bekommen sollte, kann ich ihn in aller Ruhe und unbeobachtet zumindest von dem Gedanken abbringen, dass ich Jan in irgendeiner Art und Weise attraktiv finde.

Als wir abends schließlich unterwegs sind, halte ich mich im Gegensatz zu meinen Freunden etwas mit dem Alkohol zurück. Wenn ich Ingo erwische, will ich nicht halb zugedröhnt sein. Ich versuche auch, Michael darauf hinzuweisen, dass es sich mit einem Kater vielleicht nicht so gut Zug fahren lässt. Daraufhin zuckt er aber nur mit den Schultern und nimmt einen Schluck von seinem Bier.
Okay, ich hab’s zumindest versucht.

Nach zwei Stunden Bier, mäßig gekonntem Rumgehüpfe auf der Tanzfläche und lautem Gegröle eröffnet sich mir meine erste Chance. Peter baggert gerade heftig an irgendeiner Blondine herum, während Michael eine betrunkene Diskussion über Gott weiß was mit einem meiner Kommilitonen angefangen hat. Niemand unterhält sich mit mir und so kann ich schnell zwischen den Massen hindurch nach draußen schlüpfen.

Ingos Nummer ist schnell gewählt und dann halte ich mir das Handy mit rasendem Puls ans Ohr.
Okay, Uwe. Alles ganz locker. Mach’s wie Ingo. Einfach geradeheraus.

Es klickt.
„Uwe“, kommt es überrascht von Ingo am anderen Ende der Leitung. „Hi. Ist was passiert?“

„Nein. Doch. Also… hör einfach zu, okay? Jan hat dir da irgendwie ziemlichen Blödsinn erzählt und –“

Ein Seufzen, dann: „Haben wir das nicht schon heute Mittag geklärt? Wenn du meinst, irgendwas ausprobieren zu müssen, dann mach‘ das. Es wird dir zwar nichts bringen, weil du am Ende doch wieder zu den Frauen zurückkehren wirst, aber gut. Nur… nicht mit Jan. Das ist mein Rat an dich, okay?“

„Könntest du mich mal ausreden lassen, verdammt?“

„Sorry. Aber wie du weißt, habe ich mir das ganze Theater schon mal angehört und bin live dabei gewesen.“

„Aber nicht bei mir. Und ich bin nicht der Kerl, den du da mal irgendwann gekannt hast. Und ich stehe schon gar nicht auf Jan!“

„Es ist nur eine vorübergehende, körperliche Anziehungskraft, weil du längere Zeit nicht mehr gevögelt hast.“

„Nein.“ Abgespannt fahre ich mir durch die Haare. Obwohl das mit dem Vögeln zweifellos zutreffend ist. „Ich bin… also, ich habe euch allen die ganze Zeit etwas vorgemacht. Ich –“

„Heeeeey“, säuselt es lang gezogen in meinem Rücken. Bevor ich mich jedoch umdrehen kann, schlingen sich zwei schlanke Arme um meine Mitte und ein schmaler, sehr, sehr weicher Körper drückt sich von hinten an mich. „Hier bis‘ du.“
Ein sehr weiblicher Körper!

„Sybille“, sage ich überrascht und überrumpelt zugleich.

„Hast dich einfach weggeschlich’n“, giggelt sie ganz eindeutig alles andere als nüchtern. Ich spüre, wie sie ihre Stirn gegen meinen Rücken lehnt. „Dacht‘, ich geh‘ dir mal nach…“

„Äh, ja, super… aber… ich telefonier‘ grad. Ist wichtig.“

„Probleme?“, will Ingo vom anderen Ende der Leitung wissen.

„Nee.“ Ich greife nach Sybilles Händen und löse ihre Umklammerung, um mich zu ihr umzudrehen. Gleich darauf wirft sie sich mir allerdings von vorne in die Arme. „Ähm… Sybille?“

„Warst so gemein zu mir letztes Woch‘nende…“, wirft sie mir mit einem Seufzen in der Stimme vor, während sie ihr Gesicht an meiner Brust vergräbt.

„Also, ich…“ Mir fehlen irgendwie ziemlich die Worte.

„Ist das Sybille?“, will Ingo wissen.

„Ja.“

Er schnauft. „Na, dann beweis‘ dir mal, dass du’s noch kannst.“

„Was?“, rufe ich erschrocken. „Sie kam hier gerade rausgetorkelt und hat sich mir in die Arme geworfen!“

„Hübsche Arme“, murmelt Sybille und hebt das Gesicht an, um mich aus babyblauen Augen anzublinzeln.

Oh Gott, langsam wird das hier echt etwas peinlich. Die Türsteher vom Club gucken schon und jeder Einzelne hat ein breites, tumbes Grinsen im Gesicht.
Haha, wirklich der Witz des Jahrhunderts!

„Hm, Sybille?“ Mit der freien Hand versuche ich erneut, ihre Umarmung zu lösen. „Vielleicht stellst du dich einfach mal gerade darüber und lässt mich in Ruhe zu Ende telefonieren, ja? Ich bin dann sofort bei dir.“

Sie gibt ein unwilliges Geräusch von sich und schlingt ihre Arme wieder um mich. „Hm, nee, jetzt!“

„Das sollte doch kein Angriff sein“, meldet sich Ingo wieder zu Wort. „Alles, was dir hilft, diese Phase oder was auch immer zu überwinden, ist gut.“

„Das ist keine verdammte Phase, Ingo!“, blaffe ich durch den Hörer, ehe ich entsetzt feststelle, dass Sybille sich auf die Zehenspitzen stellt und etwas unkoordiniert versucht, meinen Mund zu erreichen.
Sie will mich küssen!

„Gut. Schön, wenn du’s genauso siehst. Hätte sowieso keinen Sinn gehabt.“

„Was? Oh Gott, Ingo! Du… Hornochse!“, rutscht mir heraus. Wie kann man denn bloß so blind sein? Oder liegt es an mir?
Ingos Begriffsstutzigkeit lenkt mich jedenfalls lange genug ab, damit Sybille die Zeit findet, mich an meinem Shirt zu sich herunterzuziehen. Keine Sekunde später legen sich ihre weichen Lippen auf meine und ihre Zunge sucht sich etwas träge ihren Weg in meinen Mund.
Himmel!

Mit der freien Hand schiebe ich sie bestimmt auf Abstand.
„Sybille“, sage ich langsam und möglichst deutlich, „das ist jetzt gerade wirklich schlecht.“ Wie zum Beweis halte ich ihr das Handy entgegen. „Ich telefoniere!“

Schmollend verzieht sie den Mund. „Nein! Wir mach’n Party! Und Mutti würd‘ jetzt auflegen sagen!“

„Mutti?“, echoe ich verwirrt. „Welche Mutti?“

Anstatt mir eine Antwort zu geben, rupft sie mir das Handy aus der Hand. „Jede!“ Beinahe wie in Zeitlupe sehe ich, wie sie die Verbindung unterbricht und sich das Handy in ihre Hosentasche stopft.

Das darf doch alles nicht wahr sein!
„Gib mir mein Handy zurück!“, sage ich verärgert und strecke ihr auffordernd die Hand entgegen.

Daraufhin wirft sie mir einen sehr deutlichen Blick unter halb geschlossenen Augenlidern zu.
„Hol’s dir doch“, schäkert sie, dreht auf dem Absatz um und verschwindet wieder im Club.

„Hey!“, rufe ich ihr hinterher und setze mich nur ein wenig verzögert in Bewegung.

Scheiße! Gibt es ein besseres Beispiel für ums Verrecken schlechtes Timing? Gerade bin ich so weit gewesen, es Ingo regelrecht ins Ohr zu brüllen, was mit mir los ist, weil er mich echt zur Weißglut getrieben hat. Und weil ich die Vorstellung kaum ertragen kann, dass er wirklich annimmt, ich würde auch nur einen einzigen erotischen Gedanken an Jan verschwenden!

Mist, wo steckt denn jetzt bloß Sybille? Und wie soll ich sie überhaupt in diesem Durcheinander aus Körpern, Armen und Beinen finden? Und könnte hier jemand mal bitte für mehr Licht sorgen? Ohne mein Handy bin ich aufgeschmissen! Ich besitze nämlich kein Festnetztelefon!

Ich spreche zwei brünette Mädels an, die ich für Sybille halte, die es leider aber doch nicht sind. Dann werde ich von Peter aufgehalten, der mir ungefragt eine volle Flasche Bier in die Hand drückt.

„Voll geil hier, Mann!“, brüllt er mir gegen den hämmernden Bass entgegen. Dann legt er mir schwer seinen Arm um die Schultern und reißt mich mit seinem Gewicht, das er plötzlich zur Hälfte auf mir ablegt, beinahe um. „Siehste die da vorn? ‘s die Anne!“

Er sagt das so, als müsste mir der Name irgendwas sagen. Tut er aber nicht. Die Blondine scheint aber dieselbe zu sein, der schon den ganzen Abend lang seine Aufmerksamkeit gegolten hat.
„Aha“, mache ich deshalb nur. Mich interessiert gerade nur eine Frau – was an sich schon höchst erstaunlich ist – und das ist Sybille!

„Sehr süß!“, fügt Peter nickend hinzu, dann etwas dreckiger: „Und sehr geil!“

Das will ich gar nicht so genau wissen. „Aha“, sage ich wieder und schiebe seinen Arm von meiner Schulter. „Du kannst sie trotzdem nicht mit nach Hause nehmen. Ich habe nur ein Zimmer, erinnerst du dich? Michael und ich müssen auch irgendwo schlafen.“

„Hat ‘n Zungenpiercing!“

„Super!“, versuche ich, enthusiastisch zu sein. „Es geht trotzdem nicht.“

Peters Mundwinkel ziehen sich nach unten. „Hm, aber ich kann zu ihr?“

„Das fragst du mich? Mach‘ doch, was du willst, solange du deinen Zug nach Hause erwischst.“

Peter runzelt die Stirn. „Was bist’n so zickig?“

„Ich bin nicht zickig. Sybille ist mit meinem Handy abgehauen.“

„Sybille?“

„Die kleine Brünette?“

„Ach! Die! Süß!“ Er piekst mir seinen Ellenbogen in die Seite und zwinkert mir mit beiden Augen zu, weil seine Koordination wohl nicht ganz ausreicht, um es mit nur einem zu schaffen. „Dann musst‘ ja nur noch wen für Michael finden und dann haste sturmfreie für deine Sybille!“

Äh… genau. Ich glaube, den Teil mit dem Handy hat er zu uninteressant gefunden, um ihn sich zu merken.
Ich erwidere sein Grinsen einfach, was ihn wohl zufrieden stellt, denn er zieht wieder zu seiner Anne mit dem Zungenpiercing ab. Automatisch halte ich jetzt – neben Sybille – nach Michael Ausschau. Irgendwie ist es eine komische Vorstellung, dass er auch bei einer Frau übernachten könnte, aber zu meiner grenzenlosen Überraschung entdecke ich ihn rumknutschend in einer Ecke.
Und ich meine das genauso, wie ich es sage. Rumknutschend. Und wenig ästhetisch.
Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, er hat sich sogar Sybille geschnappt, aber auch die sieht ihr nur ähnlich.
Verflucht. Wo steckt sie denn bloß? Die kann doch nicht einfach mit meinem Handy abhauen!

Ich frage bei meinen Kommilitonen rum – oder besser gesagt: bei denen, die noch da und ansprechbar sind. Sybille scheint keiner gesehen zu haben.
Mist. Wahrscheinlich ist sie schon längst zu Hause. Hat sich an mir vorbei geschlichen und ist mitsamt meinem Handy nach Hause gefahren. Oder auch bei irgendeinem anderen Kerl gelandet.
Nein, das halte ich eher für unwahrscheinlich, so wie sie vorhin geguckt hat. Da habe ich schon eine ziemliche Zielscheibe auf der Brust gehabt. Vermutlich hat sie einige Zeit lang nach mir gesucht, es dann aber aufgegeben und ist nach Hause gegangen. Immerhin werden wir so oder so am Montag in der Uni aufeinander treffen und miteinander sprechen müssen.

Meine Lust zu feiern, neigt sich rapide dem Ende entgegen. Wenn sie überhaupt jemals da gewesen ist. Den ganzen Abend über habe ich zwei Bier getrunken, mehr nicht. Die Orgie gestern sitzt mir immer noch in den Knochen. Ich wüsste gerne, wie spät es ist, aber ich trage keine Uhr und auf meinem Handy kann ich leider nicht nachsehen. Ich würde auch gerne Ingo noch einmal anrufen, aber auch das ist ohne Handy leider nicht drin. Und weil es so praktisch ist, Telefonnummern auf der SIM-Karte abspeichern zu können, habe ich mir auch nie die Mühe gemacht, seine Handynummer auswendig zu lernen. Sonst würde ich ja sogar versuchen, ihn aus einer Telefonzelle heraus anzurufen. Falls ich so ein Ding überhaupt noch finden kann.

Mutlos fahre ich mir durch die Haare und rutsche vom Barhocker herunter, auf dem ich die letzte halbe Stunde zugebracht habe. Von Sybille immer noch keine Spur. Und ich bin müde und will jetzt nach Hause. Vom einfach nur gelangweilt hier herum hocken, bekomme ich mein Handy auch nicht wieder.

Ich mache Peter auf der Tanzfläche aus, eng umschlungen mit der blonden Anne mit dem Zungenpiercing. Ich unterbreche die zwei kurz, um nachzuhaken, ob er die Nacht tatsächlich bei ihr verbringen möchte und morgen um halb drei trotzdem seinen Zug bekommen kann, aber er scheint ganz zuversichtlich.
Damit lasse ich sie dann alleine und mache mich auf die Suche nach Michael. Sollte er jetzt unerwarteterweise auch die Nacht woanders verbringen… hm, dann sollte ich es vielleicht ausnutzen, dass ich gerade eh schon auf dem Kiez bin. Natürlich würde ich niemanden mit nach Hause nehmen, aber man kann sich ja auch anders einen klaren Kopf verschaffen.

Michael ist immer noch in derselben Ecke mit derselben Brünetten beschäftigt, die Sybille so ähnlich sieht. Ich versuche irgendwie, dazwischen zu kommen, aber es dauert eine ganze Weile, bis er sich lösen kann und mich aus leicht weggetretenen Augen anblinzelt.

„Hi. Ähm, tut mir Leid wegen der Störung, aber… ich würde jetzt gerne nach Hause gehen.“

„Waaaas?“, fragt Michael lang gezogen. „Jetzt schon?“

„Ist doch noch früh“, wirft die Brünette ein und spielt mit Michaels Haaren herum.

Ich kann da kaum hinsehen. Das hier ist verdammt noch mal Michael! Sollte der nicht mit einem Computer oder so verheiratet sein? Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie er sich mit der Brünetten doch irgendwelche Laken wälzt! Bei Peter ist das ja noch eine ganz nette Vorstellung – wenn man sich die Frau wegdenkt. Aber Michael?!

„Hm, ja, trotzdem. Ich bin müde. Kommst du mit?“, fahre ich an Michael gewandt fort. „Oder… bleibst du noch?“ Ich will nicht so direkt danach fragen, ob er eine andere Übernachtungsmöglichkeit hat, weil ich keine Ahnung habe, inwieweit die beiden das schon erörtert haben. Nicht, dass ich jetzt in irgendein Fettnäpfchen trete.

„Also…“ Michael wirft der Brünetten einen kurzen Blick zu. „Ich würd‘ gern noch bleiben. Vielleicht noch… ‘ne Stunde?“

Okay, offenbar ist hier das Thema Sex noch nicht auf den Tisch gekommen. Haben die denn allen Ernstes zwei Stunden am Stück geknutscht?
„Na schön“, lasse ich mich breitschlagen. „Eine Stunde noch.“

„Super“, freut sich Michael, als wäre ich seine Mutter und hätte ihm gerade erlaubt, das Licht noch ein bisschen länger brennen zu lassen. Gleich darauf ist er auch schon wieder mit der Brünetten beschäftigt.

Mann, die Zeit in meiner Heimatstadt scheint echt langsamer zu vergehen als hier. Die benehmen sich ja wie mitten in der Pubertät.
Ich überlasse Michael und seine neue Freundin wieder sich selbst und will mich gerade an die Bar zurückziehen und mich eine Stunde lang an einem Bier oder so festhalten, als mir ein Gedanke kommt. Warum soll ich eigentlich der Einzige sein, der heute keinen Spaß hat? Michael hat mir eine Stunde Zeit gegeben. Die weiß ich definitiv besser zu nutzen, als nichtsnutzig in irgendeiner Hetero-Bar herumzuhängen.

Ich habe mich kaum dafür entschieden, da bin ich schon auf dem Weg aus der Bar hinaus. Unterwegs werfe ich einen Blick auf die protzige Uhr von einem der Türsteher, um die Zeit wenigstens einigermaßen im Auge zu behalten. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Michael es nicht merken würde, wenn ich an seine Stunde noch eine halbe mehr dran hänge.
Im Geiste überlege ich, welchen Club ich am besten nehmen könnte. Da ich ständig Angst habe, Ingo über den Weg zu laufen, suche ich mir jedes Mal einen anderen aus, um nicht versehentlich andauernd in Ingos Stammclub oder so zu landen. Andererseits habe ich auch nicht so viel Zeit, also verschlägt es mich gleich in den zweiten Laden.

Ich halte mich nicht lange damit auf, mir ein Getränk zu besorgen, sondern marschiere schnurstracks in Richtung Tanzfläche. Das ist der beste Ort, um schnell gesehen zu werden und an dem ich mich ganz gut in Szene setzen kann. Zumindest besser, als wenn ich wahllos herumirren und irgendwelche Kerle ansprechen würde. Darin bin ich nicht so gut. Es ist besser, sie sprechen mich an. Oder sparen sich komplett das Gerede und nehmen mich einfach runter von der Tanzfläche und rüber zu den Darkrooms. Auch darin bin ich eher weniger gut, weil ich nicht bestimmend genug sein kann. Deshalb wähle ich die – für mich schnellste – Variante der Tanzfläche.

Die ersten Male habe ich es noch ziemlich peinlich gefunden, mich alleine mitten in den Pulk hineinzustellen und so aufreizend wie möglich zu tanzen. Wobei sich das bei mir immer noch im Rahmen hält. Es laufen immer Männer rum, die es damit schamlos übertreiben. Ich finde, ich bin ein guter Mittelweg zwischen Aufmerksamkeit erregen und sexy.
Irgendwann hat sich das ungute Gefühl aber gelegt und ich mache so was ja auch nicht oft. Aber hin und wieder sind mir meine Phantasien und meine Hand allein nicht genug. Außerdem bin ich vielleicht etwas entspannter, wenn ich spätestens Montag mit Ingo rede – vorher bekomme ich mein Handy wahrscheinlich nicht wieder zu Gesicht. Es ist schwierig, sich auf etwas voll und ganz zu konzentrieren, wenn ich ihn mir ständig nackt vorstelle.
Wobei ich nicht glaube, dass das ein bisschen anonymer Sex abstellen wird. Aber einen Versuch ist es wert.

Zum Glück dauert es dieses Mal nicht allzu lange, bis sich ein großer, blonder Typ zu mir gesellt. Er sieht ganz nett aus, auch wenn er sich eher wie ein Elefant im Porzellanladen zur Musik bewegt. Dummerweise geht er nicht ganz so schnell ran, wie ich es mir gerade wünsche. Und ich bin sehr ungeschickt darin, so was vernünftig rüberzubringen. Und wahrscheinlich auch nicht mutig genug.
Fürs Erste begnüge ich mich damit, näher an ihn heranzutreten, was er als Aufforderung versteht, seine Arme um mich zu legen. Das ist doch schon mal ein guter Anfang.

Wir tanzen eine Weile weiter, ohne dass etwas passiert. Hm, vielleicht sollte ich doch mal irgendeine Art Hinweis einstreuen…?
Meine Wangen werden ein wenig wärmer, als ich mich aufdringlicher an ihn schmiege und dann umdrehe, so dass ich mit dem Rücken zu ihm stehe. Mit hektischem Puls dränge ich meinen Hintern näher an ihn, was bei ihm endlich ein Licht aufgehen lässt. Er schlingt seine Arme wieder um mich, drückt mich dichter an sich und vollführt eine leichte Drehung mit mir, so dass ich jetzt in Richtung der Darkrooms blicke.

„Wollen wir mal da rüber gehen?“, will er fast etwas unsicher wissen.

Himmel, wen habe ich mir da bloß ausgesucht?
„Hm-hm“, nicke ich, greife nach seiner Hand auf meinem Bauch und ziehe ihn hinter mir von der Tanzfläche runter und zu den schummrigen Darkrooms rüber.

Als es dunkel um uns herum wird, scheint der Kerl etwas mutiger zu werden. Er dreht mich zu sich herum und schiebt eine Hand in meinen Nacken, um mich zu sich heranzuziehen und zweifellos zu küssen. Bevor es dazu allerdings kommen kann, drehe ich das Gesicht weg, so dass seine Lippen nur meine Wange streifen.
Ich küsse nicht gerne bei… so was. Bei diesen schnellen, anonymen Sachen in irgendwelchen stickigen Darkrooms.

Ich greife nach seinem Hemdaufschlag und mache mich an den obersten Knöpfen zu schaffen, gerade so weit, dass ich das Hemd etwas auseinander ziehen und meinen Mund bequem auf seinen Halsansatz pressen kann. Richtig erregt bin ich irgendwie noch nicht, da helfen auch die unverkennbaren Sexgeräusche aus der Dunkelheit nicht viel. Aber vielleicht liegt das daran, dass er noch nicht so richtig aktiv geworden ist.
Kurz wandere ich über das Schlüsselbein, während sich meine Hände gleichzeitig an seinem Gürtel zu schaffen machen. Spätestens jetzt sollte ihm wohl klar sein, worauf ich es ausschließlich abgesehen habe.

Und offenbar passt ihm der Gedanke absolut gar nicht, weil sich seine Finger sehr fest um meine Handgelenke schließen.

„Warte mal“, nuschelt er undeutlich und sucht in dem Schummerlicht meinen Blick.

„Was ist?“

„Ich… ich glaube, ich… kann das doch nicht.“

Irritiert runzle ich die Stirn und kann noch nicht so ganz begreifen, was er mir damit sagen will. Allerdings ahne ich Schreckliches.
„Du kannst was nicht?“ Ich klinge nicht einmal ansatzweise so wütend, wie ich vielleicht sein sollte, nachdem ich hier gerade offenbar zurückgewiesen werde. Andererseits kann ich ihn beinahe verstehen. Eigentlich bin ich auch nicht der Typ für… so was.

„Hm, das hier“, druckst er rum. „Versteh‘ mich nicht falsch, du bist süß. Sehr süß sogar, aber…“

Süß?
Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment auffassen soll. Schokolade ist süß oder Sirup.
Ich glaube nicht, dass ich süß sein will.
Zumal ich noch ganz genau Peters Stimme im Ohr habe, wie er erst seine Anne mit dem Zungenpiercing und anschließend Sybille als süß bezeichnet hat.
Nein, ich denke, ich will nicht süß sein.

„Vie…vielleicht magst du mir… deine Nummer geben? Dann könnte ich dich anrufen und wir könnten… ich weiß auch nicht. Einen Kaffee trinken oder so.“
Rechts von uns scheint gerade jemand sehr genussvoll gekommen zu sein, den Geräuschen nach zu urteilen. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, die Wangen des Blonden vor mir sind fast so rot wie meine eigenen.
„Im Hellen“, fügt er ein wenig stammelnd hinzu. „An einem öffentlichen Ort mit… angezogenen Leuten.“

„Angezogene Leute?“, kommt es höhnisch von links. Ich glaube, mein Herz bleibt stehen. „Wie langweilig.“

„Jan“, keuche ich entsetzt, noch bevor er so weit an uns herangetreten ist, dass ich ihn tatsächlich erkennen könnte. Aber die Stimme habe ich ohne Zweifel erkannt.
Oh Gott! Sag bitte nicht, dass er Ingo im Schlepptau hat…!
Beinahe ein wenig panisch versuche ich, irgendetwas hinter ihm zu erkennen, während ich gleichzeitig den Drang niederkämpfen muss, mich hinter dem Blonden zu verstecken. Zu meiner grenzenlosen Erleichterung scheint Jan jedoch allein unterwegs zu sein.
Gott – sei – Dank!

In der nächsten Sekunde weiß ich allerdings nicht, ob ich tatsächlich so erleichtert sein sollte, wie ich bin. Jans Gesicht ist von einem so überdimensional breiten und dreckigen Grinsen überzogen, dass man glatt Angst bekommen könnte.
„Nicht zu fassen“, meint er Kopf schüttelnd und nimmt dabei keine Sekunde lang den Blick von mir. „Der kleine Uwe auf Beutefang. Ich hab‘ schon auf der Tanzfläche gedacht, ich träume. Und dann schleppst du auch noch irgendeinen Typen im Darkroom ab!“

„Hm…“ Der Blonde sieht unsicher zu mir rüber. „Ich glaube, ich geh‘ dann mal.“

„Äh, ja, ich… wolltest du nicht...“ Scheinbar ist er jedoch nicht länger an meiner Nummer interessiert, so überstürzt, wie er sich an Jan vorbei aufs Licht zu flüchtet.

„Ich fass‘ es nicht“, wiederholt Jan, ohne einen weiteren Gedanken an den blonden Typen zu verschwenden. Dafür gefällt mir der Blick in seinen Augen immer weniger. „Und ich hab’s die ganze Zeit geahnt!“

Irgendwo hinter mir hat gerade wieder jemand einen Orgasmus und irgendein Patrick scheint irgendetwas Gottgleiches mit einem anderen anzustellen, so wie da gerade sein Name gewimmert wird. Die Röte kraucht mit doppelt so starker Intensität zurück in mein Gesicht, während mein Herz peinlicherweise etwas schneller zu schlagen anfängt. Allmählich lässt mich diese ganze Atmosphäre doch nicht mehr so kalt.
Ein weiterer Grund, warum ich nicht ausgerechnet mit Jan im Darkroom herumhängen und diskutieren will.

„Wie schön für dich“, sage ich lahm und will an ihm vorbei den Darkroom verlassen. „Aber lass uns das doch woanders –“

Seine Hand schiebt sich auf meinen Bauch und mit einem kräftigen Schubs befördert er mich mit dem Rücken gegen die nächste Wand. Ich habe kaum Zeit, zu blinzeln, da baut er sich vor mir auf und presst mich mit seinem Körper noch weiter gegen die Wand. Ein Bein zwängt er zwischen meine, so dass ich unweigerlich seine Erektion an meinem Oberschenkel spüren kann.

„Was zum Teufel tust du da?!“, will ich ein wenig erschrocken, mehr noch aber verärgert wissen. „Lass mich in Ruhe!“ Ich zwinge meine Arme zwischen uns, damit er mir nicht noch weiter auf die Pelle rücken kann, aber er schnappt sich einfach meine Handgelenke und zieht meine Arme wieder weg. Im nächsten Moment verschließt er auch schon meinen Mund mit seinem, um jeden aufkommenden Protest buchstäblich im Keim zu ersticken.
Ich glaub‘, ich spinne! Glaubt der etwa ernsthaft, ich hätte die Erektion letzten Sonntag seinetwegen bekommen?! Und dass mir das hier gefällt?!

Der Kuss ist grob und obendrein viel zu feucht. Unweigerlich drängen sich Erinnerungen an meinen Hund in mein Bewusstsein vor, so dass ich kurzzeitig zu abgelenkt bin, um auf seine Zunge zu achten. Die schlängelt sich nämlich gewitzt in meinen Mund hinein und beschert mir eine Gänsehaut der unangenehmen Art.
Zu Jans Glück zieht er sich gleich darauf auch schon wieder zurück, sonst hätte ich ihm wohl oder übel ein Stück von dem Ding abbeißen müssen.

„Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst“, meint er gelassen, nachdem er sich von mir gelöst hat. „Das, wofür du hierher gekommen bist, ist doch noch nicht passiert, oder?“ Provokativ reibt er seinen Oberschenkel an meinem Schritt.

Ich glaube, ich muss mich gleich übergeben.
„Nein! Aber das heißt noch lange nicht, dass es mit dir passiert! Geh‘ weg!“

„Ah“, meint er triumphierend. „Dann lieber mit Ingo?“

Unwillkürlich erstarre ich und mein Herz macht einen heftigen Sprung in meiner Brust. „Wieso Ingo?“, versuche ich, mich dumm zu stellen, woraufhin Jan lachend den Kopf schüttelt.

„Brauchst dich nicht rauszureden. Wenn ich’s nicht schon vorher geahnt hätte, hätte ich es spätestens letztes Wochenende gemerkt. Du hattest den Ständer schon vorher. Und was für einen! Ingo in Badeshorts muss dich ganz schön wahnsinnig gemacht haben.“

„Halt die Klappe!“, rutscht mir heraus und ich zerre unkoordiniert an meinen Armen. „Das geht dich nichts an.“

Unangetastet zuckt er mit den Schultern. „Doch, tut es. Nur dass der gute Ingo glaubt, du wärst scharf auf mich.“ Er kommt mit seinem Gesicht so nah an mich heran, dass sich um ein Haar unsere Nasenspitzen berührt hätten. „Und das sollte auch so bleiben. Schlag dir Ingo aus dem Kopf. Der gehört mir.“

„Ihr seid getrennt“, erinnere ich ihn trocken.

„Na und? Das ist kein Hindernis, wieder zusammenzukommen. Zumal wir sowieso noch miteinander schlafen.“

Autsch. Mist.
Ich hab‘ das zwar die ganze Zeit irgendwie gewusst, aber es so von ihm präsentiert zu bekommen, tut doch ganz schön weh.

„Schockt dich das jetzt?“, will er hämisch wissen.

„Lass mich los“, entgegne ich nur und sehe ihm dabei stur in die Augen.

„Wie lange stehst du denn schon auf ihn, hm?“

„Das werde ich dir ganz bestimmt nicht sagen, während du mich hier so festhältst!“ Vor allen Dingen, weil ich glaube, dass seinem Schwanz diese Situation sehr gut gefällt.

Er neigt leicht den Kopf zur Seite und zieht mit seiner Zunge eine feuchte Spur an meinem Hals entlang. Die Gewissheit, dass diese Berührung von ihm kommt, lässt mir einen eisigen Schauer über den Rücken laufen, während mein Blut gleichzeitig zu meiner Schande leicht in Wallung gerät. Dieser blöde Penner!

„Und wie lange bist du schon schwul? Das sah ja fast gekonnt aus auf der Tanzfläche.“ Wieder bewegt er seinen Oberschenkel. „Als hättest du’s sehr nötig. Soll ich dir da vielleicht behilflich sein?“

Ich bekomme eine Hand frei und drücke ihn an der Brust zurück, als er sich erneut zu mir rüberlehnt. Ich ertrage keinen weiteren Kuss von diesem Idioten.
„Nein, danke. Und jetzt geh‘ weg.“

„Du könntest dir vorstellen, ich wär‘ Ingo.“

Dieser Vorschlag wiederum bringt mich beinahe zum Lachen. Um mir das vorstellen zu können, müsste ich mehr als nur eine lustig machende Pille einwerfen. Jan und Ingo haben ungefähr so viel gemeinsam wie eine Kerze und ein Flammenwerfer.
Wo bei Ingo alles im Rahmen ist, ist bei Jan einfach alles drüber. Zu brutt, zu wuchtig, zu viel.
„Nein.“

„Und ich könnte das Ganze sogar mit sehr interessanten und vor allen Dingen realistischen Details füllen.“

Ich bin sicher, dass er das könnte. Aus seinem Mund will ich das aber ganz bestimmt nicht hören.
„Ich habe Nein gesagt.“

Um seine Mundwinkel herum zuckt es amüsiert. „Sag, Uwe. Wärst du lieber der aktive Part? Oder möchtest du lieber, dass Ingo dich fickt?“

Ich hasse es, wie sich seine Stimme bei seinen letzten Worten senkt. Gegen meinen Willen löst das ein ziemlich elektrisierendes Prickeln in meinem Nacken aus.

„Du hattest bestimmt noch niemanden mit einem PA, oder?“ Genießerisch schließt er die Augen und gibt anschließend ein versonnenes Stöhnen von sich. „Unglaublich.“ Dann sieht er mich wieder an. Ich bin unendlich froh darüber, dass hier drinnen so gut wie kein Licht herrscht. Mein Kopf glüht wie eine Verkehrsampel. „Du kannst es die ganze Zeit über spüren“, teilt er mir rau mit. „Wenn er sich aus dir zurückzieht“ – er macht eine kleine Kunstpause – „und wieder in dich stößt. Und wenn er damit deine Prostata streift…“ Der Rest des Satzes geht in einem weiteren Seufzen unter, das mir direkt in die Hose fährt.

Verdammter Mist.
Ich kann nichts dafür, aber die Bilder, die er da gerade in meinen Kopf pflanzt, erregen mich mehr, als es jeder noch so gute Porno je könnte. Weil ich dabei die ganze Zeit Ingo und mich vor meinem geistigen Auge sehe. Dass die Luft um uns herum angefüllt ist mit lautem Keuchen und hin und wieder einem verzückten Stöhnen, macht alles noch viel schlimmer.

Jan lacht leise und nimmt seine freie Hand, um damit in meinen Schritt zu fahren. Ich zucke leicht zusammen, als er über meine beginnende Erektion streicht, und ächze auf, als er durch die Jeans ein weniger fester zugreift.
„Ich sehe, der Gedanke gefällt dir.“

„Hör auf.“

„Wieso? Bin ich nicht so gut wie jeder andere hier im Club? Du willst Druck loswerden und ich bin gerade zufällig da und willig. Also?“

Er beugt sich über meine schwächer werdende Abwehr hinweg – irgendwie klingt es doch ganz logisch, was er sagt, oder? – und sucht wieder nach meinen Lippen. Mein Arm spannt sich noch einmal an.
„Ich küsse dich nicht.“

Jan schnauft. „Sei nicht albern.“

Er will sich wieder vorlehnen, aber ich bleibe dabei: „Ich mein’s ernst.“

Unvermittelt gräbt er seine Finger ein klein wenig fester um meine Erektion, so dass ich überrascht und ein wenig zittrig nach Luft schnappen muss. Jan nutzt diese Sekunde der Unachtsamkeit sofort aus, um meinen Mund wieder mit seinem zu verschließen und seine Zunge hervorschnellen zu lassen.
Dieser… Mistkerl!

Ich spanne meinen Arm wieder an und gebe mir erneut mehr Mühe, ihn von mir wegzuschieben. Nach einem kurzen Kampf kriege ich dann endlich auch den zweiten Arm frei. Trotzdem kommt es mir so vor, als würde Jan viel zu leicht nachgeben, als ich ihn von mir wegschubse. Vielleicht hat er endlich eingesehen, dass ich mit Nein auch tatsächlich Nein meine und nicht: ‚Mehr, bitte!‘

„Verdammt, was zur Hölle soll denn das?!“, blökt er dann allerdings wütend. „Ich bin hier gerade beschäftigt!“

Erst im zweiten Moment erkenne ich, dass nicht ich es bin, den er gerade anfährt, sondern die Gestalt, die etwas hinter ihm im Halbdunkel steht.
Oh Gott. Bitte lass das nicht wahr sein!

Jan scheint Ingo im selben Augenblick wie ich erkannt zu haben, denn er grinst wieder träge. „Ingo, du bist’s! Schau mal, wer sich mir da so aufreizend in die Arme geworfen hat.“

WAS?!
Ich bin zu geschockt, um zu protestieren. Allerdings weniger wegen Jans erneuter Verdrehung der Tatsachen, sondern wegen Ingos plötzlichem Auftauchen.
Wie viel von dem eben hat er mitbekommen? Aber ist ja im Prinzip auch egal. Ich wollte ihm ja eh alles sagen. Warum dann also nicht hier in diesem ekelhaften Darkroom mit Jans Geschmack auf meinen Lippen?

„Ingo…“ Ich mache einen zögerlichen Schritt nach vorne, bleibe dann aber wieder stehen, als hätte mich jemand an einem unsichtbaren Faden zurückgehalten.
Irgendetwas stimmt nicht. Die Atmosphäre um uns herum ist so eiskalt, dass man Frostbeulen bekommen könnte. Nervös versuche ich, in Ingos Blick oder in seiner Körpersprache zu lesen, aber dafür ist es leider nach wie vor viel zu dunkel und er steht zu weit von mir weg. Die Intensität seines Blicks auf mir spüre ich jedoch so deutlich wie eine Berührung. Meine Haut prickelt.

„Hab‘ ich dir nicht die ganze Zeit gesagt, dass der Kleine auf mich steht?“, faselt Jan und schlendert zu Ingo rüber, um ihm ganz nebenbei einen Arm um die Hüfte zu legen. Das heißt, für Ingo soll das wohl ganz nebensächlich aussehen. Für mich sieht es aus wie: ‚Meins! Finger weg!‘
„Was meinst du? Vielleicht sollten wir ihm zusammen ein bisschen was beibringen, hm?“

„Halt die Klappe, Jan“, höre ich Ingo leise sagen. Trotzdem ist das Knurren auch bei dieser Lautstärke mehr als deutlich zu verstehen.

„Was denn? Seit wann magst du denn keine Dreier mehr? Das wird geil! Du vögelst mich und ich –“
Ingo schubst Jan zur Seite, dreht sich auf dem Absatz um und geht.
„Hey, Mann! Was soll das denn?“

Während Jan noch verdattert in der Gegend rumsteht, nehme ich schon die Beine in die Hand und laufe Ingo hinterher. Zumindest ein paar Schritte lang, denn dann geht ein reißender Ruck durch meinen Arm, als Jan mich packt und zurückhält.

„Lass ihn.“

Ich rupfe meinen Arm frei. „Nein!“

„Er gehört mir!“

„Das sah gerade aber nicht so aus.“
Ich weiß zwar nicht genau, wonach es überhaupt ausgesehen hat, aber ganz bestimmt nicht danach, dass Ingo noch irgendetwas für Jan empfindet.
Es hat eher danach ausgesehen… als wäre er nicht mit dem klargekommen, was… ich hier mache…
Aber warum? Weil ich nicht auf ihn und seinen behämmerten Rat gehört habe? Weil ich ihn damit enttäuscht habe? Oder weil er sich so sehr an seine verkorkste Beziehung mit dem Hetero erinnert gefühlt hat?
Vielleicht hat er inzwischen auch mitbekommen, dass ich schon länger schwul bin und nur zu feige gewesen bin, mich zu outen? Vielleicht kann er mir das nicht verzeihen? Weil er selbst damit so umgeht wie… ganz normal eben?

Bevor Jan noch einmal die Gelegenheit hat, mich zu packen, flitze ich aus dem Darkroom raus. Ich muss tatsächlich verhältnismäßig lange da drin gewesen sein, denn als ich auf einmal wieder im Tanzsaal stehe, ist die Musik erstens wesentlich lauter und das Licht erscheint mir hier auch gleich um einige Nuancen heller zu sein. Es brennt beinahe etwas in den Augen.

Hektisch sehe ich mich nach Ingo um, beschließe dann aber instinktiv, mich so schnell wie möglich zum Ausgang vorzukämpfen.
Tatsächlich erwische ich ihn zwanzig Schritte vom Eingang entfernt. Offenbar ist er gerade auf dem Weg zur U-Bahn, als ich ihm mitten in den Weg springe.

„Ingo! Warte!“, bringe ich keuchend hervor und halte ihn zusätzlich an den Oberarmen fest, was er ohne jede Gegenwehr mit sich machen lässt. Völlig teilnahmslos. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, liegen seine hellbraunen Augen mit einem sehr seltsamen Blick auf mir, der mir ein wenig die Kehle zuschnürt. Trotzdem bringe ich heraus: „Es tut mir Leid.“

Er seufzt schwer. „Und was genau tut dir Leid, Uwe? Dass du nicht auf mich gehört hast und ich Recht hatte?“

„Nein.“ Ich hole tief Luft, schließe kurz die Augen und sage es dann einfach: „Ich bin schwul.“

Das Herz schlägt mir bis zum Hals und das Blut rauscht so laut in meinen Ohren, dass ich Angst habe, seine nächsten Worte gar nicht mitzubekommen. Dabei ist das gerade absolut überlebenswichtig!
Und völlig unbegründet.
Seine Mundwinkel verziehen sich nämlich in kaum zu übersehender Verärgerung nach unten und er schüttelt meine Arme ab.

„Was?! Was zum Teufel redest du da?“

„Ich weiß. Es tut mir so Leid, dass ich es dir erst jetzt sage, aber… aber…“ Gott, jetzt bloß nicht ins Stammeln geraten! „…dazu gehört eine Menge Mut… für mich. Und du –“

„Du kannst doch nicht wirklich glauben, nur weil du ein bisschen mit Jan rumgefummelt hast, dass du jetzt schwul bist!“

„Äh, nein! Nein, das verstehst du falsch. Ich bin nicht erst jetzt schwul. Ich weiß das schon seit sieben Jahren.“

Ingo sieht aus, als hätte ihn gerade ein Blitz getroffen.

„Das… kommt jetzt sicherlich überraschend für dich“, fasle ich nervös, weil ich mit seiner nicht vorhandenen Reaktion so gar nichts anfangen kann. Wenn er glücklich oder wütend oder zerstreut wäre… ja, damit könnte ich umgehen. Aber er starrt mich an, als hätte sein Gehirn spontan sämtliche Verbindungen zu seinem Körper gekappt.
„Ingo?“, hake ich vorsichtig nach.

Er schüttelt leicht den Kopf, als wollte er einen unliebsamen Gedanken abschütteln. „Du bist also seit sieben Jahren hin und her gerissen und glaubst jetzt durch das, was da gerade mit Jan passiert ist, schwul zu sein?“

Langsam atme ich aus. „Nein. Ich weiß, dass ich auf Männer stehe, seit ich fünfzehn bin. Sicher.“
Ich weiß nicht genau, warum bei diesen Worten meine Stimme so zittern muss. Liegt vielleicht daran, dass Ingo mich immer noch mit diesen nicht einzuordnenden Blick ansieht.
„Es tut mir Leid“, wiederhole ich noch mal zur Vorsicht, ohne so recht zu wissen, wofür ich mich entschuldige. Am wahrscheinlichsten für die mehrere Monate andauernde Lüge, die ich ihm aufgetischt habe, weil ich den Mund eben nicht früher aufbekommen habe.

Ingo sieht mich mit leicht schräg gelegtem Kopf an, als könnte ihm das dabei helfen, seine Perspektive zu ändern und mir zu glauben. Dann schüttelt er aber doch wieder den Kopf und murmelt: „Ich… muss jetzt nach Hause.“

Das ist absolut nicht das, was ich mir von der Wahrheit erwartet habe. Und es schießt mir direkt ins Herz.
„Nach… Hause?“

„Ja.“

„Aber… ich…“
Aber ich – was?
Habe ich vielleicht wirklich geglaubt, ich sage Ingo einfach, dass wir zufällig auf dasselbe Geschlecht stehen und ihm geht auf, dass wir dann ja auch gleich praktischerweise zusammenkommen könnten? Dass er mich auf der Stelle in seine starken Arme reißen und mich um den Verstand küssen wird? Wie in meiner sehr farbenfrohen und abgedrehten Phantasie?
Mist, wie blöd bin ich eigentlich?

„Wir sehen uns in der Uni.“

„In… der Uni“, wiederhole ich dumpf. „Ja, genau.“

Ich könnte heulen, als ich ihm hinterher sehe, wie er weiter zur U-Bahnstation geht.
Ohne sich auch nur ein einziges Mal zu mir umzudrehen.

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Hallo zusammen!

So, hier haben wir also nun den zweiten Teil von Traumtelefon – jetzt folgt nur noch einer! Was Kurzes für Zwischendurch eben ;)

Leider habe ich es neben Warteschleife nicht geschafft, eure Kommentare zu beantworten, aber ich freue mich riesig darüber, dass diese kleine Spinnerei so großen Anklang findet :)
Danke schön an alle fürs Kommentarschreiben, Lesen und Favorisieren!

lg
- SnowWhite
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