Projekt "Ohne Dich": Der Sonnenuntergang
von AnneLou
Kurzbeschreibung
OS-Beitrag zu LuxusSterns Projekt "Ohne Dich". Es geht darum, wie sich ein Leben gestaltet, wenn einem eine geliebte Person genommen wurde. Der Grund? Den durfte jeder selbst suchen.
GeschichteDrama / P6 / Gen
05.09.2010
05.09.2010
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1.710
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A/N: Entstanden im Rahmen des Projektes Ohne Dich. Hier wurde verlangt, zu beschreiben, wie sich ein Leben gestaltet, dem der Inhalt genommen, d.h. aus dem eine geliebte Person gerissen wurde.
Passte (bei) mir gut.
* "Aus der Wanduhr tropft die Zeit." aus Erich Kästner - 'Kleines Solo', 1949
Die dünnen Wolkenschwaden ziehen ihre vom Wind getriebenen Bahnen über den zartlavendelfarbenen Abendhimmel.
Den Boden vor meinen Füßen erreicht bloß noch so wenig Sonnenlicht, dass ich das Gras eher grau als grün beschreiben würde.
Wenn ich die Augen nach vorn richte, den Hang hinunter, sehe ich die Stadt nicht mehr, denn die Schönheit des Sonnenuntergangs, der aus dem Himmel einen fließenden Regenbogen werden lässt, radiert sie einfach aus meinem Blickfeld.
Der Wind kündigt mit seinem kleinen Hauch in mein Gesicht die Brise an, die er losschicken möchte. Und als sie mich dann endlich voller Sehnsucht erreicht, wiegt sie die dicken Blüten des Wiesenklees gegen meine Knöchel und sie kitzeln mich, genau wie meine langen Haare in der Mitte meines Rückens, als der Wind sie sanft zum Tanze auffordert.
Ich habe sie nicht mehr geschnitten, seit er weg ging.
Es hatte gar nicht lang gedauert, bis ich beinahe täglich hierher kam, um allein zu sein. Um die Schönheit dieses Plätzchens als letztes, unveränderliches Überbleibsel in mich aufzusaugen. Um Verständnis im Schweigen der Pflanzen und der Schönheit ihres konsequenten Jahreszeitenwandels einen neuen, treuen Freund zu finden, der mich nicht fortschickt, wenn ich weinte.
Vielleicht hat er mich nicht fortgeschickt, aber es fühlt sich so an.
Meine Augen fangen an zu brennen und schon im nächsten Augenblick fühle ich die warmen Tränen, die über meine Wangen laufen und kühle Spuren hinterlassen.
Ich weine schon lange leise. Vor Leere.
Wenn ich hier bin und den Sonnenuntergang bei schönem Wetter beobachten kann, denke ich daran, wie ich damals seine Silhouette nach dem Klassenfest im rosa glühenden Endlicht der Stadtsonne nach Hause laufen sah.
Wenn ich hier bin und nichts als Wolkenfronten bis zum Horizont sehe, erinnere ich mich an das erste von unzähligen Malen, das wir zusammen den Heimweg antraten. An die Steinsplitter und Salzkörner auf den Gehwegen, die den Schnee von den glatten Schuhsohlen der Fußgänger fern halten sollten. An die kahlen Knallerbsenbüsche, die beim Gehen meine dick gefütterten Jackenärmel streiften, weil er mich beim Herumalbern so weit an sie herandrängte. An sein kindliches Lächeln.
Wenn ich hier bin und es feinste Regentröpfchen nieselt, fällt mir ein, wie er mit unseren - ... meinen anderen Klassenkameraden damals auf der Klassenfahrt auf dem Kunstrasen Fußball gespielt hat. Wie er mit dem rechten Fuß schoss. Wie er auf den feuchten Kunstfasern ausrutschte und auf der glatten Jogginghose meterweit bis ins Tor hinein schlidderte.
Wenn ich hier bin und der kalte Schnee mit seinem leisen Rieseln eine Decke über die Erde webt, kommen mir uralte Schneeballschlachten in den Sinn, stundenlanges Warten auf einen Bus an einer Haltestelle, das Schaben mit den Schuhen im festgetretenen Schnee, bis der Asphalt zu sehen war, die Fahrt, auf der wir so nahe beieinander gesessen hatten.
Und jedes Mal, wenn mir eine weitere Erinnerung in den Sinn kommt, fühlt es sich falsch an. Falsch, weil er kein Teil meiner Erinnerung, sondern Teil meiner Gegenwart sein müsste; falsch, weil die glücklichen Erinnerungen mir kilometertiefe, bluttriefende Krater in die Seele schlagen.
Denn er ist aus meinen Leben verschwunden.
Ich weiß nicht, wohin.
Ich weiß nicht, warum.
Ich wünsche mir immer wieder, dass ich nicht wüsste, für wie lange.
Denn ich weiß ganz genau, dass es für immer sein wird, und wir uns nicht zweimal sehen werden, wie es dieses Sprichwort so schön besagt. Und dennoch, und das ist mein Verhängnis, fühlt es sich immer so an, als käme er wieder und sagte eines Tages zu mir: "Hey, Jule. Es tut mir leid, ich bin ja wieder da. Ich wollte doch gar nicht so lange so weit weg bleiben." Und dann würde ich weinen, vor Freude, zum ersten Mal, weil er mich davor gerettet hätte, von der erdrückenden Schwere seiner Abwesenheit zermalmt zu werden.
Und dabei weiß ich doch ganz genau, dass er, selbst wenn er wiederkäme, nicht einen Blick auf mich verschwenden würde.
Ich ziehe meine Knie an die Brust und umschlinge sie mit meinen Armen. Der Wind wird kühler und meine kurze Leggings lässt die kleinen, kühlen Teufel durch sie hindurch in meine Haut zwicken. Dank des Wassers auf meinen Wangen werden sie noch stärker und beißen im Gesicht noch schlimmer zu.
Der Wind wurde plötzlich kalt, so wie damals auch ganz plötzlich Janeks warmes, jungenhaftes, schalkgetränktes Lächeln kalt und hauchend verschwunden ist.
Ich denke so wenig wie möglich und doch so verheerend oft an den Tag zurück, als das Leben plötzlich zu Sand wurde und mir aus den Fingern rieselte. Als Janek mich, nach dem Schulausflug, im Treppenhaus beiseite nahm und tief und von Überwindung zeugend schnaufte, sodass sein Atem über mein Gesicht strich.
"Ich werde umziehen", sagte er dann ganz leise, aber doch mit fester Stimme.
Da verstand ich die Ernsthaftigkeit noch nicht.
"Jule", sagte er dann zum letzten Mal meinen Kosenamen, "ich ziehe weg, weil mein Vater seine gottverdammte Stelle in dieser bescheuerten Sterneküche in Hamburg bekommen hat!", rief er dann lauter, sodass seine Stimme von den hohen Wänden widerhallte.
Am besten erinnere ich mich jedoch nicht an seine Stimme oder seine Augenfarbe oder die Tränen, die sich in diesem Moment vor dem verdunkelten Wasserblau und seinen goldgelben Sprenkeln sammelten, sondern am besten erinnere ich mich an dieses Nichts, welches mich in diesem Moment ausgefüllt hatte. Dieser Zustand, in dem man zwischen hören und begreifen ist, in dem alles laut krachend über einem zusammenschlägt, damit man es neu zusammensetzen kann, mit geblendeten Augen und klingenden Ohren.
Vor diesem Tag habe ich so viel gelacht, dass mir manchmal der Bauch davon wehtat. Meine Umwelt war umgänglich und alles hatte eine positive Kehrseite. Es gab kein 'Nein', es gab höchstens eine Möglichkeit, dieses zu vermeiden. Und als ich Janek kennen lernte, verdreifachten sich all diese herrlichen Dinge und alles wurde sonnengelb. Immer, wenn ich etwas mit Janek vor hatte war ich glücklich, weil ich wusste, dass wir beide zusammen Spaß haben würden und ich die Zeit für die Stunden, die ich mit ihm verbringen würde, vergessen könnte. Nie drohte ein einzelnes Problem mich umzureißen, nie weinte ich, weil ich mich an etwas Schönes erinnerte.
Bis zu diesem Tag.
In den Wochen bis Schuljahresende sprach er kaum noch das Nötigste mit mir, blickte mich immer mit diesen unendlich trübsinnigen und abschätzenden Augen an und ließ sich nicht noch einmal dazu herab, mich zu rufen wie all die Jahre schon. Er sagte nur noch 'Julia' zu mir.
Vielleicht waren diese Wochen das schlimmste, vielleicht nicht. In ihnen habe ich die Angst gelehrt bekommen, die Angst vor dem Verlust und vor dem Ende und vor der Einsamkeit. Denn Janek war nicht nur mein bester, langjähriger, vertrautester Freund, sondern war aus meiner überflüssigen Verliebtheit auch noch eine tiefschürfende Liebe geworden, die so lange erträglich schien, wie er bei mir blieb.
Und um meinen endgültigen Zusammenbruch und den Wahnsinn zu vermeiden, redete ich mir den Mund fusslig. Vor seiner Stiefmutter, seinem Vater; nur nicht vor ihm. Zwei, drei Mal schrieb ich ihm über diese sinnlosen sozialen Netzwerke meine Bedenken, deutete meine Angst an, aber mehr nicht. Ich traute mich nicht mehr mit ihm zu reden, schon gar nicht ehrlich, seit er mich angefahren hatte, dass ich ihm seine Ruhe lassen sollte.
Heute hasse ich mich dafür, dass ich nichts weiter unternommen habe. Ich habe mein Leid verschuldet und seines ebenfalls. Und daran zerbreche ich jedes Mal, wenn auch nur sein Schatten in meinen Erinnerungen mitspielt.
Das letzte Bild, das sich immer wieder ungefragt in meinen Kopf schiebt, sind seine Augen. Seine seeblauen, durch meine Tränen verschleierten Augen, aus denen die Schadenfreude sprudelte, um Enttäuschung und Angst und Hilflosigkeit zu überspielen. Als er mich auslachte, weil ich ihn anflehte, zu bleiben, Kontakt zu halten, mich ein letztes Mal zu umarmen. Das war das Schlimmste.
Immer, wenn ich mir etwas wünsche, geschieht das Gegenteil. Auch damals war es so. Er ging fort. Er ließ mich weinend stehen. Ich habe bis heute nicht ein Wort von ihm gehört.
Alle Kontakte sind getrennt, die Internetwege hat er durch Blockierungen beendet und eine Adresse habe ich nicht. Und als ich Paul danach gefragt hatte, wollte er sie mir nicht verraten, weil er meinte, dass Janek das nicht wollte.
Und seit diesem Tag fühle ich mich wertlos und stehen geblieben.
Mein Leben läuft seither immer in denselben alten Furchen: Ich verändere nichts, verkrieche mich im Alltag mit der Angst, etwas zu vergessen und traue mich nicht, auszubrechen, weil ich Janek sonst genauso verraten würde wie es sich anfühlt, dass er mich verraten hat.
Ich weiß, dass er das nicht getan hat. Sein Schmerz war genauso groß, aber er hat einen glatten Bruch daraus gemacht und blickt sicher kaum noch zurück. Ich hingegen verschwinde bereits in der Vergangenheit, wenn Paul mich umarmt; aus Paul wird Janek und sein Geruch kehrt zurück und meine Welt wird wieder bunt und schmerzlos. Für eine Sekunde, damit sie in der nächsten noch viel trister und einsamer und wunder wie Pech an mir klebt.
Ich hasse mich. Dafür, dass ich ihn so mag und dass ich es ihm und mir so schwer mache. Dafür, dass ich mich nicht freuen kann, einen so großartigen Freund gehabt zu haben und dafür, dass ich mich verraten fühle.
Jeden Tag wünsche ich mir, dass er zurückkommt oder mir schreibt oder ich von meinen Freunden, die noch Kontakt zu ihm haben dürfen, etwas erfahre. Manchmal wünschte ich, noch einmal von vorne anfangen zu können, alles besser zu machen oder ihn nie kennen gelernt zu haben.
Ich wische mir die letzten Tränen aus den Augenwinkeln. Heute war ich nicht so einsam. Heute war die Sonne da und hat mich an den Sommerabend erinnert, als wir mit Familie und Freunden Karten gespielt und gelacht haben.
Ich stehe auf und strecke mich. Mein rechter Fuß ist eingeschlafen, meine Arme hängen kraftlos an meinen Seiten. Ich starre der untergegangenen Sonne noch einen Moment nach und hoffe, dass Janek, meine eigene Sonne, wie der Stern hinter dem Horizont vielleicht schon morgen wieder aufgeht.
Passte (bei) mir gut.
Der Sonnenuntergang
* "Aus der Wanduhr tropft die Zeit." aus Erich Kästner - 'Kleines Solo', 1949
Die dünnen Wolkenschwaden ziehen ihre vom Wind getriebenen Bahnen über den zartlavendelfarbenen Abendhimmel.
Den Boden vor meinen Füßen erreicht bloß noch so wenig Sonnenlicht, dass ich das Gras eher grau als grün beschreiben würde.
Wenn ich die Augen nach vorn richte, den Hang hinunter, sehe ich die Stadt nicht mehr, denn die Schönheit des Sonnenuntergangs, der aus dem Himmel einen fließenden Regenbogen werden lässt, radiert sie einfach aus meinem Blickfeld.
Der Wind kündigt mit seinem kleinen Hauch in mein Gesicht die Brise an, die er losschicken möchte. Und als sie mich dann endlich voller Sehnsucht erreicht, wiegt sie die dicken Blüten des Wiesenklees gegen meine Knöchel und sie kitzeln mich, genau wie meine langen Haare in der Mitte meines Rückens, als der Wind sie sanft zum Tanze auffordert.
Ich habe sie nicht mehr geschnitten, seit er weg ging.
Es hatte gar nicht lang gedauert, bis ich beinahe täglich hierher kam, um allein zu sein. Um die Schönheit dieses Plätzchens als letztes, unveränderliches Überbleibsel in mich aufzusaugen. Um Verständnis im Schweigen der Pflanzen und der Schönheit ihres konsequenten Jahreszeitenwandels einen neuen, treuen Freund zu finden, der mich nicht fortschickt, wenn ich weinte.
Vielleicht hat er mich nicht fortgeschickt, aber es fühlt sich so an.
Meine Augen fangen an zu brennen und schon im nächsten Augenblick fühle ich die warmen Tränen, die über meine Wangen laufen und kühle Spuren hinterlassen.
Ich weine schon lange leise. Vor Leere.
Wenn ich hier bin und den Sonnenuntergang bei schönem Wetter beobachten kann, denke ich daran, wie ich damals seine Silhouette nach dem Klassenfest im rosa glühenden Endlicht der Stadtsonne nach Hause laufen sah.
Wenn ich hier bin und nichts als Wolkenfronten bis zum Horizont sehe, erinnere ich mich an das erste von unzähligen Malen, das wir zusammen den Heimweg antraten. An die Steinsplitter und Salzkörner auf den Gehwegen, die den Schnee von den glatten Schuhsohlen der Fußgänger fern halten sollten. An die kahlen Knallerbsenbüsche, die beim Gehen meine dick gefütterten Jackenärmel streiften, weil er mich beim Herumalbern so weit an sie herandrängte. An sein kindliches Lächeln.
Wenn ich hier bin und es feinste Regentröpfchen nieselt, fällt mir ein, wie er mit unseren - ... meinen anderen Klassenkameraden damals auf der Klassenfahrt auf dem Kunstrasen Fußball gespielt hat. Wie er mit dem rechten Fuß schoss. Wie er auf den feuchten Kunstfasern ausrutschte und auf der glatten Jogginghose meterweit bis ins Tor hinein schlidderte.
Wenn ich hier bin und der kalte Schnee mit seinem leisen Rieseln eine Decke über die Erde webt, kommen mir uralte Schneeballschlachten in den Sinn, stundenlanges Warten auf einen Bus an einer Haltestelle, das Schaben mit den Schuhen im festgetretenen Schnee, bis der Asphalt zu sehen war, die Fahrt, auf der wir so nahe beieinander gesessen hatten.
Und jedes Mal, wenn mir eine weitere Erinnerung in den Sinn kommt, fühlt es sich falsch an. Falsch, weil er kein Teil meiner Erinnerung, sondern Teil meiner Gegenwart sein müsste; falsch, weil die glücklichen Erinnerungen mir kilometertiefe, bluttriefende Krater in die Seele schlagen.
Denn er ist aus meinen Leben verschwunden.
Ich weiß nicht, wohin.
Ich weiß nicht, warum.
Ich wünsche mir immer wieder, dass ich nicht wüsste, für wie lange.
Denn ich weiß ganz genau, dass es für immer sein wird, und wir uns nicht zweimal sehen werden, wie es dieses Sprichwort so schön besagt. Und dennoch, und das ist mein Verhängnis, fühlt es sich immer so an, als käme er wieder und sagte eines Tages zu mir: "Hey, Jule. Es tut mir leid, ich bin ja wieder da. Ich wollte doch gar nicht so lange so weit weg bleiben." Und dann würde ich weinen, vor Freude, zum ersten Mal, weil er mich davor gerettet hätte, von der erdrückenden Schwere seiner Abwesenheit zermalmt zu werden.
Und dabei weiß ich doch ganz genau, dass er, selbst wenn er wiederkäme, nicht einen Blick auf mich verschwenden würde.
Ich ziehe meine Knie an die Brust und umschlinge sie mit meinen Armen. Der Wind wird kühler und meine kurze Leggings lässt die kleinen, kühlen Teufel durch sie hindurch in meine Haut zwicken. Dank des Wassers auf meinen Wangen werden sie noch stärker und beißen im Gesicht noch schlimmer zu.
Der Wind wurde plötzlich kalt, so wie damals auch ganz plötzlich Janeks warmes, jungenhaftes, schalkgetränktes Lächeln kalt und hauchend verschwunden ist.
Ich denke so wenig wie möglich und doch so verheerend oft an den Tag zurück, als das Leben plötzlich zu Sand wurde und mir aus den Fingern rieselte. Als Janek mich, nach dem Schulausflug, im Treppenhaus beiseite nahm und tief und von Überwindung zeugend schnaufte, sodass sein Atem über mein Gesicht strich.
"Ich werde umziehen", sagte er dann ganz leise, aber doch mit fester Stimme.
Da verstand ich die Ernsthaftigkeit noch nicht.
"Jule", sagte er dann zum letzten Mal meinen Kosenamen, "ich ziehe weg, weil mein Vater seine gottverdammte Stelle in dieser bescheuerten Sterneküche in Hamburg bekommen hat!", rief er dann lauter, sodass seine Stimme von den hohen Wänden widerhallte.
Am besten erinnere ich mich jedoch nicht an seine Stimme oder seine Augenfarbe oder die Tränen, die sich in diesem Moment vor dem verdunkelten Wasserblau und seinen goldgelben Sprenkeln sammelten, sondern am besten erinnere ich mich an dieses Nichts, welches mich in diesem Moment ausgefüllt hatte. Dieser Zustand, in dem man zwischen hören und begreifen ist, in dem alles laut krachend über einem zusammenschlägt, damit man es neu zusammensetzen kann, mit geblendeten Augen und klingenden Ohren.
Vor diesem Tag habe ich so viel gelacht, dass mir manchmal der Bauch davon wehtat. Meine Umwelt war umgänglich und alles hatte eine positive Kehrseite. Es gab kein 'Nein', es gab höchstens eine Möglichkeit, dieses zu vermeiden. Und als ich Janek kennen lernte, verdreifachten sich all diese herrlichen Dinge und alles wurde sonnengelb. Immer, wenn ich etwas mit Janek vor hatte war ich glücklich, weil ich wusste, dass wir beide zusammen Spaß haben würden und ich die Zeit für die Stunden, die ich mit ihm verbringen würde, vergessen könnte. Nie drohte ein einzelnes Problem mich umzureißen, nie weinte ich, weil ich mich an etwas Schönes erinnerte.
Bis zu diesem Tag.
In den Wochen bis Schuljahresende sprach er kaum noch das Nötigste mit mir, blickte mich immer mit diesen unendlich trübsinnigen und abschätzenden Augen an und ließ sich nicht noch einmal dazu herab, mich zu rufen wie all die Jahre schon. Er sagte nur noch 'Julia' zu mir.
Vielleicht waren diese Wochen das schlimmste, vielleicht nicht. In ihnen habe ich die Angst gelehrt bekommen, die Angst vor dem Verlust und vor dem Ende und vor der Einsamkeit. Denn Janek war nicht nur mein bester, langjähriger, vertrautester Freund, sondern war aus meiner überflüssigen Verliebtheit auch noch eine tiefschürfende Liebe geworden, die so lange erträglich schien, wie er bei mir blieb.
Und um meinen endgültigen Zusammenbruch und den Wahnsinn zu vermeiden, redete ich mir den Mund fusslig. Vor seiner Stiefmutter, seinem Vater; nur nicht vor ihm. Zwei, drei Mal schrieb ich ihm über diese sinnlosen sozialen Netzwerke meine Bedenken, deutete meine Angst an, aber mehr nicht. Ich traute mich nicht mehr mit ihm zu reden, schon gar nicht ehrlich, seit er mich angefahren hatte, dass ich ihm seine Ruhe lassen sollte.
Heute hasse ich mich dafür, dass ich nichts weiter unternommen habe. Ich habe mein Leid verschuldet und seines ebenfalls. Und daran zerbreche ich jedes Mal, wenn auch nur sein Schatten in meinen Erinnerungen mitspielt.
Das letzte Bild, das sich immer wieder ungefragt in meinen Kopf schiebt, sind seine Augen. Seine seeblauen, durch meine Tränen verschleierten Augen, aus denen die Schadenfreude sprudelte, um Enttäuschung und Angst und Hilflosigkeit zu überspielen. Als er mich auslachte, weil ich ihn anflehte, zu bleiben, Kontakt zu halten, mich ein letztes Mal zu umarmen. Das war das Schlimmste.
Immer, wenn ich mir etwas wünsche, geschieht das Gegenteil. Auch damals war es so. Er ging fort. Er ließ mich weinend stehen. Ich habe bis heute nicht ein Wort von ihm gehört.
Alle Kontakte sind getrennt, die Internetwege hat er durch Blockierungen beendet und eine Adresse habe ich nicht. Und als ich Paul danach gefragt hatte, wollte er sie mir nicht verraten, weil er meinte, dass Janek das nicht wollte.
Und seit diesem Tag fühle ich mich wertlos und stehen geblieben.
Mein Leben läuft seither immer in denselben alten Furchen: Ich verändere nichts, verkrieche mich im Alltag mit der Angst, etwas zu vergessen und traue mich nicht, auszubrechen, weil ich Janek sonst genauso verraten würde wie es sich anfühlt, dass er mich verraten hat.
Ich weiß, dass er das nicht getan hat. Sein Schmerz war genauso groß, aber er hat einen glatten Bruch daraus gemacht und blickt sicher kaum noch zurück. Ich hingegen verschwinde bereits in der Vergangenheit, wenn Paul mich umarmt; aus Paul wird Janek und sein Geruch kehrt zurück und meine Welt wird wieder bunt und schmerzlos. Für eine Sekunde, damit sie in der nächsten noch viel trister und einsamer und wunder wie Pech an mir klebt.
Ich hasse mich. Dafür, dass ich ihn so mag und dass ich es ihm und mir so schwer mache. Dafür, dass ich mich nicht freuen kann, einen so großartigen Freund gehabt zu haben und dafür, dass ich mich verraten fühle.
Jeden Tag wünsche ich mir, dass er zurückkommt oder mir schreibt oder ich von meinen Freunden, die noch Kontakt zu ihm haben dürfen, etwas erfahre. Manchmal wünschte ich, noch einmal von vorne anfangen zu können, alles besser zu machen oder ihn nie kennen gelernt zu haben.
Ich wische mir die letzten Tränen aus den Augenwinkeln. Heute war ich nicht so einsam. Heute war die Sonne da und hat mich an den Sommerabend erinnert, als wir mit Familie und Freunden Karten gespielt und gelacht haben.
Ich stehe auf und strecke mich. Mein rechter Fuß ist eingeschlafen, meine Arme hängen kraftlos an meinen Seiten. Ich starre der untergegangenen Sonne noch einen Moment nach und hoffe, dass Janek, meine eigene Sonne, wie der Stern hinter dem Horizont vielleicht schon morgen wieder aufgeht.