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Ohne dich

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama / P12 / Gen
22.08.2010
22.08.2010
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Dieser Oneshot entstand zum Projekt "Ohne dich"

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Ohne dich


„Komm zurück und red mit mir!“

Das waren meine Worte. Gefühle, die sich zu einem Gedanken und schließlich diesem Satz geformt haben. Einem Satz, der mich überrascht hat. Und auch wieder nicht. Der mir gezeigt hat, wie verworren, wie vielschichtig mein Unterbewusstsein gerade zu dir steht.

Körperwahrnehmung.
Ein Kurs, den ich in der zweiten Hälfte meiner stationären Therapie besucht habe. Der mir mehr als vieles Andere die Augen darüber geöffnet hat, wo die Ursache für mein größtes Problem verschüttet war. Schon beim ersten Mal, als es nur ums „Nein“-Sagen ging, ist etwas in mir geschehen, was ich zwar verstand, aber trotzdem irgendwie nicht greifen konnte.

Am selben Nachmittag hatte ich, wie meistens, mit den erst hier erworbenen Pastellkreiden gemalt, draußen im sonnigen Klinikgarten. Ein wirres, buntes Gemisch aus Formen und Farben, in deren Mitte am Ende ein Herz entstand. Und dessen rechte obere Ecke ums Verrecken nicht so wurde, dass es mir gefiel. Drei, vier Schichten in unterschiedlichen Varianten und Farben waren bereits auf dem Papier und es schrie immer noch „Unvollkommen!“. Und dann passierte es.

Ich hatte das Gefühl, weg zu müssen. Raus aus der Sonne, dem grünen blühenden Garten und rauf auf mein Zimmer. Weinen. Keine Ahnung, warum und vor allem worum – aber das Gefühl war da. Ich packte mein Zeug zusammen und ging nach oben. Sah die Stationsschwester, die Dienst hatte, in ihrer Teeküche; jene Schwester, die auch in einigen meiner Kurse mitarbeitete und die für mich in diesem Moment noch richtiger war als meine Therapeutin.

Ich konnte nur ein paar Worte, unvollständige Sätze herausbringen und fing an zu weinen; das genügte. Sie nahm mich sofort mit ins Dienstzimmer und hat dort ein Kunststück vollbracht, das ich bis dahin so nicht kannte. Mit sanften, aber bestimmten Worten und Blicken hat sie mich tiefer und tiefer in das Gefühl getrieben, das alles auslöste, damit ich es greifen und benennen kann und mich gleichzeitig irgendwie aufgefangen und mir Halt gegeben.  

Danach habe ich über zwei Stunden in meinem Bett gelegen, immer nur ein und dasselbe Lied gehört und geweint, bis keine Tränen mehr da waren. Ich war dort und nicht dort. Ich war in meinen Gefühlen und Gedanken das kleine Mädchen, das nicht verstand, wieso sein Papa fort ging – und das irgendwann an dem Punkt ankam, wo es „Nimm mich mit!“ schluchzte.

Dass nicht nur Traurigkeit, Enttäuschung und wohl auch Hilflosigkeit viel zu lange an mir genagt haben, erfuhr ich zwei Tage später. Bei besagter Körperwahrnehmung. Wir bekamen Sandsäckchen. Kleine mit Sand gefüllte Kissen, die wir an die Wand oder auf den Boden werfen sollten, je nachdem, wonach uns war. Nach ein paar Minuten forderte die Therapeutin uns auf, zu versuchen, die Aggression, die Wut in uns in Worte zu fassen und diese auszusprechen, während wir so ein Säckchen werfen.

Und da war er. Dieser Satz, „Komm zurück und red mit mir!“
Aus heiterem Himmel, dachte ich doch gerade zuvor noch an meinen Ex-Mann, auf den ich durchaus auch wütend war. Aber dieser Satz galt dir, Papa. Dir und deinem verdammten verschlossenen Sturkopf, der dir verbot, mit uns, deinen Kindern, über deine Gefühle zu reden. Darüber, was du tatsächlich gedacht, gefühlt hast, als du dich entschieden hast, unsere Mutter und uns zu verlassen.

Oh, du warst all die Jahre danach für uns da, keine Frage. Wir haben uns regelmäßig gesehen, in wichtigen Dingen haben Mama und du euch immer abgesprochen, du hast deine finanziellen Verpflichtungen ernst genommen und uns manch Schönes ermöglicht. Auch mit meiner Stiefmutter habe ich mich nicht nur glänzend verstanden, ich habe sie sehr lieb gewonnen. Durch Gespräche mit ihr und meiner Mutter habe ich auch sehr viel erfahren, was damals ablief und wo die eine oder andere Ursache dafür lag, dass du und Mama nicht klar kamen.

Mein Kopf hat so vieles verstanden, nachvollziehen können. Und er weiß auch, dass du uns geliebt hast. Dass du mich geliebt hast. So sehr vieles auch ihn betrifft, ich kann und will nicht für meinen Bruder sprechen. Er muss mit seinen Gefühlen klar kommen, ich mit meinen. Auch wenn wir Zwillinge sind, trennen uns Welten in vielen Dingen; deshalb reden wir selten über diese Themen. Und der, mit dem ich am liebsten darüber reden möchte, dessen Sicht mir verdammt noch mal fehlt, bist du.

Wie viel Wut tatsächlich in mir gärte habe ich erst durch diesen Satz gemerkt. Wie gern ich dich schütteln, dir ins Gesicht schreien möchte, dass du mir entsetzlich weh getan hast, als du gingst. Und noch viel mehr damit, nie offen mit mir über mehr als oberflächliche oder noch weiter zurück liegende Ereignisse zu sprechen, die ein wenig mit deiner Entscheidung zu tun hatten.

Ich bin noch immer wütend. Noch immer traurig und enttäuscht. Denn das, was du getan und nicht getan hast, hat mein Vertrauen zur Spezies Mann geprägt. Auch das habe ich erst sehr viel später, im Rahmen einer Verhaltenstherapie, erkannt. Wie soll ich einem Mann rückhaltlos vertrauen, wenn schon der erste, wichtigste Mann in meinem Leben dieses Vertrauen in seinen Grundfesten derart erschüttert hat?

Ich arbeite daran. Unter anderem dadurch, all dies jetzt aufzuschreiben. Denn eines habe ich inzwischen gelernt: Schreiben, Malen und Musik sind die Ventile, die ich brauche, um zu verarbeiten. Weiterzugehen, ohne die Schatten zu fürchten oder vor ihnen davon zu laufen. Manchmal stolpere ich dabei noch. Oder verkrieche mich, stecke wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand und hoffe, dass alles Schlechte vorbei zieht und mich ignoriert.

Aber es gibt Tage, da erwacht das verlassene Kind aus seiner ängstlichen Starre, stampft mit dem Fuß auf den Boden und fordert die Liebe und Aufmerksamkeit, die es so sehr braucht. Die es von dir zwar auch bekommen hat; aber nicht in dem Maß, nicht in der Form, die ich mir gewünscht hätte. Die ich mir heute immer noch von den Menschen wünsche, die mir etwas bedeuten. Vor denen ich mich aber genauso zurückziehe, wenn die dunklen Phasen die Oberhand gewinnen.

Weißt du, es ist nicht so, dass ich nicht ohne dich leben kann. Ich habe ja auch keine Wahl, denn du bist längst dorthin gegangen, wo wir uns – hoffentlich – erst am Ende meines Weges wieder sehen können. Aber es tut immer noch sehr, sehr weh, ohne dich zu sein. Ohne all die Gespräche, die ich so gern mit dir geführt hätte. Besonders jetzt, wo ich so viel mehr über mich und meine Psyche, ihre Abgründe und Mechanismen weiß und du sicher noch einiges hättest erklären können.

Aber du bist nicht mehr da. Und mir bleibt nur, mich damit abzufinden, dass ich zumindest in diesem Leben nicht mehr erfahren werde, wie du ganz tief innen wirklich getickt hast. Daran zu glauben, dass du mich genau so sehr geliebt hast wie ich dich und wir uns eines Tages doch aussprechen können. Egal, ob im Himmel, einer anderen Welt oder Dimension oder wie immer das heißt, wohin unsere Seelen nach unserem Tod zurückkehren.

Bis dann, Papa.
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