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Das Traumtelefon

Kurzbeschreibung
GeschichteLiebesgeschichte / P18 / MaleSlash
17.09.2010
15.10.2010
3
26.185
49
Alle Kapitel
114 Reviews
Dieses Kapitel
49 Reviews
 
 
17.09.2010 9.021
 
Hallo zusammen!

Zu dieser Geschichte gibt es eine kleine Vorgeschichte, die ich kurz erzählen möchte. Es würde mich freuen, wenn ihr euch ebenfalls kurz die Zeit nehmt, sie zu lesen – eventuell kann man die Geschichte dann aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachten :)

Das „Traumtelefon“ ist ein Spiel aus den 80/90igern, das eigentlich für… na ja, zwölf-, dreizehnjährige Mädchen konzipiert wurde. Es geht darum, am schnellsten von seinen Mitspielerinnen herauszufinden, wer von den 24 Jungen auf dem Spielbrett derjenige ist, der dich mag. Um das herzufinden, muss man alle Jungs durchtelefonieren und sich Hinweise geben lassen, wer es nicht ist. Quasi ein Ausschlussverfahren.

Na ja, nach der Animagic jedenfalls saßen wir da so zusammen, haben dieses phantastische Spiel gespielt und plötzlich angefangen, herumzuspinnen und diese überaus „coolen“ Typen, die einem da zur Auswahl angeboten worden sind, miteinander zu slashen *lol* Das passendste Pärchen, das am Ende dabei herausgekommen ist, ist Uwe und Ingo (nein, dieses Mal bin ich also nicht für die Namen verantwortlich XD“), deren Geschichte jetzt irgendwie erzählt werden wollte – von den anderen *möp*
Und so würde ich genötigt, Ingo und Uwe ein wenig Leben einzuhauchen.
Allerdings nur unter der Auflage, dass die liebe Fairy (bzw. Mrs. Rabbit) ein paar vernünftige Kerle dazu zeichnet, weil jegliche Phantasie bei den vom Spiel zur Verfügung gestellte Fotos augenblicklich gestorben ist.

Als sie die Bilder fertig hatte, gab es selbstverständlich kein Zurück mehr… Aber das Schreiben ging dann auch gleich viel besser :D

Daher ist Traumtelefon insbesondere Fairy, Aisu, Marion, Saski und Julia gewidmet.

Die schönen Bilder von Fairy (Ingo und Uwe) möchte ich euch natürlich nicht vorenthalten – ebenso wenig wie eine Auswahl der „schicken“ Typen vom Traumtelefon (http://img841.imageshack.us/img841/185/sidecharasklein.jpg). Ich verlinke sie bei Gelegenheit hier für euch.

So, und nun… viel Spaß beim Lesen :)




DAS TRAUMTELEFON





-- Teil 1 --


„Flunkyball!“, dröhnt Ingo durch die Dunkelheit. Gleich darauf poltert er wenig elegant die vier  hohen Stufen vom Garten in meine Kellerwohnung hinunter und flucht wie ein Seemann, als er sich den Fuß stößt. „Uwe!“, krakeelt er dann. „Gibt’s denn hier kein verdammtes Licht, oder was?! EY! Wo zum Henker steckst du? Pennste etwa schon?“

Schön wär’s. Wenn ich pennen würde, hätte ich vor fünfzehn Minuten mein Essen nicht wieder rückwärts von mir geben müssen. Wenn ich pennen würde, gäbe es keinen Grillabend in meinem kleinen Garten, der irgendwie in ein Saufgelage umgeschlagen ist. Wenn ich pennen würde, würde ich hier jetzt nicht in meiner dunklen Küche sitzen, Wasser nippen und mir den Kopf halten, als hinge er am seidenen Faden. Eine unbedachte Bewegung, und mein Köpfchen spielt rollende Bowlingkugel auf Strike-Kurs.

Leichtfüßig wie ein Elefant tastet Ingo sich durch meinen schmalen Wohnungsflur und bevor er noch mehr Lärm auf der Suche nach mir veranstaltet, krächze ich: „Küche.“
Grandios. Da hätte ich mir das Versteck spielen auch schenken können, wenn sich meine Stimme immer noch so erbärmlich anhört, als würde ich noch würgend über der Kloschüssel hängen.

Im nächsten Moment sehe ich Ingo um die Ecke wanken, oder besser gesagt: seinen Umriss. In der ganzen Wohnung brennt nämlich kein Licht, damit keine Mücken oder sonstiges Viehzeug hinein gekraucht kommt, und draußen brennen nur ein paar Kerzen, weil es in dem kleinen und – zugegeben – sehr verlotterten Garten keine Lampen gibt. Es gäbe ja nicht einmal einen Grill, wenn Sven den stinkenden Einweggrill nicht mitgebracht hätte.
Ich halte mich nicht besonders häufig im Garten auf, der mehr aus Unkraut und dahinwuchernden Büschen und Bäumen, denn aus einem wirklichen Garten besteht. Meine Vormieter und mit Sicherheit auch deren Vormieter haben das Stückchen Grund schon so vernachlässigt, dass eine ganze Armada von Gärtnern vorbeikommen müsste, um den Dschungel in etwas Zivilisiertes zu verwandeln. Und das kann ich mir einerseits nichts leisten und andererseits wäre es auch eine vollkommene Zeit- und Geldverschwendung, da ich den Garten – wie gesagt – nur höchst selten nutze.
Womit wir wieder bei der Ausgangsfrage wären: Warum zum Henker gibt es einen Grillabend in meinem Garten, der in ein solches Saufgelage umgeschlagen ist, so dass ich mich noch vor zwölf übergeben musste?

„Was verkriechste dich denn hier?“, will Ingo wissen und steuert mit leichten Gleichgewichtsstörungen auf mich zu.

Am liebsten hätte ich ihm einen Stuhl angeboten, damit er nicht plötzlich umfällt, aber meine Kücheneinrichtung besteht aus exakt zwei Stühlen – und die stehen beide draußen, damit sich meine Gäste beim Essen wenigstens hinsetzen können. Zwei haben sich schon auf dem Rand eines Blumenkübels ohne Blumen, aber dafür mit sehr viel Grünzeug in allen Wucherstadien niederlassen müssen.

„Brauchte gerade mal ein bisschen Ruhe“, sage ich bedächtig, nachdem ich mich unauffällig geräuspert habe. „Und Wasser“, füge ich noch hinzu und hebe kurz mein Glas an.

Ingo beäugt mich skeptisch. „Wasser? Sven will gleich noch Flunkyball spielen.“

„Ich habe es gehört.“

Ingo grinst betrunken. „Das hab‘ ich bestimmt schon seit fünf Jahren nicht mehr gespielt.“

„Die Regeln haben sich sicher nicht geändert.“ Und falls doch, wäre es sowieso egal gewesen, denn das Ziel eines jeden Saufspiels ist und bleibt wohl auf ewig das Gleiche. „Dann müssen wir gleich mal den Tisch an die Seite stellen und die Stühle reinholen.“

„Hm? Ach was.“ Ingo macht eine wegwerfende Handbewegung. „Wir spielen das vorne auf der Straße. Wohnst doch nicht umsonst inner Dreißigerzone!“

„Wo überall Autos parken“, füge ich ermahnend hinzu. „Ergo kein Flunkyball.“

„Ergo!“, kichert Ingo begeistert, als hätte ich gerade den urkomischsten Witz erzählt, den er jemals gehört hat. „Mann, du bis‘ definitiv schon wieder viel zu nüchtern! Komm!“ Seine Hand schiebt sich in meine Ellenbogenbeuge. „Wir besorg’n dir jetz‘ erst ma‘ noch ‘n Bier und dann sin‘ dir ergo auch die Autos egal!“

Er zieht mich vom Küchentresen weg und ich habe einige Schwierigkeiten, mich seiner Hand nicht zu entziehen. Nicht, weil mir das unangenehm ist – eher das Gegenteil. Das komplette Gegenteil. Was schon immer mein Problem gewesen ist. Allein schon aus Gewohnheit gehe ich nahezu jeder männlichen Berührung aus dem Weg. Einfach, weil ich seit ungefähr sieben Jahren Angst habe, dass darin irgendjemand mehr erkennen könnte. Sogar wenn mich andere Männer anfassen und es definitiv nicht von mir ausgeht. Aber es entspricht nun mal der Wahrheit, dass mir jede männliche Berührung lieber ist als die von Frauen. Und gerade die von Ingo würde ich viel lieber häufiger und intensiver spüren.
Und an anderen Stellen.

Das Dumme daran: Theoretisch wäre es sogar möglich. Denn Ingo ist genauso schwul wie ich. Allerdings geht er damit ganz anders um, während es mir immer noch in den Knochen steckt, mich zu verstecken und als jemand auszugeben, der ich gar nicht bin. Obwohl Hamburg definitiv kein Vergleich zu meiner Zehntausend-Seelen Heimatstadt ist, wo darüber hinaus an jeder Ecke meine Eltern hätten lauern können.
Jetzt bin ich in einer Großstadt, wohne allein in einer vierzig Quadratmeter Souterrainwohnung und könnte tun und lassen, was ich will.
Trotzdem bin ich immer noch nicht geoutet.

Ich habe irgendwie immer auf den richtigen Moment gewartet, das vor meinen Kommilitonen zu tun. Ich habe es mir so fest vorgenommen. Aber jedes Mal ist dann irgendwie wieder was dazwischen gekommen. Zuletzt ist das Ingo gewesen. Er geht so offen und so normal mit seiner Homosexualität um, dass ich mir regelrecht bescheuert vorkomme, das zu verstecken.
Genauso bescheuert wäre es allerdings, sich nach acht Monaten plötzlich zu outen. Frei nach dem Motto: ‚Ach, übrigens…‘ Ingo kenne ich zwar erst seit etwa einem halben Jahr, aber das macht es auch nicht leichter. Irgendwie habe ich den Moment verpasst, den Mund aufzumachen.

Und darum ist es eigentlich sogar doppelt so schwer, jedwede Berührung von Ingo zu ertragen.
Auf der einen Seite will ich das so sehr, auf der anderen kann ich das nicht so richtig zeigen. Aber ich will ihn auch nicht kränken, indem ich ihm die mimosenhafte Hete vorspiele, die Angst hat, sich mit Homosexualität anzustecken.
Eine sehr anstrengende Situation.

„Ey, Sven!“, grölt Ingo durch den Garten. „Wirf‘ ma‘ noch ‘n Bier für Uwe rüber. Un‘ dann wird zusammengepackt und Flunkyball gespielt!“

Obwohl mein restlicher Besuch ungefähr mit Ingos Alkoholpegel mithalten kann, ist der Garten trotzdem ruckzuck in einen halbwegs passablen Zustand gebracht worden. Keine zwanzig Minuten später stehen wir zu meinem Leidwesen mit fünf Mann und zwei Frauen auf der Straße vor meinem Haus. Natürlich bin ich doch gezwungen worden, mitzumachen. Die zwei Gruppen sind etwas ungleich aufgeteilt, aber hierbei geht es im Grunde ja auch nicht ums Gewinnen. Man kann gar nicht gewinnen. Außer am nächsten Tag einen dicken Schädel.
Bah, wenn ich das Bier nur rieche, könnte ich mich wieder übergeben. Wenigstens bin ich mit Ingo in einer Gruppe.

„Fertig!“

Sven positioniert penibel eine leere Plastikcolaflasche genau in der Mitte zwischen den zwei Gruppen. Mehr oder weniger geduldig wartet Ingo, bis er wieder seinen Platz bei seiner Gruppe hinter seiner Bierflasche eingenommen hat, dann visiert er mit dem Tennisball in seiner Hand die Colaflasche an und schmettert ihn drauf zu. Die Flasche fliegt polternd durch die Gegend und unsere Mannschaft schüttet sich das Bier in den Rachen, während die gegnerische Mannschaft hinter dem Ball und der Flasche her hechtet.

Mir schmeckt mein Bier schon nach dem ersten Zug nicht mehr und schäumt zudem noch, weil Sven die Flasche vorhin noch durch die Luft geworfen hat. Prustend setze ich sie ab, da hat Ingo sein Bier schon beinahe zur Hälfte geleert. Er setzt nur kurz ab, um mir aus dem Mundwinkel: „Weiter!“, zuzuzischen.

Super. Das kann ja noch ein lustiger Abend werden.



***



Am nächsten Morgen geht es mir jedoch erstaunlich gut.
Natürlich ist es mir schon mal besser gegangen, aber dass ich direkt nach dem Aufwachen nicht wieder über der Toilette hänge, ist nach dem Abend im Ranking definitiv ein ‚gut‘. Liegt vielleicht daran, dass ich gestern schon einen Großteil des Alkohols wieder losgeworden bin.

Ich bin nicht sonderlich trinkfest, was zweifellos daran liegt, dass ich darin keine große Übung habe. Ich würde mich ja gerne als Sportler bezeichnen, der sich aus Rücksicht auf seine Leistungsfähigkeit zurückhält, aber spätestens, seit ich nach Hamburg gezogen bin, komme ich kaum noch dazu, Sport zu machen. Schon gar nicht dazu, surfen zu gehen. Aber hier wäre es auch nicht dasselbe wie an der Ostsee. Meine Eltern wohnen beinahe direkt am Strand und wenn das Wetter mitgespielt hat, bin ich ständig mit Freunden und meinem Hund draußen am Meer und im Wasser gewesen.

Zugegeben, ein bisschen fehlt mir das schon.
Andererseits ist es eine schöne Entschädigung, dass ich stattdessen Ingo beim Schlafen zusehen kann. Der ist gestern nämlich auf meiner Schlafcouch zusammengebrochen und hat es nur gerade so geschafft, sich aus seinen Klamotten zu schälen. Mit anderen Worten: Sein Oberkörper ist nackt und die Jeans hängt ihm irgendwo in den Kniekehlen.
Sähe ganz schön versaut aus, wenn die schwarzen Pants nicht wären.
Oh, wie ich mir wünsche, sie wären nicht da.

Ich spüre, wie mein Gesicht bei dem Gedanken daran ganz heiß wird und nehme schnell einen Schluck Kaffee aus meiner Tasse, als könnte mich das innerlich abkühlen.
Ich hasse das. Bei Mädchen mag es ja süß sein, wenn die ständig leuchten wie eine rot geschaltete Ampel. Ich hätte lieber eine etwas besser kontrollierbare Gesichtsfarbe.

Ich wage es, mich auf meinem Schreibtischstuhl ein paar Zentimeter dichter an Ingo heran zu rollen. Immerhin bekomme ich nur höchst selten die Gelegenheit, ihn einmal so ausgiebig zu mustern. Meistens weiß ich es zu vermeiden, dass er bei mir übernachtet. Viel zu gefährlich. Aber gestern hätte er es in seinem Zustand höchstens noch bis unters nächste Auto geschafft, nie und nimmer jedoch bis nach Hause.

Im Gegensatz zu mir kann Ingo bedenkenlos als Sportler bezeichnet werden. Sein ganzer Körper ist so fest und trainiert, dass ich regelrecht dahin schmelze, wenn ich mir vorstelle, von seinem Gewicht in die Matratze gedrückt zu werden.
Oder irgendwo anders hin.
Am besten gefallen mir seine Arme, was vermutlich auch kein Wunder ist, weil seine Leidenschaft dem Tennis gilt. Es steckt eine unglaubliche Kraft in ihnen und nur einmal – einmal – möchte ich, dass er mich an sich reißt, mit seinen starken Armen festhält und mich mit seinem wundervollen Mund um den Verstand küsst.
Noch so ein phantastisches Attribut an ihm. Sein Mund.

Volle, sinnliche Lippen, die die meiste Zeit des Tages über zu einem Sonnenscheinlächeln verzogen sind.
Mich grinst er auch oft an. Und ich bekomme jedes Mal schlimme Herzrhythmusstörungen dabei. Dummerweise kann ich mir darauf überhaupt nichts einbilden, weil Ingo mit seinem Lächeln so ziemlich jeden beglückt.

Mein Blick streift kurz über sein wirres braunes Haar hinweg und dann schnell wieder zu seinem Oberkörper, ehe das Jucken in meinen Fingerspitzen zu stark wird und ich dem Drang nachgebe, durch die Strähnen zu streichen.
Stattdessen möchte ich ihn jetzt allerdings an anderen Stellen anfassen. Über seine glatte Brust streicheln, den flachen Bauch entlang, der Spur aus feinen Härchen nach und direkt in seine Pants hinein.
Mist.
Aber er liegt ja auch da wie hingegossen! Da soll mal ein lebender Mensch gleich welcher sexuellen Orientierung widerstehen! Dazu müsste man schon tot oder jenseits der neunzig sein.

Gott, ich möchte mir immer noch für mein rückgratloses Angsthasendasein in den Hintern beißen. Wenn ich geoutet wäre, wäre ich mit Sicherheit zumindest schon mal in das Vergnügen gekommen, ihn zu küssen. Einfach so.
So wie er das ständig mit Jan macht. Seinem Ex. Im Guten getrennt.
Ich weiß nicht, was daran gut sein soll, wenn die einem immer noch Grund zu der Annahme geben, zusammen zu sein. Oder hin und wieder noch eine Runde rumzuvögeln. Weil’s ja so schön gewesen ist und um der guten alten Zeiten willen. Was weiß ich.
Ich kann Jan jedenfalls nicht leiden. Noch viel weniger, weil er ständig mit irgendwelchen Details um sich werfen muss, die ich gar nicht wissen will und die das Anschmachten noch schlimmer machen oder jede Phantasie aus dem Ruder laufen lassen.

Bei dem Gedanken daran wandern meine Augen wieder hinab zu Ingos Pants, unter denen sich sein Penis abzeichnet.
Ich habe noch nie am lebenden Objekt ein Prinz-Albert-Piercing gesehen…

Oh Mann, Uwe… Diese Bilder wirst du nie wieder los. Und wenn ich nicht noch mal unter die Dusche springen will, sollte ich jetzt wirklich damit aufhören, ihn anzustarren.
Na ja, einmal noch.
Mit Blicken taste ich mich wieder an seinem Körper nach oben und versuche mir dabei gleichzeitig vorzustellen, wie sich seine Haut unter meinen Händen wohl anfühlen könnte. Dann ist mein Hirn plötzlich blockiert, als ich, bei seinem Gesicht angekommen, in ein paar Augen blicke.
Offene Augen. Die mich ansehen.
Zwei Sekunden.
Zehn.

„Morgen“, grinst Ingo breit, was mich wie mit einem Pistolenschuss aus meiner Trance reißt.

Ich zucke auf dem Stuhl so heftig zusammen, dass ich mir prompt Kaffee über die Jeans kippe.
„Au!“ Ich springe vom Stuhl auf und fuchtle mit der Kaffeetasse durch die Luft. „Mist! Heiß!“

„Danke.“

„Was?“ Mein Herz hämmert wild, was mich für einen Moment die heiße Suppe auf meinen Oberschenkeln vergessen lässt. „Du doch nicht. Ich meine… der Kaffee!“, hasple ich und stelle endlich die Tasse weg, um anschließend in die Küche zu flüchten.

„Ausziehen hilft vielleicht“, bemerkt Ingo trocken aus meinem Wohnschlafzimmer. Meine Wohnung besteht nur aus einem Zimmer plus Küche und Bad.

„Haha, sehr lustig!“, rufe ich aus der Küche zurück, während ich gleichzeitig ein Geschirrtuch in eiskaltes Wasser tränke und anschließend auf meinen rechten Oberschenkel drücke; der hat am meisten abbekommen. „Vielleicht solltest du dich erst einmal anziehen!“

Als ich Schritte hinter mir höre, drehe ich leicht den Kopf. Inzwischen hat Ingo es geschafft, sich die Jeans vernünftig anzuziehen, sein Oberteil scheint aber immer noch verschollen zu sein. Sein Lächeln auch. Er guckt ziemlich grimmig.

„Sorry, wollt‘ dir nicht zu nahe treten.“

Das klingt ziemlich unterkühlt und ich habe sofort ein schlechtes Gewissen. „Bist du nicht. Es ist nur…“ Unbeholfen breche ich ab. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich mich erklären soll.

„Gibt’s noch Kaffee?“, ignoriert Ingo meinen kläglichen Versuch einfach und bedient sich in der Zwischenzeit schon mal am richtigen Küchenschrank mit einer Tasse. Unglaublich, wie gut er sich hier schon auskennt. Als würde er öfter mal die Nacht hier verbringen. Wie ein fester Freund.
Verflucht.

„In der Kanne“, antworte ich matt und nehme das Tuch von der Jeans, um den Schaden zu begutachten. Eindeutig ein Fall für die Waschmaschine.
Ich werfe einen schnellen Blick zu Ingo rüber, der sich gerade Kaffee einschenkt. „Ich zieh‘ mir mal schnell eine andere Hose an“, kündige ich an und will damit tatsächlich erreichen, dass er mir nicht nachkommt.

Es macht mich nervös, wenn er mit mir zusammen in einem Raum ist – noch dazu in meinem Wohnschlafzimmer! – und wir nur halb bekleidet sind. Ich weiß natürlich, dass er sich nicht augenblicklich auf mich stürzen würde – ha! Welchen Grund gäbe es dazu auch? – und dass ich ihn wahrscheinlich nicht mal sonderlich anmache, wenn er vorher mit einem Typen wie Jan zusammen gewesen ist. Aber andererseits weiß ich auch, wie ich andere halb nackte Männer ansehe. Man guckt halt immer mal irgendwie.
Und wenn ich weiß, dass Ingo mich irgendwie mustert, während ich mich einfach nur umziehe… puh, da wird mir ganz anders.

Ingo scheint meinen Wink mit dem Zaunpfahl verstanden zu haben, weil ich tatsächlich unbehelligt bleibe. Ich schlüpfe in eine saubere Hose, stopfe die eingesaute Jeans in den Wäschesack und schnappe mir dann meine Kaffeetasche vom Schreibtisch, um damit in die Küche zurückzukehren.
Ingo hat es sich inzwischen am Küchentisch mit einer Schale Cornflakes gemütlich gemacht. Immer noch oben ohne.
Mann, ein bisschen Rücksicht wäre hier nicht verkehrt gewesen.

Ich erlaube mir einen kurzen, schmachtenden Blick auf seine schicken Oberarme und setze mich dann nur mit meinem Kaffee zu ihm.
„Ist dir gar nicht schlecht?“

„Hm? Wieso?“

Verdutzt runzle ich dir Stirn. „Wegen der paar Liter Alkohol von gestern, zum Beispiel?“

Er zuckt mit den Schultern. „Nee. Hatte ja eine vernünftige Grundlage und so viel war’s nun auch wieder nicht.“

„Du bist auf meiner Couch zusammengebrochen und mitten beim Ausziehen eingeschlafen.“

„Ja.“ Er rührt in seinen Cornflakes herum. „Tut mir Leid.“

„Blödsinn. So meinte ich das doch nicht. Du kannst… natürlich kannst du jederzeit hier übernachten.“

„So lange ich es nur nicht halbnackt tue?“ Er hebt den Blick an und begegnet meinem. Wenn sein Tonfall nicht schon so frostig gewesen wäre, hätte ich es spätestens jetzt an seinen Augen erkannt. Da könnte man sich glatt Frostbeulen holen. „Ich dachte, wir kennen uns jetzt lange genug, damit du weißt, dass das weder ein Verführungsversuch noch eine Provokation sein sollte. Ich war einfach nur… ausgeknockt.“

Das schlechte Gewissen tritt mir wieder einmal schmerzhaft auf die Füße, so dass ich mich so gut es geht hinter meiner Kaffeetasse verstecke. Da ist sie wieder, diese elendige Feigheit. Aber verrate mir doch mal bitte einer, wie ich jetzt mal eben so nebenbei einstreuen soll, dass ich auch schwul bin?

„Das weiß ich doch. So habe ich es auch gar nicht aufgefasst. Ich… ich hab‘… es macht mir nichts aus, dass du… auf Männer stehst.“ Das ist ein Segen für mich! Wenn ich nur nicht das Rückgrat eines Regenwurms hätte!

Ingos Mundwinkel zucken. „Gut. Es macht mir auch nichts aus, dass du auf Frauen stehst.“

Ein wenig unbeholfen erwidere ich das Schmunzeln. Sonst hätten wir uns wohl auch kaum miteinander angefreundet. Obwohl es – so im Nachhinein betrachtet – vermutlich unbewusst mein Gaydar gewesen ist, das da angeschlagen hat. Ziemlich heftig angeschlagen hat, und nur kurz darauf mein Herz.

„Aber mal im Ernst, Uwe.“

Ingo schiebt die leere Cornflakesschüssel etwas von sich und fixiert mich. Ich verbiete mir, mich in seinen Augen zu verlieren, und versuche stattdessen fieberhaft, mich auf das zu konzentrieren, was er mir sagen will. Immer, wenn ich so direkt in seine Augen blicke und sie so nah vor mir sind, kann ich der Versuchung nicht widerstehen, nach den faszinierenden grünen Sprenkeln in dem hellen Braun zu suchen. Idiotischerweise habe ich mir schon mal die Frage gestellt, ob die Punkte immer an derselben Stelle sind. Ich kann’s beim besten Willen nicht sagen, weil ich jedes Mal wieder vergessen habe, wo sich die Sprenkel beim letzten Mal befunden haben. Irgendwas lenkt mich immer ab.

„Ich hatte schon mal was mit einer Hete, die mal ein bisschen rumprobieren und gucken wollte, ob sie nicht vielleicht doch schwul ist. Und ganz ehrlich? Das ist mir zu anstrengend. Du bist also ziemlich sicher vor mir.“

„Sicher“, wiederhole ich lakonisch und spüre einen ekelhaft zähen Klumpen in meinem Magen.

„Jepp.“ Ingo nickt, ehe er mir verschwörerisch zuzwinkert. „Außerdem hat mir Sybille gestern erzählt, dass sie dich ganz süß findet. Da will ich mich ganz bestimmt nicht einmischen.“

Auch das noch…!
„Sybille“, plappere ich wieder nach und fühle mich mit jeder Sekunde hilfloser. Wie vertrackt kann eine Situation denn noch sein, bitte?!

„Ganz genau.“ Ingos Blick wandert zur Küchenuhr hinüber. „So, ich muss mich dann auch langsam mal auf den Weg machen. Bin nachher noch mit Sven zum Tennis verabredet.“

„Hm-hm.“

Er steht auf und verschwindet in meinem Wohnschlafzimmer. In derselben Sekunde lasse ich meinen Kopf auf die Tischplatte sinken.
Verdammter Mist.
Selbst wenn ich jetzt von irgendwoher den Mut zusammenkratzen könnte, mich doch noch zu outen, würde Ingo mir niemals abnehmen, dass ich tatsächlich schwul bin. Schon seit ich fünfzehn bin. Seit sicheren sieben Jahren! Aber für ihn wären das dann wahrscheinlich unsichere sieben Jahre, in denen ich den Gedanken ans Schwul- oder Bi-Sein in meinem Kopf umher gewälzt habe, nur um dann jetzt in der Phase des Rumprobierens angekommen zu sein.
Und anschließend geht’s zurück in die heterosexuelle Welt.

„Kommst du…“, reißt Ingo mich da unvermittelt noch einmal aus meinen trübsinnigen Gedanken, so dass ich schnell meinen Kopf von der Tischplatte hochreiße. Da Ingo allerdings schon im Türrahmen steht, hat er die verzweifelte Geste mit Sicherheit schon gesehen. „Alles klar bei dir?“, fragt er dann auch sogleich und kommt noch mal zu mir an den Tisch. In seinen Augen liegt ein Hauch von Besorgnis, der mich den kurzen Streit von eben schon wieder völlig vergessen lässt und für den ich ihn auf der Stelle umarmen möchte. „Immer noch der Alkohol?“

„Nee. Doch“, korrigiere ich mich hastig, weil das mit Abstand die einfachste Antwort ist. „Furchtbarer Kater.“ Ich presse mir dir Finger gegen die Schläfe. „Nie wieder Alkohol.“

Ingo schnaubt. „Wenn ich jedes Mal fünfzig Cent bekommen würde, wenn ich diesen Satz höre…“ Er sieht sich in der Küche um. „Hast du Kopfschmerztabletten da?“

„Hm, ja, irgendwo.“ Warum ist er bloß so unendlich lieb zu mir? Wie zum Henker soll ich mich denn da einigermaßen zusammenreißen können? „Aber lass mal. Ich such‘ gleich selbst. Du wolltest doch zum Tennis.“

Er macht eine abwinkende Handbewegung und fängt schon an, meine Schubladen zu durchsuchen. „Sven kann ruhig etwas auf mich warten. Dann ist er gleich zu Beginn des Spiels unkonzentriert, weil er sauer auf mich und meine Unpünktlichkeit ist.“ Diese Tatsache scheint ihn unheimlich zu belustigen, so wie er dabei grinst.

„Der Schrank über dir“, werfe ich ein, nachdem er gerade die zweite Schublade nach erfolgloser Suche geschlossen hat. „Nennt man so was nicht unfaire Spielmethoden?“

„Wieso? Er muss sich ja nicht aufregen“, meint Ingo achselzuckend und füllt mir ein Glas mit Leitungswasser, um es mir zusammen mit der Tablette auf den Tisch zu stellen.

„Danke“, murmle ich ein wenig verlegen, weil ich ja eigentlich überhaupt keine Kopfschmerzen habe. Stattdessen wird mein Puls ein wenig schneller, als ich mir vorstelle, dass es ja eigentlich immer so sein könnte. Ingos Fürsorglichkeit, meine ich. Mir gegenüber. Ich müsste nur den Mund aufkriegen.
Na ja, und Ingo müsste zumindest ansatzweise das Gleiche für mich empfinden wie ich für ihn.

„Kein Problem. – Sag mal, kommst du heute Abend eigentlich mit?“

„Mit?“, wiederhole ich und drehe das Wasserglas unschlüssig zwischen den Händen hin und her. „Wohin?“

„Keine Ahnung. Weg halt. Ein paar Leute von gestern, Jan, Sybille… Ein bisschen tanzen gehen und so.“

Augenblicklich sinkt meine Laune um ein paar ziemlich große Stufen nach unten.
Jan. Natürlich.
Damit Ingo nach dem bisschen Tanzen und Party machen definitiv was zum Vögeln hat.
Und mich will er mit Sybille locken…!
Theoretisch hat er mir also gerade zwei bombastisch dagegen sprechende Gründe genannt. Vor allen Dingen weil Jan die meiste Zeit über genauso denkt und besonders gegen Ende eines Abends immer extrem zudringlich Ingo gegenüber wird. Möchte gerne mal wissen, ob dem das eigentlich völlig schnuppe ist oder ob er einfach nur zu bequem ist, seinen Ex abzuweisen. Ihre offizielle Trennung besteht jedenfalls ganz eindeutig nicht aus allzu großer körperlicher Distanz.

„Hm, nee, weiß noch nicht so genau.“

„Ach, Quatsch. Warum denn nicht?“ Er stößt mich leicht an der Schulter an. „Das wird lustig. Und du kannst ja auf den Alkohol verzichten.“

„Ja, mal schauen.“ Klüger wäre das mit Sicherheit, aber wie soll ich Jan und Ingo einen ganzen Abend lang ohne Alkohol ertragen? Gestern hätte ich mich dahingegen sehr gut zurückhalten können; da ist Jan nämlich nicht anwesend gewesen.

„Mal schauen heißt bei dir immer Nein“, stellt Ingo kritisch fest, woraufhin ich ein mattes Grinsen zustande bringe. Kennt er mich wirklich so gut?

„Ich überleg’s mir wirklich, okay?“

Ingo zögert kurz. „Wir gehen in keinen Schwulenclub, falls dich das abschreckt.“

Haha.
Gott, möchte mich nicht jemand erschießen, bitte?
Um mit Ingo in einen Schwulenclub zu gehen, wäre ich bereit, eine ganze Menge zu opfern. Bisher bin ich immer nur allein in solchen Clubs unterwegs gewesen, weil… ich keine Ahnung habe, wo ich woanders jemanden kennen lernen soll. Bisher ist aber nie mehr draus geworden als – traurig, aber wahr – ein One-Night-Stand. Andererseits sind die Leute in solchen Läden selten auf etwas Längerfristiges aus.
Da ich allerdings jedes Mal Angst habe, Ingo oder Jan oder gleich beide in so einem Club anzutreffen, und ich obendrein ohnehin nicht gerne alleine weggehe – wie viel lauter soll man denn noch schreien: ‚Hier bin ich, wer fickt mich?‘ –, bin ich schon eine ganze Weile nicht mehr losgezogen. Vielleicht sind die Gedanken an Ingo deshalb im Moment auch so schlimm. Ich sollte mich mal wieder überwinden und zumindest ein kleines bisschen der Sehnsucht stillen.

„Ich überleg’s mir“, wiederhole ich mit einem – hoffentlich – zuversichtlichen Lächeln, damit er nicht weiter nachbohrt.

Ingo legt leicht den Kopf schief, woraufhin ihm ein paar seiner dunkelbraunen Haarsträhnen in die Stirn fallen. Ich umklammere das Wasserglas fester, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen.
„Du rufst mich an?“

„Ja, mache ich.“

Endlich zufrieden, nickt er. „Okay. Ansonsten bist du ja auf jeden Fall Sonntag beim Beachen dabei.“

Ach ja. Da war ja noch was…
„Hm-hm“, mache ich möglichst unverbindlich, obwohl das eigentlich schon länger ausgemacht gewesen ist. Und auch nicht mit Ingo, sondern einem anderen Kommilitonen.

„Gut.“ Sein Blick huscht wieder zur Küchenuhr rüber. „Scheiße. Jetzt bin ich wirklich ziemlich spät dran.“

„Schieb’s auf mich“, biete ich ihm an.

„Ha. Das kommt gar nicht in Frage.“ Er hechtet zur Küchentür rüber, dreht aber noch mal den Kopf. „Und vergiss deine Tablette nicht.“

„Nein, Mama“, seufze ich.

Er grinst. „Braves Kind.“ Dann verschwindet er endgültig aus der Küche, um sich fertig zu machen.

Als ich ihn im Bad herum rödeln höre, stehe ich auf, stecke die Kopfschmerztablette zurück in die Packung und schütte das Wasser weg. Schwermütig beobachte ich, wie es im Abfluss verschwindet. Binnen Sekunden.
Schade, dass man nicht alles einfach so wegschütten kann, wenn man es nicht mehr braucht oder loswerden will. Nein, gerade bei Gefühlen dauert es wieder Monate, bis man sich komplett entliebt hat.
Warum nur ist Ingo auch so… verdammt perfekt?

--

Irgendwas trifft mich hart und mit voller Wucht an der Schulter. Ich reiße die Augen auf und wäre vor Schreck beinahe aus dem Liegenstuhl gefallen. Währenddessen liest Simon Jäger absolut ungerührt mit einzigartiger Stimme weiter aus Sebastian Fitzeks neuestem Roman vor. Trotzdem ist ein Thriller in Kombination mit unerwarteten Attacken eine ziemlich schlechte Kombination.
Und dann kommt diese Attacke auch noch ausgerechnet von Jan. Ingos Ex.
Pure Absicht.
Aus irgendeinem Grund kann er mich genauso wenig leiden wie ich ihn. Vielleicht spiegelt er nur meine Gefühle ihm gegenüber, vielleicht hat er mich aber auch instinktiv durchschaut.

Er rührt sich jedenfalls keinen Millimeter, nachdem er mich so brutal abgeschossen hat. Vielleicht erwartet er, dass ich ihnen den Ball zurückwerfe. Bevor ich mich jedoch dafür oder dagegen entscheiden kann, kommt Ingo durch den Sand auf mich zugejoggt.
Unnötig zu erwähnen, dass er in seinen Badeshorts absolut phantastisch aussieht. Dazu noch die Sonne, die in seinen Haaren spielt, und ich bin absolut verloren.

„Hey, sorry, Uwe.“

„Kein Problem“, sage ich lahm und ruckle mich im Liegestuhl zurecht, um mich wieder meinem Hörbuch zu widmen, während mir die Sonne ins Gesicht scheint.

„Jan weiß manchmal nicht so ganz wohin mit seiner Energie“, fügt Ingo noch hinzu, was mich dazu veranlasst, die Augen wieder zu öffnen und die Stopptaste zu drücken, falls sich das Gespräch als etwas Längeres entpuppen sollte. Umsichtig nehme ich die Hörer aus den Ohren und packe den mp3-Player weg.

„Das hab‘ ich gehört!“, krakeelt Jan vom Spielfeld zu uns rüber. „Und jetzt laber‘ nicht, sondern komm‘ wieder her! Und bring‘ den Ball mit!“

Ingo bückt sich nach dem Volleyball und ich seufze innerlich bereits auf. Doch kein längeres Gespräch. Schade. Ich würde jedes Hörbuch für eine kurze Unterhaltung mit Ingo unterbrechen. Ich komme mir ja schon beinahe etwas blöd vor, nicht mitzuspielen, wo doch nahezu alle anderen aus unserer kleinen Runde mit durch den Sand springen.
Gut, zwei andere Mädels haben sich auch abgekapselt und diskutieren gerade bei Milchshakes irgendetwas furchtbar Wichtiges, aber ich glaube, das ist nicht so ganz zu vergleichen. Andererseits bin ich eine ziemliche Sportniete, wenn es nicht gerade ums Surfen geht. Mit jedweder Art von Bällen kann ich schon gar nicht umgehen. Und ich habe keine Lust, wie der totale Versager neben Jan auszusehen. Das ist vielleicht oberflächliches Kindergartendenken, aber ich muss Ingo ja nicht unter die Nase reiben, wie unterschiedlich Jan und ich sind.

Schwungvoll wirft Ingo den Volleyball direkt in Jans Arme und ruft hinterher: „Ich setz‘ grad mal eine Runde aus!“ Kaum hat er das ausgesprochen, lässt er sich neben meinem Liegestuhl in den Sand plumpsen.

„Wie, du setzt eine Runde aus?“, brüllt Jan zurück und wirft den Ball müßig in die Luft, um ihn wieder aufzufangen. „Kommt gar nicht in Frage!“

Ingo macht nur eine abwehrende Handbewegung, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen, und wendet sich dann mir zu.
Ich kann nicht anders, als ein völlig irrationales Glücksgefühl zu empfinden, dass ich gerade Jan vorgezogen worden bin. Auch wenn Ingo vielleicht wirklich nur eine kurze Pause braucht. Das blende ich aber gekonnt aus und aale mich ein paar Sekunden lang in diesem herrlich warmen Gefühl, ehe ich es aufgebe und in Richtung Spielfeld nicke.

„Du musst dich hier nicht mit mir langweilen. Geh‘ ruhig wieder spielen.“
Das hört sich an... Na, solange er nur mit dem Volleyball spielt und nicht mit Jan…

„Du könntest auch mitmachen.“

Ich schüttle den Kopf. „Lieber nicht. Dann gibt es am Ende noch Verletzte und Tote.“

„So ein Blödsinn. Hast du schon mal gesehen, wie Sybille aufschlägt? Da ist auch niemand vor sicher.“

Ach ja, Sybille. Die ist neben ein paar anderen Kommilitonen natürlich auch mit von der Partie. Ich befürchte übrigens, Ingo könnte tatsächlich Recht damit haben, dass sie irgendwie ein wenig Interesse an mir hat. Bevor sie mit Beachvolleyball angefangen haben, wollte sie mir die ganze Zeit ein Gespräch aufdrücken. Freitagabend, als wir bei mir gegrillt haben, ist mir das noch nicht so aufgefallen. Oder fällt es mir jetzt erst auf, weil Ingo was gesagt hat?

„Trotzdem. Ich bin nicht gut in Ballspielen.“ Einen Ticken zu spät geht mir auf, dass das für einen ordentlichen, heterosexuellen Mann ziemlich seltsam ist. Irgendeine Ballsportart gibt es immer, die man halbwegs vernünftig ausführen kann.

Ingo scheint aber zum Glück nicht misstrauisch zu werden. „Na gut“, meint er, „aber du kannst schwimmen.“

Irritiert runzle ich die Stirn. „Versucht du gerade, eine Beschäftigung für mich zu finden? Ich langweile mich nicht, falls es das ist, was du denkst.“ Ich wackle mit meinem mp3-Player vor seiner Nase herum. „Ich kann mich ganz gut selbst beschäftigen.“

„Offensichtlich. Was hast du Samstagabend gemacht?“, will er dann ohne Überleitung wissen.

Ah, da liegt der Hund begraben. Ich bin gestern Abend nicht mitgekommen. Wohin auch immer. Aber nach eifrigen Überlegungen habe ich absolut keinen Nerv dazu gehabt, mir Ingo und Jan in Kombination und nüchtern anzutun.

Dummerweise habe ich so spontan keine gute Ausrede parat, wobei Ingos Frage andererseits alles andere als spontan gewesen ist. Eher vorhersehbar. Da hätte ich mir auch schon vorher mal Gedanken zu machen können. Mist.

„Äh… Sachen“, stammle ich idiotisch und schiebe dann schnell ein: „Wieso?“, hinterher.

„Du hast nicht angerufen.“

Stimmt. Er allerdings auch nicht. „Vergessen. Tut mir Leid.“

Skeptisch runzelt er die Stirn. Seine Augen sind leicht zusammengekniffenen, weil er gegen die Sonne schaut, aber das kommt mir ganz gelegen. Dann sehe ich nicht so viel von den Sprenkeln.
„Ist es immer noch wegen Freitag?“

„Freitag?“

Ingo rollt mit den Augen. „Weil ich halbnackt auf deiner Couch eingepennt bin? Das hab‘ ich dir doch schon erklärt.“ Er klingt ein wenig ungeduldig, ehe er in einem eher schnippischen Tonfall hinzufügt: „Und falls ich dich daran erinnern darf: Du bist derjenige gewesen, der mich angestarrt hat. Hättest ja auch wegsehen können, wenn’s dir so zuwider war.“

„Ich… ich hab‘ dich nicht angestarrt!“, blaffe ich mit entsetzt polterndem Herzen, während mir gleichzeitig das Blut in die Wangen schießt. Hoffentlich – hoffentlich! – schiebt er das auf die verdammte Sonne! „Du hast dich bewegt und da… dachte ich… dass du gleich aufwachst. Ich… ich wollte einen dummen Scherz machen und… so. Deswegen hab‘ ich da so gesessen!“

„Ja, sicher. Deswegen hattest du gestern auch Sachen zu erledigen. An einem Samstagabend.“
Er betont dieses eine Wort so, dass mir unzweifelhaft ins Gesicht springt, dass er mir nicht glaubt.

Ich fühle mich sehr in die Ecke gedrängt, beharre aber dennoch stur: „Ja“, auch wenn mich das Ingo mit Sicherheit nicht näher bringt.

Wie erwartet, fährt er sich gleich darauf mit einer müden Geste durch das dunkle Haar. Passend dazu seufzt er – wenn auch eher entnervt – meinen Namen. Trotzdem schießt mir dieser Laut direkt in den Unterleib, was mir eigentlich sehr peinlich sein sollte. Immerhin führen wir hier gerade ein ernstes Gespräch! Außerdem sind Badeshorts wirklich schlecht dazu geeignet, erregt zu werden, bloß weil man sich ein paar andere Gelegenheiten vorstellt, zu denen Ingo meinen Namen seufzen könnte…

„Wahrscheinlich findest du es beschissen, dass ich dir das jetzt sage, aber ich kann dich wirklich gut leiden.“

Beschissen? Wie könnte ich so was beschissen finden? Aber muss er mir das gerade jetzt sagen?! Und warum sitzt er überhaupt wieder halbnackt vor meiner Nase herum? Meine Augen werden geradezu magisch von seinem Oberköper angezogen. Den Brustwarzen, dem Bauchnabel… tiefer…
Unauffällig sortiere ich meine Beine neu und versuche, an Hundekacke zu denken. Mein Hund fabriziert immer riesige, stinkende Haufen davon.

„Und deshalb… ich fände es schade, wenn meine… Vorlieben irgendwie zwischen uns stehen. Mit den anderen Jungs klappt das auch gut. Und du kannst jeden fragen: Ich habe noch keinen von ihnen angemacht oder so. Also…“

Er rutscht etwas im Sand herum und stützt einen Arm auf meinem Liegestuhl ab, so dass er ein winziges bisschen näher an mich herankommt. Nicht viel. Ein, zwei Zentimeter, wenn überhaupt.
Trotzdem laufe ich gedanklich gerade Amok. Und ich hasse mich dafür, dass ich meinen Arm einfach aus seiner Reichweite nehmen muss. Meine Haut prickelt so heftig, dass ich bei der kleinsten, noch so harmlosen Berührung mit Sicherheit aufstöhnen werde.
Die Reaktion sehe ich dennoch sofort in Ingos Gesicht.
Bodenlose Enttäuschung.
Mist.

„Also“, nimmt er den Faden wieder auf und entfernt seinen Arm von meinem Liegestuhl, „wenn es irgendetwas gibt, dass ich tun kann, damit du… in meiner Gegenwart nicht immer so angespannt bist… lass es mich wissen, okay?“

Oh Gott, mir würden auf der Stelle tausend Dinge einfallen, die er mit mir tun kann, damit ich nicht mehr so angespannt bin…! Und jedes einzelne davon raubt mir gerade stückchenweise den Verstand!
Liegt es eigentlich an mir oder spricht er heute wirklich so zweideutig mit mir?

Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass er meinen Blick sucht. Den habe ich nämlich schon vor einiger Zeit abgewandt, um die ganze Situation nicht noch schlimmer zu machen. Und, zugegeben, um mit hämmerndem Herzen auf meinen Schritt zu schielen und zu überprüfen, ob man irgendetwas sieht. Wenn ich hier genauso sitze und mich nicht rühre, geht es.

Jetzt allerdings nehme ich meinen Mut wieder zusammen und sehe ihn an. Eigentlich ist es ja auch gar nicht so schwer, jetzt zu antworten. Die perfekte Vorlage für ein Outing. Ich teile ihm einfach meine Gedanken mit. Dann werden wir ja sehen, was passiert… Entweder glaubt er mir oder nicht. Entweder hält er mich für einen Feigling dafür, dass ich acht Monate lang geschwiegen habe, oder es ist ihm schnuppe.
Im Endeffekt ebnet uns das aber den Weg zu… allem.

„Es gibt da tatsächlich etwas, das du tun könntest“, höre ich mich also murmeln, während ich das Blut laut in meinen Adern rauschen höre. Das Herz schlägt mir buchstäblich bis zum Hals, weshalb ich die Worte auch nur verhältnismäßig schwer hervor quetschen kann.

„Ja?“ Ingo scheint wirklich daran zu liegen, sich mit mir gut zu stellen, so wie er jetzt aufhorcht. Möglicherweise… findet er mich ja doch ganz… nett. Auf andere Art nett.

„Ja.“ Ich hole tief Luft. „Du könntest mich kü-“

„Maaaann!“, taucht Jan im unpassendsten Moment der Zeitgeschichte neben Ingo auf und legt ihm auf widerwärtig vertraute Art und Weise eine Hand in den Nacken. „Kannst du dich heute noch mal von unserer Prinzessin hier losreißen und zurück aufs Spielfeld kommen? Wir kacken total ab ohne dich!“ Verschwörerisch beugt er sich etwas tiefer zu Ingo hinunter, spricht dann aber trotzdem noch so laut, dass ich seine nächsten Worte einfach hören muss.
„Außerdem bin ich zu unmotiviert, wenn ich nicht auf deinen hübschen Hintern schauen darf.“ Seine Hand wandert Ingos Rücken hinab und schlingt sich schließlich ziemlich besitzergreifend um seine Taille, als Jan sich ebenfalls hinhockt.

„Ich komme sofort“, sagt Ingo, ohne auf Jans Tonfall einzugehen, und schiebt seine Hand weg. „Geh‘ schon mal vor.“

Jan verzieht die Mundwinkel und stellt sich wieder hin. Offenbar will er nicht riskieren, noch mal so deutlich abgewiesen zu werden. „Das hast du schon vor einer Viertelstunde gesagt.“

Ingo beißt die Zähne zusammen, als er den Kopf leicht dreht und zu Jan hochsieht. „Und ich werde es in einer weiteren Viertelstunde noch mal sagen, wenn du jetzt nicht gehst.“

Oh. Wow. Das ist jetzt aber ziemlich kühl gewesen. Jan scheint im selben Moment wie mir bewusst zu werden, dass ich gerade ein zweites Mal ihm vorgezogen worden bin, denn er schüttelt grimmig den Kopf.

„Wisst ihr, was ihr zwei jetzt braucht?“ Noch ehe einer von uns beiden antworten kann, hat sich Jan meinen Arm geschnappt und zieht mich aus dem Liegestuhl raus. „Eine Abkühlung!“

Dummerweise macht sich gerade wieder einmal bemerkbar, dass andere Leute mehr Kraft haben als ich.
„Hey!“, schaffe ich gerade noch, zu sagen, ehe Jan mich kurzerhand quer über seine Schulter legt und in Richtung Elbe wankt. „Lass mich runter, du Idiot!“, rufe ich, obwohl ich mich gleichzeitig an seinen Schultern festklammere, weil ich befürchte, jeden Moment im Sand zu landen.
Allerdings ist diese Sorge nur halb so groß wie die, dass er gerade mit ziemlicher Sicherheit meine Erektion spüren muss.
Scheiße.
Und die Schlussfolgerung daraus ist ja wohl sonnenklar!

„Hey, Jan.“ Ingo läuft neben uns her und legt eine Hand auf mein Schienbein.

Das macht es mir wirklich nicht leichter!

„Was zur Hölle tust du da? Lass ihn runter.“

„Gleich“, verspricht Jan, als er mit den Füßen bereits in der Elbe steht und noch ein paar Schritte weiter hinein macht, ehe er mich einfach fallen lässt.

Ich plumpse wie ein Sack voll Steine ins Wasser, das erstaunlich kalt ist, wenn man zuvor die eine oder andere Stunde in der Sonne zugebracht hat. Ich spüre meinen Herzschlag ziemlich aus dem Takt geraten und für ein paar Sekunden stockt einfach alles in mir: die Atmung, das Blut, das Denken…
Wenigstens hat das den angenehmen Nebeneffekt, dass sich meine Erregung nun ziemlich schnell verabschiedet.

Prustend tauche ich wieder auf und streiche mir die klatschnassen Haare aus dem Gesicht, während Jans Gelächter und das von ein paar anderen an meine Ohren dringt. Auch Ingo kann sich ein kleines Schmunzeln nicht ganz verkneifen.
Okay, mal abgesehen von der Tatsache, dass ich bis eben noch einen ziemlichen Ständer gehabt habe, Jan nun zweifelsohne davon weiß und ich Ingo just vor ein paar Sekunden dazu auffordern wollte, mich zu küssen… sicher, ohne das alles ist Jans kleiner Jux bestimmt der ganz große Spaß!

„Idiot“, knurre ich Jan an und beschließe dann spontan, das Beste aus der Situation zu machen, indem ich Jan anspringe und mit mir zusammen unter Wasser tauche. Das ist wohl auch die einzig logische Reaktion auf so eine kindische Attacke, also auch das Beste, um den Schein zu wahren.

Es sollte wohl einfach nicht sein, dass ich Ingo die Wahrheit sage…
Zumindest nicht heute…



***



Wir planschen eine ganze Weile im Wasser herum, drücken uns gegenseitig unter Wasser oder veranstalten kleine Wettbewerbe in den beknacktesten Sachen. Wettschwimmen ist dabei noch die normalste Disziplin.
Ich komme ein paar Mal in ziemlich engen Kontakt mit Ingo, was ganz schön gefährlich ist. Sein Körper fühlt sich absolut phantastisch unter meinen Händen an und sein Gesicht ist ein, zwei Mal so nah vor meinem, dass ich ihn um ein Haar doch noch geküsst hätte. Einfach so. Weil es in dem Moment so einfach gewesen wäre.
Letztendlich hat mich mein Mut dann aber doch wieder im Stich gelassen.

Gegen Abend sitzen wir schließlich alle wieder beisammen, reden und trinken Bier – oder, in meinem Fall, Cola. Ich bin vom dem Alkoholerlebnis am Freitag immer noch nicht ganz kuriert.
Rund um uns zu stecken mehrere Feuerfackeln im Sand und verbreiten eine schummrige bis romantische Stimmung. Jan hat das gleich mal zum Anlass genommen, Ingo auf die Pelle zu rücken, und Sybille folgt seinem Beispiel und rückt mir auf die Pelle. Zum Glück bin ich schon allein von Jans Hand auf Ingos Oberschenkel so irritiert, dass ich ihre Gesprächsversuche mit mir ganz automatisch abblocke. Irgendwann steht sie ein wenig gekränkt auf und geht weg, was mir gleich aus zwei Gründen Leid tut.
Erstens bin ich kein böser Mensch, der es mag, andere Leute leiden zu sehen, und zweitens… jetzt muss ich noch öfter auf Jans verflixte Hand starren.
Wer zum Henker soll den beiden abkaufen, dass sie nicht mehr zusammen sind?! Das glauben die doch selbst nicht!

Tun sie auch nicht.
Eine halbe Stunde später kann ich Jan dabei zusehen, wie er immer anhänglicher wird. Das liegt zum Teil sicherlich am Bier, andererseits ganz bestimmt aber auch daran, dass unsere Gruppe allmählich auseinander bricht und eine allgemeine Aufbruchsstimmung herrscht.
Offenbar hat Jan keine große Lust, die Nacht allein zu verbringen. Ingo wird sich wieder nicht lange bitten lassen und…
Mist. Man kennt das ja.

Überrascht hebe ich den Kopf etwas an, als Ingo Jan auf einmal auf Abstand schiebt, aufsteht und zu mir rüberkommt. Seit ungefähr zehn Minuten sitze ich nun schon wieder abgekapselter, weil der Kommilitone, mit dem ich mich gerade noch unterhalten habe, schon gegangen ist.

„Hey.“

„Hey“, entgegne ich vorsichtig und mit einem deutlichen Fragezeichen am Ende.

„Ich weiß, ist jetzt schon einige Stunden später, aber… was wolltest du mir vorhin sagen?“

„Äh…“ Ist ihm das etwa bis jetzt im Gedächtnis geblieben? Da fängt mein Puls gleich wieder zu rasen an.
Ein wenig hilflos sehe ich mich um. Aber mit den ganzen Leuten hier und Jans finsteren Blicken im Nacken?
„Keine Ahnung“, kneife ich den Schwanz ein. „Vergessen.“

„Ah. Okay. Schade. Wenn’s dir wieder einfällt…“

„Klar“, nicke ich, dann erstirbt das Gespräch irgendwie. Ich weiß nicht, was oder wann es passiert ist, aber irgendwie ist die Situation komisch zwischen uns. Ob… ob Jan ihm etwas erzählt hat? Aber das wäre doch absolut kein Vorteil für ihn…?

Als das Schweigen zwischen uns anfängt, wirklich unangenehm zu werden, und ich ihn aus lauter Verzweiflung schon fragen will, ob er seine Hausarbeit schon fertig hat, beginnt Ingo zögerlich: „Hm, Jan… hat mir da vorhin... also… er sagt, du hättest… als er mit dir zum Wasser ist –“

„Oh, da fällt mir ein“, plappere ich ihm panisch dazwischen, während mein Gesicht wieder zu glühen anfängt. Gott sei Dank gibt es hier so gut wie kein Licht! „Hast du die Hausarbeit für die Hubertus schon fertig? Ganz schön schwierige Sache, diese Lektüre…“

Verwirrt runzelt Ingo die Stirn. „Was?“

„Na, die Hausarbeit. Für die Hubertus? Abgabetermin am Dienstag um 15 Uhr?“

„Äh, klar. Nee, damit bin ich noch nicht fertig. Aber was ich dich fragen wollte…“

Keine Ahnung, wem ich das zu verdanken habe, aber genau in diesem Moment klingelt mein Handy. Ich möchte den Anrufer auf der Stelle abknutschen!

„Jan sagt, du… hättest eine Erek-“

„Oh, warte mal grad, ja? Mein Handy klingelt.“ Hektisch wühle ich in meiner Tasche auf der Suche nach meinem Handy herum.

„Kannst du’s nicht klingeln lassen?“, murrt Ingo einen Ticken ungehalten.

„Nein!“, sage ich sofort. „Könnt‘ ja wichtig sein!“ Wo ist denn bloß dieses Scheißding?!

„Ich hab‘ auch was Wichtiges.“

„Ja, darüber… reden wir danach.“
Ah! Endlich! Himmel!
Schnell, bevor die Mailbox dran geht…
„Hallo?“, japse ich in den Hörer, ohne vorher einen genaueren Blick auf die Nummer geworfen zu haben. Keine Zeit für solche Nichtigkeiten. Ingo hätte mich mit Sicherheit nicht zurückrufen lassen, ohne vorher ausgiebig meine Erektion mit mir durchdiskutiert zu haben…

„UWE!“, bollert es mir lautstark entgegen, so dass ich das Handy erst mal wieder vom Ohr weghalte. Die Gelegenheit nutze ich dann auch gleich, um aufs Display zu schauen.
Oje… 555 5515…

„Peter“, versuche ich es mit derselben Euphorie. „Wie… nett, dass du anrufst!“
Das mit dem Abknutschen überlege ich mir in diesem Fall allerdings noch mal.

Peter hat mit mir zusammen Abitur gemacht und kommt aus meiner Heimatstadt. Während ich zum Studieren in die große, weite Welt gezogen bin, hat er nach dem Zivildienst eine Ausbildung angefangen. Wie so ziemlich jeder meiner alten, sehr heterosexuellen Freunde. Von denen hat auch niemand jemals das Bedürfnis verspürt, woanders hinzuziehen, außer vielleicht in die nächstgrößere Stadt, aber immer noch in Reichweite nach Hause.
Na ja, wenn man bedenkt, dass die Hälfte meiner Schulfreunde quasi auch schon eine Ewigkeit mit ein und demselben Mädchen zusammen ist und bereits Hausbaupläne schmiedet… Das sind himmelweite Welten zwischen uns.
Dementsprechend weiß ich gerade auch nicht so ganz, was ich von diesem Anruf aus der Vergangenheit halten soll.

„Tja, da du dich ja nie meldest…!“ Die Anklage, die in diesen Worten mitschwingt, ist unüberhörbar. „Wie geht’s dir, Kumpel?“

„Äh, ganz gut… denke ich.“ Ich werfe Ingo einen kurzen Seitenblick zu und signalisiere ihm per Handzeichen, dass ich hier gerade ein furchtbar wichtiges Gespräch habe.
Ingo zuckt nur mit den Schultern und bedeutet mir, warten zu wollen.
Mist.

„Ganz gut?!“, echot Peter fassungslos. „Du bist in einer Weltmetropole und dir geht es nur ganz gut? Dann solltest du vielleicht gleich wieder deine Sachen packen und zu uns zurückkommen, Mann!“ Er lacht, als wäre das irgendetwas furchtbar Witziges.

„Tja, na ja, das ist vielleicht etwas übertrieben…“ Weltmetropole? Okay, im Gegensatz zu dem, was er kennt…

„Du willst also nicht packen und zurückkommen? Na, das haben wir uns eigentlich auch schon gedacht.“

„Wir?“, hake ich zögerlich nach. „Bin ich… auf Lautsprecher?“

„Klar, Mann!“

In diesem Moment brüllt mir ein Chor aus verschiedenen Stimmen: „Hallo!“, entgegen. Das Ganze ist aber so ein Durcheinander, dass ich keine davon erkenne. Na ja, wahrscheinlich sind es die üblichen Verdächtigen. Leute, mit denen ich mein ganzes Leben lang rumgehangen, mit denen ich mich durch die Schule gekämpft und mit denen ich mich über weibliche Vorzüge unterhalten habe, während ich die ganze Zeit heimlich irgendwelche anderen Mitschüler angeschmachtet habe.
Eine Peter-Phase hatte ich auch mal. Gott, das ist schlimm gewesen. Wenn man so will, gehört Peter noch mit zu meinen engsten Bekannten. Dummerweise hat er auch viele weibliche Bekannte gehabt, und weil da die Auswahl so groß gewesen ist, auch immer viele willige Sexpartnerinnen. Keine Ahnung, ob die mehr oder weniger feste Beziehung, die er zum Schluss eingegangen ist, noch intakt ist.

„Hm, hallo miteinander“, erwidere ich die Begrüßung zögerlich.

„Ja, ja“, winkt Peter ab, „um also zum Punkt zu kommen… da du dich hier ja so selten blicken lässt, dass mich sogar schon deine eigene Mutter nach dir fragt –“

„Was?!“, platzt es aus mir heraus.

„Hab‘ sie letztens beim Einkaufen getroffen“, gibt er ungerührt zu. „Die dachte wohl, ich telefonier‘ öfter mit ihr als du. Musst ja schwer beschäftigt sein da drüben, in Hamburg. – Na, jedenfalls haben wir uns deshalb gedacht, weil wir hier gerade alle so nett beisammen sitzen, wir kommen dich besuchen.“

„Was?“, wiederhole ich wie schwerhörig, nur dass mir dieses Mal die Luft für sonderlich viel Nachdruck fehlt. Ich japse wie ein Fisch auf dem Trockenen.

„Passt dir nächstes Wochenende?“

„Nächstes… Wochenende…“
Ich bin so entsetzt, dass ich jetzt ganz vergesse, zu atmen. Mein Blick wandert automatisch zu Ingo rüber, der mich mit hochgezogenen Augenbrauen fragend ansieht. Zweifellos sehe ich aus wie jemand, der gerade eine ganz, ganz schlechte Nachricht bekommen hat.
Und so ist es ja auch.

„Ja, die Bahn hat doch gerade wieder so eine Aktion und wir könnten zu fünft ganz billig zu dir runter fahren.“

„Zu fünft?“
Oh Gott, das wird ja immer schlimmer.

Ich entwirre meine Beine, wirble dabei ein bisschen Sand auf und stehe auf. Ingo ist im selben Moment wie ich auf den Füßen und sieht so aus, als wollte er mich auffangen. Offensichtlich erwecke ich den Anschein, gleich zusammenzubrechen. Aber wenn ich diese Katastrophe wenigstens noch halbwegs abwenden will, kann ich es nicht gebrauchen, wenn er neben mir steht und mir so ungeniert zuhört. Schon mal was von Privatgesprächen gehört?
Ich schüttle den Kopf in seine Richtung und schicke einen warnenden Blick hinterher, ehe ich mich ein paar Schritte vom übrig gebliebenen Rest der Clique entferne.

„Hm, ich glaube, das geht nicht, Peter“, sage ich so überzeugend wie möglich.

„Waaaas?!“, grölen mir gleich wieder mehrere Stimmen entgegen, und Peter präzisiert: „Wieso denn nicht?“

„Ich… äh, ich habe gar nicht so viel Platz in meiner Wohnung und… also, nächstes Wochenende ist sowieso ganz schlecht. Die… hm, die Prüfungen sind ja auch bald und… ha, wenn du wüsstest, wie viele Hausarbeiten wir im Moment aufbekommen! Also… also, ich… glaube wirklich nicht, dass ich Zeit… für euch habe.“

„Prüfungen sind doch erst im Juni!“, beschwert sich da eine andere Stimme aus dem Hintergrund. Michael, wenn ich mich nicht irre. Einer der wenigen, die keine Ausbildung begonnen haben, sondern studieren. Und dann auch noch so was wie Informatik.
„Da hast du doch noch drei Wochen Zeit!“

„Genau!“, klinkt sich Peter wieder ein. „Und wir bleiben ja auch nur drei Tage. Kommen Freitagnachmittag an und fahren Sonntagnachmittag wieder. Ach, komm‘ schon, Uwe. Wir haben uns jetzt fast ein Jahr lang nicht gesehen!“

„Acht Monate“, werfe ich leise ein.

„Eben! Eine Ewigkeit! Wenn du unbedingt lernen willst, lassen wir dich auch mal zwei, drei Stunden in Ruhe. Aber du kannst uns doch nicht erzählen, dass du vierundzwanzig Stunden am Stück lernst!“

Das kann ich wohl wirklich nicht, nein…
„Aber… der Platz in meiner Wohnung“, will ich ansetzen, als Peter mir wieder dazwischen fährt: „Der wird schon reichen für zwei Nächte. Falls wir überhaupt zum Schlafen kommen!“, giggelt Peter. „Wir bringen die Schlafsäcke mit und dann finden wir schon Platz. Wir haben doch auch mehrere Campingausflüge überlebt! Dagegen ist deine Wohnung purer Luxus!“

Ganz offensichtlich ist ihre Euphorie durch absolut gar nichts zu bremsen. Und wenn ich ein normaler Mensch wäre, würde ich mich sicherlich tierisch über ihre Hartnäckigkeit und noch mehr über ihren anstehenden Besuch freuen.
Bin ich aber nicht.
Ich will meine Ruhe und ich will mich wenigstens in der Zeit, in der ich nicht mit Ingo oder meinen Kommilitonen zusammen bin, wie ich selbst benehmen können. Außerdem kann ich Ingo nächstes Wochenende dann gar nicht sehen. Ich benehme mich schon ohne kritische Blicke ihm gegenüber bescheuert, aber wenn ich auch noch von Leuten überwacht werde, die mich zwanzig Jahre lang kennen…

Aber ich weiß einfach nicht, wie ich sie abwimmeln soll. Und ich kann auch nicht noch länger am Telefon so vor mich hin schweigen, also…
„Na schön“, seufze ich schließlich schwermütig. „Kommt meinetwegen vorbei.“

Jubel bricht am anderen Ende der Leitung aus und ich kann gerade noch so verstehen, dass Peter mir verspricht, mir die genaue Ankunftszeit zukommen zu lassen, dann legen wir auf.
Verfluchter Mist.

Ich drehe mich um und kehre zu den anderen und meiner Tasche zurück. Scheint, als wäre der Abend für mich gelaufen. Ich muss sofort nach Hause und alles Schwule aus meiner Wohnung in den Keller verbannen. Nicht, dass ich viel Verräterisches bei mir herumliegen hätte, weil ich es sonst auch ständig wegpacken müsste, wenn mal einer meiner Kommilitonen vorbeischaut. Aber wenn ich wirklich Besuch von meinen alten ‚Freunden‘ bekomme, reicht es wohl nicht, die Schwulenpornos in der untersten Nachttischschublade zu verstecken. Außerdem muss ich meinen kompletten Browserverlauf löschen, den Rechner am besten gleich neu formatieren. Michael findet im Zweifelsfall alles. Und ich kann ihnen ja schlecht das ganze Wochenende über verbieten, an meinen Computer zu gehen.
Die eher zweifelhaften Klamotten müssen auch weg, ganz besonders auch das Gleitgel oder die Kondome.
Ich stocke kurz. Oje, heißt das jetzt, ich muss mir als Tarnung auch welche für Heteros zulegen…?

„Alles klar?“ Ingo hockt sich neben mich, als ich das Handy gerade wieder in meiner Tasche verstaue.

„Geht so.“

„Schlechte Nachrichten?“, will er behutsam und sehr, sehr einfühlsam wissen. Seine Stimme beschert mir ein angenehmes Kribbeln im Nacken, das ich energisch wegzureiben versuche.

„Wie man’s nimmt. Du, ich muss jetzt auch nach Hause, hab‘ noch einiges zu erledigen.“

Seine Mundwinkel zucken. „Sachen?“

„Hm?“, mache ich irritiert, ehe mir aufgeht, dass er sich auf meine kryptische Samstagabendbeschäftigung bezieht. „Ja. Sachen.“

„Aha.“ Einen Moment lang sieht er so aus, als wollte er dem noch etwas hinzufügen, scheint es sich dann aber doch noch einmal anders zu überlegen. „Dann sehen wir uns morgen in der Uni.“

Ich bin froh, dass er jetzt nicht wieder das Erektionsthema auf den Tisch packt, und sage einfach nur: „Bis morgen.“


--


Danke schön fürs Lesen!

lg
- SnowWhite
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