Sascha & Kerstin - Mal anders
von Himmelblau
Kurzbeschreibung
Sascha war der aktive Part des Paares, Kerstin die passive. Was passiert, wenn die Rollen vertauscht sind - und nicht nur diese Rollen...
GeschichteLiebesgeschichte / P12 / Gen
Alexandra "Sascha" Mehring
Kerstin Herzog
01.10.2009
02.10.2009
8
164.182
1
01.10.2009
31.489
Prolog
Es versprach ein wunderbarer Morgen zu werden. Die Sonne schien warm vom wolkenlosen, tiefblauen Himmel, die Vögel überboten sich mit fröhlichen Liedern aus allen Richtungen und die Luft roch nach der wunderbarsten Mischung aus frischgemähten Gras und Meeresluft. Es war wie das Paradies auf Erden. Leider hatte auch dieses Paradies einen kleinen – nun ja, sagen wir mal nicht Harken, sondern Apfel: Es existierte nicht! Dieses Szenario spielte sich ganz alleine in der Phantasie von Doktor Kerstin Herzog, neunundzwanzig, ab. Die Sommeridylle war in Wirklichkeit ein kalter Wintertag in Berlin, weder die Sonne war zu sehen noch waren die Gesänge der Vögel zu hören und frischgemähte Gras und Meeresduft waren ihr hier noch nie begegnet. Und die morgendliche Pferdekutsche aus Gold, die sie zu ihrem Urlaubsort gebracht hatte, war ihr Fahrrad gewesen, mit dem sie nach Reutlitz gestrampelt war. Reutlitz, ein Frauengefängnis in Berlin, wo Kerstin seit nun einem Jahr arbeitete. Was als Übergang zu einer eigenen Praxis oder einer Stelle als Chefärztin in der Charité gedacht war, schien zu einem dauerhaften Engagement zu werden. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern als kleines Mädchen davon geträumt zu haben in einem Frauengefängnis zu arbeiten. Okay, als kleines Mädchen hatte sie diesen kitschigen nullachtfünfzehn Traum gehabt, dass sie eine Prinzessin werden würde, aber dieser Traum hatte sich dann nach und nach als nicht realisierbar erwiesen, was allerdings nicht an der Auswahl der Prinzen lag. Ihre Mutter hatte sie bereits früh mit den Bildern der wichtigsten Prinzen in ihrem Alter versorgt und eine Zeit lang sahen sie sehr gut aus, aber dann…dann stellte Kerstin fest, dass die Prinzessinnen um einiges besser aussahen und sie viel mehr ansprachen. Mit dieser Erkenntnis war das Unternehmen Prinzessin gestorben. Soweit sie wusste, war selbst in den modernsten und liberalsten Königshäusern die Hochzeit zweier Frauen verboten. Also suchte sie weiter nach einer bürgerlichen Prinzessin, die jedoch bisher nicht in Berlin aufgetaucht war – oder sie hatte sich gut vor Kerstin versteckt. Dabei suchte Kerstin jede freie Minute nach ihr. Ihr kam es langsam so vor, als wenn sie alle Frauen aus Berlin bereits kennen würde. Oder zumindest alle, die als ihre Prinzessin in Frage kamen.
Zurück zur Realität und zur aktuellen Situation in Kerstins Leben. Sie hatte es ausnahmsweise geschafft pünktlich zum Dienst in Reutlitz zu erscheinen und saß nun gelangweilt zwischen ihren Kollegen im Besprechungszimmer und wartete auf Doktor Strauß, dem Direktor. Die Pünktlichkeit war Kerstins große Schwäche. Es kam regelmäßig vor, dass sie verschlief. Wenn sie heute Morgen geahnt hätte, dass sich Doktor Strauß Zeit ließ mit der Besprechung, hätte sie sich noch einmal rumgedreht und hätte weitergeschlafen. Im Moment träumte sie jede Nacht wunderschön. Sie wusste zwar am nächsten Morgen nie worum es ging, aber sie war immer fröhlich und ausgeruht, sogar wenn sie pünktlich aufstand. Hätte sie heute Morgen jedoch länger geschlafen, wäre sie in Gefahr gelaufen unsanft geweckt zu werden. Mit ihrem Radiowecker wurde sie fertig, den ließ sie mit einer Handbewegung – die sie leider bereits im Schlaf beherrschte – erstummen, aber ihr erbarmungsloser Zweitwecker, den konnte sie erst dann zur Ruhe bringen, wenn sie angezogen am Frühstückstisch saß und bereits auf dem Sprung zur Arbeit war.
Die Tür wurde geöffnet und Doktor Strauß trat in Kerstins Augenwinkel. Endlich. Sie hatte noch andere Dinge zu tun als hier auf ihren Chef zu warten.
„Guten Morgen.“ Das würde sich noch zeigen. Bisher war Kerstin nicht die Krankenakten durchgegangen. Sie murmelte etwas, das ebenfalls wie „Guten Morgen“ klingen sollte und sah kurz hoch und hielt in der Bewegung inne. Ja, was war das denn? Hallo! Ihre Begeisterung entstand allerdings nicht für Doktor Strauß, der sah aus wie jeden Tag; nur älter. Nein, er hatte jemanden mitgebracht. War denn heute Tag der offenen Tür? Oder…nein! Genau, das hatte sie vergessen. Die neue Kollegin. Erst gestern hatte sie die Worte „…ihren Dienst antreten…“ gehört, da war sie mal wieder zu spät zur Dienstbesprechung erschienen. Genau, heute war der Erste des Monats, Dienstantritt. Wie konnte sie das vergessen? Sie wurde langsam alt.
Ihre Müdigkeit völlig vergessen kam sie sich nun vor wie im Paradies und die neue Kollegin musste die Versuchung sein. Was für ein toller Apfel. Kerstin würde ohne zu zögern zubeißen – mehrmals.
„Das ist Frau Wüllner, sie tritt heute ihren Dienst bei uns an. Ich hoffe, Sie werden ihr das Eingewöhnen so angenehm wie möglich gestalten….“ Gerne, sehr gerne. Kerstin hatte Mühe ihre Augen von der neuen Kollegin zu nehmen. Wie gut dass sie einige Unterlagen vor sich liegen hatte, da konnte sie sich darauf konzentrieren. Ein kurzer Blick durch die Runde der Kollegen und sie stellte fest, dass sie nicht die Einzigste war, die die Ankunft der neuen Kollegin als erfreulich empfand. Jansen, Kittler, Bleiming und Neumeyer waren ebenfalls kurz davor die Augen zu verlieren. Wenn das keinen Kampf gab…und Kerstin mitten drin. Nur, die Erfolgschancen waren meistens sehr gering. Wenigstens konnte sie keinen Ring an den Händen der neuen Kollegin feststellen. Ein Anfang. In allzu festen Händen war sie somit nicht; noch nicht, aber das konnte FRAU ja ändern.
Betont unauffällig setzte Kerstin zu einer neuen Inspektion der Kollegin an als Doktor Strauß die Besprechung beendete.
„Wer könnte denn Frau Wüllner mal die Station…“ Gierige Blicke der vier Herren. Kerstin konnte sich ihr Angebot gleich sparen, sie war die Ärztin, sie konnte der neuen Kollegin höchstens die Krankenstation zeigen...und die Krankenbetten…
„Frau Schnoor, machen Sie das, bitte?“ Jetzt hätte Kerstin beinahe gelacht. Der Reihe nach waren die Gesichter der Männer eingefallen. Chance vertan, Jungs. Dieser Anblick war das frühe Aufstehen wert gewesen. Nicht dass man auf die Idee kam, Kerstin würde ihren Kollegen nichts gönnen, aber was Frauen anging, da war sie sehr egoistisch. Und bisher fehlte ihr in Reutlitz eine Kollegin, für die es sich lohnte früh aufzustehen und jeden Tag zur Arbeit zu gehen. Wer weiß, vielleicht wurde Verena Wüllner diese Kollegin. Sie verstand sich zwar sehr gut mit Maja und der Schnoor, aber sie waren kein Grund herzukommen.
„Gut, dann wünsche ich Ihnen allen einen angenehmen Arbeitstag. Frau Herzog?“ Kerstin sah auf. Was wollte er denn von ihr? Sie war pünktlich gewesen und hatte einen – den Umständen entsprechenden – aufmerksamen Eindruck gemacht als er sein übliches Tagesprogramm abgespult hatte. Oder hatte sie die neue Kollegin zu offensichtlich angestarrt. Sie fand, die männlichen Kollegen waren da schlimmer gewesen.
„Ja?“
„Wann haben Sie diese Woche Zeit? Wir müssen uns wegen Frau Zimmermann besprechen.“ Gut, etwas dienstliches. Alles andere hätte unangenehm werden können. Sie hatte in ihrer Ausbildung einmal Ärger mit ihrem Vorgesetzt bekommen weil sie eine Kollegin zu offensichtlich angeschmachtet hatte. Er hatte ihr nahe gelegt ihre „perversen Phantasien“ nicht am Arbeitsplatz auszuleben. So viel zur Toleranz der Ärzte an katholischen Privatkliniken. Sie hatte die Ausbildung auch nur gemacht weil es in der Nähe ihrer Heimat gewesen war und sie sich damals nicht sicher war, ob sie schon bereit gewesen war um alleine in die Großstadt zu gehen. Aber das war Vergangenheit.
„Wie wäre es mit morgen Nachmittag?“ Doktor Strauß blätterte in seinem Terminkalender.
„Sechzehn Uhr?“ Oh, das war eine Stunde bevor sie beide Feierabend hatten, demnach hatte das Gespräch sofort ein Zeitlimit, das mochte Kerstin. Doktor Strauß konnte ihr gelegentlich einen Knopf an Ohre labern, um es salopp auszudrücken.
„Das passt mir wunderbar.“
„Gut, dann um sechzehn Uhr in meinem Büro.“ Kerstin stand auf. Durch dieses kurze Gespräch hatte sie Verena Wüllner völlig aus den Augen verloren. Schade, aber sie würde sie schließlich ab jetzt jeden Tag sehen. Verena Wüllner, vielleicht ihr neuer Grund pünktlich zur Arbeit zu kommen und sich für die ein oder andere Überstunde anzumelden wenn ihre Angebetete Spätschicht hatte.
Kerstin selber hatte die neue Kollegin den ganzen Morgen nicht zu Gesicht bekommen, dafür war sie zu sehr auf der Krankenstation eingespannt. Vor allem ihre Lieblingspatientin Walter beanspruchte ihre Zeit. Diese lag nach einem missglückten Fluchtversuch mit einem gebrochenen Bein seit einer Woche auf der Krankenstation und wurden von Tag zu Tag ungemütlicher. Allerdings konnte Kerstin das als Zeichen der Besserung deuten.
„Deine Tabletten kannst du wieder mitnehmen, die wirken sowieso nicht.“ Walter warf Kerstin das Röllchen mit den Tabletten entgegen, die sie mühevoll schnappte. Sportarten, in denen man etwas fangen musste, waren ihre Schwäche gewesen. Sie hatte beim Basketball den Ball meistens nur abprallen lassen statt ihn zu fangen und dann sinnvoll weiterzugeben.
„Frau Walter, die Tabletten wirken wenn Sie sie richtig einnehmen. Wenn Sie allerdings erst Essen und dann eine Tablette nehmen, dann kann diese nicht wirken. Es wäre ihrer Genesung sehr hilfreich wenn Sie gelegentlich das machen würden, was ich Ihnen sage. Auch wenn Sie es nicht glauben, ich habe Medizin studiert, ich besitze gewisse Kenntnisse.“ Kerstin erwürgte Walter gedanklich. Es waren immer die gleichen Spiele, die sie spielten.
„Wir könnten ganz andere Kenntnisse ausprobieren“, schlug Walter vor.
„Ich habe keine Ahnung wovon Sie reden. Wenn Sie nun bitte…“ Es klopfte an der Tür. Egal wer oder was es war, wenn es Kerstin von Walter befreite, war sie gerne bereit sofort alles stehen und liegen zu lassen.
„Herein.“
„Ey, das ist mein Zimmer, da kann ich entscheiden wer…wow!“ Walter hielt mitten im Satz inne. Frau Schnoor und die neue Kollegin.
„Frau Herzog, haben Sie gleich fünf Minuten um der neuen Kollegin die Krankenstation zu zeigen?“
„Sofort, gerne.“ Was war schon eine maulende Walter gegen einen Engel?
„Machen Sie sich keine Umstände und kümmern Sie sich zuerst um Frau Walter. Frau Wüllner und ich sind so lange auf Station B.“
„Ich werde zu Ihnen kommen sobald ich hier fertig bin.“ Sollte es einen Weltrekord für das verarzten nerviger Patienten mit gebrochenen Bein geben, Kerstin würde ihn heute einstellen und dann eine sehr, sehr lange Führung über die Krankenstation machen. Sie konnte der neuen Kollegin so viele Dinge hier zeigen, eine Krankenstation war wie eine niemals leere Wundertüte, in der man immer wieder neue Dinge fand: Behandlungszimmer, Krankenzimmer, Medikamentenzimmer, Mullbinden, Pflaster und jede Menge mehr. Kerstin schüttelte den Kopf. Diese neue Kollegin machte, dass sie Schwachsinn dachte. Und es gab nur wenige Frauen, die sie so durcheinander brachten ohne dass sie ein Wort miteinander gewechselt hatten.
„Das nenne ich eine Schluse der Spitzenklasse“, meinte Walter sobald Frau Schnoor und Frau Wüllner den Raum verlassen hatten.
„Ja, da muss ich Ihnen ausnahmsweise mal Recht geben. Wer immer Frau Wüllner eingestellt hat, er hat besten Geschmack bewiesen. Besser geht’s nicht.“
„Ja, ich muss sagen, das ist die zweitbeste Schluse, die mir jemals begegnet ist. Komm mir ja nicht in die Quere, Spritzenfrau.“ Woher auch immer Walter wusste dass Kerstin lesbisch war, sie rieb es ihr laufend unter die Nase. Aber sollte es? Ihre Kollegen wussten es ebenfalls. Was sollten sie auch sonst denken nachdem sie Kerstin mit ihrer Ex auf dem Betriebsausflug gesehen hatten? Es störte Kerstin nicht.
„Ich befürchte, das ist nicht Ihr Kaliber, Frau Walter.“
„Ich habe schon ganz andere bekommen.“
„Natürlich.“
„Ja, und diese Schnecke ist Platz zwei meiner persönlichen Bestenliste. Keine Panik, du bist die Nummer drei, sollte ich abblitzen, darfst du mich trösten.“
„Ich wünsche angenehme Träume. So.“ Kerstin nahm die Tablettenrolle, die Walter ihr eben zugeworfen hatte. „Jetzt noch einmal von vorne: Eine Tablette VOR jeder Mahlzeit. Nicht während, nicht hinterher, nicht gar nicht, sondern VORHER. Kapiert? Gut, danke. Und hören Sie auf in Ihrem Bett herumzuzappeln, das Bein braucht Ruhe.“ Sie nahm ihre Tasche.
„Ja, ja.“
„Ach ja“ Kerstin blieb an der Tür stehen „Sollte ich noch einmal Qualm im Zimmer riechen, dann werden Ihre Besuche gestrichen und das Essen werde ich Ihnen von einem Beamten bringen lassen.“
„Sklaventreiberin.“
„Gut, ich sehe, wir verstehen uns. Einen schönen Tag, wir sehen uns heute Abend wieder.“ Kerstin schloss die Tür. So, nun ging es zum angenehmen Teil des Tages über. Sie strich ihren Kittel zurecht und machte sich auf den Weg zur Station B. Auf zu ihrem blonden Engel, der Versuchung. Kerstin kam sich ein wenig wie ein verliebter Teenager vor, der seine Lehrerin anbetete und nicht einmal deren Vornamen wusste.
Da stand das Objekt ihrer Begierde. Leider in der falschen Gesellschaft: Hendrik Jansen. Sie war kurz davor zu sagen, dass die Rettung da sei, konnte sich den Kommentar jedoch in letzter Sekunde verhindern.
„Ich bin dann so weit.“ Nicht zu sehr strahlen, nicht zu sehr erfreut klingen, ganz professionell, wie es sich für eine gute Ärztin gehörte. Und sie war eine gute Ärztin…die im Moment einen Hormonüberschuss unter Kontrolle halten musste.
„Ich bin mir sicher, du wirst der Kollegin alles zeigen, was sie sehen muss.“ Hendrik Jansen grinste fies und drehte sich um. Na super, er sparte sich einen Kommentar und er machte gleich Andeutungen. Typisch.
„Hat Ihnen Frau Schnoor schon etwas über die Krankenstation gesagt?“
„Nein, außer dass sie mir gezeigt hat wie ich dorthin gelange, weiß ich nichts.“ Frau Wüllners Laune schien weiterhin gut zu sein. Ein Wunder, wenn man bedachte, dass sie ihre Zeit gerade mit Jansen verbracht hatte.
„Naja, so viel gibt es da für die Beamten auch nicht zu wissen.“ Super. Wieso sagte sie nicht gleich, dass die Führung Zeitverschwendung war? Kerstin hätte sich Ohrfeigen können. Wann setzte ihr Gehirn wieder ein? Sie schloss einige Gittertüren auf und führte Frau Wüllner direkt in das Behandlungszimmer.
„Hier werden die Frauen von den Beamten hergebracht wenn sie über Schmerzen oder ähnliches klagen. Wichtig ist, dass Sie darauf achten, dass sie niemals unbeaufsichtigt hier sind. Die Schränke sind zwar abgeschlossen, aber wir haben es hier mit Verbrechern und nicht mit Kindergartenkindern zu tun. Die haben die besten Schlösser innerhalb von wenigen Sekunden geknackt.“
„Das dachte ich mir bereits.“ Super Kerstin, belehre sie, das wird dich beliebt machen, schimpfte Kerstin mit sich selbst. Frau Wüllner hatte den Job wahrscheinlich nicht wegen ihres charmanten Lächelns bekommen, so weit Kerstin wusste, war Doktor Strauß immun gegen so etwas.
„Sollte es zu einem Zwischenfall auf den Station kommen und Sie werden verletzt – was wir nicht hoffen wollen – dann bin ich natürlich ebenfalls für Sie da.“
Frau Wüllner lächelte „Das sagte mir Herr Jansen schon. Und er fügte wohlwollend hinzu, dass Sie bestimmt auch so gerne das ein oder andere Doktorspiel mit mir spielen würden.“ Kerstin, die gerade eine Akte wegräumen wollte, hielt in ihrer Bewegung inne. Hatte sie sich da verhört?
„Bitte?“
„Herr Jansen machte Andeutungen, dass Sie versuchen würden bei mir zu landen.“ Nein, sie hatte sich nicht verhört. Langsam übertrieb Jansen wirklich. Dass sie sich nicht leiden konnten, damit konnte Kerstin umgehen, ebenso dass ihr Umgang immer sehr kühl war, aber dass er jetzt anfing der neuen Kollegin zu erzählen, Kerstin würde sie zu Doktorspielen…auch wenn der Gedanken an sich nett war…nein, das ging zu weit. Sie musste dringend ein sehr ernstes Wort mit ihm wechseln. Gerne in Gesellschaft von den Kollegen und Doktor Strauß.
„Nun, Herr Jansen schließt gerne von sich auf andere, ich würde da nicht allzu viel drauf geben was er sagt.“
„Dann hat er Unrecht und Sie haben kein Interesse an mir?“ Frau Wüllner schien die Situation amüsant zu finden. War das nun positiv oder negativ für Kerstin?
„Ich kenne Sie keine zwei Stunden, wie soll ich mir da ein Bild von Ihnen gemacht haben? Aber wo wir gerade bei Hendrik sind: Was hat er Ihnen von sich erzählt?“
„Wieso?“
„Rein aus Interesse.“
„Dass er sich in Scheidung befindet weil seine Frau beschlossen hat, ihr Leben ohne ihn weiterzuleben und ihm die Kinder wegnehmen will, was ihm ziemlich fertig macht.“ Kerstin konnte sich einen Lacher nicht verkneifen. Die alte Geschichte. Genau diese Geschichte hatte er der Frau erzählt, die ihm letztens vor Reutlitz abgeholt hatte. Was er nicht bedacht hatte, was dass Britta, seine Frau, ihn ebenfalls abholen wollte. Das Aufeinandertreffen der beiden Frauen hätte Kerstin gerne gesehen, leider kannte sie nur die Variante, die Bleiming, der Dienst an der Schleuse hatte, erzählt hatte. Allerdings war das wie jede andere Geschichte von Hendrik Jansen geendet: er hatte geschafft alles so zu drehen, dass er gewann. Britta verzieh ihm und er lebte weiter mit einer Ehe, die er nicht führte und stieg hinter allen Frauen her.
„Und er wollte Ihnen die Stadt zeigen?“
„Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich nicht von hier bin?“
„Ehrlich gesagt habe ich geraten.“
„Stimmt, ich bin keine Berlinerin. Wieso haben Sie eben gelacht?“
„Ich denke, es wäre fair, wenn Sie das selber herausbekommen. Ich mag Hendrik Jansen nicht, das werde Sie unschwer festgestellt haben, aber im Gegensatz zu ihm möchte ich fair bleiben.“
„Hat er gelogen?“
„Teilweise.“ Oder komplett, wie man es sah.
„Was waren die Lügen?“
„Der lebt nicht in Scheidung, seine Frau will ihm nicht die Kinder wegnehmen, aber wenn das jemals passieren sollte, was ich für Britta Jansen hoffe, denn sie ist eine nette Frau, dann liegt das bestimmt nicht an ihr. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.“
„Überraschend neutral.“
„Überraschend?“
„Herr Jansen sagte mir, Sie würden alles versuchen um ihn schlecht zu machen.“ Hendrik Jansen schien heute auf Hochtouren zu laufen. Wieso stellte er nicht gleich eine Schild vor ihrem Behandlungszimmer, auf dem: ACHTUNG MONSTER stand, auf.
„Och, das macht er schon selber, dafür braucht er mich nicht“, rutschte es Kerstin raus. „Was hat er denn sonst noch Interessantes über mich erzählt?“
„Es wäre unfair das zu verraten, oder?“
„Nun, ich könnte Ihnen dann gleich sagen ob es eine Lüge ist oder nicht.“
„Und Sie antworten natürlich hundertprozentig ehrlich“, ein wenig Spott war in Frau Wüllners Stimme.
„Wieso nicht?“
„Er sagte, sie würden versuchen mich noch heute zu einem Kaffee einzuladen.“
„Ist ein netter Gedanke. Das kann ich gerne umsetzen.“
„Dann würden Sie mich in eine Bar führen, abfüllen und versuchen mich zu verführen.“
„Nein.“ Kerstin schüttelte entschieden den Kopf.
„Nein?“
„Nein, ich muss morgen arbeiten, da habe ich keine Zeit für Alkohol. Das würde ich dann am Wochenende versuchen“, grinste Kerstin. Frau Wüllner musste lachen.
„Sehr Pflichtbewusst.“
„Es scheint Ihnen ja wenig auszumachen, dass die Gefahr besteht, dass ich Sie verführen würde.“
„Ob nun Männer versuchen einen zu verführen oder Frauen, das ist egal. So lange alle ein klares „Nein“ verstehen.“
„Das ist eine Einstellung, die mir gefällt“, lachte Kerstin. Ja, die neue Kollegin gefiel ihr. Und das jede Minute mehr. Es gab nicht viele Menschen mit denen sie sofort ein solches Gespräch führen konnte.
Kerstin hatte das Unmögliche möglich gemacht und hatte sich für den Samstagabend mit Frau Wüllner verabredet. Was sie viel mehr überrascht hatte, war dass Frau Wüllner sofort zugesagt hatte. Sollte sie doch noch Chancen bei der Neuen haben? Bisher hatte sie nicht herausfinden können ob Frau Wüllner Männer oder Frauen vorzog oder sogar beiden Geschlechtern nicht abgeneigt war. Alles was sie herausgefunden hatte, war dass sie mit Vornamen Verena hieß, vierundzwanzig war und frisch ihre Ausbildung beendet hatte. Den Rest wollte sie an diesem Abend herausfinden. Sie hatten sich auf einem großen Parkplatz unweit von Reutlitz verabredet. Kerstin hatte ihnen eine gemütliche Cocktailbar ausgesucht, in der man neben den besten Cocktails kleine Snacks und leise Musik bekam, so dass eine Unterhaltung möglich war.
„Sehr gemütlich.“ Verena Wüllner ließ sich auf einem gepolsterten Stuhl nieder. Kerstin, ganz Lady wählte den Platz im neunzig Grad Winkel neben ihr. Die Psychologie besagte, dass dies der beste Platz für eine Unterhaltung war. Direkt gegenüber des Gesprächspartners zu sitzen ließ ihm keine Ausweichmöglichkeiten für seinen Blick und direkt nebeneinander erschwerte das gegenseitige ansehen. An was man alles denken musste an einem perfekten Abend.
„Freut mich dass es Ihnen gefällt. Ich dachte mir, wir beginnen den Abend ruhiger.“
„Ein seht guter Gedanke.“ Verena Wüllner schnappte sich die Karte. Kerstin ließ ihren Blick durch die Kneipe schweifen. Man konnte von den anderen Gästen nicht viel sehen, die einzelnen Tische waren abgeschirmt zwischen Palmen, großen Pappaufstellern mit Karibikmotiven und anderem Gegenständen, die eine gemütliche Atmosphäre schufen.
„Darf ich Ihnen etwas bringen?“ Die Kellnerin erschien „Hallo Kerstin“, sagte sie, als sie Kerstin erkannte „Lange nicht mehr gesehen.“
„Hi Ramona, ja, der letzte Abend hat mir Nachwirkungen für die nächsten drei Tage verschafft, da hatte ich erst einmal genug.“
„Du musstest dich mit Thomas anlegen und ein Wetttrinken beginnen. Ich hoffe, heute wird das anders sein.“
„Versprochen. Ich hätte gerne einen 4th of July.“
„Und Sie?“ Ramona sah zu Verena Wüllner herüber.
„Einen rostigen Nagel und dazu das Schinkenbaguette und die Tortillas mit dem extra scharfen Dipp.“ Wow, diese Frau gefiel Kerstin. Die hatte wirklich Feuer.
„Kommt sofort.“
„Ich gehe davon aus, dass die Küche gut ist?“, fragte Verena Wüllner Kerstin.
„Ja, super. Allerdings habe ich mich bisher meistens an die flüssigen Dinge gehalten.“
„Ich dachte mir, eine kleine Grundlage für den Cocktail kann nicht schaden. Schließlich soll ich aufpassen, dass ich nicht die Kontrolle verliere“, zwinkerte Verena Wüllner.
„Jansen“, stöhnte Kerstin. Musste der zu allen seinen Senf dazu geben?
„Er war sehr besorgt um mich.“
„Verständlich.“
„Verständlich?“
„Klar, ich bin eine Bestie. Kennen Sie die großen Warnschilder nicht? VORSICHT VOR DER FREILAUFENDEN KERSTIN nicht?“ Beide Frauen lachten.
„Ich denke, er ist eifersüchtig auf Sie.“
„Hat er dazu einen Grund?“ Eine interessante Frage, die je nach Antwort lohnend sein konnte.
„Nein.“
„Eigentlich müsste ich das schade finden, aber im Moment nervt er mich so sehr, da wäre ich froh, wenn er das kapiert und mich in Ruhe lässt. Das muss ich Ihnen lassen: Sie haben ihn so wuschig gemacht, er vergisst sogar seine dummen Kommentare am Morgen wenn ich verschlafe oder eine Dienstbesprechung vergesse.“
„Freut mich wenn ich Ihnen helfen konnte.“ Sie bekamen ihre Cocktails und Verena Wüllner ihr Essen.
„Prost.“ Kerstin hob ihren Cocktail an.
„Scol!“
„Sie sprechen schwedisch?“
„Nur das eine Wort. Bisher habe ich es leider nie geschafft nach Schweden zu fahren. Allerdings steht ein mehrwöchiger Urlaub in einem Wohnmobil in Schweden ganz oben auf meiner Urlaubsliste. Und Sie? Sprechen Sie schwedisch?“
„Nein, nur die gängigen Schulfremdsprachen. Das hat mir allerdings gereicht.“
„Und trotzdem wussten Sie, dass ich ein schwedisches Wort benutzt habe.“
„Weibliche Intuition.“ Kerstin sparte sich den Hinweis, dass sie dieses Wort aus einem Film hatte. Die Bildung aus Filmen machte keinen vertrauensvollen Eindruck für eine Ärztin. Hinterher hieß es noch, sie habe das operieren und verarzten bei den Wiederholungen der Schwarzwaldklinik gelernt.
„Aha.“ Verena Wüllner lächelte Kerstin vielsagend an, so dass deren Magen einige Schmetterlinge flogen. Was für eine tolle Frau. Es war Zeit einen kleinen Vorstoß zu wagen.
„Wollen wir uns nicht duzen? Nachdem wir schon den Abend zusammen verbringen.“
„Ich duze die Leute erst nach der ersten Nacht“, sagte Verena Wüllner ernst. Kerstins Unterkiefer klappte nach unten. Hatte sie das richtig gehört? Oder waren die Worte durch die Musik verändert worden. Verena Wüllner konnte unmöglich das gesagt haben, was Kerstin verstanden hatte.
„Bitte?“
„Dafür, dass Sie so eine Draufgängerin sein sollen, sehen Sie ziemlich entsetzt aus.“
„Naja, ich habe…na, ist ja auch egal…“
„Was denn?“
„Ich glaube, ich habe Sie falsch verstanden.“
„Nein, ich denke, Sie haben das richtig verstanden.“ Sie hob ihr Cocktailglas „Ich bin Verena, aber das weißt du ja bereits.“ Zwinkernd hielt sie ihr Glas vor Kerstin. Diese nahm perplex ihr Glas und stieß an.
„Kerstin, wie du ebenfalls weißt. Und ein wenig verwirrt.“
„Wieso?“
„Na, du duzt erst Leute nach der ersten Nacht. Was soll ich denken?“
„Was könntest du denken?“
„Dass du noch etwas mit mir vorhast.“
„Stimmt.“
„Stimmt?“ Hallo? War Kerstin im falschen Film oder fantasierte sie sich gerade die Unterhaltung zurecht und in Wahrheit redeten sie über Reutlitz. So wie das derzeit wahrnahm konnte das nicht stimmen. Das war zu schön um wahr zu sein.
„Ich möchte mir von dir die Stadt zeigen lassen und dann nach Hause bringen lassen. Da bekommst du einen Kaffee und das war es.“
„Einen Kaffee?“ Kerstin konnte sich ein dreckiges Grinsen nicht verkneifen „Zu meiner Zeit hieß das anders.“
„Ich meine das so, wie ich das sage.“
„Dafür hat sich das vorher anders angehört.“
„Och, ich wollte nur mal sehen wie du reagierst wenn du in die Defensive gedrängt wirst. Schließlich wurde mir mehrmals mit auf den Weg gegeben, dass du hemmungslos baggern wirst. Da wollte ich gucken, was passiert, wenn man dich mit zweideutigen Sätzen konfrontiert. Für eine Frauenheldin, wie Jansen dich beschrieben hat, bist du leicht aus der Fassung zu bringen.“ Verena lachte. Kerstin musste ebenfalls schmunzeln. Frauenheldin? Das dachte Jansen von ihr. Nun, er hatte ihr schon weniger schmeichelhafte Titel verliehen. Außerdem freute es sie viel mehr, dass Verena anscheinend einen Humor besaß, der dem ihrem sehr nahe kam.
„Kein heißer One Night Stand?“, fragte Kerstin enttäuscht.
„Nein, nicht mit mir. Aber du darfst dir gerne eine andere dafür suchen.“
„Liegt es an mir oder ist es der falsche Zeitpunkt?“
„Eindeutig an dir.“
„Mhm, du könntest mehr Taktgefühl zeigen.“
„Wieso sollte ich dich anlügen? Solltest du dich entschließen ein Mann zu werden, dann können wir über das Thema noch mal reden. Als Frau bist für mich völlig uninteressant; zumindest was über eine Freundschaft hinausgeht.“
„Du kannst gnadenlos ehrlich sein, das gefällt mir. Was du gesagt hast allerdings weniger. Du diskriminierst mich.“
„Ich weiß, aber damit musst du leben.“
„Na, wer weiß, vielleicht kann ich dich ja überzeugen mir eine Chance zu geben.“
„Du kannst es versuchen, aber ich gebe dir keine große Chance. Frauen interessieren mich nicht.“
„Und ich hatte gehofft, du würdest meine Arbeit aufregend machen. So kleine Nummern auf der Liege, im Besprechungszimmer, in der Schleuse…“ Mal sehen wie leicht Verena aus dem Konzept zu bringen war. Kerstin hatte schließlich eine Rechnung zu begleichen.
„Nein, dafür nehme ich den Jansen, der ist ein Mann“, erwiderte Verena trocken.
„Boah, das geht zu weit. Einen Korb, okay, aber wenn du wirklich mit dem Jansen anbändelst…“ Kerstin sah Verena empört an. Sie hatte ihr doch gesagt, dass das Geschwafel, das der Jansen von sich gab, nichts als Lügen waren um sie ins Bett zu bekommen. Wie konnte Verena da…?
„Kerstin?“ Verena grinste übers ganze Gesicht. Kerstin brauchte eine Sekunde um zu verstehen, dass sie sie auf den Arm genommen hatte. Sie hatte Kerstins Versuch sie aus der Bahn zu werfen eiskalt gekontert und dafür Kerstin aus der Fassung geworfen. Und Kerstin war darauf hereingefallen. Das konnte eine interessante Zeit mit ihnen werden.
Kerstin warf ihren Kittel mit einem geübten Wurf über den Kleiderständer und schlüpfte in ihre Turnschuhe. Feierabend! Das wurde auch Zeit. Sie hatte sich heute laufend mit Jansen in den Haaren gehabt. Sie brauchten bloß ein paar Sekunden zusammen an einem Ort zu sein, dann begann einer den anderen zu ärgern. Hoffentlich lief er ihr jetzt nicht übern Weg, der würde ihr sonst die Feierabendlaune vermiesen.
Entschlossen sich nicht die Laune verderben zu lassen ging sie leise pfeifend über den Flur. Sie hatte bereits den ganzen Tag einen Ohrwurm, den ihr Kilian gestern Abend verpasst hatte. Laufend musste sie „Through the barricades“ von Spandau Ballett pfeifen oder wenn sie alleine in ihrem Arztzimmer war, passierte es, dass sie plötzlich die eine oder andere Strophe sang. Wieso war sie im Moment so anfällig für romantische Musik? Das passierte ihr doch sonst nicht. Gute Laune Musik, ja, die bekam sie öfters nicht aus dem Kopf, aber Balladen?
„Halt! Nimm mich mit!“ Verena kam aus der Umkleide heraus und rief hinter Kerstin her.
„Na gut, weil du es bist.“ Kerstin blieb grinsend stehen. Ob Verena der Grund war wieso sie diese Ballade nicht aus dem Ohr bekam? Immerhin machte Kerstins Herz jedes Mal einen kleinen Sprung wenn sie Verena sah.
„Danke, ich…“
„Einen schönen Feierabend, die Damen.“ Kerstin wollte den Drang sich umzudrehen unterdrücken, aber der Reflex ließ ihr keine Chance. Sie starrte wieder in das Gesicht von Jansen. Aus war es mit der Hoffnung, ihn heute nicht mehr zu sehen.
„Danke Hendrik.“ Verena strahlte wie eh und je.
„Gleichfalls“, murmelte Kerstin. Jansen beachtete sie gar nicht, sondern konzentrierte sich ganz auf Verena.
„Hast du heute Abend bereits etwas vor? Ich habe in zwei Stunden Feierabend, wir beide könnten…“
„Wir sind verabredet“, fiel Kerstin ihm ins Wort „Du kannst dich in aller Ruhe um deine Familie kümmern. Deine FRAU…“ Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu „…würde sich sicherlich freuen wenn du ihr mal wieder ein wenig Aufmerksamkeit schenken würdest.“ Und Kerstin würde sich noch mehr freuen wenn Jansen seine Finger von Verena lassen würde.
„Meine Frau ist im Urlaub mit den Kindern.“
„Danke Hendrik, aber Kerstin hat mich bereits eingeladen. Bei ihr Zuhause steigt heute eine Party. Aber komm doch mit.“ Kerstin fiel beinahe doppelt aus den Wolken. Was sollte das denn? Erstens fand ihres Wissens nach keine Party bei ihr statt, zumindest hatte Kilian nichts davon erwähnt, zweitens würde Jansen ganz bestimmt der letzte Mensch sein, den Kerstin auf einer Party sehen wollte. Wie konnte Verena ihn nur fragen ob er mitfeiern wollte? Kerstin warf Jansen einen vernichtenden Blick zu. Wehe er würde es wagen zuzusagen. Leider grinste Jansen bereits breit. Das verhieß nichts Gutes. Kerstin würde Verena erschlagen.
„Ich bin mir sicher, Kerstin Mitbewohner freut sich über dich. So weit ich weiß, bist du genau sein Typ und ich gehe mal davon aus, dass es dich nicht stören würde, wenn er dich ein wenig angraben würde. Ich meine, so ein kleiner Flirt unter Männer hat ja auch etwas erotisches, oder?“ Verena sah Jansen mit einem zuckersüßen Augenaufschlag an. Jansen Grinsen war von einer Sekunde zur anderen eingefallen und einem nun angeekelten Gesichtsausdruck gewichen. Dafür war Kerstins Laune ernorm gestiegen. Sie war kurz davor laut loszulachen. Alleine der Gedanke, wie Jansen von Kilian angebaggert wurde und sich voller Ekel in der Couch herumwand…würde Kerstin das live sehen, sie würde vor lachen über ihren Teppich kugeln.
„Nein danke, ich denke, das ist nichts für mich. Einen schönen Abend wünsche ich.“ Schnell sah er zu, dass er Land gewann. Kerstin sah Verena amüsiert an, die Jansen hinterher grinste.
„So was, der hat es aber eilig. Naja, gehen wir? Ich muss nicht unbedingt länger hier bleiben.“
„Dem schließe ich mich gerne an.“ Schweigend verließen sie das Gebäude und schlenderten über den Hof zur Schleuse, wo Frau Schnoor heute Dienst hatte. Kerstin konnte sich nicht daran erinnern, wann Frau Schnoor als stellvertretende Direktorin das letzte Mal an der Schleuse gesessen hatte.
„Auf Wiedersehen Frau Schnoor“, sagte Verena.
„Einen schönen Feierabend Frau Wüllner, Frau Doktor Herzog.“
„Wiedersehen Frau Schnoor. Wieso sind Sie hier?“
„Angeknackster Fuß.“ Birgit Schnoor hob ihren linken Fuß, den eine dicke Bandage zierte „Ich bin gestern umgeknickt, da hab ich mit dem Kollegen Neumeyer getauscht. Hier wird mein Fuß weniger belastet.“
„Wieso sind Sie nicht zu mir gekommen?“
„Das ist nicht so schlimm wie es aussieht. Ich denke, in ein oder zwei Tagen ist alles wieder weg. Ansonsten werde ich zu Ihnen kommen.“
„Dann gute Besserung.“ Kerstin schloss die Tür hinter sich und Verena.
„Sag mal“, begann Kerstin als sie vor Verenas Auto standen „Wie bist auf die Idee gekommen den Jansen zu einer Party einzuladen, die gar nicht stattfindet?“
„Ich wollte mal sehen ob er zusagen würde. Und dann kam mir die Idee mit einem Mitbewohner.“
„Jansen ist nicht wirklich Kilians Typ.“
„Das weiß ich nicht. Du hast mir bisher nur gesagt, dass er schwul ist. Ich habe Jansen unterstellt, dass er dieses auch weiß und dann gefiel mir der Gedanke wie Jansen guckt, wenn ich ihm vorschlage, dass er mit Kilian flirten soll. Bei Frauen lässt er nichts anbrennen, dann kann er das mal auf Männer übertragen.“
„Du spinnst“, grinste Kerstin. Aber Verenas Humor gefiel ihr.
„Naja, ich hatte auch keine größere Lust Jansen zu erklären wieso ich heute nicht mit ihm ausgehen möchte. Ich war mir sehr sicher, dass er die Einladung ablehnen würde.“
„Zum Glück. Ich meine, Jansen in meiner Wohnung“ Kerstin schüttelte sich „Schrecklicher Gedanke. Danach müsste ich alles desinfizieren oder am Besten renovieren.“
„Du hast einen Knall.“
„Ich weiß. Zuviel Medikamente im Selbstversuch getestet.“ Kerstin legte den Kopf schief und sah Verena an. Wenn sie bereits offiziell verabredet waren, konnte sie den Abend wirklich zusammen verbringen. Kerstin wollte schließlich weiterhin ihr Glück bei Verena versuchen. Von der einfachen Erklärung, Verena sei an ihr nicht interessiert, ließ sie sich nicht entmutigen.
„Was ist denn?“ Verena hatte Kerstins Blick bemerkt.
„Wann bist du bei mir?“
„Bitte?“
„Na, die Party, schon vergessen?“, grinste Kerstin.
„Du meinst die, die gar nicht stattfindet?“
„Ich meine die, die wir organisieren werden.“
„Wie willst du denn in der kurzen Zeit…?“
„Lass das mal meine Sorge sein. Wenn du in zwei Stunden da bist, dann können wir feiern.“
„Okay.“ Verena sah Kerstin skeptisch an „Ich bringe dich nach Hause und bin dann in zwei Stunden wieder da. Dann sehe ich endlich mal eure Residenz, die berühmte WG.“ Sie stiegen in Verenas Auto. Praktisch, nun musste Kerstin nicht laufen. Sie sollte Verena öfters einladen.
„Berühmte WG? Wofür sind wir denn berühmt?“
„Für die legendären Partys, die dich regelmäßig verschlafen lassen.“
„Sehr witzig.“ Kerstin zog schmollend die Unterlippe vor. Sie hatte die letzten beiden Wochen nicht verschlafen, noch eine Woche, dann hatte sie ihren persönlichen Rekord aufgestellt. Wobei sie nur das Verschlafen zählte, das sie zu spät zu den Besprechungen kommen ließ. Die anderen Male, wenn das Frühstück ausfallen musste oder sie die Hälfte Zuhause in der Hektik vergaß, die zählten nicht.
„Nicht schmollen, stell dir vor, dein Gesicht bleibt plötzlich so stehen.“
„Das sagt man zu kleinen Kindern, die Grimassen ziehen. Und das ist eine gemeine Lüge, die Gesichtszüge werden sicherlich nicht einfach so stehen bleiben. Und selbst wenn, dann fände ich ein Dauergrinsen auch nicht gerade angenehm. Stell dir vor, du bist auf einer Beerdigung und kannst nicht aufhören zu grinsen während alle um dich herum weinen. Schrecklich.“
„Auch wieder wahr.“ Verena hielt vor Kerstins Haus. Wo Kerstin wohnte, das wusste sie, nur im Haus drin war sie bisher nie gewesen.
„Okay, ich bin in zwei Stunden wieder da. Wenn das mit der Party nichts wird, dann ist es auch nicht schlimm.“
„Baby, das wird etwas, versprochen.“ Kerstin sprang aus dem Auto „Bis gleich.“
„Ciao.“ Verena fuhr lachend davon. Da war sie mal gespannt was Kerstin mit ihrem Mitbewohner nun zaubern würde. Im Zweifelsfall würden sie wohl zu dritt auf der Couch landen und alte Filme gucken. Einen entspannten Abend hätte sie nichts entgegen zu setzen, der Tag war heute stressig genug gewesen. Allerdings konnte sie beim Feiern ebenfalls gut entspannen. So oder so, es würde bestimmt ein schöner Abend werden.
Verena hatte es geschafft ihren Zeitplan einzuhalten und parkte pünktlich nach zwei Stunden wieder vor dem Haus von Kerstin. Äußerlich hatte sich hier nichts verändert. Keine große Ansammlungen von Autos, keine Menschenmassen, die herströmten. Alles war so ruhig wie sie es verlassen hatte. Es gab wohl doch keine Party. Gut dass sie sich nicht zu sehr aufgestylt hatte.
Sich auf einen ruhigen Abend freuend verließ Verena ihr Auto und ging zur Haustür. Diese war geöffnet und wurde durch ein Gummiband daran gehindert zuzufallen. Nicht gerade eine sichere Alternative zum Klingeln. Was hatte Kerstin gesagt? Sie wohnten oben? Verena sah sich kurz nach einem Lift um, aber das Haus hatte bloß drei Stockwerke und war bestimmt bereits hundertfünfzig Jahre alt, da gab es diesen Luxus nicht. Nun gut, jeder Gang macht schlank.
Beschwingt ging sie die Treppen hinauf. Keine Menschenseele war zu sehen, aber sie konnte Musik hören. Sollte das ihre Party sein? Wenn sie nicht alles täuschte, war das Barbara Streisand. War sie hier wirklich richtig?
Die Türklingel zeigte ihr, dass sie richtig war. Da stand Kerstins Nachname auf dem Schild. Verena wollte klingeln, stellte jedoch fest, dass auch diese Tür nur angelehnt war. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt.
„Junge Frau, nicht so schüchtern, kommen Se rein, dann können Se rausgucken“ Ein junger Mann zog Verena in die Wohnung, die bei diesem überfallähnlichen Angriff beinahe das Gleichgewicht verloren hatte.
„Ähm…ja…hallo…ich bin…“
„Die bezaubernde Verena, ich weiß. Hi, ich bin Kilian. Cocktail?“
„Ja, danke…woher…?“ Kilian zog Verena weiter in die Wohnung. Und tatsächlich, es gab eine Party. Kilian, der Verena weiterhin an der Hand hielt, zog sie zu einer Bar, wo fünf große Behälter mit bunten Flüssigkeiten standen, die automatisch verrührt wurden.
„Was darf es denn sein? Swimmingpool? Sex on the beach? Cosmopolitan? Tequila Sunrise? Tom Collins?“
„Tequila Sunrise, bitte. Aber nicht eine so starke Mischung.“
„Herzchen, die Mischungen sind bereits gemacht.“ Er nahm ein Glas und ließ es mit dem Cocktail aus dem Behälter vollaufen.
„Danke. Wo ist denn…?“
„Dort!“ Kilian zeigte hinter Verena. „Kerstin ist keine fünf Meter hinter dir.“
„Woher weißt du…?“
„Wen solltest du sonst suchen? Und werde mal locker, hier beißt dich keiner…außer Kerstin vielleicht, für die kann ich nicht garantieren, aber mit der wirst du ja fertig, oder?“ Kilian grinste breit.
„Ja.“ Verena musste lachen. Sie war es nicht gewohnt, dass wenn sie neu zu einer Party kam, sie sofort so umsorgt wurde.
„Hi.“ Kerstin gesellte sich zu ihnen und nahm sich ebenfalls ein Glas. Suchend fuhr sie mit dem Finger vor den Cocktails herum um dann den ganz links zu nehmen.
„Ich trinke sie einfach alle. Kilian, hast du meine Kollegin nett empfangen?“
„Natürlich. Einer muss das schließlich machen, du warst ja nicht da. Wehe dir, du hältst mir noch einmal vor, ich würde Ewigkeiten brauchen um mich für ein Outfit zu entscheiden. In der Zeit wo du Jeans und T-Shirt angezogen hast, hab ich eine Party organisiert und mich hergerichtet. Frauen.“
„Ich war bereits fertig, aber dann rief meine Mutter an. Und du weißt wie sie ist, wenn sie einmal anfängt zu reden, dann gibt es kein Ende mehr.“ Kerstin wandte sich an Verena „Tut mir leid, dass du ausgerechnet Kilian in die Arme gelaufen bist. Ich hatte auf eine richtige Empfangsdame gehofft und nicht diese Tucke.“
„Püff, du bist ja nur neidisch weil mir deine Sachen besser stehen als dir.“ Kilian nahm sich ein Glas und stolzierte davon.
„Er war wirklich nett.“
„Das würde ich nie bezweifeln“, lachte Kerstin und sah Kilian nach„Und er ist nicht wirklich sauer, das ist ein ganz normaler Umgangston zwischen uns. Wir lieben uns eben.“ Kerstin zwinkerte.
„Aha.“ Verena sah sich um. Nun kam sie mal dazu ihre Umwelt wahrzunehmen. Sie befanden sich in einem großen Raum, der sie stark an eine Reproduktion der Diskotheken der 70er Jahre erinnerte. Überall waren alte Möbel in quietschbunten Farben zu sehen, alte Film- und Musikplakate schmückten die Wände, eine Reihe Sessel, die Verena sehr an das Raumschiff Orion erinnerten, standen in einem Halbkreis. In den zwei Stunden, die Kerstin und Kilian Zeit gehabt hatten die Party zu organisieren, hatten sie bereits rund zwei Dutzend Leute herbekommen, einen großen Tisch mit Häppchen aufgestellt, die Bar mit den Cocktails und weiteren Getränken aufgebaut und eine alte Diskolampe unter die Decke gehangen, die ihre bunten Lichter in alle Richtungen verteilte.
„Wow, ich hatte mich schon auf einen Couchabend eingestellt, dass ihr es schafft, in zwei Stunden eine Party zu organisieren hätte ich nie gedacht. Wo sind all diese Leute her?“
„Das ist ein gutgehütetes WG Geheimnis, ich verrate es dir, wenn du dich dem würdig erwiesen hast.“
„Und wie erweißt man sich dem würdig? Mit wem muss ich ins Bett?“
„Wenn du so fragst, mit mir. Nein, wir haben einfach ein paar Leute angerufen und die haben ihrerseits ein paar Leute angerufen und schon standen die ersten vor der Tür. Da hier laufend spontane Partys steigen, haben wir immer das Nötigste im Haus. Die Bar steht auch an normalen Arbeitstagen, die Zutaten für die Cocktails lagern im Keller, das Knabberzeug im Schrank, die Häppchen sind vom Partyservice unseres Vertrauens. Und die Wohnung sieht immer so aus. Kilian mag es…außergewöhnlich…bunt…ein wenig schräg und ganz viel Kitsch aus den 70er Jahren. Wie man an seinem Outfit erkennen kann ist sein ganzes Leben ein Revival.“
„Und du fühlst dich wohl?“ Verena sah zweifelnd zwischen dem schrägen Kilian und der normalen Kerstin hin und her.
„Ja, ich finde, es ist etwas anderes. Diese gewöhnlichen Wohnungen findest du überall, unsere WG ist einzigartig. Und so lange er nicht anfängt meinen Kleiderschrank mit seinen Klamotten auszustatten, kann es so bleiben. Mir persönlich gefallen die 80er Jahre besser, aber einen so großen Unterschied sehe ich zwischen den beiden Jahrzehnten nicht. Die Geschmäcker waren in beiden gewöhnungsbedürftig. Ich denke an diese schrecklichen Leggins oder die Haare der Frauen. Manche sahen aus als wenn man sie erst rückwärts durch einen Farbklecks gezogen hätte und sie anschließend kopfüber im Kettenkarussell getrocknet hätte.“ Ein neuer Schwall Menschen kam ins Wohnzimmer. Zu Verenas Überraschung sahen sie völlig normal aus, keine ausgefallenen Outfits, sondern Jeans und T-Shirt.
„Das ist die Partygemeinschaft von Kilians Freund. Wie du unschwer erkennen kannst eine völlig andere Welt als die von Kilian. Seriöse Geschäftsleute und Büroarbeiter treffen auf Künstlergemeinschaft von Berlin. Oder anders gesagt: willkommen an dem Ort, an dem der Bankier sich mit dem Musicaldarsteller trifft.“
„Zu welcher Gruppe zählen denn Beamtinnen des Strafvollzuges?“
„Die wunderbar normale Minderheit.“ Kerstin drückte Verena einen neuen Cocktail in die Hand.
„Wenn ich den trinke wird es ein Taxi werden, dass mich nach Hause bringen muss, denn so wie die schmecken, habt ihr nicht mit dem Alkohol gegeizt.“
„Hat hier jemand ein Taxi bestellt?“ Ein Kopf schob sich zwischen Kerstin und Verena. Verena wich erschrocken einen Schritt zurück.
„Ich war es, ich habe es bestellt, es war ganz alleine meine Idee“, lachte Kerstin „Verena, das ist Wuschel. Nimm ihn nicht zu ernst, er ist ein Filmjunkie und wird, wann immer er mit dir redet, in Filmzitaten sprechen.“
„Are you still talking to me?“
„Ja, genau dich meine ich.“
„Hallo.“ Verena betrachtete den Mann interessiert, der sich in ein enges Lederkostüm gezwängt hatte. Sie war sich sicher, sie würde in diesem Outfit nicht länger als eine halbe Stunde überleben. Wie sollte man da atmen? Und wie lange brauchte er bis er da wieder raus war?
„Mein Name ist Wuschel, der Wuschel.“ Er verbeugte sich vor Verena.
„Den Namen hat er wegen seiner unübersehbaren Haarpracht.“
„Das dachte ich mir.“
„Spotte nicht über mich, ich weiß sehr wohl wofür du gekommen bist. Und du weißt sehr wohl dass ich sie habe. Nimm sie dir wenn du kannst, aber spotte nicht über mich.“
„Majestät, in eurem ganzen Schloss, in eurem ganzen Reich gibt es nichts was ich begehre.“
„Ich hoffe, ihr sprecht über mich. Dass du mich haben willst.“
„Nein, wir sprechen von den Einhörnern. Ich habe diesen Film so oft gesehen, ich würde jedes Zitat erkennen. Dieser Film gehört jahrelang zu meinem Weihnachten dazu. Ein grandioser Film, eine ergreifende Filmmusik und ein Buch, das mich gefesselt hat.“
„Wuschel, wir brauchen dich. Hier verdreht einer Zitate“, rief jemand. Wuschel verbeugte sich erneut und verschwand.
„Schauspieler.“
„Ich glaube, hier werde ich heute Abend mehr seltsame Leute treffen als in meinem gesamten Leben zuvor.“ Verena sah sich erneut um. So etwas hatte sie auch auf ihren Studienfeten nicht erlebt. Und sie war sich damals sicher gewesen, schräge als diese Feten konnten keine Feten werden. Nun wurde sie ein besseren belehrt.
„Puh, ich hätte die letzten drei Cocktails nicht trinken dürfen“, jammerte Verena „Jetzt darf ich nicht nur nicht mehr fahren, jetzt kann ich nicht mehr fahren. Und dabei hasse ich es nachts alleine Taxi zu fahren.“
„Dann bleib hier“, meinte Kerstin.
„Hier?“ Verena sah sich im Wohnzimmer um. Sie bezweifelte, dass diese Party vor dem Morgengrauen ein Ende finden würde. Und so wie es aussah, würden mehrere Leute diesen Raum als ihren Schlafplatz ansehen.
„Nicht im Wohnzimmer, Dummerchen, bei mir. Mein Bett ist groß genug für zwei.“
„Netter Versuch“, grinste Verena.
„Ich meine es ernst. Vergiss das Taxi, bleib hier.“
„Aber du hast mir nicht die ganzen Cocktails in die Hand gedrückt um mich zu verführen wenn ich wehrlos in deinem Bett liege, oder?“
„Ich gebe zu, ich finde dich tierisch scharf und ich würde dich – bei Interesse deinerseits – nicht von der Bettkante schupsen, aber ich habe auch einen Rest an Anstand und würde bestimmt nicht über dich herfallen wenn ich dich einlade hier zu bleiben um das Taxi zu sparen. So viel Benehmen darfst du mir zutrauen.“ Kerstin sah Verena ernst an. Natürlich träumte sie seit Tagen davon ihre Kollegin in ihrem Bett zu haben, natürlich war Verena eine Traumfrau, natürlich wäre dies eine einmalige Gelegenheit für Kerstin, aber nichtsdestotrotz würde Kerstin nichts machen, was Verena nicht wollte. Und in ihrem derzeitigen Zustand machte sie keinen willenlosen Eindruck. Sie war eben nur nicht mehr fahrtauglich.
„Diese Worte kann ich komplett unterstreichen. Egal was für eine Schürzenjägerin Kerstin sein mag, sie besitzt den Anstand ihre Opfer nicht zu überfallen.“ Ein großer, dunkelhaariger Mann gesellte sich zu ihnen. Verena würde ihn ohne weitere Zwischenfragen als erfolgreichen Filmschauspieler durchgehen lassen. Und als ihren Traummann.
„Opfer? Danke Pat. Dafür schuldest du uns zwei Getränke. Was darf es sein, Verena?“
„Zur Abwechselung mal ein Wasser, bitte.“
„Du willst die komplette Kontrolle haben wenn du bei Kerstin schläft, oder? Kann ich verstehen.“
„Nun hau aber ab.“ Kerstin verscheuchte Patrick mit fuchtelnden Armen. Wie stand sie denn da? Als wenn sie ein frauenmordendes Biest wäre, das jede Nacht eine andere flachlegen würde…für so etwas fehlte ihr das Angebot.
„Wer war das? Berühmter Schauspieler?“
„Geschäftsmann.“
„Auch nicht übel. Wenn wir in Reutlitz so einen als Schließer herumlaufen hätten, ich würde mich sofort für alle Doppelschichten eintragen lassen. Und ihm persönlich jedem Winkel vorstellen, wenn es sein müsste, jeden Kiesel auf dem Hof.“
„Und dann, in einer gemeinsamen Nachtschicht, ihr habt gerade Ruhe in allen Zellen geschaffen, sitzt im Aquarium, trinkt einen Kaffee zusammen, redet über euer Wochenende und die Pläne für das nächste Wochenende, kommen die magischen Worte…“
„Willst du mich heiraten?“, seufzte Verena.
„Ich bin schwul!“
„Was?“ Irritiert sah Verena Kerstin an.
„Die magischen Worte sind nicht ein Heiratsantrag sondern die Information, dass er schwul ist. Zumindest wenn du deine Geschichte mit Patrick träumst. Er ist Kilians Freund. Sorry Süße, aber den musst du dir abschminken.“
„War ja klar. Bin ich eigentlich die einzigste Hete hier?“
„Nein, aber in der absoluten Minderheit.“
„Bis dich die gute Kerstin umgedreht hat.“ Eine junge Frau, die bereits sichtlich angetrunken war, wankte zwischen die beiden. Kerstin warf ihr einen ärgerlichen Blick zu.
„Flora, lass das.“
„Wieso? Ist doch so. Als wenn du etwas anderes im Sinn hättest als die Schnitte ins Bett zu bekommen. So wie du das mit mir und Hunderten vor und nach mir ebenso gemacht hast. Die gute Kerstin hat nämlich jedes Wochenende eine Neue, musst du wissen, Schätzchen.“
„Du hast zuviel getrunken.“
„Genau, versuche dich herauszureden, aber deine süße Kleine wird schon merken, was für ein Spiel du mit ihr abziehst. Dann wird es zwar zu spät sein, aber sie bekommt immer das, was sie will. Notfalls mit einer gehörigen Mengen Alk. Glaub mir, irgendwann hast du so viel getrunken, dann „vergisst“ du, dass du eigentlich hetero bist und landest in ihrem Bett. Und ab dem nächsten Morgen darfst du dich dann als Geliebte Nummer irgendwas betrachten und aus ihrem Leben verschwinden. Hat sie dir ihr Bett schon angeboten? Das macht sie immer, so fängt das Spiel an.“
„Würdest du uns jetzt entschuldigen?“
„Wieso? Hast du Angst, dass dein neues Opfer es sich anders überlegt und du erst eine Neue aufreißen musst?“
„Das ist purer Blödsinn. Ich…“
„Verena, darf ich um einen tanz bitten?“ Patrick stand plötzlich zwischen den drei Frauen.
„Gerne.“ Verena sah verwirrt zwischen Kerstin und Flora hin und her. Was war das für ein seltsames Schauspiel? Patrick führte Verena in die Mitte des Wohnzimmers wo die offizielle Tanzfläche war.
„Was genau läuft da denn für ein Film ab?“
„Verlassene, eifersüchtige Ex versucht sich für die Trennung zu revanchieren. Flora und Kerstin waren letztes Jahr zusammen. Nicht lange, ein paar Wochen bloß, dann zerbrach die Beziehung wegen der rasenden Eifersucht von Flora. Kerstin ist nicht der Typ Frau, die sich jeden Abend brav neben ihre Freundin stellt und bloß sie anhimmelt, sie braucht eine lange Leine. Flora hatte dafür kein Verständnis, versuchte sie einzuengen, an sich zu binden. Versteh das nicht falsch, Kerstin ist treu, aber sie braucht ihre Freiheiten. Wenn man mit ihr raus geht, dann will sie auch mal mit anderen Leuten reden oder mit jemand anderem tanzen als mit ihrer Freundin. Deswegen betrügt sie sie nicht, aber Flora fühlte sich jedes Mal betrogen wenn Kerstin nur mit einer anderen sprach. Deswegen waren beide nicht lange zusammen und Flora…Flora trägt das Kerstin nach. Und da ihr beiden den ganzen Abend zusammen verbracht habt, sieht sie dich als neue Konkurrentin im Kampf um Kerstin. Bisher versucht sie vergeblich Kerstin von einer zweiten Chance zu überzeugen.“
„Ich bin wirklich keine Konkurrenz. Sollte ich Kerstins Angebot hier zu schlafen annehmen, dann werde ich bestimmt nichts mit ihr anfangen. So betrunken kann ich gar nicht sein.“
„Und Kerstin würde nicht versuchen dich zu irgendwas zu zwingen. Wenn sie dir sagt, du kannst hier schlafen, dann meint sie das so. Wenn du es wünschen würdest, würde sie auch auf dem Fußboden schlafen.“
„So schlimm bin ich auch nicht“, lachte Verena „Ich habe kein Problem damit mit Kerstin ein Bett zu teilen, ich mag Kerstin, nur eben wie gesagt: rein platonisch. Aber ich denke, das hat sie auch verstanden.“
„Verstanden und akzeptiert ja, aber sie wird dich trotzdem regelmäßig versuchen davon zu überzeugen, lieber mit ihr zusammen zu sein als mit einem Mann. Diese Überzeugungsarbeiten werden allerdings eher dann stattfinden wenn ihr zusammen aus seid oder in einer kleinen Anmerkung während der Arbeit.“
„Oh, da habe ich bereits einige von erhalten und dankend abgelehnt. Ich kenne Männer, die sind bedeutend penetranter.“
„Dann weißt du ja, wie man damit umgehen kann. Ich kann dich gut verstehen, ich finde auch, dass die Frauen aufdringlich sind.“
„Auch, Telefonnummern bekommen?“
„Diverse.“
„Dann, auf das gemeinsame Leid.“
„Geteiltes Leid ist halbes Leid.“ Patrick stieß mit Verena an. Ja, sie hatten etwas gemein.
Die folgende Geschichte hat mit dem Ablauf von Hinter Gittern nichts zu tun. Nur die Personen stammen zum größten Teil aus der Serie, wurden aber vom Charakter und anderen Merkmalen her ein wenig verändert. Und dann gibt es ein Wiedersehen mit bekannten Figuren aus meinen früheren Geschichten.
Teil 1
Kerstin Herzogs Tag hätte besser anfangen können. Sie hatte es mal wieder versäumt den Wecker am Abend zu stellen und war mal wieder zu spät dran. Hätte ihr Mitbewohner Kilian sie nicht geweckt, würde sie wahrscheinlich immer noch in ihren tiefen Träumen liegen. Allerdings hatten ihr diese Träume besser gefallen als die Realität. In der Nacht war sie die „Dancing Queen“ gewesen, hatte am Broadway alle Kritiker begeistert und für ein ausverkauftes Schauspielhaus für die nächsten Jahre gesorgt. Alle großen Showstars rissen sich darum mit ihr auf der Bühne zu stehen, und sie wurde mit Einladungen zu wichtigen Premierenfeiern und High Society Partys überhäuft. Die Herzen aller Frauen lagen ihr zu Füßen. Frauen, ja die wartete zwar im realen Leben auch auf sie, aber nicht so, wie es Kerstin gerne hätte. Denn sie war keine erfolgreiche und weltberühmte Tänzerin, sie war eine Ärztin in einem Frauengefängnis. Ärztin in Reutlitz. Wie hatte sie sich nur zu diesem Job breitschlagen lassen? Den ganzen Tag mit kriminellen Frauen und Kollegen, die ihre Machtgelüste auslebten. Doch der Arbeitsmarkt war - wie seit langem - nicht gerade ein Wunschkonzert und sie hatte keine Auswahl gehabt. Naja, wenigstens hatte sie die Kontrolle über alles, was in den medizinischen Bereich fiel. Sie war ein klein wenig die Chefärztin. Chefärztin der Uniklinik wäre ihr zwar lieber gewesen, doch wie gesagt, man muss nehmen was man kriegen kann. Kerstin parkte ihren Wagen auf dem Parkplatz für die Angestellten von Reutlitz und ging zur Schleuse. Der Kollege Neumeyer ließ sie herein und grinste sie dreckig an. Er versuchte bei allen Frauen zu landen. Hatte er immer noch nicht mitbekommen, dass Kerstin nicht auf Männer stand? Außerdem freute er sich, dass Kerstin mal wieder zu spät war. Sie konnte sich schon denken, dass Doktor Strauß, seines Zeichens Direktor in Reutlitz, wieder seine obligatorische Frage gestellt hatte. „Wo ist eigentlich Frau Herzog?“ Diese Frage hatte er bereits mehrmals gestellt. Kerstin hatte nämlich ein Talent dazu die Dienstbesprechungen zu vergessen, verdrängen oder, wie heute, zu verschlafen. Meistens langweilte sie sich eh oder regte sich auf, wenn die Kollegen von ihr erwarteten, die Frauen, die Probleme machten, mit Spritzen und Medikamenten ruhig zu stellen. Kerstin sah auf ihre Uhr. 15 Minuten zu spät, kein Frühstück, ungeduscht und mit einer Laune, die jedem Griesgram Ehre gemacht hätte. Das konnte ein schöner Tag werden. Wie gut, dass bald Wochenende war, da würde sie durch die Clubs in Berlin ziehen und den Ärger der Woche wegfeiern. Kerstin klopfte an und betrat das Besprechungszimmer, das gleichzeitig als Pausenraum fungierte.
„Morgen. Entschuldigung, ich bin im Stadtverkehr hängen geblieben“, log sie spontan und schenkte ihren Kollegen ein bezauberndes Lächeln. Natürlich war sie die einzigste vom Personal, die zu spät war. Alles andere wäre zu schön gewesen.
„Guten Morgen Frau Herzog.“ Doktor Strauß schien immun gegen ihr Lächeln zu sein. „Setzen Sie sich, die nächsten Themen gehen Sie auch was an.“ Kerstin ließ sich auf dem letzten freien Stuhl fallen und unterdrückte ein Gähnen. Dieser Raum sollte dringend aufgepeppt werden. Sie sollten Kilian das überlassen, der würde aus dem grau-grünen Etwas einen gemütlichen, freundlichen Rum zaubern.
„Wie Sie wissen wird am Anfangt des nächstens Monats eine neue Kollegin ihren Dienst hier antreten. Sie wird dafür sorgen, dass die Frauen ihren Schulabschluss nachholen können oder mit dem Studium anfangen.“ Manchmal machte die Stimme von Doktor Strauß Kerstin noch müder.
„Was sind wir? Eine Bildungseinrichtung?“, fragte Trude Schiller. Kerstin war zwar wenig begeistert von den Ideen, die Doktor Strauß ihnen vortrug, aber sie waren ihr lieber als Trude Schiller. Diese Frau konnte Kerstin auf dem Tod nicht ausstehen. So gesehen war ihr alles lieber als Trude Schiller. Wieso hatte Hubert Schiller damals diese Drachen geheiratet statt Frau Mohr? Kerstin wäre beinahe vom Dampfer gekippt, als sie das auf dem letzten Betriebsausflug erfahren hatte.
„Das sind Integrationsmaßnahmen, Frau Schiller. Frau Doktor Kaltenbach möchte aus Reutlitz ein Modelprojekt machen. Die Frauen sollen besser auf ihre Entlassung vorbereitet werden. Das wird die Zahl der Rückfälle nach unten korrigieren und das sollte in dem Interesse von jedem von Ihnen sein.“
„Und als nächstes bieten wir Gymnastik und rhythmisches Tanzen an, weil Sport das Aggressionspotential vermindert“, schlug Hendrik Jansen in die gleiche Schiene wie Trude Schiller. Die beiden waren sich auch sehr ähnlich. Vor allem was das Unsympathisch sein anging, lagen sie auf einer Wellenlänge.
„Und dann werden wir irgendwann zu einem Sanatorium, in dem die Frauen alle Vorteile habe und wir sehen können, wie wir einen ordentlichen Vollzug auf die Reihe bekommen und unserer Autorität wahren.“
„Hendrik hat Recht“, unterstützte Peter Kittler ihn „Wir sind ein Gefängnis keine Vergnügungsanstalt“ Damit wären die drei Musketiere komplett. Wie gut dass Kerstin zu müde war um sich über sie aufzuregen.
„Aber es ist bewiesen, dass gut vorbereitete Frauen weniger rückfällig werden wie unvorbereitete. Nehmen wir die Wünsche. Wenn die etwas Ordentliches gelernt hätte, dann hätten wir die jetzt nicht wieder auf Station B“, unterstützte Birgit Schnoor die Pläne von Doktor Strauß.
„Einmal Knacki immer Knacki“, grummelte Trude Schiller vor sich hin. Nach diesem Schema gesehen, konnte Kerstin sich gut vorstellen was Trude Schiller in ihren früheren Leben gewesen war. Eine Mischung aus Burgdrachen und Pestepidemie.
„Schluss jetzt“, beendete Doktor Strauß die Diskussion „Wir werden dieses Modell durchziehen. Dafür stellt uns die Justizverwaltung auch mehr Personal zur Verfügung. Und es kann nicht schaden wenn Reutlitz ausnahmsweise mal mit positiven Schlagzeilen von sich reden macht. Das war’s, zurück an die Arbeit“ Er stand auf und verließ den Raum. Trude Schiller, Hendrik Jansen und Peter Kittler begangen eine wilde Diskussion über die Überflüssigkeit dieses Projektes. Kerstin schnappte sich ihre Tasche und ging zur Krankenstation. Mal sehen, was sie hier alles erwartete. Wie viele Opfer von Schlägereien sie heute zusammenflicken musste. Sie verstand nicht, wieso erwachsene Menschen sich so daneben benehmen konnten. Als wenn es ihnen etwas bringen würde, andere Frauen zusammenzuschlagen. Sie kamen entweder in den Bunker, auf Station „C“ in den Hochsicherheitstrakt oder durften ein paar Jahre länger einsitzen. Alles keine Argumente für Kerstin jemanden zusammenzuschlagen.
Zu Kerstins Überraschung war es ruhig geblieben. Keine neuen Prellungen, keine neuen Wunden, die genäht, geklebt oder geklammert werden mussten. Sie konnte sich in aller Ruhe den Akten und den vier Patienten auf der Krankenstation widmen. Der erste Lichtblick des Tages. Akten widersprachen nicht, machten keinen Krach und wenn man sie über hatte, legte man sie einfach weg. Sie wünschte sich, manche ihrer Kollegen wären mehr wie Akten.
„Guten Morgen, mein weißer Engel.“ Kerstin sah auf und lächelte. Da war der zweite Lichtblick. Vielleicht konnte der Tag doch schön werden.
„Morgen. Wo warst du heute Morgen?“
„Es gab einen Zwischenfall auf der „C“, da musste ich eingreifen. Eine der Frauen hat versucht einen Notfall zu simulieren und wollte dann türmen. Ziemlich blöd, wenn man von Türen umgeben ist, die sich nur mit Chipkarte öffnen lassen.“
„Und du hast sie wieder eingefangen?“ Kerstin deutete Verena Wüllner sich zu setzen. Verena war wirklich ihr Lichtblick und das jeden Tag. Wenn sie nicht Kerstins Kollegin wäre, dann hätte Kerstin wahrscheinlich schon mehrmals gekündigt. Doch Verena schaffte es immer wieder Kerstin davon zu überzeugen, dass sie lieber in Reutlitz bleiben sollte statt arbeitslos zu sein oder Ärztin unter einem größenwahnsinnigen Chef zu werden. Hier war sie die Chefin und das war viel wert. Und wenn alle Stricke rissen, hatten sie sich.
„Nein, ich habe ihr klar gemacht, dass sie eh nicht weg kann. Sie wollte mich zwar vom Gegenteil überzeugen, doch gegen eine Schließerin mit Kickboxerfahrung möchte kaum eine Frau antreten. Wann kommst du endlich einmal mit zum Training?“
„Gar nicht, das ist nichts für mich. Wenn du tanzen gesagt hättest, aber dieser Kampfsport. Nein. Außerdem warst du ewig nicht mehr da, mein Pseudo Bruce Lee.“ Verena lachte. Sie nahm Kerstins Hand.
„Was ist los? Schlecht geschlafen?“
„Einsam geschlafen. Wo warst du?“
„Wie jede Nacht in meinem Bett.“ Kerstin hatte so oft versucht Verena davon zu überzeugen, ihr eigenes Bett zu verlassen und in Kerstins zu kommen, das konnte keine der beiden mehr zählen. Und jedes Mal hatte Verena abgelehnt. Man sollte meinen, Kerstin würde es mit der Zeit aufgeben, aber das wäre nicht ihr Stil. Vielleicht überlegte es sich Verena eines Tages anders, dann wollte Kerstin gefragt haben.
„Was hat dieser Typ, was ich nicht habe?“, fragte Kerstin verzweifelt. Intelligenz konnte es nicht sein. Verenas letzter Freund war dumm wie Brot gewesen. Und hatte auch so ausgesehen. Aber Kerstin verstand sowieso nie, was Frauen an Männern fanden.
„Er ist männlich und du nicht.“
„Das ist Diskriminierung.“
„Nein, das ist die Wahrheit. Genauso gut könnte ich dich fragen, wieso du in all den Jahren nie etwas mit Kilian angefangen hast.“
„Er schleppt immer Kerle an. Wahrscheinlich würdet ihr beide besser harmonieren. Männer – sharing. Eine Nacht hat er ihn, eine Nacht du.“
„Du hast verschlafen, oder?“
„Ja“, gab Kerstin zerknirscht zu. Wieso konnte Verena ihr das immer ansehen? Wie machte sie das? Sie musste Kerstin nur ansehen und schon konnte sie feststellen, ob sie verschlafen hatte, pünktlich gewesen war oder ob sie die ganze Nacht über gefeiert hatte. Sie war ein offenes Buch für Verena.
„Was war es diesmal?“
„Ich hab vergessen den Wecker zu stellen und Kilian hat mich zu spät geweckt. Er dachte, ich hätte Besuch.“
„Ein sehr netter, höflicher junger Mann.“
„Ich hatte seit Monaten keinen Besuch mehr über Nacht. Ich arbeite zuviel und am falschen Ort. Immer, wenn ich sage, ich bin Ärztin im Gefängnis, heißt es ein paar Minuten später: Goodbye und adios. Wäre ich Chefärztin in einer Klinik, wäre das bestimmt anders. Dann könnte ich wahrscheinlich vor Angeboten meinen Briefkasten nicht wiederfinden.“
„Och, ich kenne ein oder zwei Frauen hier, die würden dich nicht von der Bettkante stoßen“, meinte Verena grinsend.
„Super, was soll ich mit Knackis? Das ist a) gegen die Vorschriften und b) nicht die Art von Beziehung, die ich mir vorstelle. Auf Heimlichkeiten und Versteckspiele habe ich keine Lust. Das reicht mir in anderen Bereichen.“
„Wir beide gehen am Wochenende raus, oder?“
„Ja, bitte. Ich brauche dringend ein Erfolgserlebnis. Aber bei meinem Glück wirst du alle Angebote bekommen und ich werde die Nachtschattenschnepfe sein.“ Kerstin verzog das Gesicht. Verena stand auf und ging um den Schreibtisch herum.
„Du bist die Schönste aller Nachtschattenschnepfen.“ Sie umarmte Kerstin. Kerstin atmete den Duft des Parfums ein. Es musste ein neues sein, das hatte sie vorher nie gerochen. Meistens bedeutete neues Parfum gleich neuer Mann in Sicht. Wieso konnte Kerstin nicht der Grund für das neue Parfum sein? Verena wäre genau ihr Typ. Groß, schlank, blond, humorvoll und die wunderbarsten blauen Augen, die Kerstin jemals gesehen hatte. Kein Wunder, dass jedes Wochenende die Männer Schlange standen um mit Verena zu tanzen, ihr ein Getränk auszugeben oder einfach nur mit ihr zu reden. Wenn Verena wollte, war sie nie alleine, aber sie war sehr anspruchsvoll, was ihre männliche Begleitung anging und bisher hatte Kerstin nur einen Mann gesehen, der es geschafft hatte, Verena für länger als einen Abend zu unterhalten. Der Typ war ein erfolgreicher Filmschauspieler und selber so begehrt wie Verena. Im Gegensatz zu ihr würde er wahrscheinlich kein Angebot ablehnen was letztendlich der Trennungsgrund gewesen war. Der Idiot war selber Schuld. Er hatte eine Traumfrau und musste mit der nächstbesten Schlampe ins Bett springen. Männer waren seltsame Geschöpfe.
„Mein Güte, Spritzenfrau, du hast einen Gesichtsausdruck wie Kittler wenn die Preise für Reis steigen.“ Walter sah Kerstin grinsend an „Was ist los? Musst du mal wieder rangenommen werden?“
„Frau Walter kümmern Sie sich bitte um Ihre eigenen Angelegenheiten. Danke.“ Kerstin nahm ihre Arzttasche und verließ den Aufenthaltsraum. Ein weiteres blaues Auge, das sie verarztet hatte.
„Wenn du willst, ich habe heute Abend nichts vor, da könnten wir beide uns zu einem Dinner treffen. Ich garantiere dir, den Abend würdest du nie vergessen“, versuchte Walter weiter Kerstin zu provozieren. Walter war die Chefin der „B“ und hatte – seitdem sie erfahren hatte, dass Kerstin Frauen gegenüber nicht abgeneigt war – mehr als nur ein Auge auf sie geworfen. Kerstin atmete ruhig aus und zählte still bis fünf. Ganz ruhig bleiben. Keine Angriffsfläche bieten. Lächeln.
„Frau Walter, bevor ich einen Abend mit Ihnen verbringe, bleibe ich lieber alleine Zuhause. Die Gesellschaft meines Haustieres ist mir angenehmer als Ihre.“ Die anderen lachten und pfiffen um Walter anzufeuern.
„Du hast keine Ahnung, was dir entgeht. Oder bist du einfach schüchtern? Ich meine, ich könnte…“ Walter wollte nach Kerstins Schulter fassen, wurde jedoch von einer Hand, die sich plötzlich von rechts zwischen sie schob, gehindert.
„Frau Walter, schön Sie zu sehen. Haben Sie zuviel Energie? Dann wartet der Hof auf sie. Da ist einiges an Unkraut wegzumachen.“ Verena lächelte Walter zuckersüß an. Jede andere Schluse hätte von Walter dafür einen wiederbekommen, doch bei Verena war Walter butterweich.
„Nein Frau Wüllner, ich wollte Frau Herzog nur nett entgegen kommen.“
„Frau DOKTOR Herzog hat Ihnen bereits deutlich gemacht, dass sie kein Interesse an Ihnen hat.“
„Bevor sie einsam Zuhause sitzt.“
„Wird sie nicht. Zu Ihrer Information, ich werde den Abend mit Frau Doktor Herzog verbringen. Kino und Dinner for two im Kerzenschein. Sie sehen, Ihre Hilfe ist nicht nötig.“ Verena zwinkerte Kerstin zu. Diese hatte von den Abendplänen nichts gewusst, würde aber sicherlich nicht widersprechen. Sie würde nie auf die Idee kommen Verena abzusagen. Vor allem hatte sie wirklich nicht mehr vor als mit ihrem Kater Krümel auf der Couch zu sitzen und alte Filme zu gucken.
„Wenn ich mir auch einen weißen Kittel anziehe, gehen Sie dann mit mir essen?“, fragte Walter.
„Nein, ganz sicher nicht. Wie Sie selber wissen, würde das gegen die Strafvollzugsordnung verstoßen und das möchten wir nicht, oder? Außerdem sind Sie nicht mein Typ.“
„Was ist denn ihr Typ?“
„James Bond, ohne Machoallüren und ohne Killeraufträge. Und das kann ich an Ihnen in keiner Weise feststellen. Sie versagen schon bei den guten Manieren.“ Verena drehte sich um und ließ Walter stehen. Kerstin musste grinsen.
„Soso, James Bond“, meinte sie zu Verena als sie gemeinsam den Flur entlang gingen. „Interessant. Welcher von denen?“
„Da es bisher keinen Bond gab, der nicht wahllos Frauen flachgelegt hat, keiner von denen. Mein James Bond muss erst noch erfunden werden.“
„Lass mich dein Bond sein.“
„Du bist meine M. Ist das mit dem Essen heute Abend okay?“
„Klar. Wenn du willst, können wir das bei mir machen. Kilian ist weg und Krümel würde sich über deine Anwesenheit freuen.“
„Gut, dann bin ich um halb acht bei dir. Wenn du Hähnchenfleisch anbrätst, dann bringe ich Reis und Gemüse mit.“
„Lady, wir haben ein Date.“
„Uh, dann werde ich pünktlich sein.“ Kerstin grinste. Das hieß, Verena würde mindestens eine Viertelstunde zu spät sein. Zumindest bedeutete Pünktlichkeit das bei ihr. Kerstin war es recht, dann konnte sie sich vorher duschen und zurecht machen. Man sollte nichts unversucht lassen. Und mit dem richtigen Wein konnte sie vielleicht das Herz ihrer Freundin und Kollegin erobern.
„Du hattest Probleme mit der Walter?“ Hendrik Jansen hatte es für nötig gehalten Kerstin einen Besuch kurz vor Feierabend abzustatten. Das gehörte zu den Teilen des Tages, auf die Kerstin verzichten konnte.
„Sie kapiert einfach nicht, dass ich kein Interesse an ihr habe.“ Kerstin hatte keine Lust mit Hendrik Jansen darüber zu reden.
„Du hättest nie sagen sollen dass du…na ja, du weißt schon…“
„Dass ich lesbisch bin? Ich habe da kein Problem mit. Und wozu es verheimlichen?“
„Die Frauen könnten das gegen dich ausnutzen.“
„Wenn es dich beruhigt, keine der Frauen interessiert mich nur im Geringsten.“
„Ich wäre mir nicht sicher, ob man dir das glauben würde wenn es hart auf hart kommt.“
„Genauso können sie dir unterstellen, du würdest etwas mit den Frauen anfangen“, konterte Kerstin entnervt. Was genau wollte der Typ? Außer ihr den Tag versauen?
„Ich bin verheiratet. Korrigiere mich, wenn ich mir irre, aber du bist nicht einmal in einer festen Beziehung.“
„Mein Privatleben geht hier keinen etwas an. Und nur weil ich Single bin, werfe ich mich nicht jeder an den Hals. Außerdem sind Ehen und feste Partnerschaften kein Hindernis, wenn es ums Fremdgehen geht. Zumindest wäre mir das neu. Und dir sagt man auch die eine oder andere Affäre mit einer der Frauen nach.“
„Gerüchte, nichts als Gerüchte.“
„Siehst du.“
„Du solltest der Walter zeigen, wo ihre Grenzen sind. Verena kann dich nicht immer retten.“
„Darauf lasse ich es ankommen. Ich weiß, es passt dir nicht, dass sie ihre Zeit lieber mit mir verbringt, aber sie ist nun einmal meine Freundin und wenn es um Walters dumme Sprüche geht, meine Verteidigerin. Wozu soll ich mich anstrengen, wenn Walter alles macht, was Verena ihr sagt? Das wäre verschwendete Energie. Aber im Notfall kann ich mich wehren.“ Kerstin lehnte sich zurück. Für sie war das Gespräch beendet.
„Du machst dir das alles zu einfach.“
„Im Moment machst du mir alles schwer. Hendrik, ich habe noch einiges zu erledigen, bevor ich Feierabend habe und wäre dir sehr dankbar, wenn du mich weiterarbeiten lassen würdest. Oder willst du gleich die Visite übernehmen?“
„Ich wollte dir nur einen Rat geben.“ Beleidigt zog Hendrik Jansen davon. Kerstin atmete erleichtert auf. Wenn sie ein Kindermädchen oder einen Klugscheißer haben wollte, dann würde sie Bescheid sagen. Hendrik musste sich laufend als Held und Samariter aufspielen, Rollen, die in keiner Weise zu ihm passten. Kerstin nahm ihr Handy und schrieb Kilian eine Nachricht. Er sollte aufräumen, bevor er das Haus verließ und außerdem würde sie am Abend Besuch haben. Sie wollte verhindern, dass Kilian wieder eine Horde schräger Typen mitbrachte, die dann Kerstins Essen und Wein plünderten. Das war bereits mehrere Male geschehen. So sehr sie ihre WG mochte, diese spontanen Feten ihres Mitbewohners konnten ihr manchmal den Abend und die Nacht versauen. Vor allem, wenn sie mitten in der Woche stattfanden und Kerstin kein Auge zumachen konnte. Das waren dann die Tage, an denen sie zu spät zur Dienstbesprechung kam und dann mindestens einen schweren Notfall versorgen musste. Sie hatte bereits daran gedacht auszuziehen, aber dafür hing sie viel zu sehr an Kilian und dem bunten Leben. Mit wem sollte sie denn sonst alte Doris Day Filme gucken und bei Gewitter auf der Couch kuscheln? Ohne Kilian wäre ihr Leben nichts so lebenswert, wie es war.
„Hi“ Verena kam in Kerstins Arztzimmer. „Alles okay?“
„Jansen wollte mir gute Tipps geben wegen Walters Pöbelei. Ich brauche seine Kommentare nicht. Wieso müssen mir heute alle auf die Eierstöcke gehen?“ Kerstin warf ihren Kugelschreiber auf den Tisch. Verena trat um den Tisch herum und umarmte ihre Freundin.
„Das wird schon. Kann ich etwas für dich tun?“
„Brennst du mit mir nach Las Vegas durch? Wir beide, Spielautomaten, Millionen, Luxushotels, Sigfrid und Roy…falls es Roy dann wieder besser geht. Wäre das nicht schön?“ Kerstin sah Verena mit Kulleraugen an.
„Ach Süße.“ Verena küsste Kerstin aufs Haar „Was sollen wir beide denn in Vegas? Wir brauchen unsere Jobs und wir lieben Berlin. Außerdem: was soll denn Reutlitz ohne uns machen?“
„So weiter leben wie bisher? Vroni, ich habe echt keine Lust mehr.“
„Was hältst du davon wenn du dir mal eine Woche Urlaub nimmst?“
„Nur mit dir.“
„Och Kerstin.“
„Vroni, was soll ich ohne dich mit meiner freien Zeit machen?“
„Wir sind doch kein Ehepaar“ Verena zwickte Kerstin in die Seite.
„Leider. An mir liegt es nicht.“ Kerstin schlang ihre Arme um Verena Taille. Verena streichelte Kerstins übers Haar. Sie würde heute Abend einen langen Abend mit Kerstin verbringen müssen um sie aufzubauen. Sie brauchte wirklich ein wenig Zuspruch.
Kerstins Laune war übers Wochenende besser geworden. Sie hatte die beiden freien Tage mit Kilian und shoppen verbracht und die Abende waren mit Verena in diversen Kneipen der krönende Abschluss gewesen. Trotzdem hätte sie am heutigen Montag lieber ihren Kopf ein paar Stunden länger im Kopfkissen gelassen. Wohlweißlich hatte sie sich die ersten beiden Stunden freigenommen. Gutgelaunt schloss sie ihre Bürotür auf und stolperte beinahe über einen Aktenschrank. Was machte der denn hier? Sollte der nicht im Nebenzimmer stehen? Sie stemmte sich gegen den Schrank und schob ihn mit aller Kraft zur Seite. Dann warf sie ihren Mantel über den Stuhl und verließ den Raum um in das Nebenzimmer zu gehen. Die Tür stand weit offen. Kerstin stürmte um die Ecke und wäre beinahe wieder gegen einen Aktenschrank gestoßen.
„Was soll das?“
„Ich brauche Platz.“ Ein Kopf kam hinter dem Aktenschrank hervor. Eine junge Frau stemmte sich mit ihrem Gewicht gegen den Schrank.
„Und ich auch. Was soll ich in meinem Behandlungszimmer mit den Dingern? Wer sind Sie überhaupt.“ Und wieso musste man ihr schon wieder den Wochenanfang versauen? War das hier Tradition in Reutlitz?
„Klauke, die neue Lehrerin. Und ich kann die Teile auch nicht in meinem Unterrichtsraum gebrauchen. Es sind Ihre Akten, sehen Sie zu wie Sie sie unterbringen.“ Sie strich sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. Ziemlich frech für den ersten Tag.
„Unverschämtheit.“ Kerstin drehte auf dem Absatz um und verschwand in Richtung von Strauß’ Büro. Auf dem Weg traf sie Andy Wagner.
„Hallo Frau Herzog.“
„Morgen Herr Wagner. Sagen Sie, wissen Sie was diese Person in meinem Nebenzimmer macht?“
„Sie meinen Frau Klauke? Sie wird da ihren Unterrichtsraum haben. Doktor Strauß hat ihr den Raum übergeben. Es war der einzigste Raum, den er entbehren konnte.“ Also hatte sie Recht gehabt. Es war die Lehrerin.
„Den er entbehren konnte? Und was ist mit mir? Ich brauche den Platz. Wo soll ich meine Akten hinstellen?“
„Er sprach etwas vom Keller. Der Hausmeister hat Ihnen einen Raum aufgeschlossen und wird die Schränke gleich abholen.“
„Und wieso fragt mich keiner? Diese Entscheidung betrifft mich am meisten.“
„Sie hatten frei, es ist in der Dienstbesprechung besprochen worden. Sie sollten wirklich demnächst regelmäßig zum Dienst erscheinen.“ Andy Wagner lächelte.
„Was ist das hier eigentlich für ein Sauhaufen? Tschuldigung. Ist Doktor Strauß da?“
„Der ist bei der Justizverwaltung.“ Typisch. Wenn sie den Direktor brauchte, war er nicht da.
„Na gut, dann werde ich ihn später sprechen.“ Kerstin drehte sich um und ging zurück zu ihrem Büro, wo bereits der zweite Aktenschrank stand. Wütend trat sie gegen den Schrank. Na gut, der Hausmeister würde ihr gleich die Schränke wegräumen. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und begann die Akten zu studieren. Es waren vier neue Fälle auf der Krankenstation. Eine Schlägerei auf der „A“. Sie brauchte neue Pflaster. Bei der Aktion konnte sie gleich neue Medikamente bestellen. Noch während sie die Liste abarbeitete kamen laute Bohrgeräusche aus dem Nebenzimmer. Kerstin schloss die Augen, atmete tief ein und zählte leise bis zehn. Gut. Gut. Sie würde das regeln. Sie legte den Kugelschreiber zur Seite und trat aus dem Raum. Sie atmete erneut tief ein und trat in ihr ehemaliges Nebenzimmer. Nicht die Beherrschung verlieren. Ganz ruhig.
„Können Sie mir bitte sagen, wieso Sie hier eine Baustelle öffnen? Es gibt Menschen, die arbeiten müssen.“
„Was denken Sie was ich hier mache? Urlaub? Ferien? Der Raum ist nicht gerade in einer guten Verfassung.“ Frau Klauke sah Kerstin wütend an.
„Und wie stellen Sie sich vor, soll ich Patienten behandeln? Mit einer Flüstertüte?“ Sie merkte, dass sie gar nicht ruhig war. Das war nicht gut.
„Bei Ihrem Charme werden die Patienten wegen Unterkühlung eh sterben. Oder werfen Sie die Frauen gleich ihren hauseigenen Löwen zum Fraß vor, Cleopatra?“ Okay, die Frau wollte Streit, Kerstin konnte auch anders. Es reichte anscheinend nicht, dass sie Kerstins Zimmer in Beschlag nahm, ihr Untersuchungszimmer in ein Chaos verwandelte und Lärm machte, nein, sie musste auch noch unverschämt werden. Das musste Kerstin nicht so hinnehmen. Das wollte sie nicht so hinnehmen und das würde sie nicht so hinnehmen. Sie war für einen Krieg bereit.
„Werden Sie mal nicht unverschämt.“
„Denken Sie, nur weil Sie zu den selbsternannten Göttern in weiß gehören, haben Sie mehr Rechte als andere? Das ist mal wieder typisch Arzt. Sie denken, die Welt würde sich nur um Sie drehen. Soll ich Ihnen was sagen, Schätzchen? Das macht sie nicht. Die Welt schert sich einen Dreck um pfuschende Halbgötter.“ Diese Person wagte es sie Schätzchen zu nennen? Es reichte.
„Und die Lehrer, die es im Studium zu nichts gebracht haben und deswegen einen Förderkurs für Gefängnisinsassinnen halten müssen, gehören zu der besseren Schicht? Sie sind hier so überflüssig wie der Dreck im Keller. Sie…“ Kerstin wurde abrupt unterbrochen als sie am Kragen gepackt wurde und aus dem Zimmer gezogen wurde. Wer war das?
„Sorry, ich muss mal kurz mit Frau Doktor Herzog sprechen.“ Verena hatte Kerstin am Schlafittchen gepackt. Ohne auf Kerstins Protest Rücksicht zu nehmen, zog sie sie in das Arztzimmer zurück. Dort drückte sie die protestierende Kerstin auf ihren Stuhl.
„Sag mal, was ist in dich gefahren? Drehst du total ab?“ Verena war nicht sauer, sie war eher überrascht - entsetzt.
„Weißt du wie diese…Person sich aufführt? Sie beschlagnahmt mein Zimmer, verstopft hier alles mit den Aktenschränken und macht einen Krach wie auf den größten Baustellen der Stadt. Und was die für ein Mundwerk hat. Noch ein Wort von ihr und…“
„Kerstin, halt die Luft an!“
„Auf wessen Seite stehst du?“
„Auf deiner. Also, Ruhe! Pass auf, Frau Klauke hat den Raum von Doktor Strauß bekommen, wenn du jemanden deswegen anschreien willst, dann ihn. Er ist gerade nicht da, was wahrscheinlich dein Glück ist, weil du sonst Dinge sagen würdest, die du später bereuen würdest. Zweitens sind die Aktenschränke hier besser aufgehoben als auf dem Flur, wo die Bergdorfer laufend ihre Finger drin hätte. Drittens räumt der Hausmeister die Schränke weg. Viertens lässt sich beim Umgestalten eines Raumes von einem Aktenlagerraum zu einem Unterrichtsraum die Arbeit wohl kaum ohne Krach bewältigen. Ein wenig Kulanz wäre angebracht. Und was die Umgangsformen von Frau Klauke angeht: Ein Sie sind hier so überflüssig wie der Dreck im Keller gehört nicht zu einer netten Umgangsform. Zumindest nicht auf diesem Planeten. Ich würde sagen, ihr habt euch da beide gegenseitig überboten. Und jetzt wirst du endlich deinen Frust vergessen und wieder zu der lieben, netten, umgänglichen Ärztin werden, die du eigentlich bist. Bitte“ Verena sah Kerstin an.
„Und was ist mit ihr?“
„Bin ich deine oder ihre Freundin?“
„Meine.“ Kerstin vergrub ihren Kopf in Verenas Schließeroutfit. Ja! Verena war ihre Freundin. Hey, wenn Kerstin sich das sagte, stieg ihre Laune gleich um einige Prozentpunkte an.
„Gut. Geht’s jetzt besser?“ Kerstin nickte.
„Wieso musste du immer Recht haben?“
„Weil du manchmal überreagierst und deine Gefühlsausbrüche nicht unter Kontrolle hast. Du bist die beste Ärztin, die ich kenne, und die beste Freundin, die ich mir wünschen kann, aber deine Gefühlsausbrüche sind schrecklich. Manchmal handelst du erst und denkst dann nach.“ Verena streichelte Kerstins Rücken.
„Und du magst mich trotzdem.“
„Übertreibe es trotzdem nicht. So, und jetzt geh deiner Arbeit nach. Wir sehen uns in der Mittagspause. Versprichst du mir bis dahin nicht mehr auf Frau Klauke loszugehen?“
„Ja Mama.“
„Geht doch.“ Verena grinste. Manchmal fragte sie sich, wer hier die Ältere war. Kerstin handelte manchmal wie ein hormongesteuerter, pubertierender Teen. Sie war zu impulsiv und brauchte laufend einen Aufpasser, der sie bremste. Und meistens übernahm Verena diesen Job.
Verenas Mission war noch nicht beendet. Nachdem sie Kerstin beruhigt hatte, ging sie zu Frau Klauke.
„Hallo, alles in Ordnung?“ Einer musste ihr erklären, dass Kerstin eigentlich eine nette, umgängliche Person war. Auch wenn sie eben alles getan hatte um das Gegenteil zu beweisen.
„Ja. Danke dass Sie die Furie von mir weggebracht haben. Die Ärztin sollte dringend selber zum Arzt gehen.“
„Kerstin ist von der ganzen Situation ein wenig überrumpelt worden. Sehen Sie ihr das bitte nach. Normalerweise ist sie eine sehr nette und umgängliche Frau.“
„Dann kann sie hervorragend schauspielern.“
„Sie hat überreagiert, das sieht sie selber ein. Geben Sie ihr eine Chance. Ich habe bereits mit ihr geredet.“
„Sind Sie nebenberuflich Psychologin?“
„Nee, nur ihr Verstand. Sie ist impulsiv, doch im Grunde ihres Herzen ist sie ein wunderbarer Mensch.“
„Sie benimmt sich wie meine zwölfjährige Tochter.“
„Sie haben eine zwölfjährige Tochter? Wow, ich hätte sie auf Mitte zwanzig geschätzt.“ Verena war mehr als überrascht.
„Ich bin siebenundzwanzig. Jodie habe ich mit fünfzehn bekommen. War nicht geplant aber ich habe mich trotzdem gefreut. Sie hat ähnliche Ausbrüche wie Ihre Kollegin.“
„Unsere Kollegin. Ich bin mir sicher, Kerstin wird sich wieder einkriegen. Geben Sie ihr eine Chance und ein wenig Zeit.“
„Ich habe Zeit, schließlich bleibe ich länger hier.“
„Zum Glück. Ich finde es gut, dass den Frauen eine Schulbildung ermöglicht wird. Endlich eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung.“
„Hoffentlich sehen das die Frauen ähnlich.“
„Ich denke doch. Ich bin übrigens Verena.“
„Alexandra. Aber nennen Sie mich Sascha.“
„Sascha?“
„Ist mein Spitzname. Den habe ich als Teen schon gehabt. Inzwischen nennen mich alle Sascha und keiner mehr Alexandra, mal von meinem Mann abgesehen.“
„Gut, Sascha. Dann auf gute Zusammenarbeit.“ Verena gab Sascha die Hand. Verena hatte Recht gehabt. Wenn man sich normal mit der neuen Kollegin unterhielt, war sie sehr nett. Das würde sie Kerstin noch beibringen.
„Und was unsere Kollegin betrifft: Die wird sich sicherlich beruhigen. Ich habe ihr den Raum nicht böswillig genommen, sondern nur getan, was Direktor Strauß mir gesagt hat.“
„Sobald Kerstin mit ihm geredet hat, wird sie das einsehen.“ Verena lächelte und verließ den Raum. Es wurde Zeit, dass sie ihrem eigentlichen Job nachging und nicht mehr Kindermädchen für Kerstin spielte. Die brauchte erst einmal Ruhe und Ablenkung durch ihre Arbeit, dann sah alles wieder besser aus. Verena wusste, dass Kerstin sich schnell beruhigte wenn man sie tun ließ was sie wollte. Und wenn das nichts brachte, würde Verena sie heute Abend aufmuntern.
Teil 2
Sascha seufzte. Auf was hatte sie sich da nur eingelassen? Förderunterricht im Gefängnis. Sie bezweifelte stark, dass sie hier ihr Können beweisen konnte. Wahrscheinlich würden die Frauen auch kein großes Interesse daran haben sich weiterzubilden. Ihr Förderkurs würde wohl als Ausrede herhalten müssen um sich vor der Arbeit zu drücken. Und dann diese nervige neue Kollegin. Was spielte die sich eigentlich so auf. Ihr Nebenraum. Gehörte ihr der Knast, oder was? Sascha war mehr als froh, als sie den ersten Arbeitstag endlich hinter sich hatte und das Gefängnisgelände verlassen konnte. Der einzigste positive Aspekt des Tages war Verena, die sie von der wütenden Ärztin befreit hatte. Zuhause erwartete ihre Tochter sie mehr oder weniger.
„Jodie, hast du deine Hausaufgaben gemacht?“
„Ja“, kam es genervt aus dem Kinderzimmer.
„Und was ist mit deiner Arbeit letzte Woche?“
„Die haben wir noch nicht wieder.“ Sascha sah in den Kühlschrank. Leer. Nur eine Dose Kaffeemilch stand einsam und verlassen herum. Immer das Selbe.
„War Papa nicht einkaufen?“
„Keine Ahnung, der war noch nicht hier“
„Wie?“ Sascha sah überrascht auf. Ihr Mann sollte eigentlich seit zwei Stunden Zuhause sein. Aber hatte sie ernsthaft geglaubt, ihr Mann würde einkaufen? Manchmal war Sascha zu naiv.
„Der hat angerufen, es kann später werden.“ Super. Dann konnte Sascha sich mal wieder um alles kümmern. Wieso nahm sich ihr Mann nicht gleich ein Bett mit ins Büro? Sascha konnte sich an keinen Abend erinnern, an dem er mit ihr zusammen vor dem Fernseher gesessen hatte oder an dem sie Essen gegangen waren. Ihr Mann verließ um sieben Uhr das Haus und kam gegen zweiundzwanzig Uhr wieder nach Hause. Und das an mindestens fünf Tagen in der Woche. Samstags standen dann wichtige Termine auf dem Programm, die es ihm unmöglich machten, sich von der Arbeit zu lösen. Ihr Mann war ein Partymanager. Gab es in Berlin oder Umgebung eine Party mit wichtigen Personen, oder mit Personen, die dachten, sie seien wichtig, dann organisierte und plante er alles. So kam es, dass Sascha unter anderen den Bürgermeister und diverse Promis aus dem Showgeschäft kannte, da sie als Frau an der Seite ihres Mannes an manchen Partys teilnahm, aber sie keinen wirklichen Familienabend mehr verlebten.
„Hat Papa gesagt…?“ Sascha stockte. Wozu nachfragen? Es interessierte ihre Tochter wenig wo sich ihr Vater herumtrieb. Sie kannte es nicht anders. Sogar an den Geburtstagen und Feiertagen war er meistens unterwegs. Langsam aber sicher entglitt ihr ihre Familie.
„Ich bin weg, im Kino mit Michaela“, rief Jodie.
„Komm nicht so spät nach Hause.“ Schon hörte sie die Tür knallen. Ein ganz normaler Abend. Sascha würde alleine auf der Couch sitzen. Sie konnte es ihrer Tochter nicht verübeln, dass sie jeden Abend bei Freundinnen war. Wenn sie aus der Schule kam, dann wartete die Haushälterin auf sie und am Abend war Sascha meistens so müde, dass sie keine Kraft mehr hatte mit ihrer Tochter etwas zu unternehmen. Zuerst die lange Ausbildung damit sie unterrichten konnte und jetzt der Job. Sascha nahm sich ein Glas und machte sich an der reichlich gefüllten Hausbar einen Whiskey on the rocks. Dann würde sie eben alleine fernsehen. Und ab morgen würde sie die Haushälterin bitten sich um den Kühlschrank zu kümmern. Anscheinend war ihr Familie so unselbständig, dass sie das nicht schafften.
Kerstin hatte dagegen volles Haus. Als sie von der Arbeit kam, wurde ihr – kaum dass sie richtig in der Wohnung war – ein Glas Sekt in die Hand gedrückt. Eine eigentlich sehr schöne Art und Weise den Abend zu beginnen.
„Party – time, Schätzchen.“ Kilian hatte sich in sein bestes ABBA Outfit geworfen. In ihrer gemeinsamen Wohnung waren etwa ein Dutzend Menschen, die meisten im Outfit der 70er und feierten.
„Was ist denn hier los?“ Das sah Kerstin.
„Wir feiern.“
„Mitten in der Woche?“
„Jordan hat einen neuen Job: er ist Leiter der Bank. Das ist einfach…süüpäährr!“ Kilian küsste seine Fingerspitzen und tanzte um Kerstin herum. Wieso musste sie mit einem schwulen Mann zusammen wohnen? Aber was sollte es? Würde sie das Beste daraus machen. Der Schlaf war für diese Nacht gestrichen.
„Naja, das Leben zu kurz um es nicht zu genießen. Prosit.“
„Na also. Ich habe deine Süße angerufen und sie eingeladen. Sie ist auf dem Weg.“
„Verena?“
„Gibt es denn sonst jemanden?“
„Nein“ Kerstin kämpfte sich durch die Menschen in ihr Zimmer. Sie wollte nicht in ihrem Arbeitsoutfit feiern. Außerdem musste sie Platz für Verena schaffen. Sie nahm alle Klamotten, die achtlos auf ihrem Bett verteilt lagen in die Arme und warf sie in den großen Kleiderschrank. Morgen musste sie dringend aussortieren, was in die Wäsche gehörte und was nicht. Dann zog sie sich ihre Sachen aus und warf die hinter die Tür. Groß herausputzen musste sie sich nicht. Draußen waren alles Männer und die waren zu mindestens 95 Prozent schwul. Wer sollte da Interesse an ihr haben? Sie schlüpfte in ihre Jeans und wählte ein schwarzes T-Shirt. Black is beautiful. Mist, ein großes Loch war auf dem Rücken zu sehen. Kerstin schälte sich wieder aus dem T-Shirt. Gleichzeitig klopfte es an der Tür.
„Komm rein, ich bin gleich so weit.“ Verena war aber schnell gewesen.
„Für mich musst du dir diese Umstände nicht machen.“ Kerstin drehte sich erschrocken um. Das war nicht Verena.
„Patrick!“
„Hast du jemand anderes in deinem Zimmer erwartet?“
„Verena.“
„Die ist noch nicht da. Ich weiß, ich bin ein mieser Ersatz“ Er lächelte sie an. „Willst du so mitfeiern?“ Er deutete auf ihr neues T-Shirt, das sie noch immer in der Hand trug, statt am Körper.
„Nein, ich wollte mir das T-Shirt schon anziehen. Schließlich will ich keinen verschrecken.“ Sie schlüpfte schnell ins T-Shirt.
„Ich glaube nicht, dass du jemanden abschreckst.“
„Charmeur“ Sie umarmte Patrick und küsste ihn auf die Wange. „Weiß Kilian, dass du mir nachsteigst?“
„Der ist froh, wenn ich bei dir bin. Er meint, du wärst die einzigste Person hier, die mich nicht ins Bett kriegen will.“
„Womit er wohl Recht hat“, lachte Kerstin. Patrick war mit seinen beinahe zwei Metern, dem haselnussbraunen Haar, den treuen braunen Augen und einem Körper wie ein junger Gott wohl der Traum aller Männer. Und er war sich dem voll bewusst. Trotzdem war er allein Kilians Freund.
„Wie war dein Arbeitstag?“
„Blutig. Eine gebrochene Nase.“
„Pfui Teufel.“
„Es kann nicht jeder Geschäftsführer von einem Schikimikiladen sein.“
„Dich würde ich jederzeit einstellen, Baby.“
„Mach mich nicht schwach. Verurteilte Frauen gegen reiche, schöne, Singledamen eintauschen ist eine Sache, über die ich gerne ein oder zweimal nachdenken würde.“
„Ey! Finger weg von der Frau! Die gehört zu mir!“ Verena stand im Türrahmen und sah Patrick gespielt böse an. Dann marschierte sie zu den beiden.
„Ich bin enttäuscht von dir, Kerstin.“
„Und ich bin hin und weg. Ich bin deine Frau?“ Kerstin sah Verena schmachtend an. Wie schaffte sie es immer so hinreißend auszusehen? Sogar dann, wenn sie nur eine verwaschene Jeans und einen Pulli trug.
„Meine Kollegin. Dich gebe ich nicht her. Patrick, such dir eine andere Verkäuferin“
„Hallo schöne Frau. Eifersüchtig?“
„Nicht so wie du denkst. Ich will nur meine Lieblingskollegin behalten.“
„Schade“, seufzte Kerstin. „Ich wünschte, du wärst eifersüchtig.“
„Du gibst nie auf, oder?“
„Doch, wenn du mein bist“
„Sag ich ja: Nie. Los, du unhöfliche Mitgastgeberin, verschaff mir ein Glas Sekt und einen Mann wie Patrick.“
„Vergiss es.“ Kerstin prustete empört. Erst ihr einen Korb geben und dann erwarten, dass Kerstin ihr einen Mann suchte. Patrick schnappte sich die Frauen und harkte sich eine rechts und eine links ein.
„Ladies, wir gehen feiern. Der Lieferservice ist gleich da. Jordan hat edles Essen bestellt. Hummer, Kaviar, alles, was das Herz begehrt.“ Sie verließen Kerstins Zimmer und mischten sich wieder unter die Partygäste.
„Ach, du hast meinen Mann.“ Kilian schnappte sich Patrick. „Lass die blonde Frau nicht an ihn ran, ihr Make up ist besser als meins.“ Er zwinkerte Verena zu.
„Make up? Das ist alles Natur“, protestierte diese lachend.
„Ja, so wie bei Cher. Ist auch ganz natürlich.“
„Na super, ich werde mit einem Ersatzteillager verglichen“, schmollte Verena.
„Der Charme der Männer, aber du stehst ja auf die.“ Kerstin grinste und knuffte Verena in die Seiten. Dann schnappten sie sich ein Glas Punsch und stürzten sich richtig in die Party. Immerhin liefen die besten Tanzhits aus den 70er, da konnte man unmöglich stillstehen. Schließlich war sie die Dancing Queen.
„Ich liebe Partys.“ Kerstin nahm einen Schluck Sekt und sah sich entspannt auf der Tanzfläche nach einem möglichen Opfer um. Leider waren die meisten Frauen in männlicher Begleitung unterwegs. Wieso waren sie nicht im „FoGaL“? Da konnte sie davon ausgehen, dass wenn sie eine Frau sah, sie die Chance hatte, diese für sich zu begeistern. Aber heute hatte sie Verenas Wunsch entsprechend einer dieser stinknormalen, langweiligen Diskotheken aufgesucht. Sie würde trotzdem versuchen das Beste aus der Situation zu machen. Und meistens fand man Engel da, wo man am wenigsten mit ihnen rechnete.
„Gut dass Kilian nicht mitgekommen ist.“ Patrick sah sich um. Sein Freund hätte hier eine mittlere Krise bekommen. Alles war farblos, lapidar gesagt: Bürgerlich und kein Hauch der 70er und die Wahrscheinlichkeit, dass man hier ABBA spielt, was sehr gering. Kein Laden für einen Paradiesvogel wie Kilian.
„Ja, er hatte Recht. Mit einem Treffen mit seinen Arbeitskollegen ist er besser gefahren. Naja, wie gefällt dir der Laden?“
„Ich mags. Du weißt, ich bin der seriöse Typ.“ Grinsend schob Patrick sein Hemd in Position. Selbst wenn er wegging war er meistens ganz Geschäftsmann. Man musste ihn schon zum Sport schicken wenn er sich leger kleiden sollte. Das war der Grund wieso er und Patrick so ein lustiges Paar waren.
„Ich werde nie verstehen, wie Kilian es geschafft hat dich von ihm zu überzeugen. Ihr seid wie Himmel und Hölle.“
„Der Reiz des Himmels wäre nur halb so groß wenn man nicht wüsste, dass es eine Hölle gibt. Nein, ich finde es toll, dass wir so unterschiedlich sind. Was wäre es für eine Partnerschaft wenn man ein Abbild seiner selbst hat? Wie langweilig. Ich habe doch einen Freund um einen anderen Menschen um mich herum zu haben. Und Kilian ist so wunderbar anders als ich“
„Das stimmt.“ Kerstin lehnte sich an Patricks Arme. Was für ein Glück, dass sie beiden am Stehtisch standen. So dachten alle Männer, sie wäre Patricks Freundin und alle Frauen dachten, Patrick wäre ihr Freund. Das schaffte beiden mehr Ruhe. Kerstin hatte die Hoffnung in einer Disko von einer Frau angesprochen zu werden eh aufgegeben. Das würde sie lieber selber in die Hand nehmen. Bisher war allerdings nichts aufgetaucht, was sie interessierte. Und Verena hatten sie ebenfalls verloren. Die trieb sich wohl auf der Tanzfläche mit einen ihrer zahlreichen Verehrer herum. Die Typen waren ihrer nie würdig, fand Kerstin.
„Ich sehe Verena Kurs auf uns nehmen, dann werde ich mal eben zur Theke düsen und neue Getränke holen.“ Kerstin fand es nett von Patrick so lange bei ihr zu bleiben, bis Verena zurückkam. Sie hasste es alleine in fremden Clubs herumzustehen. Im „FoGaL“ war das kein Thema, das war wie ein zweites Zuhause für sie. Egal ob sie wirklich alleine herumstand oder sich zu anderen Bekannten gesellte, es war okay.
„Na, wie viele sind es heute?“
„Ein ziemlich aufdringlicher Kerl. Er verfolgt mich schon den ganzen Abend. Ich habe ihm gesagt, ich hätte kein Interesse an ihm, aber er glaubt mir nicht.“
„Du musst den Männern immer das Herz stehlen mit deinen schönen Augen. Selber Schuld. Außerdem weißt du, wie die Männer auf dich reagieren.“
„Sie könnten trotzdem ein „Nein“ akzeptieren. Der ist wirklich aufdringlich. Ich habe ihm dann verzweifelt gesagt, dass ich nicht auf Männer stehe und er wollte mir das nicht glauben. Ich würde nicht in sein Bild über Lesben passen. Klischeedenker.“ Verena ließ ihren Kopf verzweifelt auf Kerstins Schulter fallen.
„Recht hat er trotzdem. Wie sieht das Prachtexemplar denn aus?“
„Groß, dunkelhaarig, blaue Jeans...“
„Weißes T-Shirt, Oberarme wie ein Mann, der meint, er sei Mister Universum, aber in Wirklichkeit weg davon weg ist und ein schleimiges Grinsen?“
„Ja.“
„Der steht keine fünf Meter hinter dir und hat dich anvisiert. Scheint seinen neuen Angriff zu planen.“
„Und jetzt?“
„Er macht sich auf den Weg zu uns...“ Kerstin schnappte sich Verena und küsste sie leidenschaftlich. Das war ihre einzigste Chance, dem Typen zu entkommen. Und Kerstin würde das mehr als gerne machen.
„Was genau machst du da?“, fragte Verena ohne jedoch Kerstin loszulassen.
„Deine Tarnung aufrecht erhalten.“ Und nebenbei Verenas Lippen genießen. Irgendwie war Kerstin dem Typen dankbar. Dank seiner nervigen Penetranz konnte sie in aller Ruhe und ohne Ärger zu bekommen, Verena küssen. Und die konnte küssen! Wow, Kerstin würde problemlos die ganze Nacht damit weitermachen wenn es sein musste, beziehungsweise, wenn sie durfte. Und wenn das schon Verenas Art war jemanden zu küssen, mit dem sie nicht zusammen war, wie gut küsste sie dann erst wenn sie verliebt war? Das würde Kerstin zu gerne erfahren. Wie gut dass Patrick gegangen war, sonst hätte bestimmt der als Alibifreund herhalten müssen. Obwohl, nein, Verena hatte dem Typen gesagt, sie stehe auf Frauen. So oder so, Kerstin wäre ihre Auserwählte geworden. Wie schön. Vorsichtig warf sie einen Blick über Verenas Schulter. Der Typ war verschwunden, ihre Showeinlage muss dementsprechend gut sein. Okay, ein paar Leute starrten sie dumm an, aber damit konnte Kerstin leben. Sie küsste Verena. Wen störten da doofe Blicke?
„Und? Ist er weg?“
„Fast“, log Kerstin grinsend und schnappte sich Verena erneut.
„Ich denke, es reicht. Sogar Frauen, die zusammen sind, sollen angeblich mal etwas trinken oder reden.“ Verena schob Kerstin weg und sah sich unauffällig um. Die Luft war rein. Perfekt.
„Seit wann ist er weg?“
„Öhm...“ Kerstin grinste. Verena warf ihr einen entnervten Blick zu. Okay, sie verstand ihre Pseudogeliebte.
„Er war bereits seit Langem weg, nicht wahr?“
„Vielleich.t“
„Ich wusste es. Dir kann man in dieser Beziehung nicht vertrauen.“
„Ist aber nie böse gemeint. Was sollte ich denn machen? Das war meine Chance, dich von mir zu überzeugen.“ Kerstin setzte ein hilfloses Grinsen auf.
„Ich bin bereits von dir überzeugt, nur eben nicht als Partnerin.“
„Bist du sauer?“, fragte Kerstin vorsichtig. So weit wollte sie es dann auch nicht kommen lassen. Es war ein kleiner Scherz gewesen.
„Nein, aber das nächste Mal, wirst du brav bescheid sagen wenn er weg ist und dann ist Ende mit dem Schauspiel. Kapiert?“
„Ja, alles was du willst. Aber definiere nächstes Mal. Bekomme ich eine weitere Chance wenn dich so ein Kerl nervt?“
„Mal sehen.“ Verena legte ihren Arm um Kerstin „Du bist wirklich unmöglich.“
„Ich weiß. Und du küsst unbeschreiblich gut.“
„Dabei war das gar nicht richtig“, grinste Verena.
„Was? Da ist eine Steigerung drin? Ich wusste es. Wow, ich will eine Kostprobe, sonst zerfließe ich vor Sehnsucht.“
„Vergiss es.“
„Frauen sind so hartherzig.“ Kerstin ließ ihren Kopf auf Verenas Schulter fallen uns sah sie mit einem Hundeblick an. Wie konnte sie ihr das antun? Erst sagen, die Küssen ließen sich problemlos steigern und Kerstin dann keine Kostprobe geben. Wie gemein. Die Gedanken, dass Verena verliebt noch besser küsste war zu ertragen, dass Wissen, dass es eine Steigerung gab, war brutal.
„Na ihr beiden Turteltauben.“ Patrick brachte drei Gläser Sekt mit und stellte sie auf den Tisch.
„Hi schöner Mann. Na, musstest du die Gläser bezahlen oder hat dein Lächeln die Barfrau überzeugt?“, fragte Verena.
„Ich habe mir einen Barmann gesucht. Und ihr beiden? Spielt ihr das Liebespaar? So bekommst du keinen Mann, Vroni.“
„Ich weiß, aber bei der Auswahl hier...“
„Und ja, wir sind ein Liebespaar. Weißt du, wie gut diese Frau küssen kann? Ich werde nicht zulassen, dass die jemals wieder einen Mann bekommt. Die gehört mir.“
„Kerstin spinnt ein wenig, der Kuss ist ihr zu Kopfe gestiegen.“
„Kuss?“ Verena erzählte Patrick von ihrem härtnäckigen Verehrer. Diese musste grinsen. Eine interessante Technik. Und beide hatten bekommen was sie wollten: Verena hatte ihre Ruhe und Kerstin ihren Kuss.
„Beim Nächsten flüchtest du in Kerstins Arme und ich frage ihn, ob er nicht mit mir eine heiße Nacht verbringen möchte. Das schockt noch mehr.“
„Gute Idee.“
„Sag mal, Geliebte, werden wir die Nacht zusammen verbringen?“
„Nein, ich gehe nach Hause. Immerhin müssen wir morgen Nachmittag arbeiten und ich muss vorher einkaufen. Wenn ich erst in deinem Klammergriff gefangen bin, dann werde ich nie fertig werden. Außerdem solltest du für heute genug von mir haben.“
„Nein“, seufzte Kerstin. Wie sollte sie jemals genug von Verena haben? Das war ein Ding der Unmöglichkeit.
„Wir könnten eine Kotaktanzeige für euch beide aufgeben. Mal sehen wer die größeren Flaschen anschleppt.“
„Ein weiteres Wort von dir, Mister perfekte Beziehung, und ich spritze dir morgen ein Mittel, von dem du garantiert Pickel bekommst. Hör sofort auf meine Kollegin zu verkuppeln. Die braucht keinen Mann.“
„Eher als eine Frau.“
„Das werden wir sehen...wenn ich sie überzeugt habe...“
„Schatz, halt den Mund.“ Verena knuffte Kerstin in die Seite. Sie würde sich nicht von Kerstin „überzeugen“ lassen, egal wie oft diese sie küssen würde. Sie empfand nur Freundschaft für sie, mehr nicht. Kerstin musste das akzeptieren und lernen, damit klar zu kommen. Es würde niemals anders sein.
Teil 3
Kerstins Kopf gab nur ein Signal: SCHMERZ. Sie war nicht wirklich wach, hatte die Augen geschlossen und konnte bis in ihren Traum hinein den Schmerz fühlen. Wieso musste sie es immer wieder schaffen sich in der Woche zuviel Alkohol einzuverleiben? Ganz langsam versuchte sie die Augen zu öffnen. Diese Prozedur dauerte mehrere Minuten, dann hatte sie sich endlich an ihre helle Umgebung gewöhnt. Und langsam nahm sie ihre Umwelt wahr. Das wiederum war die erste positive Überraschung dieses so schmerzvoll beginnenden Tages. Sie war nicht alleine in ihrem Bett. Besser: sie lag nicht alleine auf ihrem Kopfkissen. Und die Steigerung davon war: Sie hatte Verena im Arm. Wenn sie ab jetzt jeden Morgen so aufwachen würde, dann würde sie die Schmerzen in ihrem Kopf gerne akzeptieren. Ein nervendes und unmenschlich lautes PIEP! PIEP! PIEP! ließ sie zusammenzucken. Was war das? Krieg? Feueralarm? Rauchmelder?
„Oh nee.“ Verena rieb sich die Augen und schlug mit der Hand nach irgendetwas. Dann war Ruhe.
„Ich hasse deinen Wecker.“ Der Wecker! Kerstin wusste, dass sie dieses Geräusch schon mal gehört hatte. Verena drehte den Kopf und sah direkt in Kerstins Augen, die diese mühevoll wieder geöffnet hatte. Sie sollte sie heute nicht mehr schließen, denn jedes Öffnen schmerzte.
„Und irgendwann schlafe ich auf dem Boden.“
„Machst du nicht.“
„Bist du dir sicher, dass du dieses Klammern unbewusst im Schlaf machst?“
„Ich würde es kuscheln nennen und ja, ich mache das unbewusst im Schlaf. Frag Kilian. Wenn wir bei unseren langen DVD Nächten auf der Couch einschlafen wacht er jedes Mal in meinen Armen auf. Ich mache das reflexartig, das ist keine Absicht. Wobei ich zugeben muss: Es ist keine Strafe für mich mit dir im Arm aufzuwachen.“
„Ja, ja. Typisch. Ich gehe duschen, wir müssen gleich arbeiten, falls du dich daran erinnern kannst.“
„Mhm, leicht.“ Kerstin hatte ihre Augen wieder geschlossen. Verena befreite sich aus Kerstins Armen und stand auf.
„Ich wecke dich, wenn ich fertig bin.“ Sie schnappte sich ihre Sachen und verschwand. Kerstin sah ihr traurig nach und blickte dann auf den Platz, auf dem Verena die Nacht verbracht hatte. Nein, sie machte diese Kuschelattacken nicht mit Absicht, würde jedoch lügen, wenn sie sagen würde, dass es ihr unangenehm war mit Verena im Arm aufzuwachen.
„Guten Morgen.“ Kilian kam fröhlich in ihr Zimmer. Seine bunten Klamotten schmerzten zusätzlich in Kerstins Augen. An Tagen wie dieser wünschte sie sich, ihr Mitbewohner wäre ein Schornsteinfeger.
„Nicht so laut.“
„Na, wieder den einen oder anderen Punsch zuviel gehabt?“
„Vielleicht. Wieso bist du so gut drauf?“
„Das Geheimnis heißt nach jedem Alkoholgetränk ein Wasser trinken. Das hilft wunderbar dabei am nächsten Morgen keinen dicken Kopf zu haben. Wie war deine Nacht mit Verena?“
„Frag mich nicht. Ich habe geschlafen wie ein Stein. Es ist eine Schande. Da habe ich die tollste Frau der Welt in meinem Bett und schlafe.“
„Alles beim Alten“, stellte Kilian fest. Kerstin sah ihn böse an.
„Danke, du bist ein wahrer Freund.“
„Deswegen biete ich dir mein Bad an. Du solltest mal eine Woche am Stück pünktlich zur Arbeit erscheinen. Mit unter die Dusche scheint dich Verena nicht zu nehmen.“
„Leider.“ Kerstin streckte vorsichtig einen Fuß unter der Bettdecke hervor. Zu kalt. Sie würde liegen bleiben. Sie war Ärztin, sie würde sich krankschreiben. Kilian fasste die Bettdecke und zog sie mit einem Ruck weg. Kerstin kreischte über den plötzlichen kalten Schauer.
„Ich nehme die mit zu mir. Sonst stehst du nie auf. Bis gleich beim Frühstück.“ Kerstin warf mit ihrer letzten Kraft mit dem Kissen nach ihm. Doch Kilian verschwand lachend aus dem Zimmer. Sie schien wirklich aufstehen zu müssen. Oder sie blieb liegen und erfror. Dann lieber eine heiße Dusche. Und eine Anzeige bei Amnesty International gegen Kilian. Was er mit ihr anstellte grenze an brutalste Menschenrechtsverletzung, Folter und seelischen sowie körperlichen Qualen.
„Frau Wünsche, was machen Sie da?“ Sascha war entnervt. Heute schienen die Frauen keinerlei Interesse daran zu haben etwas zu lernen. Egal welches Thema sie bearbeiten sollten, sie fanden laufend andere Dinge, die sie mehr interessierten. So hatte sich Sascha den Tag nicht vorgestellt.
„Nichts, Frau Klauke.“
„Merkst du nicht, dass du langweilig bist?“
„Frau…?“
„Gerda. Und ich finde deinen Kurs wirklich zum Einschlafen.“ Nun, Sascha fand die Intelligenz von Gerda auch nicht begeisternd, würde es ihr aber nicht sagen. Wahrscheinlich würde sie sie gar nicht verstehen.
„Nun, es ist Ihnen freigestellt teilzunehmen. Sie können gerne gehen.“
„Nee, dann muss ich arbeiten. Da sitze ich lieber hier herum.“
„Entweder Sie arbeiten mit oder Sie gehen.“ Irgendwann musste Sascha durchgreifen sonst würden ihr die Frauen auf der Nase herumtanzen.
„Leck mich.“ Gerda warf mit ihrem Blatt nach Sascha.
„Sehe ich hier jemanden, der lieber in die Wäscherei möchte?“ Verena sah zur Tür herein.
„Wüllner, geh zu deiner Ärztin.“
„Weißt du Gerda.“ Verena hatte sich angewöhnt, die Problemfälle mit dem Vornamen anzusprechen „Das ist nicht meine Ärztin, du musst nicht eifersüchtig sein. Ich weiß, es ist hart, wenn man keine Chance hat eine Frau herumzubekommen und Männer einen nicht besuchen, weil man einfach nicht liebenswert ist, aber da musst du durch“ Die anderen Frauen grölten vor Freude. Normalerweise bekam man als Schluse keine Anerkennung, doch Verena brauchte sich keine Sorge darum zu machen, Ärger zu bekommen. Selbst wenn Gerda sich beschweren würde, keiner der Frauen würde gegen sie aussagen. Sie war die beliebteste Schluse, keiner wollte, dass sie ging oder Ärger bekam.
„Also? Wäscherei oder lernen?“
„Lernen.“
„Gute Wahl.“ Verena grinste Sascha zu und ging weiter. Nach einigen Schritten rief sie: „Und versuche nicht mit deinem Terror weiterzumachen wenn ich weg bin. Ich habe meine Ohren und Augen überall.“
„Falsche Gegnerin, was?“, fragte Fisch belustigt. Sie hatte einen Hass auf Gerda, seit diese sie als Sklave missbraucht hatte.
„Schnauze, Fischstäbchen.“ Gerda verpasste Fisch einen Stoß in die Rippen, der von Godzilla mit einem Lachen kommentiert wurde. Sascha fragte sich, was diese beiden Frauen hier eigentlich wollten. Weiterbildung konnte es nicht sein, eher einen arbeitsfreien Nachmittag oder so.
„Wenn Sie sich jetzt bitte wieder dem Unterrichtsmaterial widmen würden.“ Sascha sah in die Runde. Gerda warf ihr einen wütenden Blick zu. Sascha beachtete ihn nicht weiter und korrigierte die Hausaufgaben der Frauen. Entsetzlich was sie für Fehler machten. Und gleich musste sie sich bei Verena Wüllner für die Unterstützung bedanken. Sascha musste es dringend schaffen sich Respekt zu verschaffen. Aber wie sollte sie einer Horde krimineller Frauen Respekt einflößen, wenn nicht einmal ihr eigener Mann sie ernst nahm. Sie hatte ihm gestern Abend noch gesagt, dass er weniger arbeiten solle, dass sie mehr Zeit miteinander verbringen müssten und er sich mehr um die gemeinsame Tochter kümmern solle, doch er war einfach eingeschlafen. So wie er es seit Monaten tat. Er kam nur noch zum Wäsche waschen und schlafen nach Hause. Sascha oder Jodie beachtete er nicht weiter. Wobei er Sascha noch weniger beachtete als Jodie. Jodie war langsam in dem Alter, in dem sie in die feine Gesellschaft integriert werden sollte. Immer öfter nahm er sie mit, damit sie wichtige Kontakte knüpfen konnte. Und Sascha hatte keine Chance das zu verhindern. Jodie war ganz besessen darauf die High Society kennen zulernen.
Kerstin hatte bereits vier Aspirin geschluckt um wieder ohne Schmerzen arbeiten zu können. Nie wieder so viel Alkohol in der Woche, schwor sie sich. Welcher Teufel hatte sie geritten sich einem Wetttrinken mit Jacques zu liefern? Er besaß einen Weinladen, er war Alkohol gewöhnt. Aber nein, sie musste unbedingt beweisen, dass Frauen mindestens so viel vertrugen wie Männer. Nun hatte sie den Salat. Das Klopfen an der Tür ließ sie wieder ihre Gedanken verlassen.
„Ja, bitte?“
„Frau Walter für Sie.“ Jansen. Der hatte ihr zu ihrem Unglück heute noch gefehlt. Sein Gesicht war wie eine laute Explosion und kein Aspirin half ihr dabei.
„Sie sehen schlecht aus, Frau Herzog.“
„Danke Herr Jansen. Ich rufe Sie, wenn ich mit Frau Walter fertig bin.“
„Immer schön artig sein“, grinste Jansen fies.
„Arschloch“, murmelte Walter leise. Kerstin stand auf und deutete Walter sich auf die Liege zu setzen.
„Wo ist das Problem?“
„Frau Doktor, ich habe tierische Herzschmerzen.“ Walter griff sich theatralisch ans Herz.
„Walter, was willst du?“
„Wie geht es deiner Schluse?“
„Gut.“
„Hast du sie endlich rumgekriegt?“
„Nein, aber wir hatten trotzdem einen schönen Abend. Fehlt dir überhaupt irgendetwas oder bist du nur hier um mich zu nerven? Walter, da habe ich heute keinen Kopf für. Eigentlich habe ich nur einen Kopf für mein Kissen.“
„Kilians Partys?“
„Ja.“
„Sie müssen wirklich der Renner sein.“
„Das sind sie. Leider sind sie laufend in der Woche. Also?“
„Du musst mir helfen?“
„Muss ich das?“
„Ja.“
„Wieso?“
„Es geht um Bea.“
„Oh.“ Kerstin sah Walter traurig an.
„Warst du in letzter Zeit an ihrem Grab?“ Kerstin nickte. Sie hatte Bea ebenfalls gekannt; eigentlich mehr als das. Durch Zufall hatten sie und Walter bemerkt, dass Bea sie verband. Walter hatte Kerstin erzählt, wo sie Bea begraben hatte und wie Bea umgekommen war. Seitdem kümmerte sich Kerstin darum, dass auf Beas Grab regelmäßig Blumen standen und sie verbrachte mindestens einen Nachmittag im Monat an Beas Grab.
„Und?“
„Ich habe Sonnenblumen draufgepflanzt.“
„Das ist gut. Sie mochte sie.“ Kerstin nahm Walter in den Arm. Offiziell stichelten sie gegeneinander, aber in Wahrheit standen sich Walter und Kerstin sehr nahe.
„Kerstin, ich vermisse sie.“ Walter schluchzte. Kerstin streichelte ihr den Rücken.
„Ich auch. Ich auch. Walter, wir werden das schaffen.“
„Verdammt. Ich kann nicht einmal zu ihrem Grab. Das ist so eine verquirlte Scheiße. Die wollen mir keinen Ausgang geben.“
„Auch keinen Begleiteten?“
„Keinen. Wegen meiner Fluchtversuche habe ich jedes Recht auf Ausgang für die nächsten Monate verloren. Und das, wo bald ihr Todestag ist. Kerstin, ich muss an Beas Grab, hörst du? Ich muss einfach.“
„Was soll ich denn machen? Ich bin Ärztin, ich kann dich krankschreiben, aber dann liegst du auf der Krankenstation. Ich kann dir keinen Ausgang verschaffen.“
„Du hast Verbindungen. Frag die Wüllner.“
„Verena ist deine Vertrauensbeamtin, aber sie kann das nicht entscheiden. Über ihr stehen Strauß, Schnoor und Jansen. Egal, wie sehr sie sich für dich einsetzen würde, du würdest keinen Ausgang bekommen. Die Anweisung ist vom Justizministerium.“
„Verdammt.“ Walter schlug mit der Faust auf die Liege. „Ich muss hier raus.“
„Walter, mach keinen Blödsinn. Bea hätte das nicht gewollt.“
„Hat sie dir von mir erzählt?“
„Ja.“
„Und? Was hast du gesagt? Sie als Schluse mit einem Knacki.“
„Sie hat dich geliebt, das war alles was zählte. Mir war egal wer oder du warst und bist, du bist die Frau, die Bea glücklich gemacht hat. Glaub mir, wenn ich könnte, dann würde ich alles tun um sie wieder lebendig zu machen oder um Baumann das heimzuzahlen, was er euch angetan hat, aber ich kann nicht. Ich konnte es nicht einmal versuchen, weil ich nicht wusste, was passiert war.“
„Ich habe es versucht und habe versagt.“ Kerstin nahm Walter wieder in den Arm. Ja, Walter hatte es wenigstens versucht. Kerstin hatte nichts tun können. Und das war eine Sache, die sie sich ewig vorwerfen würde. Sie war nicht da gewesen, als Beas sie gebraucht hatte, hatte nichts machen können um ihren Tod zu rächen. Sie hatte die Rolle des unbedeutsamen Zuschauers bekommen. Verdammt dazu nichts zu tun.
„Kerstin, wach auf.“ Verena schüttelte Kerstin heftig. Diese war mit dem Kopf auf der Tischplatte eingeschlafen.
„Gleich, ich träume gerade so schön“, murmelte Kerstin im Halbschlaf.
„Du bist nicht in deinem Bett, du bist im Aufenthaltsraum und jede Sekunde kann Strauß oder sonst wer hereinkommen. Du erinnerst dich? Dienstbesprechung. Los jetzt, Augen auf.“ Verena gab Kerstin einen Klaps auf den Hinterkopf. Da war sie pünktlich und was machte sie? Einschlafen.
„Kaffee.“
„Es ist keiner mehr da.“ Die Tür wurde geöffnet und Sascha stand im Raum.
„Morgen.“ Sie sah irritiert auf Kerstin, die weiterhin halb auf dem Tisch schlief.
„Morgen. Sind Strauß oder Jansen schon auf dem Weg?“
„Die schlichten gerade einen kleinen Streit, das kann noch ein oder zwei Minuten dauern. Was ist mit Frau Doktor Herzog los?“
„Übernächtigt und auf Kaffeeentzug. Es ist kein Pulver mehr da und heißes Wasser allein macht sie nicht wach. Kerstin, bitte.“ Verena stieß Kerstin heftig an. Sascha holte eine Thermoskanne aus ihrer Tasche und stellte sie auf den Tisch.
„Frischer Kaffee, extra stark.“
„Oh, super.“ Verena holte Kerstins Tasse und goss einen großen Schluck ein. Dann packte sie Kerstins Haare und zog ihren Kopf hoch.
„Au-a.“
„Trink das.“
„Du bist manchmal echt brutal.“ Kerstin nahm einen Schluck Kaffee. Oh, das war gut. Kerstin konnte förmlich spüren wie ihre Augen langsam geöffnet wurden.
„Du brauchst das. Danke Sascha, du hast ihr wahrscheinlich gerade den Job gerettet. Zumindest hast du sie vor einer Abmahnung bewahrt.“
„Kein Problem.“ Sascha sah Kerstin fasziniert an. Sie hätte nie gedacht, dass eine Ärztin in der Woche so lange feiern würde, dass sie am nächsten Tag kaum die Augen öffnen konnte. Sollten Ärzte nicht Vorbilder sein? Bei ihrem Hausarzt konnte sie sich nicht vorstellen, dass der überhaupt feiern würde. Obwohl, bei dem konnte sie sich nicht vorstellen, dass er irgendeine Freude im Leben hatte.
„Das tut gut.“ Kerstin ließ genüsslich den Kaffee durch ihre Kehle laufen. Ja, jeder Schluck machte sie wacher.
„Irgendwann gebe ich dir Feierverbot.“
„Oder du kommst mit.“
„Nee du, eine Party in der Woche reicht mir. Ich brauche ein wenig Schlaf.“
„Mein Bett steht dir zur Verfügung.“ Bevor Verena etwas sagen konnte, kamen Doktor Strauß, Hendrik Jansen, Peter Kittler und Birgit Schnoor herein. Da war Kerstin gerade noch einmal zum richtigen Zeitpunkt wach geworden.
„Guten Morgen. Fangen wir gleich an.“ Doktor Strauß setzte sich ans Tischende. „Es gab Probleme mit Frau Fischer und Frau Schmidt. Sie haben sich geprügelt. Beide sind im Bunker untergebracht. Hat einer von Ihnen eine Erklärung, was der Grund für diese Auseinandersetzung sein könnte?“ Er sah sich fragend um.
„Nein“, meinte Kerstin. Langsam kam wieder Klarheit in ihrem Kopf. Der Kaffee war wie eine Wiederbelebung. Mel und Fisch? Seitdem Fisch nicht mehr mit Kalle in einer Clique war, hatte sie eigentlich weniger Probleme mit den Frauen. Der neue Streit musste einen alten Grund haben. Aber noch war Kerstin nicht in der Lage sich tiefgehende Gedanken um die Frauen der Stationen zu machen. Ein Tritt von Verena gegen ihr Schienbein ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Hatte man sie angesprochen? Nein, keiner sah sie an. Wahrscheinlich sollte sie einfach wieder in die Wirklichkeit finden. Mit ein wenig Mühe schaffte sie es bis zum Ende der Dienstbesprechung zuzuhören.
„Danke.“ Auf dem Weg zu ihrem Büro sah Kerstin Sascha dankbar an. „Sie haben mir mit Ihrem Kaffee sehr geholfen.“
„Keine Ursache. Ich bin sowieso nicht der Kaffeetrinker. Wenn Sie wollen, dann können Sie den Rest haben.“
„Das wäre sehr nett. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ohne Koffein den Tag überstehe…“ Kerstin machte eine kleine Pause „Es tut mir Leid, dass ich Sie wegen des Raumes und der Akten so angefahren habe. Sie haben schließlich nur getan, was Ihnen Doktor Strauß gesagt hat.“
„Schwamm drüber“ Sascha reichte Kerstin die Hand „Auf gute Zusammenarbeit.“
„Ja.“ Kerstin strahlte.
Wenn sie länger darüber nachdachte, dann war Sascha eine sehr nette Kollegin. Und irgendwie…sie sprach Kerstin an! Dieses süße Lächeln, so schelmisch und lausbübisch. Ihre braunen Haare, die sich nie richtig ordnen ließen, beinahe wie ihre eigenen Haare, die ohne Haarspray auch machten, was sie wollten. Und diese blauen Augen. Wie Wasser in der Karibik. Kerstin könnte problemlos länger in diesen Augen versinken. Dazu eine Stupsnase und Lippen, an die Kerstin lieber gar nicht näher denken wollte, sonst würde sie in Ohnmacht fallen. Und all das hatte sie wegen des dummen Nebenzimmerstreites übersehen. Wie blind konnte sie sein?
„Kerstin, geht es Ihnen gut?“ Wenn man von seinem Engel träumte, dann stand er manchmal sogar vor einem. Kerstin hob ihren Blick und sah Sascha vor ihrem Schreibtisch stehen.
„Ja, danke. Ich war kurz in Gedanken versunken.“ Und du warst mein Gedanke, fügte sie still hinzu.
„Soll ich Ihnen wieder meinen Kaffee überlassen?“
„Nein, das war gestern eine ganz andere Situation. Ich hatte genug Schlaf. Kann ich Ihnen helfen? Ich hoffe mal, es ist nichts wo ich Ihnen als Ärztin helfen sollte.“
„Doch, leider. Haben Sie eine Schmerztablette für mich? Heute bin ich diejenige, die Kopfschmerzen hat“
„Kein Problem.“ Kerstin holte eine Schachtel Schmerztabletten aus ihrer Schublade.
„Muss ich Ihnen etwas quittieren? Wegen der Nachbestellung und dem Nachweis, wo die Medikamente verblieben sind?“
„Nein, das war meine.“ Kerstin schenkte Sascha ihr schönstes Lächeln. Ja, ein Engel. Und diese Grübchen wenn sie lächelte.
„Oh, danke.“
„Kein Problem, dafür bin ich hier.“ Kerstin sah Sascha nachdenklich an. „Geht es Ihnen sonst gut?“
„Ja.“ Eine glatte Lüge. Und eine schlechte. Sascha fühlte sich hundeelend.
„Was ist passiert?“ Kerstin stand auf und deutete Sascha, sich auf die Liege zu setzen. Eine kleine Untersuchung konnte nicht schade. Manchmal war es sehr praktisch Ärztin zu sein. Wer konnte sonst zu einer Frau sagen: Zieh dich aus! Ohne dafür Ärger zu bekommen?
„Alkohol. Viel zu viel. Ich vertrage keine zwei Flaschen Wein und mehrere Whiskeys.“ Sascha legte sich auf die Liege. Liegen war besser als sitzen oder gar stehen. Ihr Kopf dankte ihr die wagerechte Position, indem der stechende Schmerz unter ihrer Schläfe ein wenig nach ließ. Kerstin musste innerlich lächeln. Aha, das war wohl die offizielle Woche der Zuvieltrinker.
„Ein Kater. Na, dem werden wir das Fürchten lehren“ Kerstin begann langsam und vorsichtig Saschas Schläfe und Schädel zu massieren. „Machen Sie die Augen zu und stellen Sie sich vor, Sie lägen an einem einsamen Sandstrand in der Karibik. Um Sie herum ist nur Sand und das Meer rauscht im Hintergrund. Es ist ein angenehmes Rauschen. Die Wellen umspielen sanft Ihre nackten Füße wenn sie an den Strand schlagen. Jede Welle lässt Ihren Körper sich mehr entspannen. Sie sind ganz in der Ruhe Ihrer Umwelt versunken und ganz entspannt. Es ist Ihr Wunschurlaub. Ruhe, viel Ruhe. Sie sind ganz alleine und keiner kann Sie stören. Wie fühlen Sie sich?“ Also, Kerstin fühlte sich klasse, wenn sie sich vorstellte, dass sie neben Sascha an diesem Strand lag.
„Die Kopfschmerzen gehen weg.“ Kerstin lächelte. Das war Sinn der Übung. Viele Kopfschmerzen ließen sich beheben, wenn man dem Patienten die nötige Ruhe und Entspannung verschaffte.
„Fühlen Sie sich wohl?“
„Ja, es beinahe so als wenn ich wirklich an diesem Strand wäre. Wie machen Sie das?“
„Das sind Sie selber mit der Kraft Ihrer Gedanken. Ich massiere nur leicht ihre Schläfe und Ihren Schädel. Die Schmerzen werden Sie wohl heute noch öfter aufsuchen, denn ich kann Sie schlecht den ganzen Tag auf Ihrer Insel liegen lassen, aber wenn Sie selber ab und zu Ihre Schläfe massieren und dabei die Augen schließen, dann sollten Sie die Schmerzen in den Griff bekommen.“ Kerstin ließ Saschas Schläfen los. Ungern.
„Danke.“ Sascha öffnete die Augen und lächelte.
„Keine Ursache, das ist mein Job. Das nächste Mal trinken Sie einfach weniger.“
„Das sagt sich so leicht.“
„Ich weiß. Ich bin schließlich selber das beste Beispiel dafür, wie man es immer wieder falsch macht.“
„Ärzte sind auch nur Menschen.“
„Eben.“ Kerstin seufzte. Was wäre das schön wenn sie den Rest des Tages Sascha ihre Kopfschmerzen wegmassieren könnte. Und das alles nur, weil sie ihr ihren Kaffee überlassen hatte. Kerstin war heilfroh an dem Morgen so müde gewesen zu sein. Sonst würde sie wahrscheinlich noch immer Sascha anschmollen. So war die Situation viel entspannter und angenehmer.
„Jodie?“ Sascha hing ihren Schlüssel in den Schlüsselkasten und betrat das große Wohnzimmer.
„Ihre Tochter ist weg. Sie ist heute auf einer Geburtstagsfeier.“ Johanna, die Haushälterin sah von ihrer Bügelarbeit auf.
„Danke Johanna.“ Ohne Johanna würde Sascha nie wissen, wer gerade wo von ihrer Familie war.
„Hat mein Mann sich gemeldet?“
„Er hat bereits am frühen Morgen angerufen, Sie waren keine zehn Minuten weg. Er hat einen dringenden Geschäftstermin in Zürich und wird erst morgen Abend wieder nach Hause kommen.“ Johanna sah Sascha mitleidig an. Sie konnten sich beide vorstellen, was das für ein Geschäftstermin war.
„Eine neue Woche, ein altes Programm. Naja, dann werde ich mich mit einem Buch zurückziehen. Wollen Sie auch Feierabend machen?“
„Es ist doch erst sechzehn Uhr.“
„Ihr Enkelsohn hat heute Geburtstag. Er wird sich bestimmt freuen, wenn Sie ihn besuchen kommen.“
„Danke.“ Johanna lächelte. Sascha war selten Zuhause, doch sie merkte sich alle Termin, die das Hauspersonal betrafen. Ob es der Geburtstag von Johannas Enkel, der Tierarztbesuch vom Dackel des Kindermädchens oder der Behördengang des Chauffeurs war, sie hatte alle Termine im Kopf, wenn man sie ihr einmal mitgeteilt hatte. Ganz im Gegensatz zum Herrn des Hauses, der außer für seine Arbeit keine Gedanken hatte.
„Kein Problem. Und wenn Sie mögen, dann nehmen Sie sich morgen früh frei, ich muss erst ab dem Mittag arbeiten“
„Das ist sehr nett, aber ich muss morgen früh zur Reinigung.“
„Gut, dann sehen wir uns morgen früh wieder.“ Sascha lächelte und ging in die Bibliothek. Hier war sie am Liebsten. Der Raum war groß und jede freie Stelle war mit Büchern besetzt. Von Biografien über Literaturklassikern zu modernen Romanen und Fachliteratur. Alles war hier zu finden. Unter dem einzigsten Fenster stand eine Couch, auf der Sascha stundenlang lag um zu lesen. Das war ihr Revier, ihr Ort, an den sie sich zurückzog. Und heute würde sie hier ungestört sein. Ihre Tochter würde erst gegen 20 Uhr zurückkommen. Sie hatten abgemacht, dass Jodie im Sommer unter der Woche etwas länger wegbleiben durfte, dafür im Winter zusah bei Dunkelheit wieder Zuhause zu sein oder im Haus einer Freundin, von wo aus Sascha sie abholen konnte. Bisher hatte es mit dieser Abmachung keine Probleme gegeben. Jodie war derzeit ein wenig rebellisch, wie es Kinder in dem Alter sind, aber sie meldete sich immer von sich aus an und ab. Ebenso rief sie an, wenn es später wurde. Diese Verlässlichkeit hatte sie nicht von ihrem Vater. Geschäftstermin in Zürich. Sascha wusste genau, wie der aussah. Der Geschäftstermin hieß Katharina, war Anfang zwanzig und die Tochter eines Geschäftsfreundes. Seitdem Mike, ihr Mann, das erste Mal in Zürich war vor fünf Jahren, hatte er eine Affäre mit Katharina, die damals knapp über achtzehn gewesen sein musste. Er hatte Sascha nie davon erzählt, doch sie konnte zwei und zwei zusammenzählen. Manchmal fragte sich Sascha, wieso sie das alles mitmachte? Was hielt sie hier? Sicher, sie wohnte in einem riesigen Haus, hatte Hauspersonal, musste sich um nichts selber kümmern und lernte aufgrund der Arbeit ihres Mannes interessante Menschen kennen, doch sie hatte keine richtige Familie. Wahrscheinlich war das ein natürlicher Prozess. Sie und Mike waren seit vierzehn Jahren zusammen, für beide war es die erste Beziehung gewesen, aus der dann Jodie nach einigen Monaten entstand. Während Sascha sich nach dem Realschulabschluss um die Tochter kümmerte, ging Mike mit der finanziellen Unterstützung seiner Eltern zum Gymnasium und dann zur Universität. Er wollte schon immer ein erfolgreicher Geschäftsmann sein. Geld und Macht hatten ihn immer fasziniert und nun war er im Spiel der Reichen, Mächtigen und Schönen integriert. Für die Familie und die Ehefrau blieb sehr wenig Zeit.
„Na Frau Doktor, waren Sie wieder erfolglos?“ Hendrik Jansen grinste Kerstin dreckig an. Er hatte beobachtet wie Verena das Arztzimmer verlassen hatte.
„Nein, wir hatten wunderbaren, schnellen Sex auf der Liege. Ich sage dir, sie ist der Hit. Besser geht’s nicht“ Kerstin grinste belustigt. „Ich hoffe mal, du bist nicht zu eifersüchtig wegen der Niederlage.“
„Auf dich? Das was du abbekommst, das werfe ich weg. Mal ganz davon abgesehen, dass ich in einer Beziehung lebe, während du dich jeden Tag nach der Kollegin verzehrst, die dir einen Korb nach dem anderen gibt“, konterte Jansen eiskalt.
„Im Gegensatz zu dir hatte ich sie in meinem Bett. Und ich verbringe jede Menge Zeit mit ihr. Gib ruhig zu, dass es dich extrem wurmt, dass du Verena nicht rum bekommst.“ Kerstin grinste breit. Sie und Jansen konnten sich nicht leiden, das war vom ersten Tag an so gewesen, aber seitdem er feststellte, dass sie sich perfekt mit Verena verstand, versuchte er gegen sie zu sticheln, wo immer er konnte. Er selber hatte bereits unzählige Male versucht Verena zu bezirzen, aber diese hatte sich stets unbeeindruckt gezeigt. Verheiratete Männer fand sie uninteressant. Das gab nur Ärger. Und Jansens Geschwafel, dass er sich scheiden lassen wolle, nahm sie ihm nicht ab.
„Ich habe kein Interesse an der Kollegin Wüllner.“ Hah, der war gut. Den musste sie Verena erzählen. Jansen hatte kein Interesse an ihr.
„Das glaubst du doch selber nicht. Ich nehme dir ab, dass du an der Schiller kein Interesse hast, wobei ihr beide sehr gut zusammenpassen würdet, aber ich weiß genau, wie scharf du auf Verena bist. Sie hat mir von deinen Angeboten erzählt.“ Kerstin sah Jansen triumphierend an. Sie kannte jede Masche, die er bei Verena versucht hatte. Ohne Ausnahme. Jansen warf ihr einen hasserfüllten Blick zu.
„Frustrierte Lesbe.“
„Ich bin in keiner Weise frustriert, mir geht es wunderbar. Im Gegensatz zu dir kleinem abgewiesenen Möchtegerncasanova.“
„Irgendwann machst du einen Fehler und dann werde ich dich packen.“
„Aber Herr Kollege, diese Drohungen immer. Ich mache keine Fehler, ich habe keine Affäre mit den Insassinnen, was man nicht von allen hier Anwesenden behaupten kann und ich versuche nicht am Direktorensessel zu sägen.“ Kerstin verschränkte die Arme hinterm Kopf und lehnte sich zurück. Jansen schnaubte und verließ das Zimmer. Was der sich einbildete. Kerstin sah ihm belustigt nach. Aber er brachte ein wenig Humor in ihren Arbeitstag. Jansen kam ihr vor wie ein schlechtes Comedyprogramm.
„Hi.“ Kerstins Herz machte einen kleinen Sprung. Eigentlich war sie auf dem Weg in die Pause, aber dann hatte sie Sascha in ihrem Unterrichtsraum entdeckt. Sie saß an ihrem Schreibtisch und ordnete einige Zettel.
„Hallo, wie geht es Ihnen?“
„Danke, sehr gut. Und selber?“
„Es könnte besser sein. Doch ich will mich nicht beklagen.“ Sascha lächelte eine Rose auf ihrem Schreibtisch an.
„Verehrerin?“
„Bitte?“
„Eine der Frauen?“ Sie deutete auf die Rose, konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass eine der Frauen an eine Rose kam. In der Gärtnerei gab es nach Kerstins Wissen keine Rosen und sonst kamen hier selten Blumenlieferungen an.
„Nein…“ Sascha wurde rot. Und Kerstin begann rot zu sehen. Dann hatte sie eine konkrete Vorstellung, wer der Absender der Rose war. Das hätte sie sich gleich denken können. Typisch.
„Jansen.“
„Woher…?“
„Das ist seine Masche. Sie sind sein neues Opfer.“ Kerstin hatte Mühe ruhig zu bleiben. Sie könnte Jansen den Hals umdrehen. Nicht nur, weil er mal wieder eine neue Kollegin anbaggerte, sondern auch weil er Sascha ins Visier genommen hatte.
„Opfer?“
„Er gräbt alles an, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.“
„Sie und Hendrik verstehen sich nicht sonderlich gut, oder?“
„Das hat er Ihnen erzählt? Es stimmt, wir können uns nicht leiden“ Und wahrscheinlich war sie in Jansens Geschichten an allem Schuld.
„Er sagt, Sie seien eifersüchtig auf ihn.“ Treffer, Versenkt. Jansen war zu leicht zu durchschauen.
„Hat er auch einen Grund, wieso ich auf ihn eifersüchtig sein sollte?“ Das interessierte Kerstin sehr. Wenn er Sascha schon erzählte, dass sie eifersüchtig war, dann wollte sie wissen welchen Grund er angegeben hatte.
„Weil er bei den Frauen ankommt und im Gegensatz zu Ihnen in einer Beziehung lebte“
„Lebte?“
„Er will sich scheiden lassen.“ Schon wieder die alte Geschichte. Das durfte nicht wahr sein. Wie oft wollte sich der Kerl jetzt schon scheiden lassen?
„Außerdem wären Sie sauer, weil sie bei Verena keine Chance hätten obwohl Sie seit Monaten versuchen sie…sie…na ja…“ Sascha wurde rot. Wie putzig. Kerstin hätte sie in den Arm nehmen können um sie zu knuddeln. Was war diese Frau süß. Und so schüchtern.
„Weil ich Verena ins Bett bekommen will?“, fragte Kerstin. Saschas Gesichtsfarbe wurde einen weiteren Ton roter. Kerstin setzte sich auf die Tischkante und schmunzelte.
„Ich gebe zu, Verena ist eine tolle Frau und ich hätte sie bestimmt nicht von meiner Bettkante geworfen, aber wir sind Freunde. Sie ist meine beste Freundin, das ist wertvoller als eine Beziehung. Nein, ich bin ganz bestimmt nicht eifersüchtig auf Herrn Jansen, das ist er auf mich wegen Verena.“
„Sie haben nichts miteinander?“
„Nein, kein bisschen.“
„Herr…er meinte, sie würden…also Verena würde bei Ihnen…“
„Verena schläft ab und zu bei mir, in meinem Bett, doch ob ich mein Bett mit Verena oder meinem Mitbewohner teile, der nebenbei schwul ist, das ist egal. Bei beiden passiert das gleiche: nichts. Nur weil Herr Jansen mit jeder Frau schläft, die er in die Hände bekommt, heißt das nicht, dass ich das auch mache. Nur weil ich lesbisch bin, will ich nicht jede Frau ins Bett bekommen. Oder wollen Sie jeden Mann ins Bett ziehen?“
„Nein.“ Das musste die Endfarbe sein. Wenn Saschas Kopf noch roter werden würde, dann würde Kerstin sich ernsthaft Sorgen machen ob er platzen würde.
„Sehen Sie. Geben Sie nicht so viel darauf, was Jansen über mich sagt. Wie Sie sehen, haben wir eine sehr problematische Beziehung.“
„Ich merke es. Und Sie meinen, die Rose ist eine Masche?“
„Ich befürchte ja. Ich würde nicht viel darauf setzen, dass er es mal ernst meinen könnte.“ Aber ich kann verstehen, dass er es bei dir versucht, setzte Kerstin stumm hinzu. Sascha passte wunderbar in Hendriks Beuteschema. Jung, gutaussehend und mit dem Geschehen in Reutlitz und im Vollzug nicht vertraut. Da konnte er sich super als Beschützer und Bewacher aufspielen. Eine kleine Rose hier, eine Einladung zum Essen da und schon war eine neue Frau in seiner Liste.
„Riskieren Sie nicht Ihre Ehe wegen Jansen. Das wäre er nicht wert. In jeder Disko finden Sie Männer, die sich dazu besser eignen.“ Oder werfen Sie ein Auge auf ihre Kollegin, die nette Ärztin. Die wäre sehr an Ihnen interessiert. Kerstin stand lächelnd auf. Sie begann zu fantasieren und stumme Selbstgespräche zu führen.
„Ich muss los, meine Affäre.“ Kerstin zwinkerte belustigt „Wartet im Pausenraum. Viel Spaß gleich beim Kurs“
„Danke. Schöne Pause.“ Aus dem Augenwinkel konnte Kerstin noch erkennen wie Sascha die Rose vom Tisch nahm, zerbrach und in den Mülleimer war. Wenn Jansen erfuhr, wer ihm da die Tour vermasselt hatte, würde es wieder Ärger geben. Doch Kerstin freute sich schon darauf. Gab es etwas Schöneres als Jansen eine Tour zu vermasseln?
Teil 4
„Du siehst schlecht aus.“ Verena sah zu Sascha, die sich auf eine Bank unweit von Reutlitz gesetzt hatte. „Stressiger Tag?“ Normalerweise verließen die Leute freudig Reutlitz und sahen nicht aus wie sieben Tage Regenwetter.
„Nein, ich habe einfach keine Lust nach Hause zu gehen. Hast du so etwas nie?“ Sie duzten sich seit einigen Tagen. Verena hatte Sascha Kerstins Geschichten über Jansen bestätigt, was dazu geführt hatte, dass sie ihm reservierter entgegen trat.
„Eigentlich nicht. Zuhause wartet mein Kätzchen auf mich.“
„Auf mich ein leeres Haus.“
„Wo ist deine Familie?“
„Ausgeflogen.“ Sascha sah auf. Kerstin kam mit Jansen im Schlepptau aus Reutlitz. Sie lächelte zufrieden, er schimpfte und gestikulierte wild.
„Sie bringt ihn gerne auf die Palme, oder?“
„Ja, wenn der eine Ruhe gibt, dann stichelt der andere. Normalerweise würde ich sagen, was sich liebt, das neckt sich, aber bei den beiden wird dieses Sprichwort nicht passen.“ Verena sah zu, wie Kerstin Jansen freudig nachwinkte und dann zu ihnen schlenderte.
„Hi.“
„Du hast ihm den Feierabend versaut, oder?“
„Ja, ein wenig. Du weißt, jeder braucht ein Hobby.“ Kerstin grinste und kniff Verena in die Seite. „Sascha, was ist los? Sie sehen aus als wenn ich Sie und nicht Jansen geärgert hätte. Was ich allerdings nie machen würde.“
„Meine Feierabendfreude hält sich in Grenzen. Ein großes, leeres Haus wartet auf mich“
„Oh.“ Kerstin sah nachdenklich drein. Dann erhellte sich ihr Gesicht. Sie hatte eine Idee, wie man Saschas Abend retten konnte.
„Was für eine Schicht haben Sie morgen?“
„Frei. Die Frauen müssen eine dringende Wäschebestellung erledigen. Warum?“
„Vroni und ich haben Spätschicht, da würde sich ein gemeinsamer Abend anbieten. So weit ich weiß, ist im „FoGaL“ ein Live – Event. Ich wollte Vroni sowieso mit dorthin schleppen, kommen Sie mit, das wird lustig.“
„Was ist das „FoGaL“?“
„Meine Stammdisko. Sehr lustig. Was sagen Sie dazu?“
„Ich weiß nicht. Mein Kleiderschrank wird nichts für eine Disko hergeben. Wenn ich mal ausgehe, dann auf die Partys meines Mannes“, zweifelte Sascha.
„Das bekommen wir hin, dafür gibt es Kilian.“
„Kilian?“
„Den musst du kennen lernen“, unterstützte Verena Kerstin. Sie hatte bis eben nichts von der Party gewusst, war es aber gewohnt, dass Kerstin sie mit einem Programm überraschte, wenn sie beide Spätschicht hatten. Und Sascha konnte die Abwechselung vertragen.
„Kilian ist ein Schatz. Ich würde sagen, ihr beide begebt euch in seine Hände, ich kümmere mich um meine Katze und komme dann nach. Soll ich Essen mitbringen?“
„Patrick ist mit dem Essen dran.“
„Hach, dann werde ich wieder nicht zum Essen kommen“, grinste Verena und fing sich einen bösen Blick von Kerstin ein. Sie hoffte, Verena meinte das nicht so, wie sich das angehört hatte.
„Sascha, was hältst du von dem Plan?“
„Ich weiß nicht…ich meine, wenn jetzt einer Zuhause anruft…“
„Dann soll der dich auf dem Handy anrufen. Gib dir einen Ruck, ein wenig Spaß kann nicht schaden.“ Und weil Verena Recht hatte, Sascha keine Lust auf einen weiteren Abend allein hatte und es Zeit wurde, dass sie sich auch mal wieder amüsierte und etwas mit Leuten unternahm, die nicht ihr Mann anschleppte, sagte sie zu.
„Gut, dann sehen wir uns in etwa einer Stunde bei dir.“ Verena küsste Kerstin auf die Wange.
„Lass dich nicht klauen.“
„Kerstin, du weißt was mit Leuten passiert, die versuchen mich zu klauen. Bis gleich.“ Sie winkte Sascha und Kerstin und verschwand dann Richtung Parkplatz.
„Ich hoffe, es stört Sie nicht wenn wir laufen. Ich gehe immer zu Fuß nach Reutlitz…es sei denn, es ist einer dieser Tage, an denen ich verschlafen habe.“ Also ging sie meistens nicht zu Fuß, wenn man es gemein genau betrachtete.
„Kein Problem. Ich habe den ganzen Tag gesessen.“ Sascha stand auf und folgte Kerstin. Tat sie das Richtige? Sollte sie nicht doch lieber nach Hause gehen? Ihr Mann war einen solchen Ausflug nicht von ihr gewohnt.
„So ganz wohl fühlen Sie sich nicht bei dem Gedanken an unser Abendprogramm, oder?“, erriet Kerstin Saschas Gedanken.
„Nein, das ist so neu. Ich war seit…seit ich mit Mike zusammen bin, nicht mehr alleine aus.“ Kerstin legte ihre Stirn in Falten. So was. Wie konnte man sich so abhängig machen? Selbst wenn Kerstin in einer Beziehung war, brauchte sie einen Abend in der Woche, an dem sie etwas alleine unternahm. Und sei es nur mit Verena ins Kino zu gehen oder mit Kilian eine Ausstellung besuchen.
„Der Abend wir Ihnen gut tun. Glauben Sie mir, Sie brauchen keinen Mann um sich zu amüsieren.“
„Sollen wir uns nicht auch duzen? Ich meine, wir gehen schließlich gleich zusammen weg. Da wäre ein Sie umständlich.“
„Das stimmt“, lachte Kerstin. Wenn es nach ihr ging, dann konnten sie auch gerne Brüderschaft, beziehungsweise Schwesterschaft trinken. Alles was ihr Sascha ein wenig näher brachte.
„Kerstin.“
„Sascha. Und wer ist Kilian?“
„Kilian ist mein Mitbewohner. Du wirst ihn mögen, er ist…einzigartig. Es sei denn, du hasst die 70er Jahre. Die und ABBA sind sein Leben.“
„Ich stehe auf ABBA. Ich war bei der Premiere des Musicals in Hamburg. Eine der wenigen Vorteile am Beruf meines Mannes ist, dass er für so etwas Karten bekommen kann. Seitdem war ich bereits dreimal dort. Es ist fantastisch.“
„Kilian wird dich lieben. Was macht dein Mann denn? Ist er Produzent?“
„Nein, er ist so etwas wie ein Event – Manager. Wenn es in Berlin eine Party mit Promis gibt, dann organisiert er die. Und immer öfter macht er das mit Partys außerhalb der Stadt“
„Wow, dann kennt er berühmte Leute. Faszinierend.“ Kerstin war beeindruckt. Sie kannte nur einen Promi, Hella von Sinnen. Die war einmal Stargast in ihrer Stammdisko gewesen. Sascha musste jede Menge Stars kennen.
„Ja, aber glaub mir, die sind genauso interessant wie jeder andere Mensch auch. Und sein Job ist…ist nicht gerade förderlich für ein harmonisches Familienleben.“ Sascha seufzte. Kerstin zog es vor jetzt nicht näher nachzufragen. Außerdem waren sie bei Kerstin in der WG angekommen.
„Guten Abend, Doktor Herzog.“ Eine alte Frau fegte vor ihrer Wohnungstür.
„Guten Abend, Frau Braukmann. Wie geht es Ihnen?“
„Sehr gut, danke. Und Ihnen?“
„Auch, danke.“
„Könnten Sie Herrn Beckmann darum bitten seine Musik gleich etwas leiser zu stellen? Ich habe nichts gegen seine Musik, aber gleich kommt doch der alte Heimatfilm und wenn ich den Fernseher so laut stelle, dann piept Fiffi ohne Unterbrechung.“
„Ich mach die Musik persönlich leiser“, versprach Kerstin. „Einen schönen Abend, wünsche ich Ihnen.“
„Ihnen auch, Frau Doktor.“ Kerstin und Sascha gingen ein Stockwerk höher. Von hier kam die Musik.
„Daran erkennt man, dass Kilian Zuhause ist. Seine Musik erfüllt das Haus.“
„Bekommt ihr keinen Ärger vom Vermieter?“
„Kilian ist der Vermieter. Außerdem wissen alle Leute, dass er die Musik sofort leiser macht, wenn sie fragen. Außer Frau Braukmann wohnen hier noch zwei Studenten WGs, die selber meistens etwas lauter sind. Die Ruhezeiten werden jedoch von allen eingehalten, das ist Ehrensache.“ Kerstin schloss die Haustür auf und ließ Sascha den Vortritt. Staunend sah Sascha sich um. Der Flur war im grellen grün gehalten und überall hingen Poster von Bands, Filmen und Musicals der 70er. Direkt vom Flur führte eine große Tür in das Wohnzimmer, in dem ein Mann in Schlaghose und quietschbuntem Hemd stand und ABBA Lieder mitsang. Das musste Kilian sein. Sascha schätzte ihn auch Mitte zwanzig. Im Wohnzimmer waren die Wände in verschiedenen leuchtenden Farben gehalten. Plüschteppiche und Ohrensessel in den unmöglichsten Farben standen herum und ein großer, unechter Kamin stand an einer Wand. Hier wohnte der Kitsch und der, sagen wir mal, eigensinnige Geschmack der 70er Jahre.
„Man gewöhnt sich daran“, meinte Kerstin. Sie drehte die Musikanlage leiser und Kilian entdeckte sie. Es schien ihm nicht peinlich zu sein, dass die Frauen ihn beim Singen und Tanzen gesehen hatten.
„Kerstin, Schätzchen, du bist das. Und hui, du hast eine schöne Begleitung mitgebracht.“ Er umarmte Kerstin und küsste sie auf die Wange.
„Das ist Sascha, meine Arbeitskollegin.“ Kerstin sah Kilian durchdringend an. Wehe er würde verraten, dass sie bereits mehrmals von Sascha geredet hattet oder gar durchscheinen lassen, dass sie von ihr geschwärmt hatte.
„Hi, ich bin Kilian.“ Kilian reichte Sascha die Hand.
„Hallo.“
„Keine Angst, ich beiße nicht.“
„Sascha begleitet uns heute Abend. Hast du ein passendes Outfit für sie?“
„Gewagt?“
„Wenn es geht, ganz normal.“
„Normal? Na, das wird schwierig. Aber wir werden sehen. Wo ist dein blonder Engel?“
„Zuhause, die Katze füttern. Wahrscheinlich nimmt sie sie mit her.“
„Gut, dann werde ich mal gucken, was ich für Sascha finde. Sascha. Ein schöner Name. Ich hatte mal einen Freund, der hieß Sascha. Der konnte vielleicht tanzen. Wie ein junger Gott. Los, lass uns meinen Kleiderschrank stürmen.“
„Dann mache ich mal die Getränke fertig. Bis ihr aus dem Kleiderschrank wieder raus seid, das dauert“, prophezeite Kerstin. Sascha sah sich zweifelnd Kilian an. Wenn sein Kleiderschrank aus solchen Sachen bestand, dann würde sie niemals etwas finden. Mal ganz davon abgesehen, dass sie nicht dieselbe Größe hatten.
Sascha hatte ein passendes Outfit von Kilian bekommen. Und dass seine Sachen zwei Nummern größer waren als ihre änderte er in Windeseile um. Schließlich war nicht nur ein Innendekorateur, sondern auch Hobbyschneider.
„Du siehst ganz anders aus“, meinte Kerstin als sie Sascha wiedersah.
„Schlimmer?“
„Nein, cool.“
„Sie wird eine Dancing Queen. Entschuldigt mich, ich muss mich fertig machen.“ Kilian verschwand.
„Den sehen wir die nächste Stunde nicht wieder.“
„Badezimmer?“
„Alle Vorurteile über Schwule und ihren Hang eine Diva zu sein passen auf Kilian. Pediküre, Maniküre, alles muss perfekt sein, wenn er raus geht. Mit so einem Mann im Haus braucht man zwei Badezimmer.“
„Dann wäre er bei mir perfekt aufgehoben. Jedes Schlafzimmer hat sein eigenes Badezimmer. Er könnte den ganzen Tag von einem Bad ins andere wechseln. Da eh keiner Zuhause ist, hätte er viel Freiraum. Nur das Personal könnte ihn stören.“
„Personal? Cool. Das muss ein schickes Haus sein.“
„Mike meinte, wir brauchen etwas Großes, etwas, das etwas herzeigt. Im Prinzip wären wir mit einer kleinen Wohnung bedient, aber…der Schein muss stimmen.“
„Du hörst dich nicht sehr glücklich an, wenn du von deiner Familie erzählst.“ Kerstin wagte den Vorstoß.
„Naja, wir leben zusammen wie einer WG. Jodie ist mal Zuhause, meistens jedoch bei Freunden. So wie heute. Und Mike…der ist mindestens einmal die Woche auswärts auf einem Geschäftstermin und kommt nicht nach Hause. Und wenn er Zuhause ist, dann um zu schlafen, duschen und sich frische Kleidung anzuziehen. Keine wirkliche Bilderbuchfamilie.“ Sascha seufzte traurig. Und das ging seit Jahren so.
„Ich finde es faszinierend, dass du trotzdem mit ihm verheiratet bist. Wenn ich mir das vorstelle, ich hätte Angst betrogen zu werden.“
„Ich weiß, dass er mich betrügt.“ Das kam so trocken und gefasst, dass Kerstin zuerst dachte, Sascha würde sie hereinlegen.
„Was?“
„Er betrügt mich seit Jahren mit einer Frau in Zürich und wenn er in der Woche länger weg bleibt, dann nicht, weil er unabkömmlich bei der Arbeit ist, sondern weil er ein Tete a Tete mit der Sekretärin hat. Mein Mann ist mir seit dem Studium nicht mehr treu. Man könnte sogar sagen: frisch getraut und schon betrogen.“ Sascha lachte bitter.
„Wie kannst du…ich meine…wieso ziehst du nicht aus? Wieso lässt du dich nicht scheiden? Nimm deine Tochter und gehe weg.“
„Und dann? Wovon sollen wir leben? Kerstin, wozu sollte ich mich trennen? Ich habe alles, was ich brauche, lebe besser als viele Menschen. Soll ich das alles aufs Spiel setzen? Natürlich hat es wehgetan, als ich bemerkt habe, dass Mike mich betrügt, aber inzwischen ist mir das egal. Ich bin mit ihm zusammen, weil es das Bequemste ist und ich mir so keine Sorgen um irgendetwas machen muss. Von mir aus kann er sich doch Geliebte halten, so lange er sie nicht mit nach Hause bringt. Jodie hält ihn für einen Übervater. Er hat sie mit zu den Backstreet Boys genommen und ermöglicht ihr laufend andere Stars zu treffen. Welche Tochter würde so einen Vater missen wollen?“
„Und was ist mit dir? Du solltest auch glücklich sein. Wer kümmert sich darum, dass es dir gut geht? Dass du glücklich bist. Das ist auch wichtig.“
„Ich komme klar. Vielleicht später, wenn Jodie größer ist, dann werde ich meine Sachen packen, aber bis dahin. Ich habe keinen Grund auszuziehen.“
„Du könntest dich revanchieren. Lach dir einen Geliebten an. Auge um Auge, Zahn um Zahn“, schlug Kerstin vor.
„Nein, das ist nicht mein Stil. Ich habe kein Interesse an diesen Männern, die einen ins Bett schleppen und dann am nächsten Morgen verschwunden sind. Das ist mir zu billig. Wenn ich mit jemanden etwas anfange, dann müssen da Gefühle sein und nicht Rache.“ Sascha sah Kerstin überzeugt an. Kerstin hätte in diesem Moment alles dafür gegeben, wenn sie Saschas Lippen hätte küssen dürfen. Und doch schien ihr Traum, Sascha nahe zu kommen, mit der letzten Aussage ein wenig weiter weg gerückt sein. Wie wahrscheinlich war es schon, dass Sascha etwas mit ihr anfangen würde? Eine, wenn auch unglücklich, verheiratete Ehefrau. Wieso sollte die nach über fünfundzwanzig Jahren plötzlich auf die Idee kommen, etwas mit einer Frau anzufangen? Wobei Kerstin sicherlich besser zu ihr war als ihr Mann. Kerstin würde Sascha nicht betrügen, würde sie nicht jeden Abend alleine lassen, würde sich um sie kümmern, Interesse an ihr und ihrem Leben haben. Sie würde ihr kein Prominentenleben bieten können, keine Villa, aber sie konnte ihr sich selbst bieten. Und ihre Liebe. Nur, was zählte das schon in diesem Fall?
„Du bist bemerkenswert. Ich würde das nicht aushalten.“
„Man gewöhnt sich an vieles. Außerdem bin ich ja jetzt hier und du wirst mir zeigen, dass das Leben lustig sein kann. Was für ein Laden ist dieses „FoGaL“ eigentlich?“
„For Gays and Lesbians. Das sagt alles, oder?“
„Nur über die Menschen, die ihn besuchen. Wobei, wenn du Verena regelmäßig mit dorthin nimmst, scheint es für jeden zu sein.“
„Jeder ist willkommen. Es gibt drei Bereiche. Einen, in denen die Jungs unter sich sein können, einen, in dem die Frauen unter sich sind und einen großen Raum, der über zwei Etagen geht, wo man unten mit Musik quer Beet versorgt wird, die nicht ganz so laut ist, damit man sich unterhalten kann und oben ist jeden Abend eine andere Musikart dran, wo jeder nach Herzenslust tanzen und feiern kann. In einer dieser beiden Etagen halten wir uns immer auf. Und Verena wurde einmal zur Frau des Abends gekürt, hat ihren Preis, eine Frau ihrer Wahl, jedoch abgelehnt. Wenn du jemanden sagst, dass du kein Interesse hast, dann ist das okay. Keiner wird gezwungen.“
„Sehr beruhigend“, lachte Sascha.
„Im Ernstfall werde ich dich beschützen.“ Kerstin grinste. Sie würde sowieso darauf achten, dass keiner Sascha zu nahe kam. Diese Frau gehörte ihr. Und jeder, der versuchen würde sie anzubaggern, der würde Ärger bekommen.
Sascha bekam den Mund kaum zu als sie im „FoGaL“ war. Das war so völlig anders als die Partys, die Mike organisierte. Ganz anders. Keine Anzüge, keine Abendgarderobe, keine aufgetakelten Promis. Hier gab es alles. Vom Typ von nebenan in Jeans über stark geschminkte Männer und Frauen und Dragqueens. Und überall sah man Männer Männer küssen und Frauen Frauen. Sie stellte sich vor, wie beim letzten Empfang für einen englischen Bankdirektor diese Bilder angekommen wären und musste lächeln. Das wäre ein Desaster gewesen. Beim amtierenden Berliner Bürgermeister wäre das kein Problem. Wer weiß, vielleicht war der sogar hier.
„Man gewöhnt sich dran“, meinte Verena zu Sascha.
„Was denn?“
„An den Club. Am ersten Abend war ich auch ein wenig irritiert, aber vergeht sehr schnell.“
„Ich finde es klasse. Endlich eine Party, bei der nicht auf Etikette geachtet werden muss. Wenn ich hier ein Bier aus der Flasche trinke wird mich keiner schief angucken.“
„Das stimmt.“
„Lady, darf ich um einen Tanz bitten?“ Sascha zu sich um und sah…ein T-Shirt. Sie hob den Kopf. Da war das Gesicht zum T-Shirt. Ein junger Mann.
„Patrick.“ Verena schien ihn zu kennen, denn sie fiel ihm um den Hals und küsste ihn auf die Wange. Ihr Freund?
„Sascha, das ist Patrick. Patrick, das ist Sascha.“
„Deine Arbeitskollegin“, schlussfolgerte er. Kerstin hatte ihm bereits mehrmals von Sascha erzählt. Er hatte sie sofort erkannt.
„Genau.“
„Hallo“, meinte Patrick und schenkte Kerstin sein bezauberndstes Lächeln.
„Hi.“ Sascha sah Patrick groß an. Irgendwo hatte sie ihn bereits gesehen.
„Und? Darf ich bitten?“
„Wenn Verena nichts dagegen hat.“
„Was sollte ich dagegen haben? Tanzt ihr beide, ich hole uns etwas zu trinken.“ Sascha nahm den von Patrick angebotenen Arm und ging mit ihm auf die Tanzfläche.
„Woher kenne ich…dich?“ Siezen war hier sicherlich fehl am Platz.
„Ich weiß nicht.“
„Es muss eine Party gewesen sein. Gehobenere Klasse.“
„Die Charity Gala letzten Monat. Sonst war ich auf keiner Party.“
„Dann war es da.“
„Du warst da?“
„Mein Mann organisiert diese Partys.“
„Mike Klauke?“
„Genau der.“
„Du bist die Frau von Mike Klauke und treibst dich hier herum? Da muss dein Mann eine Krise bekommen. Von der Luxusparty ins „FoGaL“. Das ist eine Karriere.“
„Nun, mein Mann ist nicht in der Stadt und weiß nicht, wo ich bin. Mal ganz davon abgesehen, führen wir eine sehr offene Ehe. Er macht was er will, ich was ich will.“ Zumindest bis auf die letzten vier Worte stimmte alles. Dass Sascha machte was sie wollte, war heute das erste Mal. Und es fühlte sich verdammt gut an.
„Sehr lobenswert. Frauen sollten sich nicht unterdrücken lassen.“ Solche Worte von einem Mann? Sascha war hin und weg. Sie hätte nicht gedacht, dass es solche Exemplare noch gab. Ein Mann, der die Emanzipation der Frau unterstützte. Wunderbar.
„Sie tanzen hervorragend.“ Was für ein doofer Spruch, aber Sascha war nichts anderes eingefallen.
„Du.“
„Ja, Entschuldigung. Die Gewohnheit.“
„Ich werde dir für später einen Tanz reservieren. Verena ist mit den Getränken da.“ Sascha hätte Problemlos einen weiteren Tanz verkraftet. Stattdessen gingen sie zu dem Stehtisch zurück, den sie sich am Anfang gesichert hatten. Kerstin und Kilian waren ebenfalls wieder da.
„Na, den Eröffnungstanz überstanden?“, fragte Verena grinsend.
„Ja.“ Sascha nahm das rote Getränk.
„Hi Schatz.“ Patrick küsste Kilian. Deswegen war der Mann so perfekt, dachte Sascha frustriert. Er war schwul. Wie konnte sie auch nur eine Sekunde gedacht haben, dass ein gutaussehender Mann, der kultiviert war, tanzen konnte, höflich war und Frauen unterstützte hetero war? Es hätte ihr auffallen müssen, dass sich das biss. Was für ein Jammer. Patrick und Kilian waren ein komplett gegensätzliches Paar. Kilian flippig in Schlaghosen und bunten Oberteil, Patrick leger in Bluejeans und schwarzen T-Shirt. Er hätte Sascha auch gefallen. Keine Zweifel.
„Wo ist eigentlich Kerstin?“, fragte Sascha Verena. Sie hatte Kerstin seit längerer Zeit nicht mehr gesehen. Irgendwann war sie in der Menge verschwunden.
„Die hat sich bestimmt festgequatscht.“
„Und unsere beiden Herren?“
„Wahrscheinlich bei den anderen Jungs. Patrick meinte, sie müssten mal eben Hallo sagen. Das kann eine Stunde dauern.“
„Faszinierend.“
„Wie schnell man zu zweit hier steht oder Patrick?“
„Ich hatte gedacht, er wäre dein Freund.“
„Leider nein. Bei ihm würde ich auf jeden Fall ja sagen. Doch leider haben wir da keine Chance.“
„Er erfüllt so gar kein Klischee. Und ist so ganz anders als Kilian.“
„Deswegen lieben sie sich so sehr. Sie ergänzen sich perfekt.“ Verena stellte sich auf die Zehenspitzen. War das wirklich Kerstin, die sie dort hinten sah? Knutschend mit einer anderen Frau?
„Eine perfekte Beziehung.“
„Wer? Wo?“ Plötzlich stand Patrick hinter ihnen.
„Du und Kilian“, meinte Verena „Entschuldigt mich kurz, ich muss zu Kerstin.“
„Deswegen bin ich hier. Hol sie zurück. Sie hat definitiv zuviel getrunken.“
„Was macht sie?“, fragte Sascha.
„Das Falsche. Keine Panik, wenn einer Kerstin zähmen kann, dann Vroni.“
„Einer muss es tun.“ Verena verzog das Gesicht und verließ den Tisch. Langsam kämpfte sie sich durch die Menschenmasse. Für eine kurze Zeit hatte sie Kerstin aus den Augen verloren, dann entdeckte sie sie in einer Ecke wieder.
„Lass das.“ Entnervt schnappte sie sich Kerstins Hand und zog sie direkt von den Lippen der Frau weg.
„Ey“, zuerst protestierte die Frau.
„Schnauze.“ Verena hasste Desiree. Wenn es eine Frau gab, auf die die Bezeichnungen Flittchen und Schlampe zutrafen, dann Desiree. Mit der musste Kerstin nicht herumknutschen.
„Was willst du?“, fragte nun auch Kerstin, eher überrascht und angeschäkert als sauer.
„Du kommst mit mir mit. Für diese Tusse bist du zu schade.“ Ohne auf eine Zustimmung zu warten, zog Verena Kerstin von Desiree weg. Diese rief ihnen fluchend etwas hinterher.
„Kannst du mir erklären, was das sollte?“, fragte Verena
„Ich wäre eher berechtigt diese Frage zu stellen. Du hast mir gerade mein Date versaut.“ Kerstin blieb stehen.
„Kerstin, bitte. Die Frau kann nicht dein Ernst sein. Du weißt, ich habe nichts dagegen, wenn du dir eine Frau mit nach Hause nimmst…“
„Das wäre auch noch schöner. Schließlich bist du weder meine Mutter noch sind wir zusammen.“
„…doch diesem Flittchen wirst du dich nicht an den Hals werfen. Außerdem magst du sie gar nicht. Kannst du mir verraten wieso du mit der rumknutscht?“
„Vielleicht weil mir nach knutschen war und sie da war.“
„Es ist wegen Sascha, oder?“
„Was ist wegen Sascha?“
„Kerstin, bitte. Ich weiß, dass du etwas für sie empfindest. Ich muss mir nur ansehen wie du sie ansiehst.“
„Ich habe eh keine Chance bei ihr. Sogar Patrick hat mehr Chancen. Das ist unfair, er ist schwul, er will keine Frau. Wieso kann sie mich nicht so ansehen wie ihn eben?“
„Weil er ein Mann ist. Kerstin, hör mal. Selbst wenn du Sascha heute Nacht nicht ins Bett bekommst ist das kein Grund sich die nächstbeste Schlampe anzulachen. Und es erhöht deine Chancen bei Sascha nicht.“
„Was für Chancen?“ Kerstin sah frustriert zu Verena. Sie hatte keine Chancen, egal was sie machen würde. „Meine Chancen bei ihr sind so hoch wie bei dir. Null Komma Null.“
„Und? Mal davon abgesehen, dass wir nicht knutschend in der Ecke stehen und Sex haben, kannst du nicht behaupten wir würden uns nicht nahe stehen. Bedeutet dir das nichts?“
„Doch.“ Kerstin nahm Verena in den Arm und vergrub ihren Kopf in Verenas T-Shirt. Sie war einfach frustriert, weil sie sich mal wieder in eine Frau verliebt hatte, die keine Gefühle für sie hatte. Auf die Dauer konnte das sehr weh tun.
„Los, komm wieder mit zu uns. Ich bin mir sicher, Sascha freut sich dich wiederzusehen“
„Sie hat Patrick.“
„Deswegen wirst du keine Luft für sie sein. Sie weiß, dass sie keine Chance bei ihm hat. Und? Wirft sie sich deswegen dem nächstbesten Typen um den Hals? Sie ist sogar ihrem Mann treu, der sie betrügt. Vergiss einmal den Sex und freue dich darüber, dass ihr euch so gut versteht.“
„Wieso musste du immer solche Argumente anbringen? Da kann ich nie etwas gegen sagen.“
„Genau aus diesem Grund. Los jetzt.“ Verena stieß Kerstin auffordernd an.
„Ach Vroni, ich liebe dich.“
„Ich dich auch, du Nervensäge.“ Kerstin umarmte Verena erneut und drückte ihr einen riesigen Schmatz auf die Wange. Was würde sie ohne Verena machen?
„Und heute Nacht wirst du mich in deinem Bett haben.“
„Das heißt, wenn ich aufwache wirst du in meinen Armen liegen“, folgerte Kerstin grinsend daraus.
„Wenn ich rausbekomme, dass du das mit Absicht machst, dann bekommst du gewaltigen Ärger, Fräulein.“
„Ich? Absicht? Nie! Ich meine: sonst immer, dabei nicht. Das ist ja das Tolle.“ Kerstin harkte sich bei Verena unter und strahlte.
Sascha fühlte sich am nächsten Morgen wie von einem LKW überrollt. Sie war gegen sechs Uhr aus ihrem Taxi gestolpert und gleich Johanna in die Arme gelaufen. Diese brachte ihre Chefin ins Bett und versprach ihr, sie erst dann zu wecken, wenn sie das Mittagessen fertig hatte. Vorher war Sascha für niemanden zu sprechen. Es war dann beinahe 14 Uhr als sie wieder wach wurde und das auch nur weil Jodie in ihr Zimmer gekommen war.
„Mama, bist du krank?“ Sie hatte ihre Mutter bisher nie mittags im Bett vorgefunden.
„Ich fühle mich zwar so, aber nein, ich bin nicht krank.“
„Was hast du gemacht?“
„Ich war feiern.“
„Feiern?“ Auch das hatte Jodie nie bei ihrer Mutter erlebt. Zumindest nicht unter der Woche und ohne ihren Vater.
„Was sagt Papa dazu?“
„Keine Ahnung, ich habe ihn nicht mehr seit…vorgestern?“ Sascha war sich nicht ganz sicher „Auf jeden Fall ist es länger her, dass ich mit ihm geredet habe.“
„Cool, meine Mutter geht einfach Mitten in der Woche raus und betrinkt sich. Was sagt dein Chef dazu?“
„Ich habe frei. Du findest es nicht schlimm, dass du deine Mutter mit Kater im Bett vorfindest?“ Sascha war überrascht. Sie wäre entsetzt gewesen, wenn sie damals ihre Mutter mit Kater im Bett vorgefunden hätte.
„Nein, ich finde es cool. Wo warst du denn? Mit wem warst de weg? Darf ich mal mit?“ Jodie setzte sich aufs Bett ihrer Mutter und sah sie wissbegierig an. Sascha musste lachen, hörte allerdings sofort damit auf, weil ihr Kopf zu zerplatzen drohte.
„Ich war mit zwei Arbeitskolleginnen und zwei Freunden von denen weg. Wir waren in einem Club in Kreuzberg. Dein Vater würde wahrscheinlich den Glauben an mich verlieren, wenn er erfährt wo ich war. Und ich bin mir nicht ganz sicher, ob du bereits in einen Club kommst. Meistens haben die Bestimmungen, die den Zutritt für unter sechszehn oder achtzehnjährige verbietet. Ich kann mich allerdings mal erkundigen.“
„Wie hieß der Club?“
„Ich denke mal, den kennst du nicht. „FoGaL“. Dürfte nicht ganz für die Leute von deiner Schule sein. Zumindest nicht für die meisten.“
„Wieso? Sag bloß, da gibt es diese grässliche Musik für Alte. Schlager und so etwas.“ Jodie verzog das Gesicht.
„Nein, die Musik ist aktuell, außer einmal die Woche, wenn Oldieabend ist. Ich habe sogar diese Boygroup gehört, die du laufend hörst.“ Sascha suchte verzweifelt nach dem Namen der Band, die laufend in Jodies CD Player vertreten war. Jodie verdrehte sie Augen. Sie hatte ihrer Mutter unzählige Male gesagt, wie die Band hieß, aber sie vergaß es sobald sie es gehört hatte.
„Da will ich auch hin.“
„Wohin willst du?“ Sascha und Jodie sahen sich überrascht um. Da stand Mike. Es sollte doch erst am Abend wieder da sein.
„Papa!“ Jodie umarmte ihren Vater glücklich. Diese streichelte ihr über den Kopf und sah Sascha verständnislos an.
„Was machst du im Bett, Alexandra?“ Er war der einzigste Mensch, der sie Alexandra nannte. Seine Frau als Sascha vorzustellen, wäre auf seinen Partys nicht gut gekommen.
„Sie ist eben erst wachgeworden“, gluckste Jodie „Mama war feiern.“ Sascha stöhnte innerlich. Sie bezweifelte, dass Mike die selbe Begeisterung für ihre Party aufbrachte wie Jodie.
„Du warst weg?“ In seiner Stimme war keine Begeisterung zu hören. Sascha hatte Recht gehabt.
„Ja, ist das nicht cool? Die Mütter der anderen in meiner Klasse gehen höchstens ins Kino und Mama feiert richtig. Ich finde das total cool. Das nächste Mal will ich mit.“ Jodie war so begeistert, dass sie nicht bemerkte, dass ihr Vater das gar nicht gut fand.
„Jodie, lass Mama und mich mal alleine. Wir müssen etwas besprechen.“
„Okay.“ Jodie verließ grinsend den Raum. Ihre Mutter ging in Clubs. Das war so cool. Vor allem war sie noch jung genug, dass es nicht peinlich wirkte. Viele Leute gingen in Clubs. Jodie fand, das wurde erst peinlich, wenn sie auf die vierzig zugingen und dann einen krampfhaft auf jung machten. Ihre Mutter war keine dreißig.
„Du betrinkst dich in der Woche? Unsere Tochter muss dich verkatert im Bett vorfinden?“ Mike tigerte vor dem Bett auf und ab, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Sascha versuchte erst gar nicht ihm mit den Augen zu folgen. Das gab nur Kopfschmerzen.
„Ich habe heute frei, wieso sollte ich nicht feiern?“, rechtfertigte sich Sascha.
„Weil wir eine Tochter haben. Was bist du denn für ein Vorbild?“
„Mike, ich habe nur gefeiert. Wenn wir zu deinen Partys gehen, dann trinken wir auch. Wo ist der Unterschied?“
„Du warst in einem Club, wie kannst du das mit einer Party vergleichen? In diesen Clubs läuft der ganze Abschaum herum, bei unseren Partys triffst du Leute mit Stil“ Notorische Fremdgeher und aufgeblasene Gockel, die ihre aufgetakelten Frauen wie Pokale herumzeigten, dachte Sascha.
„Es ist dieser Knast, oder?“
„Was?“
„Da bekommst du diese Ideen weg. Seitdem du dir in den Kopf gesetzt hast diesen Unterricht für diese Individuen zu geben, kommst du auf die seltsamsten Ideen. Ich war von vorneherein gegen diesen Schwachsinn.“
„Du warst auch dagegen, dass ich überhaupt eine Ausbildung mache“, sagte Sascha wütend.
„Wozu auch? Ich verdiene mehr als genug. Du musst nicht arbeiten. Wie sieht das überhaupt aus? Als wenn ich uns nicht ernähren könnte. Hast du einmal daran gedacht, wie ich vor meinen Kollegen und Kunden dastehe, wenn sie erfahren, mit was du dein Geld verdienst?“ Er blieb stehen und sah sie entrüstet an. Sascha konnte es nicht fassen. Hatte sie das richtig gehört?
„Hast du einmal darüber nachgedacht, dass ich mehr bin als deine Frau, die den ganzen Tag Zuhause sitzt und darauf wartet, dass du nach Hause kommst. Oder mal wieder weg bleibst. Ich bin doch kein Prestigemodell, das du benutzen kannst, wenn es dir passt.“
„Bisher bist du mit deinem Leben mehr als gut gefahren.“
„Woher willst du das denn wissen? Du bist doch nie hier.“
„An was sollte es dir fehlen? Du hast alles, was du brauchst. Geld, ein Auto, Kreditkarten, einen Pool, Tennisplatz, Angestellte.“ Das konnte nicht sein Ernst sein. War das alles was für ihn zählte?
„Du lebst wie die Made im Speck und bist in keiner Weise dankbar.“ Das war es. Das war der Satz, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sascha setzte sich auf und funkelte Mike wütend an.
„Wofür soll ich dankbar sein? Dafür, dass mein Mann mich seit Jahren betrügt? Fünf Jahre mit Katharina, seit dem Studium mit Carola, ganz zu schweigen von all den Flittchen, die du dir nebenbei hältst. Du hast ernsthaft gedacht, ich wüsste nicht, dass du mehrgleisig fährst? Für wie dumm hältst du mich eigentlich? Ich weiß von deinen Affären.“ Damit musste sie ihn den Wind aus den Segeln genommen haben. Eigentlich wollte sie ihm ihr Wissen nicht vor den Kopf knallen, aber sie hatte nicht anders gekonnt. Mike hatte sich zuviel herausgenommen. Einmal war Schluss.
„Hast du dich mal gefragt, woher das kommt? Bist du mal auf die Idee gekommen, dass das so ist, weil du dich nie um mich kümmerst“, ging Mike zum Gegenangriff über. Sascha war fassungslos. Er gab ihr die Schuld an seiner Untreue? Das musste sie träumen.
„Wie soll ich mich um dich kümmern, wenn du nie da bist?“
„Du könntest mich unterstützen, so wie es sich für eine Ehefrau gehört. Aber nein, für dich ist es sogar eine Qual, wenn du mich auf die Partys begleiten musst.“
„Ich fühle mich unter diesen arroganten Promileuten unwohl. Ich kenne niemanden und bin nie mehr als die Frau von Mike Klauke.“
„Oh nein, wie schrecklich. Es muss eine Qual für dich sein meine Frau zu sein. Andere Frauen wären froh, wenn sie deine Privilegien hätten.“
„Ich würde ja jetzt sagen, du sollst dir einer dieser Frauen suchen, aber das hast du ja schon vor Jahren.“
„Das reicht. Ich gehe ins Büro und wenn ich wiederkomme, dann hast du dich wieder beruhigt und bist wieder normal.“ Er drehte sich um.
„Sonst was?“, schrie Sascha.
„Lass es nicht darauf ankommen.“ Mike schlug die Tür hinter sich zu. Sascha ließ sich ins Kissen zurückfallen und schloss die Augen. Das war ihr erster Ehestreit gewesen, der sich nicht um eine Kleinigkeit drehte. Und Mike hatte ihr gedroht. Was war das für eine Ehe, die sie führte?
Teil 5
„Was machst du heute Abend?“ Verena sah Kerstin fragend an. Sie hatten gleich Feierabend.
„Kilian und ich machen einen Videoabend. Er meint, es wäre mal wieder an der Zeit, dass sich die WGler zu einem internen Abend treffen.“
„Barbara Streisand?“, riet Verena.
„Ich habe keine Ahnung.“ Bisher hatte Kilian immer Filme mitgebracht, die Kerstin entweder schon auswendig kannte oder die sie nie hätte sehen wollen. Wenn sie romantische Filme sah, dann nicht mit ihrem Mitbewohner, der sie jedes Mal vollheulte, sondern mit einer Frau im Arm.
„Und du?“
„Mein Stubentiger und ich bekommen Besuch von einem alten Schulfreund.“
„Ich bin eifersüchtig“, grummelte Kerstin.
„Dazu hast du keinen Grund“, lachte Verena.
„Björn?“
„Genau der.“
„Okay.“ Kerstin grinste. Björn war ein netter Typ, der bisher keinerlei Interesse an Verena gezeigt hatte. Kerstin hatte ihn bereits einige Male gesehen und man konnte sich sehr gut mit ihm unterhalten.
„Doktor Herzog?“ Andy Wagner kam ohne anzuklopfen in Kerstins Büro gestürmt.
„Herr Wagner, was ist passiert?“
„Geiselnahme. Wir brauchen Sie. Sie auch, Frau Wüllner.“ Kerstin schnappte sich ihre Arzttasche und folgte Andy Wagner. Zu ihrer Überraschung blieben sie bereits stehen, sobald sie aus ihrem Büro waren. Doktor Strauß, Hendrik Jansen und Birgit Schnoor standen vor der Tür zum Förderunterrichtsraum.
„Frau Walter hält Frau Klauke als Geisel“, erklärte Birgit Schnoor.
„Frau Walter, wenn Sie Frau Klauke nicht freilassen, dann müssen wir das Sondereinsatzkommando rufen“, rief Doktor Strauß durch die geschlossene Tür.
„Walter hat Sascha als Geisel genommen?“, fragte Kerstin überrascht bis entsetzt.
„Ja, nach dem Kurs. Sie hat alle anderen Frauen rausgeschickt und sich dann hier verbarrikadiert. Sie will einen regelmäßigen Ausgang.“
„Das ist genau die falsche Art Ausgang zu bekommen“, seufzte Verena.
„Gibt es Verletzte?“
„Frau Walter hat ein Messer, von Frau Klauke konnten wir bisher nichts hören. Wir hoffen, dass sie geknebelt ist und nichts Schlimmeres.“
„Frau Walter?“ Doktor Strauß versuchte es weiter.
„Ich lasse nicht mit mir verhandeln“, brüllte Walter von Innen „Entweder ihr macht, was ich euch sage, oder ich mache die Klauke kalt“
„Frau Walter, Sie wissen genau, dass wir nicht verhandeln, wenn Sie so etwas sagen. Und Sie sind lange genug hier um zu wissen, was passiert, wenn wir das Sondereinsatzkommando anfordern.“ Dann gibt es nicht selten Tote, dachte Kerstin. Verflucht.
„Lassen Sie mich mal mit ihr reden.“ Sie schob Jansen zur Seite, der außer dumm gucken sowieso nichts machte.
„Walter? Ich bin es. Mach keinen Scheiß.“
„Kerstin? Halt dich da raus.“
„Walter, bitte. Ist einer von euch beiden verletzt?“
„Noch ist es nichts Ernstes.“
„Wir sollten das Sondereinsatzkommando holen“, ergriff nun Hendrik Jansen das Wort „Die Walter lässt nicht mit sich reden.“
„Ich werde reingehen“, sagte Kerstin.
„Vergessen Sie es“, lehnte Strauß ab „Ich werde nicht zulassen, dass Frau Walter zwei Geiseln hat.“
„Doktor Strauß, ich muss nach Sa…Frau Klauke sehen. Und Frau Walter wird mir nichts tun.“ Kerstin sah Doktor Strauß fest an.
„Sind Sie sicher?“
„Das ist totaler Schwachsinn“, mischte sich Jansen wieder ein. Kerstin sah ihn böse an.
„Überlass das mir, ja? Das sind Dinge, von denen du nichts verstehst.“ Kerstin wandte sich wieder an zur Tür. „Walter? Lässt du mich rein?“
„Damit der Rest gleich mit reinstürmt?“
„Nein, nur ich. Du kannst mir vertrauen, das weißt du. Alle werden den Flur verlassen, ich komme rein und du schließ sofort wieder ab, okay? Bitte.“ Stille. An den Gesichtern der anderen konnte Kerstin erkennen, dass sie mit ihrer Idee nicht glücklich waren.
„Okay, aber der Rest verzieht sich so lange wie du hier reinkommst.“
„Danke.“
„Kerstin, das ist zu gefährlich“, meinte Verena. Sie hatte sich bisher zurückgehalten, aber jetzt, wo Walter Kerstins Idee zugestimmt hatte, wollte sie kurz an die Vernunft ihrer Freundin appellieren.
„Vroni.“ So hatte Kerstin Verena bisher nie genannt, wenn sie im Dienst waren, und andere dabei waren „Bitte vertrau mir. Ich weiß, was ich mache.“ Kerstin umarmte Verena. „Doktor Strauß?“
„Gut, wie Sie meinen.“ Doktor Strauß ging einige Schritte zurück. Verena und Birgit Schnoor folgten ihm. Nur Jansen blieb stehen.
„Das galt für alle.“ Kerstin sah ihn böse an. Los, bis hinter die Gitterstäbe und Tür zu.“
„Das hätte die Walter nie bemerkt und wenn, dann wäre es für sie zu spät gewesen“, flüsterte Jansen.
„Ich halte meine Versprechen. Bis ihr nicht alle da hinten seid, werde ich nicht rein gehen.“ Jansen fluchte und verzog sich mit den anderen hinter die Gitterabtrennung. Kerstin klopfte an die Tür ohne sie aus den Augen zu lassen.
„Okay Walter, lass mich rein.“ Der Schlüssel wurde umgedreht und die Tür geöffnet. Kerstin trat schnell ein und schloss die Tür hinter sich ab. Wie es versprochen war. Die Fenster des Raumes waren verdunkelt, so dass von außen keiner hineingucken konnte. Walter saß auf dem Tisch, an dem sonst immer Sascha saß. Wo war Sascha?
„Und? Hast du Sender? Waffen? Oder sonst irgendetwas?“
„Wenn du willst, darfst du mich und meine Tasche gerne durchsuchen.“
„Sag es mir einfach.“
„Nein, habe ich nicht.“ Kerstin ging auf Walter zu. Das Messer lag neben ihr auf dem Tisch. Kerstin zeigte auf die kleine Wunde über Walters linker Schläfe.
„Was ist passiert?“
„Die konnte sich wehren. Zuerst.“
„Wo ist Sascha?“
„Im Schrank. Es geht ihr gut.“ Das beruhigte Kerstin. Sie öffnete die Tasche und holte ein Jodfläschchen heraus. Zuerst Walters Wunde behandeln, dann Sascha retten. Sie stand auf Walters Seite. Zumindest redete sie sich das ein...aber sie würde Walter auf keinen Fall hängen lassen.
„Ich brauche keine Behandlung.“
„Nein, aber siehst besser aus wenn dir kein Blut ins Gesicht tropft. Halt still.“ Sie tupfte die Wunde ab und Walter ließ den beißenden Jod ohne mit der Wimper zu zucken über sich ergehen. Kerstin klebte ein Pflaster auf die gesäuberte Wunde. Kerstin trat einen Schritt zurück als wenn sie ein frisch geschaffenes Kunstwerk betrachten wollte.
„Und jetzt sag mir was los ist?“
„Ich will raus.“
„Das wollen hier alle.“
„Die geben mir nicht einmal einen Nachmittag Ausgang. Ich brauche den Nachmittag!“
„Andreas?“ Walter schüttelte den Kopf. Wenn es nicht um ihren Bruder ging, dann musste es etwas anderes sein und Kerstin war sich sehr sicher zu wissen was es war.
„Bea“
„Ich will zu ihrem Grab. Bald…bald ist ihr Todestag.“
„Ich weiß.“ Kerstin nahm Walter in den Arm und streichelte ihr über den Rücken. Sie konnte Walter verstehen, aber die Art wie sie ihre Interessen vertrat, war falsch.
„Frau Doktor Herzog? Alles in Ordnung?“ Doktor Strauß’ Stimme war von draußen zu hören. Kerstin ließ Walter los und sah zum Schrank. Walter nickte.
„Alles Bestens. Kein Grund zur Panik.“
„Frau Walter, können wir jetzt reden?“ Kerstin stieß Walter aufmunternd an. Das war eine Sache, die sie ihr nicht abnehmen konnte. Sie musste sich jetzt um Sascha kümmern. Die arme saß im Schrank, musste hören, dass Kerstin da war und keiner holte sie aus ihrem Gefängnis.
„Da gibt es nichts zu reden“, brüllte Walter. Kerstin seufzte. Verhandeln musste Walter noch lernen. Sie öffnete die Tür zum Schrank und fand Sascha gefesselt und geknebelt vor. Sonst schien es ihr gut zu gehen. Sascha sah sie mit leichter Panik, aber auch mit Erleichterung in den Augen an. Die Rettung schien nahe. Mit einer Schere schnitt Kerstin die Fesseln durch und löste dann den Knebel.
„Alles in Ordnung?“ Sascha fiel ihr um den Hals und drückte sie fest an sich. Sie war gerettet. Als Walter mit dem Messer vor ihr gestanden hatte, dachte sie, das wäre das Ende gewesen. Dann wurde sie in den Schrank gesperrt und von da an wusste sie, sie konnte nicht mehr machen als hoffen und warten. Kerstins Stimme hatte ihr ein wenig Hoffnung gemacht.
„Hey, ich bin bei dir, keine Angst, dir passiert nichts.“ Kerstin konnte nicht anders als Sascha einen sanften Kuss auf den Hals zu geben. „Ganz ruhig“ Meine Güte, fühlte diese Frau sich toll an.
„Sie hat ein Messer“, brachte Sascha leise hervor.
„Ich weiß. Vertraust du mir?“ Sie sah Sascha tief in die Augen. Saschas Augen waren verheult, doch sie nickte.
„Gut, dann wird dir nichts passieren. Versprochen.“ Sie nahm Sascha wieder in den Arm. Sie musste sich beruhigen und Kerstin würde ihr gerne ihre Schulter dafür zur Verfügung stellen. Sie musste Walter fast dankbar sein.
„Was wird sie machen?“, flüsterte Sascha.
„Nichts, was dir schadet. Komm.“ Sie nahm Saschas Hand und half ihr auf die Beine. Sascha hatte leichte Probleme mit dem Aufstehen, da sie eine ganze Weile gebückt in dem Schrank gesessen hatte, doch mit Kerstins Hilfe ging es.
„Na Frau Lehrerin, wohl geruht?“ Walter warf ihnen nur kurz einen Blick zu, dann brüllte sie Doktor Strauß wieder an.
„Sie haben wohl vergessen, dass ich hier eine Geisel habe. Ich stelle dir Forderungen.“
„Sie haben sogar zwei Geiseln, aber Sie wissen genau, dass wir Ihnen nicht jede Forderung erfüllen können.“
„Eine Geisel, Kerstin kann gehen, wann immer sie will“ Walter sah Kerstin kurz an. „Willst du gehen?“
„Nein, ich bleibe.“
„Sie bleibt. Haben Sie gehört? Es war ihre Entscheidung.“ Kerstin deutete Sascha sich auf einen Stuhl zu setzen. Sie hatte eine Schürfwunde und eine kleine Stichverletzung am Arm. Dinge, die mit einem Pflaster gegessen waren. Das blaue Auge machte Kerstin mehr Sorge. Es schimmerte in vielen Farben.
„Wer war das?“ Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es von Walter sein sollte.
„Ich bin gefallen.“ Nicht diese billige Lüge. Irgendwann würde Kerstin einen Antrag stellen, jedes Mal einen Euro zu bekommen, wenn sie diese Ausrede hörte.
„Das war nicht Walter, oder?“ Sascha schüttelte den Kopf.
„Wer denn? Und lass dir diesmal eine bessere Ausrede einfallen. Ich arbeite im Knast, ich weiß, wie Veilchen aussehen, die mit einer Faust entstanden sind. Und das sieht sehr nach Faust aus. Keine Treppe, Tür oder was auch immer einem angeblich vors Auge fallen kann, macht dieses Muster.“ Sascha sah zu Boden.
„Mike.“
„Dein Mann?“ Jetzt war Kerstin sprachlos. Sascha hatte ein blaues Auge von ihrem eigenen Mann bekommen? Das musste eine Lüge sein. Zumindest hoffte Kerstin das für Sascha.
„Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung, gestern Abend.“
„Sieht er wenigstens Schlimmer aus?“ Sascha schüttelte den Kopf.
„Wieso? Ich meine, wieso schlägt er dich?“
„Unser Ausflug letzte Woche hat ihm gar nicht gefallen und ich habe gewagt ihm zu sagen, dass ich den gerne wiederholen würde. Er hat mich bedroht, ich bin bei meinem Vorsatz geblieben und dann hat er zugeschlagen. Seine Frau macht, was er will.“ Sascha schluckte. Sie hatte die Szenen noch genau vor Augen. Mike hatte ausgeholt und ihr mit aller Kraft eine aufs Auge verpasst. Sie war getaumelt, gefallen und zum Glück relativ sanft auf dem dicken Perserteppich gelandet. Mike war einfach gegangen. Sie wüsste jetzt, was passiert, wenn sie sich über seine Regeln hinweg setzen würde. Sascha hatte dann versucht das Auge zu kühlen, doch es hatte nichts gebracht. Als sie aufgewacht war, hatte sie dieses Veilchen. Deswegen war sie spät nach Reutlitz gekommen um sofort in ihr Zimmer zu gehen. Dabei trug sie die ganze Zeit eine Sonnenbrille.
„Er schlägt dich? Weil wir weg waren?“ Kerstin war fassungslos. Sie nahm Sascha wieder in den Arm. Was sollte sie sonst machen?
„Jetzt weiß ich, wo mein Platz ist. Zuhause, wartend bis er nach Hause kommt.“
„Das lässt du dir doch nicht etwa gefallen, oder?“
„Was soll ich denn machen? Ich meine, seine Seitensprünge akzeptiere ich seit Jahren. Ich muss bei ihm bleiben, was soll denn sonst aus Jodie werden? Von dem Geld, das ich hier verdiene, kann ich uns beide nicht ernähren. Und Mike ist ihr Übervater, das weißt du. Wenn sie erfährt dass er…“ Sascha stockte und schniefte. Kerstin streichelte weiter ihren Rücken. Als sie den Kopf hob fing sie einen Blick von Walter auf. Sie sah beide fragend an. Kerstin sah traurig auf Sascha. Walter sparte sich die Frage was die beiden machten. Was Kerstin gerne machen würde konnte sie sich denken. Ihre Sorgen lagen jetzt allerdings bei den Verhandlungen.
„Sascha, du kannst dich nicht schlagen lassen. Es ist schlimm genug, dass er dich betrügt. Denk einmal an dich.“
„Was wird aus mir wenn ich weg bin von ihm? Kerstin, ich kann ohne ihn nicht überleben.“
„So ein Quatsch.“ Kerstin sah Sascha in die Augen „Erstens brauchst du ihn nicht, du bist eine erwachsene Frau, die sehr gut ohne ihn auskommen kann und zweitens bist du viel zu schade für ihn. Du hast jemanden verdient der dich liebt, dich achtet, dem du wichtig bist, der deine Bedürfnisse respektiert und dich in deinen Vorhaben unterstützt. Jemand, der sich freut wenn ihr einen gemeinsamen Abend verbringen könnt, der dich mit einem Picknick oder einem Ausflug überrascht. Jemanden, für den du das Wichtigste auf der Welt bist. Das und nicht weniger hast du verdient.“ Sie hielt Saschas traurigem Blick stand. Spätestens jetzt musste Sascha klar werden, was Kerstin für sie empfand, wie wichtig sie für Kerstin war. Sascha konnte nichts sagen, sich nicht bewegen. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie sah nur Kerstin, die sie mit einem Blick ansah, wie sie bisher niemand angesehen hatte, die sie festhielt und da war. Und deren Augen ihr zeigten, wie wichtig sie ihr war. Und dann war ihr Kerstins Gesicht plötzlich noch näher und Kerstins Lippen trafen sanft und vorsichtig auf ihre. Ganz sanft, so als wenn ihre Lippen zerbrechen würden, wenn sie sich zu sehr berührten, küsste sie Sascha. Nicht lange, keine fünf Sekunden und doch hatte Sascha das Gefühl, in dem Kuss hatte mehr Liebe und Leidenschaft gesteckt als in all den Küssen zusammen, die sie bisher in ihrem Leben bekommen hatte. Langsam, so wie Kerstins Lippen Saschas berührt hatten, verließen sie wieder Kerstins Lippen.
„Sascha, denk einmal an dich. Lass dich nicht kaputt machen. Bitte.“ Kerstin sah sie an. Sascha schluckte und umarmte Kerstin. Sie wusste nicht, was sie sonst machen sollte. Das war alles so viel gewesen in den letzten Stunden.
„Kerstin? Bist du ansprechbar?“ Kerstin sah auf. Walter sah sie beide an.
„Was ist denn?“
„Ich muss mit dir reden. Deine Kollegen sind wenig kooperativ.“ Kerstin nahm Saschas Hand und zog sie mit durch den Raum zu Walter. Kerstin war sich sicher, dass Walter den Kuss mitbekommen hatte, aber sie erwähnte ihn in keiner Weise.
„Man will mir keinen Ausgang gewähren.“
„Das wusstest du vorher. Sei ehrlich, du bist lange genug hier um zu wissen wie Geiselnahmen ablaufen. Denk an die Letzte. Hast du mir nicht erzählt, dass die Frau, die die Geiselnahme angezettelt hat, hinterher im Leichensack Reutlitz verlassen hat? Obwohl sie vier Geiseln hatten? Oder fünf?“
„Vier. Und Kittler wäre fast draufgegangen.“
„Siehst du. Ich würde dich ungern im Leichensack sehen. Und ich bin mir sicher, Bea würde das auch nicht wollen.“
„Dann wäre ich bei ihr.“
„Walter, Bea hätte nicht gewollt, dass du so endest. Das weißt du auch.“
„Und was soll ich sonst machen? Station C? Dann lieber Tod!“
„Doktor Strauß? Was können Sie Walter anbieten? Gibt es eine andere Möglichkeit als Station C? Wenn sie jetzt aufgibt?“, rief Kerstin.
„Gibt es Verletzte?“
„Nichts, was nicht mit einem Pflaster verarztet ist. Die größte Wunde hat Walter selber. Gibt es eine Möglichkeit Bunker für Station C zu nehmen?“
„Das kommt darauf an. Erstattet Frau Klauke Anzeige?“ Kerstin sah Sascha fragend an. Diese schüttelte den Kopf.
„Nein.“
„Dann können wir sicherlich eine Lösung finden, die es Frau Walter ermöglicht, nicht auf Station C zu kommen.“
„Danke“ Kerstin sah Walter an „Es liegt an dir. Bunker und eine neue Chance oder Station C, beziehungsweise, im schlimmsten Fall der Leichensack.“ Sie sah Walter fragend an.
„Okay, Bunker. Aber ich will nicht von Jansen wie ein Stück Vieh in den Bunker geworfen werden. Deine Verena soll das machen, sie ist meine Vertrauensbeamtin.“ Das sollte sich organisieren lassen.
„Verena? Bringst du Walter in den Bunker?“
„Natürlich, das ist kein Problem.“ Kerstin hatte gewusst, dass sie sich auf Verena verlassen konnte.
„Gut, dann schließen wir jetzt die Tür auf.“ Kerstin hielt Walter ihre freie Hand hin. Walter gab ihr das Messer.
„Ich habe die Waffe, Walter schließ die Tür unbewaffnet auf. Sie wird keine Gewalt anwenden, es besteht also kein Grund Gewalt anzuwenden. Können wir uns darauf einigen, sie ohne den Gummistock in den Bunker zu bringen?“
„Natürlich“, versicherte Doktor Strauß. Kerstin lächelte Walter zu, die langsam die Tür aufschloss. Doktor Strauß öffnete die Tür und trat dann zur Seite damit Verena Walter nach Waffen untersuchen konnte.
„Keine Waffen.“ Das galt mehr ihren Kollegen als den anderen im Raum. Verena nahm ihre Handschellen. „Frau Walter, darf ich um Ihren rechten Arm bitten?“
„Meinen Arm, meine Hand, was immer Sie wünschen.“ Kerstin musste grinsen. Das war Walter. Sie würde in den Bunker kommen und trotzdem versuchte sie zu flirten.
„Und den linken Arm. Dann bringe ich Sie in Ihre Flitterwochensuite“
„Wir beide in der Flitterwochensuite? Unter den Umständen bleibe ich gerne länger.“
„Walter, bitte“, meinte Kerstin. Sie wusste nicht worüber sie sich mehr freuen sollte? Dass alles glimpflich abgelaufen war? Dass Jansen nichts machen konnte außer dumm gucken? Dass sie wirklich Sascha geküsst hatte und diese sich nicht dagegen gewehrt hatte? Dass Sascha noch immer in ihrem Arm war? Oder einfach alles.
Kerstin hatte Sascha in ihr Zimmer gebracht; offiziell zur Untersuchung. Schließlich wollten alle sicher gehen, dass es Sascha gut ging.
„Setz dich.“ Kerstin holte Sascha ein Glas Wasser.
„Danke.“ Sascha setzte sich auf die Liege und trank gierig das Wasser. Nachdem sie lange im Schrank gesessen hatte und einiges an Flüssigkeit ausgeweint hatte, tat das Wasser mehr als gut. Kerstin hielt sich ein wenig im Hintergrund. Sie war sich nicht sicher, wie Sascha nun reagieren würde. Immerhin hatten sie sich eben geküsst. Auf keinen Fall wollte Kerstin aufdringlich sein.
„Geht es dir wieder besser?“
„Ja, danke.“ Sascha sah verlegen zu ihrem Glas, das leer war. Kerstin wollte gerade fragen ob sie mehr Wasser haben wollte als Sascha wieder zu sprechen begann.
„Kerstin, wieso hast du das gemacht?“ Tja, wieso wohl? Weil sie tierisch in Sascha verliebt war. Aber sollte sie ihr das so sagen?
„Was meinst du?“ Lieber etwas ablenken.
„Wieso hast du Walter davon überzeugt, dass sie dich in das Zimmer lassen soll?“ Oh, gut, diese Frage ging einfacher zu beantworten.
„Ich wollte, dass sie mit ihrem Blödsinn aufhört. Und…ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Ich meine, ich konnte mir nicht vorstellen, dass Walter dir wirklich etwas tat, aber sicher ist sicher.“
„Du verstehst dich gut mit Walter, oder? Wer ist Bea?“ Dafür dass Sascha eine Geisel war, hatte ihr Verstand verdammt gut funktioniert.
„Bea war hier mal als Schließerin. Sie und Walter…das ist eine verrückte Geschichte“ Kerstin setzte sich neben Sascha und begann ihr Walters und Beas Geschichte zu erzählen. Wie sie sich in der Lesbenkneipe kennen gelernt hatten, Bea von einem neuen Job am nächsten Tag erzählt hatte und Walter, weil sie ihr nicht sagen wollte, dass sie im Knast saß, ihr erzählte, sie sei Musikmanagerin. Am nächsten Tag fiel der Schwindel auf, denn dann stand plötzlich Bea hinter Walter; während beide miteinander telefonierten. Zuerst wollten sie sich keine Chance geben, aber dann siegte die Liebe. Walter hatte alles für Bea riskiert, am Ende jedoch waren sie dank Baumann getrennt worden – durch den Tod. Baumann hatte den Gashahn im Liebeswagen aufgedreht, beide auf Beas Handy angerufen und dann war der Wohnwagen in die Luft geflogen. Zuerst waren beide noch herausgekommen, doch Bea war zurück um Belastungsmaterial gegen Baumann zu holen und dann passierte das Unglück. Die Explosion brachte ihr so schwere Verletzungen bei, dass sie in Walters Armen verblutete.
„Du hast Bea gekannt?“
„Sie ist…sie war meine Kusine.“ Kerstin schluckte. Das alles so zu erzählen brachte die alten Schmerzen wieder hoch. Sie hatte ewig nichts von Beas Tod gewusst, dann hatte sie erfahren, was mit ihrer Kusine passiert war. Erst als sie Walter traf und sie ihre gemeinsame Verbindung zu Bea feststellten, erfuhr sie wieso und wegen wem Bea sterben musste. Sascha nahm Kerstin in den Arm. Wenn sie geahnt hätte, dass es eine so tragische Geschichte war, dann hätte sie nicht gefragt.
„Das tut mir Leid.“
„Schon okay. Und wegen Bea…wegen Bea wusste ich, dass Walter ganz bestimmt keinen Blödsinn macht wenn ich da bin.“
„Ich bin wirklich froh, dass du sie zur Besinnung gebracht hast“
„Naja, ich habe mich ja gar nicht so sehr um sie gekümmert; mal von ihrer kleinen Wunde abgesehen. Meine Sorgen galten eher dir. Als ich dich nicht gesehen habe, als ich in das Zimmer gekommen bin…da wäre ich beinahe ausgerastet. Es war schlimm genug, dass ich nicht wusste, wie es dir ging, während ich draußen war und dann nicht zu wissen, wie es dir geht, wenn ich im Zimmer bin.“
„Die beiden kleinen Wunden waren keine Sorge wert.“ Sascha sah auf ihre Pflaster. Da war es früher gefährlicher gewesen mit Jodie einen Nachmittag im Wald zu verbringen.
„Dein Veilchen macht mir auch mehr Sorgen.“ Kerstin nahm Saschas Hand „Du musst etwas machen. Du kannst dich nicht schlagen lassen.“
„Das hat er zuvor nie gemacht. Das war ein Ausrutscher.“
„Sascha, du bist eine intelligente Frau, du solltest wissen, dass es bei so etwas keine Ausrutscher gibt. Dass, wenn er dich einmal schlägt, er dich wieder schlagen wird, wenn du etwas machst, was ihm nicht passt. Du kannst nicht ewig ein Leben leben, wie er es haben will, du musst dein Leben leben. So wie du es für richtig hältst.“
„Wenn das so einfach wäre.“
„Sascha, wenn ich dir irgendwie helfen kann, ich werde alles machen. Wenn du ausziehen willst, dann kannst du bei Kilian und mir unterkommen. Du und deine Tochter. Wir werden einen Platz für euch finden.“
„Danke, aber ich weiß nicht, ob das so gut wäre.“ Sascha lächelte. Bevor sie weiterreden konnte oder Kerstin nachfragen konnte, wie Sascha das meinte, klopfte es an der Tür und Doktor Strauß kam herein.
„Was genau habt ihr in dem Zimmer gemacht?“ Verena hatte Kerstin nach Hause begleitet. Sie hatte Kilian bereits angerufen, als Kerstin zu Walter und Sascha ins Zimmer gegangen war, dass es wohl nichts werden würde mit dem Videoabend, da sie eine Geiselnahme hatten. Kilian hatte sich darauf hin auf den Weg in sein Lieblingsrestaurant gemacht und Verena, die ihrerseits Björn abgesagt hatte, hatte Kerstin begleitet. Jetzt saßen sie mit Rotwein und Pizza auf der Couch in der WG und sahen TV.
„Ich habe Walter verarztet und dann Sascha aus dem Schrank geholt.“
„Und sie dann nicht mehr losgelassen.“ Verena hatte genau gesehen, dass Kerstin Sascha erst dann wieder losgelassen hatte, als es nicht mehr anders ging.
„Man tut, was man kann.“ Kerstin grinste.
„Da war mehr.“
„Bitte?“ Kerstin versuchte unbeteiligt zu tun.
„Kerstin, ich sehe dir an deinem Lächeln an, dass da noch etwas war.“ Wieso konnte Verena bitte jetzt schon wieder ihre Gedanken lesen?
„Sei nicht so neugierig.“
„Was war es? Hast du ihr das Veilchen zu liebevoll verarztet? Ist es wirklich nicht von Walter?“
„Nein, Walter hat damit nichts zu tun.“ Kerstin winkelte die Beine an und zog sie auf die Couch.
„Sondern?“
„Eigentlich sollte sie dir das sagen…es war ihr Mann.“
„Was? Sie wird geschlagen?“
„Sie sagt, es war das erste Mal und er würde das bestimmt nicht wieder machen. Du kennst diese Ausreden. Ich habe ihr gesagt, sie kann jederzeit hier unterkommen. Inklusive ihrer Tochter.“
„Und?“
„Sie meint, das wäre nicht so gut.“
„Warum?“
„Naja…“ Kerstin hob die Augenbrauen und sah Verena verschmitzt grinsend an „Vielleicht habe ich vergessen eine kleine Kleinigkeit zu erwähnen…“
„Ich habe es geahnt“, stöhnte Verena „Was hast du angestellt?“
„Naja, ich habe sie aus dem Schrank geholt, ihre beiden kleinen Wunden versorgt und mich dann um ihr Veilchen gekümmert. Dabei habe ich dann erfahren, wie sie dazu gekommen ist und…na ja…ich weiß auch nicht…ich habe ihr gesagt, sie würde jemanden verdienen, der gut zu ihr ist, der sie liebt, unterstützt und achtet und dann…irgendwie habe ich sie dann geküsst. Ganz sanft, ganz kurz, aber es war…wunderbar. Es hat sich angefühlt, als wenn mir einer alle Glückshormone der Welt in meine Venen gespritzt hätte. Ihre Lippen sind göttlich, mehr als göttlich. Das war der beste Kuss, den ich jemals bekommen habe…oder den ich jemals gegeben habe? Ich kann gar nicht mehr sagen, ob sie den Kuss erwidert hat. Ich war so…hingerissen von der Szene, da konnte sich meine Wahrnehmung nicht auf alles konzentrieren. Alles war auf Sascha und ihre Lippen gerichtet.“ Kerstin schloss die Augen und ließ sich auf Verena fallen. Das war ein Erlebnis, das sie wohl nie vergessen würde.
„Du hast ernsthaft Sascha geküsst? Und was hat sie dazu gesagt?“
„Tja, wir hätten hinterher bei mir im Arztzimmer beinahe das Thema angeschnitten, zumindest hatte ich das Gefühl, aber dann kam Strauß rein. Ich habe keine Ahnung, wie sie den Kuss empfunden hat, ob er ihr etwas bedeutet hat oder sonst etwas. Aber würde einiges dafür geben das zu erfahren.“ Kerstin sah Verena verliebt an. Verena knuffte sie in die Seite. Endlich galt dieser Blick nicht mehr ihr, sie hatte Kerstin ungern das Herz gebrochen. Vielleicht hatte sie bei Sascha mehr Glück. Wobei, Verena zweifelte das derzeit an.
Sascha war nach Hause gefahren und hatte sich sofort ins Badezimmer verzogen. Sie brauchte ein heißes Bad. Sascha ließ zu dem heißen Wasser ihr Lieblingsbadeöl ein. Mike war im Büro oder bei einer seiner Schlampen und Jodie war in ihrem Zimmer und hörte Musik. Sie hatte Sascha die Lüge wegen ihres blauen Auges geglaubt. Menschen glaubten gerne Dinge, die sie glauben wollten. Sascha legte sich ins Wasser und schloss die Augen. Kerstin war nicht so. Kerstin hatte wissen wollen, was passiert war. Kerstin hatte gesagt, dass Sascha keine Schuld hatte. Kerstin war…unbeschreiblich. Und sie stand hinter ihr.
„Sie ist wegen mir zu Walter gekommen. Sie hat sich Sorgen um mich gemacht“, murmelte Sascha während das heiße Wasser langsam ihren Körper entspannte. Ihre Hände hatten sich ganz sanft um ihre Wunden gekümmert. So als wenn sie Angst hätte Sascha zu verletzen oder gar zu zerbrechen.
„Sie hat mich geküsst.“ Sascha ließ sich unter die Wasseroberfläche rutschen und genoss wie die Hitze sie nun komplett umschloss. Das war gut. Langsam kam sie mit dem Kopf an die Wasseroberfläche zurück.
„Sie hat mich wirklich geküsst. Mich hat noch nie eine Frau geküsst.“ Sascha schüttelte den Kopf. Sie konnte sich genau daran erinnern wie Kerstin sie geküsst hatte. Erstens brauchst du ihn nicht...zweitens bist du viel zu schade für ihn. Du hast jemanden verdient, der dich liebt, dich achtet, dem du wichtig bist, der deine Bedürfnisse respektiert… der sich freut, wenn ihr einen gemeinsamen Abend verbringen könnt, der dich mit einem Picknick oder einem Ausflug überrascht. Jemanden, für den du das Wichtigste auf der Welt bist. Das und nicht weniger hast du verdient. Das waren Kerstins Worte gewesen und wenn irgendjemand Sascha in dem Moment gefragt hätte, ob sie sich vorstellen könnte, dass Kerstin diese Person sein könnte, die all das sein kann, dann hätte Sascha zugestimmt. Kerstins Augen hatten ihr gezeigt, dass sie all das, was sie sagte, so meinte. Sascha war sich ziemlich sicher, dass Kerstin sich in sie verliebt hatte. Und sie hatte sie angesehen, wie es zuvor niemand getan hatte. Kerstin war…Sascha konnte keine Worte dafür finden. Und sie konnte nicht sagen, dass ihr der Kuss unangenehm gewesen war. Es war neu, es war fremd, aber es war schön. So sanft, so zärtlich, so voller Liebe…niemals hatte Mike sie so geküsst. Weder früher und heute erst Recht nicht mehr.
„Was soll ich jetzt nur machen? Kann ich Kerstin jemals wieder unbefangen entgegen treten?“, rätselte Sascha. Wobei, hinterher im Arztzimmer hatte das auch geklappt. Kerstin hatte nicht mehr gemacht als ihr ein Glas Wasser gegeben. Keine Annäherungsversuche, nichts. Und sie hatte ihr etwas erzählt, was sie wahrscheinlich nicht jedem erzählen würde. Vielleicht sollten sie über den Kuss reden. Oder wäre es besser wenn sie so tun würden, als wenn nichts passiert wäre? Sascha wusste es nicht. Sie wusste überhaupt nichts mehr. Und dann das Angebot, sie und Jodie könnten jederzeit bei ihr in der WG unterkriechen. Wie hatte sie das gemeint? Rein freundschaftlich oder hatte sie da Hintergedanken. Eines war Sascha selber klar. Hier, bei Mike, sollte sie nicht länger als unbedingt nötig bleiben. Sie musste eine Lösung finden, wie sie und Jodie von Mike wegkamen. Nur wie?
„Johanna? Können Sie mir eine Verbindung nach Amerika heraussuchen?“ Sascha stand mit nassem Haar in der Tür zu Mikes Arbeitszimmer Zuhause, das er so gut wie nie benutzte, da er sowieso immer im Büro war.
„Amerika?“
„Ja, Los Angeles, Kalifornien.“
„Ihre Kusine?“, lächelte Johanna. Sascha nickte.
„Grüßen Sie sie von mir. Wann wird sie uns mal wieder besuchen kommen?“
„Das ist eine der Fragen, die ich ihr stellen will. Unsere Großmutter hat bald Geburtstag und so wie ich Kim kenne, vergisst sie das wenn sie keiner anruft.“ Sascha verschwand lächelnd im Badezimmer um sich die Haare zu fönen. Bis Johanna die Nummer von Kim gefunden hatte würde einige Zeit vergehen. Sie hatten die Nummer des Wohnheimes, in dem Kim wohnte, wenn sie in Los Angeles war, aber da sie regelmäßig die Zimmer wechselte, gab es keine direkte Durchwahl. Mal ganz davon abgesehen, dass es in Los Angeles jetzt 22 Uhr war und Kim genauso gut unterwegs sein konnte. Kim war Deutschlands beste Kickboxerin und hatte an einer Universität in L.A. ein Sportstipendium bekommen. Seitdem war sie sehr selten in Deutschland. Sascha fragte sich manchmal, ob sie es ähnlich weit gebracht hätte, wenn sie ihren Sport, der allerdings reiten gewesen war, ähnlich motiviert gewesen wäre? Aber dann kam Mike und die Pferde gerieten in den Hintergrund. Kurze Zeit später war sie schwanger gewesen und dann war es mit dem Reiten ganz vorbei. Heute ritt sie gelegentlich mit Jodie aus.
„Die Nummer.“ Johanna drückte Sascha einen Zettel in die Hand.
„Danke.“ Sie legte den Fön zur Seite und ging ins Schlafzimmer. Mike wäre stolz auf Johanna. Sparvorwahl, Vorwahl für Amerika, Kalifornien, Los Angeles, den Stadtbezirk, des Wohnheimes und des Zimmers. Sascha war sich sicher, einem Geschäftsmann konnte diese Zahl am falschen Ort gehörig den Tag versauen. Im vierten Versuch schaffte sie es die lange Nummer richtig einzugeben und wartete. Es piepte auf jeden Fall, das war ein gutes Zeichen. Die Nummer gab es.
„Hello! This is the…“ Verflucht, der Anrufbeantworter. Hätte Sascha sich ja denken können, dass Kim nicht Zuhause war. Sie wartete bis das Gerät seinen Text zu ende gesprochen hatte und begann nach dem Piepton zu reden. Normalerweise hasste sie Anrufbeantworter und redete nicht mit ihnen.
„Kim, ich bins, Sascha. Kannst du mich mal anrufen? Es ist wirklich dringend. Ich hatte gehofft, dich um diese Uhrzeit Zuhause anzutreffen, ihr Sportler sollt doch nicht die Nächte in Clubs verbringen. Naja, egal, melde dich einfach wenn du wieder…“
„Sascha?“ Atemlos meldete sich Kim am anderen Ende.
„Hey, du bist ja doch da.“
„Ja, sorry. Ich war unter der Dusche. Wie geht es dir?“
„Könnte besser sein. Und selber?“
„Mir geht es fantastisch. Was ist passiert?“ Kim hasste es, wenn Sascha lange um den heißen Brei herumredete.
„Kannst du nach Deutschland kommen?“
„Jetzt?“
„So schnell wie möglich.“
„Es ist ernst, oder?“
„Ja.“
„Mhm.“ Kim dachte nach. Prüfungen standen in der nächsten Zeit nicht an, es war Sommer und somit Semesterferien. Das Training konnte sie eine Woche lang schwänzen, das sollte kein Problem sein. Ihr Trainer mochte sie und weil sie sonst nie fehlte, musste das machbar sein.
„Ich kann gucken, ob ich morgen einen Flug bekomme, dann wäre ich übermorgen bei dir. Was ist denn passiert?“
„Das würde ich dir gerne hier erzählen.“ Sascha war sich nicht ganz sicher, ob Mike nicht die Anrufe aufzeichnen ließ. Er war ein Kontrollmensch.
„Mike“, stellte Kim treffsicher fest.
„Komm bitte einfach so schnell wie möglich her.“
„Okay, ich werde sehen, was ich machen kann.“
„Danke. Und jetzt geh schlafen, ich will nicht Schuld daran sein, wenn du morgen dein Frühtraining verpasst.“
„Sascha, Schlaf ist etwas für Weicheier. Wir sehen uns in etwa sechsunddreißig Stunden und wehe, du holst mich nicht persönlich am Flughafen ab.“
„Ich freue mich und werde pünktlich sein. Bis dann.“ Natürlich würde sie Kim persönlich am Flughafen abholen.
„Bye, Kleines.“ Sascha musste lächeln und legte auf. Kim war die kleine Kusine, nicht Sascha. Sie hoffte, dass Kim einen Flug bekommen würde. Mit Kim an ihrer Seite würde ihr die Entscheidung, was sie wegen Mike machen sollte, leichter fallen.
Es versprach ein wunderbarer Morgen zu werden. Die Sonne schien warm vom wolkenlosen, tiefblauen Himmel, die Vögel überboten sich mit fröhlichen Liedern aus allen Richtungen und die Luft roch nach der wunderbarsten Mischung aus frischgemähten Gras und Meeresluft. Es war wie das Paradies auf Erden. Leider hatte auch dieses Paradies einen kleinen – nun ja, sagen wir mal nicht Harken, sondern Apfel: Es existierte nicht! Dieses Szenario spielte sich ganz alleine in der Phantasie von Doktor Kerstin Herzog, neunundzwanzig, ab. Die Sommeridylle war in Wirklichkeit ein kalter Wintertag in Berlin, weder die Sonne war zu sehen noch waren die Gesänge der Vögel zu hören und frischgemähte Gras und Meeresduft waren ihr hier noch nie begegnet. Und die morgendliche Pferdekutsche aus Gold, die sie zu ihrem Urlaubsort gebracht hatte, war ihr Fahrrad gewesen, mit dem sie nach Reutlitz gestrampelt war. Reutlitz, ein Frauengefängnis in Berlin, wo Kerstin seit nun einem Jahr arbeitete. Was als Übergang zu einer eigenen Praxis oder einer Stelle als Chefärztin in der Charité gedacht war, schien zu einem dauerhaften Engagement zu werden. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern als kleines Mädchen davon geträumt zu haben in einem Frauengefängnis zu arbeiten. Okay, als kleines Mädchen hatte sie diesen kitschigen nullachtfünfzehn Traum gehabt, dass sie eine Prinzessin werden würde, aber dieser Traum hatte sich dann nach und nach als nicht realisierbar erwiesen, was allerdings nicht an der Auswahl der Prinzen lag. Ihre Mutter hatte sie bereits früh mit den Bildern der wichtigsten Prinzen in ihrem Alter versorgt und eine Zeit lang sahen sie sehr gut aus, aber dann…dann stellte Kerstin fest, dass die Prinzessinnen um einiges besser aussahen und sie viel mehr ansprachen. Mit dieser Erkenntnis war das Unternehmen Prinzessin gestorben. Soweit sie wusste, war selbst in den modernsten und liberalsten Königshäusern die Hochzeit zweier Frauen verboten. Also suchte sie weiter nach einer bürgerlichen Prinzessin, die jedoch bisher nicht in Berlin aufgetaucht war – oder sie hatte sich gut vor Kerstin versteckt. Dabei suchte Kerstin jede freie Minute nach ihr. Ihr kam es langsam so vor, als wenn sie alle Frauen aus Berlin bereits kennen würde. Oder zumindest alle, die als ihre Prinzessin in Frage kamen.
Zurück zur Realität und zur aktuellen Situation in Kerstins Leben. Sie hatte es ausnahmsweise geschafft pünktlich zum Dienst in Reutlitz zu erscheinen und saß nun gelangweilt zwischen ihren Kollegen im Besprechungszimmer und wartete auf Doktor Strauß, dem Direktor. Die Pünktlichkeit war Kerstins große Schwäche. Es kam regelmäßig vor, dass sie verschlief. Wenn sie heute Morgen geahnt hätte, dass sich Doktor Strauß Zeit ließ mit der Besprechung, hätte sie sich noch einmal rumgedreht und hätte weitergeschlafen. Im Moment träumte sie jede Nacht wunderschön. Sie wusste zwar am nächsten Morgen nie worum es ging, aber sie war immer fröhlich und ausgeruht, sogar wenn sie pünktlich aufstand. Hätte sie heute Morgen jedoch länger geschlafen, wäre sie in Gefahr gelaufen unsanft geweckt zu werden. Mit ihrem Radiowecker wurde sie fertig, den ließ sie mit einer Handbewegung – die sie leider bereits im Schlaf beherrschte – erstummen, aber ihr erbarmungsloser Zweitwecker, den konnte sie erst dann zur Ruhe bringen, wenn sie angezogen am Frühstückstisch saß und bereits auf dem Sprung zur Arbeit war.
Die Tür wurde geöffnet und Doktor Strauß trat in Kerstins Augenwinkel. Endlich. Sie hatte noch andere Dinge zu tun als hier auf ihren Chef zu warten.
„Guten Morgen.“ Das würde sich noch zeigen. Bisher war Kerstin nicht die Krankenakten durchgegangen. Sie murmelte etwas, das ebenfalls wie „Guten Morgen“ klingen sollte und sah kurz hoch und hielt in der Bewegung inne. Ja, was war das denn? Hallo! Ihre Begeisterung entstand allerdings nicht für Doktor Strauß, der sah aus wie jeden Tag; nur älter. Nein, er hatte jemanden mitgebracht. War denn heute Tag der offenen Tür? Oder…nein! Genau, das hatte sie vergessen. Die neue Kollegin. Erst gestern hatte sie die Worte „…ihren Dienst antreten…“ gehört, da war sie mal wieder zu spät zur Dienstbesprechung erschienen. Genau, heute war der Erste des Monats, Dienstantritt. Wie konnte sie das vergessen? Sie wurde langsam alt.
Ihre Müdigkeit völlig vergessen kam sie sich nun vor wie im Paradies und die neue Kollegin musste die Versuchung sein. Was für ein toller Apfel. Kerstin würde ohne zu zögern zubeißen – mehrmals.
„Das ist Frau Wüllner, sie tritt heute ihren Dienst bei uns an. Ich hoffe, Sie werden ihr das Eingewöhnen so angenehm wie möglich gestalten….“ Gerne, sehr gerne. Kerstin hatte Mühe ihre Augen von der neuen Kollegin zu nehmen. Wie gut dass sie einige Unterlagen vor sich liegen hatte, da konnte sie sich darauf konzentrieren. Ein kurzer Blick durch die Runde der Kollegen und sie stellte fest, dass sie nicht die Einzigste war, die die Ankunft der neuen Kollegin als erfreulich empfand. Jansen, Kittler, Bleiming und Neumeyer waren ebenfalls kurz davor die Augen zu verlieren. Wenn das keinen Kampf gab…und Kerstin mitten drin. Nur, die Erfolgschancen waren meistens sehr gering. Wenigstens konnte sie keinen Ring an den Händen der neuen Kollegin feststellen. Ein Anfang. In allzu festen Händen war sie somit nicht; noch nicht, aber das konnte FRAU ja ändern.
Betont unauffällig setzte Kerstin zu einer neuen Inspektion der Kollegin an als Doktor Strauß die Besprechung beendete.
„Wer könnte denn Frau Wüllner mal die Station…“ Gierige Blicke der vier Herren. Kerstin konnte sich ihr Angebot gleich sparen, sie war die Ärztin, sie konnte der neuen Kollegin höchstens die Krankenstation zeigen...und die Krankenbetten…
„Frau Schnoor, machen Sie das, bitte?“ Jetzt hätte Kerstin beinahe gelacht. Der Reihe nach waren die Gesichter der Männer eingefallen. Chance vertan, Jungs. Dieser Anblick war das frühe Aufstehen wert gewesen. Nicht dass man auf die Idee kam, Kerstin würde ihren Kollegen nichts gönnen, aber was Frauen anging, da war sie sehr egoistisch. Und bisher fehlte ihr in Reutlitz eine Kollegin, für die es sich lohnte früh aufzustehen und jeden Tag zur Arbeit zu gehen. Wer weiß, vielleicht wurde Verena Wüllner diese Kollegin. Sie verstand sich zwar sehr gut mit Maja und der Schnoor, aber sie waren kein Grund herzukommen.
„Gut, dann wünsche ich Ihnen allen einen angenehmen Arbeitstag. Frau Herzog?“ Kerstin sah auf. Was wollte er denn von ihr? Sie war pünktlich gewesen und hatte einen – den Umständen entsprechenden – aufmerksamen Eindruck gemacht als er sein übliches Tagesprogramm abgespult hatte. Oder hatte sie die neue Kollegin zu offensichtlich angestarrt. Sie fand, die männlichen Kollegen waren da schlimmer gewesen.
„Ja?“
„Wann haben Sie diese Woche Zeit? Wir müssen uns wegen Frau Zimmermann besprechen.“ Gut, etwas dienstliches. Alles andere hätte unangenehm werden können. Sie hatte in ihrer Ausbildung einmal Ärger mit ihrem Vorgesetzt bekommen weil sie eine Kollegin zu offensichtlich angeschmachtet hatte. Er hatte ihr nahe gelegt ihre „perversen Phantasien“ nicht am Arbeitsplatz auszuleben. So viel zur Toleranz der Ärzte an katholischen Privatkliniken. Sie hatte die Ausbildung auch nur gemacht weil es in der Nähe ihrer Heimat gewesen war und sie sich damals nicht sicher war, ob sie schon bereit gewesen war um alleine in die Großstadt zu gehen. Aber das war Vergangenheit.
„Wie wäre es mit morgen Nachmittag?“ Doktor Strauß blätterte in seinem Terminkalender.
„Sechzehn Uhr?“ Oh, das war eine Stunde bevor sie beide Feierabend hatten, demnach hatte das Gespräch sofort ein Zeitlimit, das mochte Kerstin. Doktor Strauß konnte ihr gelegentlich einen Knopf an Ohre labern, um es salopp auszudrücken.
„Das passt mir wunderbar.“
„Gut, dann um sechzehn Uhr in meinem Büro.“ Kerstin stand auf. Durch dieses kurze Gespräch hatte sie Verena Wüllner völlig aus den Augen verloren. Schade, aber sie würde sie schließlich ab jetzt jeden Tag sehen. Verena Wüllner, vielleicht ihr neuer Grund pünktlich zur Arbeit zu kommen und sich für die ein oder andere Überstunde anzumelden wenn ihre Angebetete Spätschicht hatte.
Kerstin selber hatte die neue Kollegin den ganzen Morgen nicht zu Gesicht bekommen, dafür war sie zu sehr auf der Krankenstation eingespannt. Vor allem ihre Lieblingspatientin Walter beanspruchte ihre Zeit. Diese lag nach einem missglückten Fluchtversuch mit einem gebrochenen Bein seit einer Woche auf der Krankenstation und wurden von Tag zu Tag ungemütlicher. Allerdings konnte Kerstin das als Zeichen der Besserung deuten.
„Deine Tabletten kannst du wieder mitnehmen, die wirken sowieso nicht.“ Walter warf Kerstin das Röllchen mit den Tabletten entgegen, die sie mühevoll schnappte. Sportarten, in denen man etwas fangen musste, waren ihre Schwäche gewesen. Sie hatte beim Basketball den Ball meistens nur abprallen lassen statt ihn zu fangen und dann sinnvoll weiterzugeben.
„Frau Walter, die Tabletten wirken wenn Sie sie richtig einnehmen. Wenn Sie allerdings erst Essen und dann eine Tablette nehmen, dann kann diese nicht wirken. Es wäre ihrer Genesung sehr hilfreich wenn Sie gelegentlich das machen würden, was ich Ihnen sage. Auch wenn Sie es nicht glauben, ich habe Medizin studiert, ich besitze gewisse Kenntnisse.“ Kerstin erwürgte Walter gedanklich. Es waren immer die gleichen Spiele, die sie spielten.
„Wir könnten ganz andere Kenntnisse ausprobieren“, schlug Walter vor.
„Ich habe keine Ahnung wovon Sie reden. Wenn Sie nun bitte…“ Es klopfte an der Tür. Egal wer oder was es war, wenn es Kerstin von Walter befreite, war sie gerne bereit sofort alles stehen und liegen zu lassen.
„Herein.“
„Ey, das ist mein Zimmer, da kann ich entscheiden wer…wow!“ Walter hielt mitten im Satz inne. Frau Schnoor und die neue Kollegin.
„Frau Herzog, haben Sie gleich fünf Minuten um der neuen Kollegin die Krankenstation zu zeigen?“
„Sofort, gerne.“ Was war schon eine maulende Walter gegen einen Engel?
„Machen Sie sich keine Umstände und kümmern Sie sich zuerst um Frau Walter. Frau Wüllner und ich sind so lange auf Station B.“
„Ich werde zu Ihnen kommen sobald ich hier fertig bin.“ Sollte es einen Weltrekord für das verarzten nerviger Patienten mit gebrochenen Bein geben, Kerstin würde ihn heute einstellen und dann eine sehr, sehr lange Führung über die Krankenstation machen. Sie konnte der neuen Kollegin so viele Dinge hier zeigen, eine Krankenstation war wie eine niemals leere Wundertüte, in der man immer wieder neue Dinge fand: Behandlungszimmer, Krankenzimmer, Medikamentenzimmer, Mullbinden, Pflaster und jede Menge mehr. Kerstin schüttelte den Kopf. Diese neue Kollegin machte, dass sie Schwachsinn dachte. Und es gab nur wenige Frauen, die sie so durcheinander brachten ohne dass sie ein Wort miteinander gewechselt hatten.
„Das nenne ich eine Schluse der Spitzenklasse“, meinte Walter sobald Frau Schnoor und Frau Wüllner den Raum verlassen hatten.
„Ja, da muss ich Ihnen ausnahmsweise mal Recht geben. Wer immer Frau Wüllner eingestellt hat, er hat besten Geschmack bewiesen. Besser geht’s nicht.“
„Ja, ich muss sagen, das ist die zweitbeste Schluse, die mir jemals begegnet ist. Komm mir ja nicht in die Quere, Spritzenfrau.“ Woher auch immer Walter wusste dass Kerstin lesbisch war, sie rieb es ihr laufend unter die Nase. Aber sollte es? Ihre Kollegen wussten es ebenfalls. Was sollten sie auch sonst denken nachdem sie Kerstin mit ihrer Ex auf dem Betriebsausflug gesehen hatten? Es störte Kerstin nicht.
„Ich befürchte, das ist nicht Ihr Kaliber, Frau Walter.“
„Ich habe schon ganz andere bekommen.“
„Natürlich.“
„Ja, und diese Schnecke ist Platz zwei meiner persönlichen Bestenliste. Keine Panik, du bist die Nummer drei, sollte ich abblitzen, darfst du mich trösten.“
„Ich wünsche angenehme Träume. So.“ Kerstin nahm die Tablettenrolle, die Walter ihr eben zugeworfen hatte. „Jetzt noch einmal von vorne: Eine Tablette VOR jeder Mahlzeit. Nicht während, nicht hinterher, nicht gar nicht, sondern VORHER. Kapiert? Gut, danke. Und hören Sie auf in Ihrem Bett herumzuzappeln, das Bein braucht Ruhe.“ Sie nahm ihre Tasche.
„Ja, ja.“
„Ach ja“ Kerstin blieb an der Tür stehen „Sollte ich noch einmal Qualm im Zimmer riechen, dann werden Ihre Besuche gestrichen und das Essen werde ich Ihnen von einem Beamten bringen lassen.“
„Sklaventreiberin.“
„Gut, ich sehe, wir verstehen uns. Einen schönen Tag, wir sehen uns heute Abend wieder.“ Kerstin schloss die Tür. So, nun ging es zum angenehmen Teil des Tages über. Sie strich ihren Kittel zurecht und machte sich auf den Weg zur Station B. Auf zu ihrem blonden Engel, der Versuchung. Kerstin kam sich ein wenig wie ein verliebter Teenager vor, der seine Lehrerin anbetete und nicht einmal deren Vornamen wusste.
Da stand das Objekt ihrer Begierde. Leider in der falschen Gesellschaft: Hendrik Jansen. Sie war kurz davor zu sagen, dass die Rettung da sei, konnte sich den Kommentar jedoch in letzter Sekunde verhindern.
„Ich bin dann so weit.“ Nicht zu sehr strahlen, nicht zu sehr erfreut klingen, ganz professionell, wie es sich für eine gute Ärztin gehörte. Und sie war eine gute Ärztin…die im Moment einen Hormonüberschuss unter Kontrolle halten musste.
„Ich bin mir sicher, du wirst der Kollegin alles zeigen, was sie sehen muss.“ Hendrik Jansen grinste fies und drehte sich um. Na super, er sparte sich einen Kommentar und er machte gleich Andeutungen. Typisch.
„Hat Ihnen Frau Schnoor schon etwas über die Krankenstation gesagt?“
„Nein, außer dass sie mir gezeigt hat wie ich dorthin gelange, weiß ich nichts.“ Frau Wüllners Laune schien weiterhin gut zu sein. Ein Wunder, wenn man bedachte, dass sie ihre Zeit gerade mit Jansen verbracht hatte.
„Naja, so viel gibt es da für die Beamten auch nicht zu wissen.“ Super. Wieso sagte sie nicht gleich, dass die Führung Zeitverschwendung war? Kerstin hätte sich Ohrfeigen können. Wann setzte ihr Gehirn wieder ein? Sie schloss einige Gittertüren auf und führte Frau Wüllner direkt in das Behandlungszimmer.
„Hier werden die Frauen von den Beamten hergebracht wenn sie über Schmerzen oder ähnliches klagen. Wichtig ist, dass Sie darauf achten, dass sie niemals unbeaufsichtigt hier sind. Die Schränke sind zwar abgeschlossen, aber wir haben es hier mit Verbrechern und nicht mit Kindergartenkindern zu tun. Die haben die besten Schlösser innerhalb von wenigen Sekunden geknackt.“
„Das dachte ich mir bereits.“ Super Kerstin, belehre sie, das wird dich beliebt machen, schimpfte Kerstin mit sich selbst. Frau Wüllner hatte den Job wahrscheinlich nicht wegen ihres charmanten Lächelns bekommen, so weit Kerstin wusste, war Doktor Strauß immun gegen so etwas.
„Sollte es zu einem Zwischenfall auf den Station kommen und Sie werden verletzt – was wir nicht hoffen wollen – dann bin ich natürlich ebenfalls für Sie da.“
Frau Wüllner lächelte „Das sagte mir Herr Jansen schon. Und er fügte wohlwollend hinzu, dass Sie bestimmt auch so gerne das ein oder andere Doktorspiel mit mir spielen würden.“ Kerstin, die gerade eine Akte wegräumen wollte, hielt in ihrer Bewegung inne. Hatte sie sich da verhört?
„Bitte?“
„Herr Jansen machte Andeutungen, dass Sie versuchen würden bei mir zu landen.“ Nein, sie hatte sich nicht verhört. Langsam übertrieb Jansen wirklich. Dass sie sich nicht leiden konnten, damit konnte Kerstin umgehen, ebenso dass ihr Umgang immer sehr kühl war, aber dass er jetzt anfing der neuen Kollegin zu erzählen, Kerstin würde sie zu Doktorspielen…auch wenn der Gedanken an sich nett war…nein, das ging zu weit. Sie musste dringend ein sehr ernstes Wort mit ihm wechseln. Gerne in Gesellschaft von den Kollegen und Doktor Strauß.
„Nun, Herr Jansen schließt gerne von sich auf andere, ich würde da nicht allzu viel drauf geben was er sagt.“
„Dann hat er Unrecht und Sie haben kein Interesse an mir?“ Frau Wüllner schien die Situation amüsant zu finden. War das nun positiv oder negativ für Kerstin?
„Ich kenne Sie keine zwei Stunden, wie soll ich mir da ein Bild von Ihnen gemacht haben? Aber wo wir gerade bei Hendrik sind: Was hat er Ihnen von sich erzählt?“
„Wieso?“
„Rein aus Interesse.“
„Dass er sich in Scheidung befindet weil seine Frau beschlossen hat, ihr Leben ohne ihn weiterzuleben und ihm die Kinder wegnehmen will, was ihm ziemlich fertig macht.“ Kerstin konnte sich einen Lacher nicht verkneifen. Die alte Geschichte. Genau diese Geschichte hatte er der Frau erzählt, die ihm letztens vor Reutlitz abgeholt hatte. Was er nicht bedacht hatte, was dass Britta, seine Frau, ihn ebenfalls abholen wollte. Das Aufeinandertreffen der beiden Frauen hätte Kerstin gerne gesehen, leider kannte sie nur die Variante, die Bleiming, der Dienst an der Schleuse hatte, erzählt hatte. Allerdings war das wie jede andere Geschichte von Hendrik Jansen geendet: er hatte geschafft alles so zu drehen, dass er gewann. Britta verzieh ihm und er lebte weiter mit einer Ehe, die er nicht führte und stieg hinter allen Frauen her.
„Und er wollte Ihnen die Stadt zeigen?“
„Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich nicht von hier bin?“
„Ehrlich gesagt habe ich geraten.“
„Stimmt, ich bin keine Berlinerin. Wieso haben Sie eben gelacht?“
„Ich denke, es wäre fair, wenn Sie das selber herausbekommen. Ich mag Hendrik Jansen nicht, das werde Sie unschwer festgestellt haben, aber im Gegensatz zu ihm möchte ich fair bleiben.“
„Hat er gelogen?“
„Teilweise.“ Oder komplett, wie man es sah.
„Was waren die Lügen?“
„Der lebt nicht in Scheidung, seine Frau will ihm nicht die Kinder wegnehmen, aber wenn das jemals passieren sollte, was ich für Britta Jansen hoffe, denn sie ist eine nette Frau, dann liegt das bestimmt nicht an ihr. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.“
„Überraschend neutral.“
„Überraschend?“
„Herr Jansen sagte mir, Sie würden alles versuchen um ihn schlecht zu machen.“ Hendrik Jansen schien heute auf Hochtouren zu laufen. Wieso stellte er nicht gleich eine Schild vor ihrem Behandlungszimmer, auf dem: ACHTUNG MONSTER stand, auf.
„Och, das macht er schon selber, dafür braucht er mich nicht“, rutschte es Kerstin raus. „Was hat er denn sonst noch Interessantes über mich erzählt?“
„Es wäre unfair das zu verraten, oder?“
„Nun, ich könnte Ihnen dann gleich sagen ob es eine Lüge ist oder nicht.“
„Und Sie antworten natürlich hundertprozentig ehrlich“, ein wenig Spott war in Frau Wüllners Stimme.
„Wieso nicht?“
„Er sagte, sie würden versuchen mich noch heute zu einem Kaffee einzuladen.“
„Ist ein netter Gedanke. Das kann ich gerne umsetzen.“
„Dann würden Sie mich in eine Bar führen, abfüllen und versuchen mich zu verführen.“
„Nein.“ Kerstin schüttelte entschieden den Kopf.
„Nein?“
„Nein, ich muss morgen arbeiten, da habe ich keine Zeit für Alkohol. Das würde ich dann am Wochenende versuchen“, grinste Kerstin. Frau Wüllner musste lachen.
„Sehr Pflichtbewusst.“
„Es scheint Ihnen ja wenig auszumachen, dass die Gefahr besteht, dass ich Sie verführen würde.“
„Ob nun Männer versuchen einen zu verführen oder Frauen, das ist egal. So lange alle ein klares „Nein“ verstehen.“
„Das ist eine Einstellung, die mir gefällt“, lachte Kerstin. Ja, die neue Kollegin gefiel ihr. Und das jede Minute mehr. Es gab nicht viele Menschen mit denen sie sofort ein solches Gespräch führen konnte.
Kerstin hatte das Unmögliche möglich gemacht und hatte sich für den Samstagabend mit Frau Wüllner verabredet. Was sie viel mehr überrascht hatte, war dass Frau Wüllner sofort zugesagt hatte. Sollte sie doch noch Chancen bei der Neuen haben? Bisher hatte sie nicht herausfinden können ob Frau Wüllner Männer oder Frauen vorzog oder sogar beiden Geschlechtern nicht abgeneigt war. Alles was sie herausgefunden hatte, war dass sie mit Vornamen Verena hieß, vierundzwanzig war und frisch ihre Ausbildung beendet hatte. Den Rest wollte sie an diesem Abend herausfinden. Sie hatten sich auf einem großen Parkplatz unweit von Reutlitz verabredet. Kerstin hatte ihnen eine gemütliche Cocktailbar ausgesucht, in der man neben den besten Cocktails kleine Snacks und leise Musik bekam, so dass eine Unterhaltung möglich war.
„Sehr gemütlich.“ Verena Wüllner ließ sich auf einem gepolsterten Stuhl nieder. Kerstin, ganz Lady wählte den Platz im neunzig Grad Winkel neben ihr. Die Psychologie besagte, dass dies der beste Platz für eine Unterhaltung war. Direkt gegenüber des Gesprächspartners zu sitzen ließ ihm keine Ausweichmöglichkeiten für seinen Blick und direkt nebeneinander erschwerte das gegenseitige ansehen. An was man alles denken musste an einem perfekten Abend.
„Freut mich dass es Ihnen gefällt. Ich dachte mir, wir beginnen den Abend ruhiger.“
„Ein seht guter Gedanke.“ Verena Wüllner schnappte sich die Karte. Kerstin ließ ihren Blick durch die Kneipe schweifen. Man konnte von den anderen Gästen nicht viel sehen, die einzelnen Tische waren abgeschirmt zwischen Palmen, großen Pappaufstellern mit Karibikmotiven und anderem Gegenständen, die eine gemütliche Atmosphäre schufen.
„Darf ich Ihnen etwas bringen?“ Die Kellnerin erschien „Hallo Kerstin“, sagte sie, als sie Kerstin erkannte „Lange nicht mehr gesehen.“
„Hi Ramona, ja, der letzte Abend hat mir Nachwirkungen für die nächsten drei Tage verschafft, da hatte ich erst einmal genug.“
„Du musstest dich mit Thomas anlegen und ein Wetttrinken beginnen. Ich hoffe, heute wird das anders sein.“
„Versprochen. Ich hätte gerne einen 4th of July.“
„Und Sie?“ Ramona sah zu Verena Wüllner herüber.
„Einen rostigen Nagel und dazu das Schinkenbaguette und die Tortillas mit dem extra scharfen Dipp.“ Wow, diese Frau gefiel Kerstin. Die hatte wirklich Feuer.
„Kommt sofort.“
„Ich gehe davon aus, dass die Küche gut ist?“, fragte Verena Wüllner Kerstin.
„Ja, super. Allerdings habe ich mich bisher meistens an die flüssigen Dinge gehalten.“
„Ich dachte mir, eine kleine Grundlage für den Cocktail kann nicht schaden. Schließlich soll ich aufpassen, dass ich nicht die Kontrolle verliere“, zwinkerte Verena Wüllner.
„Jansen“, stöhnte Kerstin. Musste der zu allen seinen Senf dazu geben?
„Er war sehr besorgt um mich.“
„Verständlich.“
„Verständlich?“
„Klar, ich bin eine Bestie. Kennen Sie die großen Warnschilder nicht? VORSICHT VOR DER FREILAUFENDEN KERSTIN nicht?“ Beide Frauen lachten.
„Ich denke, er ist eifersüchtig auf Sie.“
„Hat er dazu einen Grund?“ Eine interessante Frage, die je nach Antwort lohnend sein konnte.
„Nein.“
„Eigentlich müsste ich das schade finden, aber im Moment nervt er mich so sehr, da wäre ich froh, wenn er das kapiert und mich in Ruhe lässt. Das muss ich Ihnen lassen: Sie haben ihn so wuschig gemacht, er vergisst sogar seine dummen Kommentare am Morgen wenn ich verschlafe oder eine Dienstbesprechung vergesse.“
„Freut mich wenn ich Ihnen helfen konnte.“ Sie bekamen ihre Cocktails und Verena Wüllner ihr Essen.
„Prost.“ Kerstin hob ihren Cocktail an.
„Scol!“
„Sie sprechen schwedisch?“
„Nur das eine Wort. Bisher habe ich es leider nie geschafft nach Schweden zu fahren. Allerdings steht ein mehrwöchiger Urlaub in einem Wohnmobil in Schweden ganz oben auf meiner Urlaubsliste. Und Sie? Sprechen Sie schwedisch?“
„Nein, nur die gängigen Schulfremdsprachen. Das hat mir allerdings gereicht.“
„Und trotzdem wussten Sie, dass ich ein schwedisches Wort benutzt habe.“
„Weibliche Intuition.“ Kerstin sparte sich den Hinweis, dass sie dieses Wort aus einem Film hatte. Die Bildung aus Filmen machte keinen vertrauensvollen Eindruck für eine Ärztin. Hinterher hieß es noch, sie habe das operieren und verarzten bei den Wiederholungen der Schwarzwaldklinik gelernt.
„Aha.“ Verena Wüllner lächelte Kerstin vielsagend an, so dass deren Magen einige Schmetterlinge flogen. Was für eine tolle Frau. Es war Zeit einen kleinen Vorstoß zu wagen.
„Wollen wir uns nicht duzen? Nachdem wir schon den Abend zusammen verbringen.“
„Ich duze die Leute erst nach der ersten Nacht“, sagte Verena Wüllner ernst. Kerstins Unterkiefer klappte nach unten. Hatte sie das richtig gehört? Oder waren die Worte durch die Musik verändert worden. Verena Wüllner konnte unmöglich das gesagt haben, was Kerstin verstanden hatte.
„Bitte?“
„Dafür, dass Sie so eine Draufgängerin sein sollen, sehen Sie ziemlich entsetzt aus.“
„Naja, ich habe…na, ist ja auch egal…“
„Was denn?“
„Ich glaube, ich habe Sie falsch verstanden.“
„Nein, ich denke, Sie haben das richtig verstanden.“ Sie hob ihr Cocktailglas „Ich bin Verena, aber das weißt du ja bereits.“ Zwinkernd hielt sie ihr Glas vor Kerstin. Diese nahm perplex ihr Glas und stieß an.
„Kerstin, wie du ebenfalls weißt. Und ein wenig verwirrt.“
„Wieso?“
„Na, du duzt erst Leute nach der ersten Nacht. Was soll ich denken?“
„Was könntest du denken?“
„Dass du noch etwas mit mir vorhast.“
„Stimmt.“
„Stimmt?“ Hallo? War Kerstin im falschen Film oder fantasierte sie sich gerade die Unterhaltung zurecht und in Wahrheit redeten sie über Reutlitz. So wie das derzeit wahrnahm konnte das nicht stimmen. Das war zu schön um wahr zu sein.
„Ich möchte mir von dir die Stadt zeigen lassen und dann nach Hause bringen lassen. Da bekommst du einen Kaffee und das war es.“
„Einen Kaffee?“ Kerstin konnte sich ein dreckiges Grinsen nicht verkneifen „Zu meiner Zeit hieß das anders.“
„Ich meine das so, wie ich das sage.“
„Dafür hat sich das vorher anders angehört.“
„Och, ich wollte nur mal sehen wie du reagierst wenn du in die Defensive gedrängt wirst. Schließlich wurde mir mehrmals mit auf den Weg gegeben, dass du hemmungslos baggern wirst. Da wollte ich gucken, was passiert, wenn man dich mit zweideutigen Sätzen konfrontiert. Für eine Frauenheldin, wie Jansen dich beschrieben hat, bist du leicht aus der Fassung zu bringen.“ Verena lachte. Kerstin musste ebenfalls schmunzeln. Frauenheldin? Das dachte Jansen von ihr. Nun, er hatte ihr schon weniger schmeichelhafte Titel verliehen. Außerdem freute es sie viel mehr, dass Verena anscheinend einen Humor besaß, der dem ihrem sehr nahe kam.
„Kein heißer One Night Stand?“, fragte Kerstin enttäuscht.
„Nein, nicht mit mir. Aber du darfst dir gerne eine andere dafür suchen.“
„Liegt es an mir oder ist es der falsche Zeitpunkt?“
„Eindeutig an dir.“
„Mhm, du könntest mehr Taktgefühl zeigen.“
„Wieso sollte ich dich anlügen? Solltest du dich entschließen ein Mann zu werden, dann können wir über das Thema noch mal reden. Als Frau bist für mich völlig uninteressant; zumindest was über eine Freundschaft hinausgeht.“
„Du kannst gnadenlos ehrlich sein, das gefällt mir. Was du gesagt hast allerdings weniger. Du diskriminierst mich.“
„Ich weiß, aber damit musst du leben.“
„Na, wer weiß, vielleicht kann ich dich ja überzeugen mir eine Chance zu geben.“
„Du kannst es versuchen, aber ich gebe dir keine große Chance. Frauen interessieren mich nicht.“
„Und ich hatte gehofft, du würdest meine Arbeit aufregend machen. So kleine Nummern auf der Liege, im Besprechungszimmer, in der Schleuse…“ Mal sehen wie leicht Verena aus dem Konzept zu bringen war. Kerstin hatte schließlich eine Rechnung zu begleichen.
„Nein, dafür nehme ich den Jansen, der ist ein Mann“, erwiderte Verena trocken.
„Boah, das geht zu weit. Einen Korb, okay, aber wenn du wirklich mit dem Jansen anbändelst…“ Kerstin sah Verena empört an. Sie hatte ihr doch gesagt, dass das Geschwafel, das der Jansen von sich gab, nichts als Lügen waren um sie ins Bett zu bekommen. Wie konnte Verena da…?
„Kerstin?“ Verena grinste übers ganze Gesicht. Kerstin brauchte eine Sekunde um zu verstehen, dass sie sie auf den Arm genommen hatte. Sie hatte Kerstins Versuch sie aus der Bahn zu werfen eiskalt gekontert und dafür Kerstin aus der Fassung geworfen. Und Kerstin war darauf hereingefallen. Das konnte eine interessante Zeit mit ihnen werden.
Kerstin warf ihren Kittel mit einem geübten Wurf über den Kleiderständer und schlüpfte in ihre Turnschuhe. Feierabend! Das wurde auch Zeit. Sie hatte sich heute laufend mit Jansen in den Haaren gehabt. Sie brauchten bloß ein paar Sekunden zusammen an einem Ort zu sein, dann begann einer den anderen zu ärgern. Hoffentlich lief er ihr jetzt nicht übern Weg, der würde ihr sonst die Feierabendlaune vermiesen.
Entschlossen sich nicht die Laune verderben zu lassen ging sie leise pfeifend über den Flur. Sie hatte bereits den ganzen Tag einen Ohrwurm, den ihr Kilian gestern Abend verpasst hatte. Laufend musste sie „Through the barricades“ von Spandau Ballett pfeifen oder wenn sie alleine in ihrem Arztzimmer war, passierte es, dass sie plötzlich die eine oder andere Strophe sang. Wieso war sie im Moment so anfällig für romantische Musik? Das passierte ihr doch sonst nicht. Gute Laune Musik, ja, die bekam sie öfters nicht aus dem Kopf, aber Balladen?
„Halt! Nimm mich mit!“ Verena kam aus der Umkleide heraus und rief hinter Kerstin her.
„Na gut, weil du es bist.“ Kerstin blieb grinsend stehen. Ob Verena der Grund war wieso sie diese Ballade nicht aus dem Ohr bekam? Immerhin machte Kerstins Herz jedes Mal einen kleinen Sprung wenn sie Verena sah.
„Danke, ich…“
„Einen schönen Feierabend, die Damen.“ Kerstin wollte den Drang sich umzudrehen unterdrücken, aber der Reflex ließ ihr keine Chance. Sie starrte wieder in das Gesicht von Jansen. Aus war es mit der Hoffnung, ihn heute nicht mehr zu sehen.
„Danke Hendrik.“ Verena strahlte wie eh und je.
„Gleichfalls“, murmelte Kerstin. Jansen beachtete sie gar nicht, sondern konzentrierte sich ganz auf Verena.
„Hast du heute Abend bereits etwas vor? Ich habe in zwei Stunden Feierabend, wir beide könnten…“
„Wir sind verabredet“, fiel Kerstin ihm ins Wort „Du kannst dich in aller Ruhe um deine Familie kümmern. Deine FRAU…“ Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu „…würde sich sicherlich freuen wenn du ihr mal wieder ein wenig Aufmerksamkeit schenken würdest.“ Und Kerstin würde sich noch mehr freuen wenn Jansen seine Finger von Verena lassen würde.
„Meine Frau ist im Urlaub mit den Kindern.“
„Danke Hendrik, aber Kerstin hat mich bereits eingeladen. Bei ihr Zuhause steigt heute eine Party. Aber komm doch mit.“ Kerstin fiel beinahe doppelt aus den Wolken. Was sollte das denn? Erstens fand ihres Wissens nach keine Party bei ihr statt, zumindest hatte Kilian nichts davon erwähnt, zweitens würde Jansen ganz bestimmt der letzte Mensch sein, den Kerstin auf einer Party sehen wollte. Wie konnte Verena ihn nur fragen ob er mitfeiern wollte? Kerstin warf Jansen einen vernichtenden Blick zu. Wehe er würde es wagen zuzusagen. Leider grinste Jansen bereits breit. Das verhieß nichts Gutes. Kerstin würde Verena erschlagen.
„Ich bin mir sicher, Kerstin Mitbewohner freut sich über dich. So weit ich weiß, bist du genau sein Typ und ich gehe mal davon aus, dass es dich nicht stören würde, wenn er dich ein wenig angraben würde. Ich meine, so ein kleiner Flirt unter Männer hat ja auch etwas erotisches, oder?“ Verena sah Jansen mit einem zuckersüßen Augenaufschlag an. Jansen Grinsen war von einer Sekunde zur anderen eingefallen und einem nun angeekelten Gesichtsausdruck gewichen. Dafür war Kerstins Laune ernorm gestiegen. Sie war kurz davor laut loszulachen. Alleine der Gedanke, wie Jansen von Kilian angebaggert wurde und sich voller Ekel in der Couch herumwand…würde Kerstin das live sehen, sie würde vor lachen über ihren Teppich kugeln.
„Nein danke, ich denke, das ist nichts für mich. Einen schönen Abend wünsche ich.“ Schnell sah er zu, dass er Land gewann. Kerstin sah Verena amüsiert an, die Jansen hinterher grinste.
„So was, der hat es aber eilig. Naja, gehen wir? Ich muss nicht unbedingt länger hier bleiben.“
„Dem schließe ich mich gerne an.“ Schweigend verließen sie das Gebäude und schlenderten über den Hof zur Schleuse, wo Frau Schnoor heute Dienst hatte. Kerstin konnte sich nicht daran erinnern, wann Frau Schnoor als stellvertretende Direktorin das letzte Mal an der Schleuse gesessen hatte.
„Auf Wiedersehen Frau Schnoor“, sagte Verena.
„Einen schönen Feierabend Frau Wüllner, Frau Doktor Herzog.“
„Wiedersehen Frau Schnoor. Wieso sind Sie hier?“
„Angeknackster Fuß.“ Birgit Schnoor hob ihren linken Fuß, den eine dicke Bandage zierte „Ich bin gestern umgeknickt, da hab ich mit dem Kollegen Neumeyer getauscht. Hier wird mein Fuß weniger belastet.“
„Wieso sind Sie nicht zu mir gekommen?“
„Das ist nicht so schlimm wie es aussieht. Ich denke, in ein oder zwei Tagen ist alles wieder weg. Ansonsten werde ich zu Ihnen kommen.“
„Dann gute Besserung.“ Kerstin schloss die Tür hinter sich und Verena.
„Sag mal“, begann Kerstin als sie vor Verenas Auto standen „Wie bist auf die Idee gekommen den Jansen zu einer Party einzuladen, die gar nicht stattfindet?“
„Ich wollte mal sehen ob er zusagen würde. Und dann kam mir die Idee mit einem Mitbewohner.“
„Jansen ist nicht wirklich Kilians Typ.“
„Das weiß ich nicht. Du hast mir bisher nur gesagt, dass er schwul ist. Ich habe Jansen unterstellt, dass er dieses auch weiß und dann gefiel mir der Gedanke wie Jansen guckt, wenn ich ihm vorschlage, dass er mit Kilian flirten soll. Bei Frauen lässt er nichts anbrennen, dann kann er das mal auf Männer übertragen.“
„Du spinnst“, grinste Kerstin. Aber Verenas Humor gefiel ihr.
„Naja, ich hatte auch keine größere Lust Jansen zu erklären wieso ich heute nicht mit ihm ausgehen möchte. Ich war mir sehr sicher, dass er die Einladung ablehnen würde.“
„Zum Glück. Ich meine, Jansen in meiner Wohnung“ Kerstin schüttelte sich „Schrecklicher Gedanke. Danach müsste ich alles desinfizieren oder am Besten renovieren.“
„Du hast einen Knall.“
„Ich weiß. Zuviel Medikamente im Selbstversuch getestet.“ Kerstin legte den Kopf schief und sah Verena an. Wenn sie bereits offiziell verabredet waren, konnte sie den Abend wirklich zusammen verbringen. Kerstin wollte schließlich weiterhin ihr Glück bei Verena versuchen. Von der einfachen Erklärung, Verena sei an ihr nicht interessiert, ließ sie sich nicht entmutigen.
„Was ist denn?“ Verena hatte Kerstins Blick bemerkt.
„Wann bist du bei mir?“
„Bitte?“
„Na, die Party, schon vergessen?“, grinste Kerstin.
„Du meinst die, die gar nicht stattfindet?“
„Ich meine die, die wir organisieren werden.“
„Wie willst du denn in der kurzen Zeit…?“
„Lass das mal meine Sorge sein. Wenn du in zwei Stunden da bist, dann können wir feiern.“
„Okay.“ Verena sah Kerstin skeptisch an „Ich bringe dich nach Hause und bin dann in zwei Stunden wieder da. Dann sehe ich endlich mal eure Residenz, die berühmte WG.“ Sie stiegen in Verenas Auto. Praktisch, nun musste Kerstin nicht laufen. Sie sollte Verena öfters einladen.
„Berühmte WG? Wofür sind wir denn berühmt?“
„Für die legendären Partys, die dich regelmäßig verschlafen lassen.“
„Sehr witzig.“ Kerstin zog schmollend die Unterlippe vor. Sie hatte die letzten beiden Wochen nicht verschlafen, noch eine Woche, dann hatte sie ihren persönlichen Rekord aufgestellt. Wobei sie nur das Verschlafen zählte, das sie zu spät zu den Besprechungen kommen ließ. Die anderen Male, wenn das Frühstück ausfallen musste oder sie die Hälfte Zuhause in der Hektik vergaß, die zählten nicht.
„Nicht schmollen, stell dir vor, dein Gesicht bleibt plötzlich so stehen.“
„Das sagt man zu kleinen Kindern, die Grimassen ziehen. Und das ist eine gemeine Lüge, die Gesichtszüge werden sicherlich nicht einfach so stehen bleiben. Und selbst wenn, dann fände ich ein Dauergrinsen auch nicht gerade angenehm. Stell dir vor, du bist auf einer Beerdigung und kannst nicht aufhören zu grinsen während alle um dich herum weinen. Schrecklich.“
„Auch wieder wahr.“ Verena hielt vor Kerstins Haus. Wo Kerstin wohnte, das wusste sie, nur im Haus drin war sie bisher nie gewesen.
„Okay, ich bin in zwei Stunden wieder da. Wenn das mit der Party nichts wird, dann ist es auch nicht schlimm.“
„Baby, das wird etwas, versprochen.“ Kerstin sprang aus dem Auto „Bis gleich.“
„Ciao.“ Verena fuhr lachend davon. Da war sie mal gespannt was Kerstin mit ihrem Mitbewohner nun zaubern würde. Im Zweifelsfall würden sie wohl zu dritt auf der Couch landen und alte Filme gucken. Einen entspannten Abend hätte sie nichts entgegen zu setzen, der Tag war heute stressig genug gewesen. Allerdings konnte sie beim Feiern ebenfalls gut entspannen. So oder so, es würde bestimmt ein schöner Abend werden.
Verena hatte es geschafft ihren Zeitplan einzuhalten und parkte pünktlich nach zwei Stunden wieder vor dem Haus von Kerstin. Äußerlich hatte sich hier nichts verändert. Keine große Ansammlungen von Autos, keine Menschenmassen, die herströmten. Alles war so ruhig wie sie es verlassen hatte. Es gab wohl doch keine Party. Gut dass sie sich nicht zu sehr aufgestylt hatte.
Sich auf einen ruhigen Abend freuend verließ Verena ihr Auto und ging zur Haustür. Diese war geöffnet und wurde durch ein Gummiband daran gehindert zuzufallen. Nicht gerade eine sichere Alternative zum Klingeln. Was hatte Kerstin gesagt? Sie wohnten oben? Verena sah sich kurz nach einem Lift um, aber das Haus hatte bloß drei Stockwerke und war bestimmt bereits hundertfünfzig Jahre alt, da gab es diesen Luxus nicht. Nun gut, jeder Gang macht schlank.
Beschwingt ging sie die Treppen hinauf. Keine Menschenseele war zu sehen, aber sie konnte Musik hören. Sollte das ihre Party sein? Wenn sie nicht alles täuschte, war das Barbara Streisand. War sie hier wirklich richtig?
Die Türklingel zeigte ihr, dass sie richtig war. Da stand Kerstins Nachname auf dem Schild. Verena wollte klingeln, stellte jedoch fest, dass auch diese Tür nur angelehnt war. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt.
„Junge Frau, nicht so schüchtern, kommen Se rein, dann können Se rausgucken“ Ein junger Mann zog Verena in die Wohnung, die bei diesem überfallähnlichen Angriff beinahe das Gleichgewicht verloren hatte.
„Ähm…ja…hallo…ich bin…“
„Die bezaubernde Verena, ich weiß. Hi, ich bin Kilian. Cocktail?“
„Ja, danke…woher…?“ Kilian zog Verena weiter in die Wohnung. Und tatsächlich, es gab eine Party. Kilian, der Verena weiterhin an der Hand hielt, zog sie zu einer Bar, wo fünf große Behälter mit bunten Flüssigkeiten standen, die automatisch verrührt wurden.
„Was darf es denn sein? Swimmingpool? Sex on the beach? Cosmopolitan? Tequila Sunrise? Tom Collins?“
„Tequila Sunrise, bitte. Aber nicht eine so starke Mischung.“
„Herzchen, die Mischungen sind bereits gemacht.“ Er nahm ein Glas und ließ es mit dem Cocktail aus dem Behälter vollaufen.
„Danke. Wo ist denn…?“
„Dort!“ Kilian zeigte hinter Verena. „Kerstin ist keine fünf Meter hinter dir.“
„Woher weißt du…?“
„Wen solltest du sonst suchen? Und werde mal locker, hier beißt dich keiner…außer Kerstin vielleicht, für die kann ich nicht garantieren, aber mit der wirst du ja fertig, oder?“ Kilian grinste breit.
„Ja.“ Verena musste lachen. Sie war es nicht gewohnt, dass wenn sie neu zu einer Party kam, sie sofort so umsorgt wurde.
„Hi.“ Kerstin gesellte sich zu ihnen und nahm sich ebenfalls ein Glas. Suchend fuhr sie mit dem Finger vor den Cocktails herum um dann den ganz links zu nehmen.
„Ich trinke sie einfach alle. Kilian, hast du meine Kollegin nett empfangen?“
„Natürlich. Einer muss das schließlich machen, du warst ja nicht da. Wehe dir, du hältst mir noch einmal vor, ich würde Ewigkeiten brauchen um mich für ein Outfit zu entscheiden. In der Zeit wo du Jeans und T-Shirt angezogen hast, hab ich eine Party organisiert und mich hergerichtet. Frauen.“
„Ich war bereits fertig, aber dann rief meine Mutter an. Und du weißt wie sie ist, wenn sie einmal anfängt zu reden, dann gibt es kein Ende mehr.“ Kerstin wandte sich an Verena „Tut mir leid, dass du ausgerechnet Kilian in die Arme gelaufen bist. Ich hatte auf eine richtige Empfangsdame gehofft und nicht diese Tucke.“
„Püff, du bist ja nur neidisch weil mir deine Sachen besser stehen als dir.“ Kilian nahm sich ein Glas und stolzierte davon.
„Er war wirklich nett.“
„Das würde ich nie bezweifeln“, lachte Kerstin und sah Kilian nach„Und er ist nicht wirklich sauer, das ist ein ganz normaler Umgangston zwischen uns. Wir lieben uns eben.“ Kerstin zwinkerte.
„Aha.“ Verena sah sich um. Nun kam sie mal dazu ihre Umwelt wahrzunehmen. Sie befanden sich in einem großen Raum, der sie stark an eine Reproduktion der Diskotheken der 70er Jahre erinnerte. Überall waren alte Möbel in quietschbunten Farben zu sehen, alte Film- und Musikplakate schmückten die Wände, eine Reihe Sessel, die Verena sehr an das Raumschiff Orion erinnerten, standen in einem Halbkreis. In den zwei Stunden, die Kerstin und Kilian Zeit gehabt hatten die Party zu organisieren, hatten sie bereits rund zwei Dutzend Leute herbekommen, einen großen Tisch mit Häppchen aufgestellt, die Bar mit den Cocktails und weiteren Getränken aufgebaut und eine alte Diskolampe unter die Decke gehangen, die ihre bunten Lichter in alle Richtungen verteilte.
„Wow, ich hatte mich schon auf einen Couchabend eingestellt, dass ihr es schafft, in zwei Stunden eine Party zu organisieren hätte ich nie gedacht. Wo sind all diese Leute her?“
„Das ist ein gutgehütetes WG Geheimnis, ich verrate es dir, wenn du dich dem würdig erwiesen hast.“
„Und wie erweißt man sich dem würdig? Mit wem muss ich ins Bett?“
„Wenn du so fragst, mit mir. Nein, wir haben einfach ein paar Leute angerufen und die haben ihrerseits ein paar Leute angerufen und schon standen die ersten vor der Tür. Da hier laufend spontane Partys steigen, haben wir immer das Nötigste im Haus. Die Bar steht auch an normalen Arbeitstagen, die Zutaten für die Cocktails lagern im Keller, das Knabberzeug im Schrank, die Häppchen sind vom Partyservice unseres Vertrauens. Und die Wohnung sieht immer so aus. Kilian mag es…außergewöhnlich…bunt…ein wenig schräg und ganz viel Kitsch aus den 70er Jahren. Wie man an seinem Outfit erkennen kann ist sein ganzes Leben ein Revival.“
„Und du fühlst dich wohl?“ Verena sah zweifelnd zwischen dem schrägen Kilian und der normalen Kerstin hin und her.
„Ja, ich finde, es ist etwas anderes. Diese gewöhnlichen Wohnungen findest du überall, unsere WG ist einzigartig. Und so lange er nicht anfängt meinen Kleiderschrank mit seinen Klamotten auszustatten, kann es so bleiben. Mir persönlich gefallen die 80er Jahre besser, aber einen so großen Unterschied sehe ich zwischen den beiden Jahrzehnten nicht. Die Geschmäcker waren in beiden gewöhnungsbedürftig. Ich denke an diese schrecklichen Leggins oder die Haare der Frauen. Manche sahen aus als wenn man sie erst rückwärts durch einen Farbklecks gezogen hätte und sie anschließend kopfüber im Kettenkarussell getrocknet hätte.“ Ein neuer Schwall Menschen kam ins Wohnzimmer. Zu Verenas Überraschung sahen sie völlig normal aus, keine ausgefallenen Outfits, sondern Jeans und T-Shirt.
„Das ist die Partygemeinschaft von Kilians Freund. Wie du unschwer erkennen kannst eine völlig andere Welt als die von Kilian. Seriöse Geschäftsleute und Büroarbeiter treffen auf Künstlergemeinschaft von Berlin. Oder anders gesagt: willkommen an dem Ort, an dem der Bankier sich mit dem Musicaldarsteller trifft.“
„Zu welcher Gruppe zählen denn Beamtinnen des Strafvollzuges?“
„Die wunderbar normale Minderheit.“ Kerstin drückte Verena einen neuen Cocktail in die Hand.
„Wenn ich den trinke wird es ein Taxi werden, dass mich nach Hause bringen muss, denn so wie die schmecken, habt ihr nicht mit dem Alkohol gegeizt.“
„Hat hier jemand ein Taxi bestellt?“ Ein Kopf schob sich zwischen Kerstin und Verena. Verena wich erschrocken einen Schritt zurück.
„Ich war es, ich habe es bestellt, es war ganz alleine meine Idee“, lachte Kerstin „Verena, das ist Wuschel. Nimm ihn nicht zu ernst, er ist ein Filmjunkie und wird, wann immer er mit dir redet, in Filmzitaten sprechen.“
„Are you still talking to me?“
„Ja, genau dich meine ich.“
„Hallo.“ Verena betrachtete den Mann interessiert, der sich in ein enges Lederkostüm gezwängt hatte. Sie war sich sicher, sie würde in diesem Outfit nicht länger als eine halbe Stunde überleben. Wie sollte man da atmen? Und wie lange brauchte er bis er da wieder raus war?
„Mein Name ist Wuschel, der Wuschel.“ Er verbeugte sich vor Verena.
„Den Namen hat er wegen seiner unübersehbaren Haarpracht.“
„Das dachte ich mir.“
„Spotte nicht über mich, ich weiß sehr wohl wofür du gekommen bist. Und du weißt sehr wohl dass ich sie habe. Nimm sie dir wenn du kannst, aber spotte nicht über mich.“
„Majestät, in eurem ganzen Schloss, in eurem ganzen Reich gibt es nichts was ich begehre.“
„Ich hoffe, ihr sprecht über mich. Dass du mich haben willst.“
„Nein, wir sprechen von den Einhörnern. Ich habe diesen Film so oft gesehen, ich würde jedes Zitat erkennen. Dieser Film gehört jahrelang zu meinem Weihnachten dazu. Ein grandioser Film, eine ergreifende Filmmusik und ein Buch, das mich gefesselt hat.“
„Wuschel, wir brauchen dich. Hier verdreht einer Zitate“, rief jemand. Wuschel verbeugte sich erneut und verschwand.
„Schauspieler.“
„Ich glaube, hier werde ich heute Abend mehr seltsame Leute treffen als in meinem gesamten Leben zuvor.“ Verena sah sich erneut um. So etwas hatte sie auch auf ihren Studienfeten nicht erlebt. Und sie war sich damals sicher gewesen, schräge als diese Feten konnten keine Feten werden. Nun wurde sie ein besseren belehrt.
„Puh, ich hätte die letzten drei Cocktails nicht trinken dürfen“, jammerte Verena „Jetzt darf ich nicht nur nicht mehr fahren, jetzt kann ich nicht mehr fahren. Und dabei hasse ich es nachts alleine Taxi zu fahren.“
„Dann bleib hier“, meinte Kerstin.
„Hier?“ Verena sah sich im Wohnzimmer um. Sie bezweifelte, dass diese Party vor dem Morgengrauen ein Ende finden würde. Und so wie es aussah, würden mehrere Leute diesen Raum als ihren Schlafplatz ansehen.
„Nicht im Wohnzimmer, Dummerchen, bei mir. Mein Bett ist groß genug für zwei.“
„Netter Versuch“, grinste Verena.
„Ich meine es ernst. Vergiss das Taxi, bleib hier.“
„Aber du hast mir nicht die ganzen Cocktails in die Hand gedrückt um mich zu verführen wenn ich wehrlos in deinem Bett liege, oder?“
„Ich gebe zu, ich finde dich tierisch scharf und ich würde dich – bei Interesse deinerseits – nicht von der Bettkante schupsen, aber ich habe auch einen Rest an Anstand und würde bestimmt nicht über dich herfallen wenn ich dich einlade hier zu bleiben um das Taxi zu sparen. So viel Benehmen darfst du mir zutrauen.“ Kerstin sah Verena ernst an. Natürlich träumte sie seit Tagen davon ihre Kollegin in ihrem Bett zu haben, natürlich war Verena eine Traumfrau, natürlich wäre dies eine einmalige Gelegenheit für Kerstin, aber nichtsdestotrotz würde Kerstin nichts machen, was Verena nicht wollte. Und in ihrem derzeitigen Zustand machte sie keinen willenlosen Eindruck. Sie war eben nur nicht mehr fahrtauglich.
„Diese Worte kann ich komplett unterstreichen. Egal was für eine Schürzenjägerin Kerstin sein mag, sie besitzt den Anstand ihre Opfer nicht zu überfallen.“ Ein großer, dunkelhaariger Mann gesellte sich zu ihnen. Verena würde ihn ohne weitere Zwischenfragen als erfolgreichen Filmschauspieler durchgehen lassen. Und als ihren Traummann.
„Opfer? Danke Pat. Dafür schuldest du uns zwei Getränke. Was darf es sein, Verena?“
„Zur Abwechselung mal ein Wasser, bitte.“
„Du willst die komplette Kontrolle haben wenn du bei Kerstin schläft, oder? Kann ich verstehen.“
„Nun hau aber ab.“ Kerstin verscheuchte Patrick mit fuchtelnden Armen. Wie stand sie denn da? Als wenn sie ein frauenmordendes Biest wäre, das jede Nacht eine andere flachlegen würde…für so etwas fehlte ihr das Angebot.
„Wer war das? Berühmter Schauspieler?“
„Geschäftsmann.“
„Auch nicht übel. Wenn wir in Reutlitz so einen als Schließer herumlaufen hätten, ich würde mich sofort für alle Doppelschichten eintragen lassen. Und ihm persönlich jedem Winkel vorstellen, wenn es sein müsste, jeden Kiesel auf dem Hof.“
„Und dann, in einer gemeinsamen Nachtschicht, ihr habt gerade Ruhe in allen Zellen geschaffen, sitzt im Aquarium, trinkt einen Kaffee zusammen, redet über euer Wochenende und die Pläne für das nächste Wochenende, kommen die magischen Worte…“
„Willst du mich heiraten?“, seufzte Verena.
„Ich bin schwul!“
„Was?“ Irritiert sah Verena Kerstin an.
„Die magischen Worte sind nicht ein Heiratsantrag sondern die Information, dass er schwul ist. Zumindest wenn du deine Geschichte mit Patrick träumst. Er ist Kilians Freund. Sorry Süße, aber den musst du dir abschminken.“
„War ja klar. Bin ich eigentlich die einzigste Hete hier?“
„Nein, aber in der absoluten Minderheit.“
„Bis dich die gute Kerstin umgedreht hat.“ Eine junge Frau, die bereits sichtlich angetrunken war, wankte zwischen die beiden. Kerstin warf ihr einen ärgerlichen Blick zu.
„Flora, lass das.“
„Wieso? Ist doch so. Als wenn du etwas anderes im Sinn hättest als die Schnitte ins Bett zu bekommen. So wie du das mit mir und Hunderten vor und nach mir ebenso gemacht hast. Die gute Kerstin hat nämlich jedes Wochenende eine Neue, musst du wissen, Schätzchen.“
„Du hast zuviel getrunken.“
„Genau, versuche dich herauszureden, aber deine süße Kleine wird schon merken, was für ein Spiel du mit ihr abziehst. Dann wird es zwar zu spät sein, aber sie bekommt immer das, was sie will. Notfalls mit einer gehörigen Mengen Alk. Glaub mir, irgendwann hast du so viel getrunken, dann „vergisst“ du, dass du eigentlich hetero bist und landest in ihrem Bett. Und ab dem nächsten Morgen darfst du dich dann als Geliebte Nummer irgendwas betrachten und aus ihrem Leben verschwinden. Hat sie dir ihr Bett schon angeboten? Das macht sie immer, so fängt das Spiel an.“
„Würdest du uns jetzt entschuldigen?“
„Wieso? Hast du Angst, dass dein neues Opfer es sich anders überlegt und du erst eine Neue aufreißen musst?“
„Das ist purer Blödsinn. Ich…“
„Verena, darf ich um einen tanz bitten?“ Patrick stand plötzlich zwischen den drei Frauen.
„Gerne.“ Verena sah verwirrt zwischen Kerstin und Flora hin und her. Was war das für ein seltsames Schauspiel? Patrick führte Verena in die Mitte des Wohnzimmers wo die offizielle Tanzfläche war.
„Was genau läuft da denn für ein Film ab?“
„Verlassene, eifersüchtige Ex versucht sich für die Trennung zu revanchieren. Flora und Kerstin waren letztes Jahr zusammen. Nicht lange, ein paar Wochen bloß, dann zerbrach die Beziehung wegen der rasenden Eifersucht von Flora. Kerstin ist nicht der Typ Frau, die sich jeden Abend brav neben ihre Freundin stellt und bloß sie anhimmelt, sie braucht eine lange Leine. Flora hatte dafür kein Verständnis, versuchte sie einzuengen, an sich zu binden. Versteh das nicht falsch, Kerstin ist treu, aber sie braucht ihre Freiheiten. Wenn man mit ihr raus geht, dann will sie auch mal mit anderen Leuten reden oder mit jemand anderem tanzen als mit ihrer Freundin. Deswegen betrügt sie sie nicht, aber Flora fühlte sich jedes Mal betrogen wenn Kerstin nur mit einer anderen sprach. Deswegen waren beide nicht lange zusammen und Flora…Flora trägt das Kerstin nach. Und da ihr beiden den ganzen Abend zusammen verbracht habt, sieht sie dich als neue Konkurrentin im Kampf um Kerstin. Bisher versucht sie vergeblich Kerstin von einer zweiten Chance zu überzeugen.“
„Ich bin wirklich keine Konkurrenz. Sollte ich Kerstins Angebot hier zu schlafen annehmen, dann werde ich bestimmt nichts mit ihr anfangen. So betrunken kann ich gar nicht sein.“
„Und Kerstin würde nicht versuchen dich zu irgendwas zu zwingen. Wenn sie dir sagt, du kannst hier schlafen, dann meint sie das so. Wenn du es wünschen würdest, würde sie auch auf dem Fußboden schlafen.“
„So schlimm bin ich auch nicht“, lachte Verena „Ich habe kein Problem damit mit Kerstin ein Bett zu teilen, ich mag Kerstin, nur eben wie gesagt: rein platonisch. Aber ich denke, das hat sie auch verstanden.“
„Verstanden und akzeptiert ja, aber sie wird dich trotzdem regelmäßig versuchen davon zu überzeugen, lieber mit ihr zusammen zu sein als mit einem Mann. Diese Überzeugungsarbeiten werden allerdings eher dann stattfinden wenn ihr zusammen aus seid oder in einer kleinen Anmerkung während der Arbeit.“
„Oh, da habe ich bereits einige von erhalten und dankend abgelehnt. Ich kenne Männer, die sind bedeutend penetranter.“
„Dann weißt du ja, wie man damit umgehen kann. Ich kann dich gut verstehen, ich finde auch, dass die Frauen aufdringlich sind.“
„Auch, Telefonnummern bekommen?“
„Diverse.“
„Dann, auf das gemeinsame Leid.“
„Geteiltes Leid ist halbes Leid.“ Patrick stieß mit Verena an. Ja, sie hatten etwas gemein.
Die folgende Geschichte hat mit dem Ablauf von Hinter Gittern nichts zu tun. Nur die Personen stammen zum größten Teil aus der Serie, wurden aber vom Charakter und anderen Merkmalen her ein wenig verändert. Und dann gibt es ein Wiedersehen mit bekannten Figuren aus meinen früheren Geschichten.
Teil 1
Kerstin Herzogs Tag hätte besser anfangen können. Sie hatte es mal wieder versäumt den Wecker am Abend zu stellen und war mal wieder zu spät dran. Hätte ihr Mitbewohner Kilian sie nicht geweckt, würde sie wahrscheinlich immer noch in ihren tiefen Träumen liegen. Allerdings hatten ihr diese Träume besser gefallen als die Realität. In der Nacht war sie die „Dancing Queen“ gewesen, hatte am Broadway alle Kritiker begeistert und für ein ausverkauftes Schauspielhaus für die nächsten Jahre gesorgt. Alle großen Showstars rissen sich darum mit ihr auf der Bühne zu stehen, und sie wurde mit Einladungen zu wichtigen Premierenfeiern und High Society Partys überhäuft. Die Herzen aller Frauen lagen ihr zu Füßen. Frauen, ja die wartete zwar im realen Leben auch auf sie, aber nicht so, wie es Kerstin gerne hätte. Denn sie war keine erfolgreiche und weltberühmte Tänzerin, sie war eine Ärztin in einem Frauengefängnis. Ärztin in Reutlitz. Wie hatte sie sich nur zu diesem Job breitschlagen lassen? Den ganzen Tag mit kriminellen Frauen und Kollegen, die ihre Machtgelüste auslebten. Doch der Arbeitsmarkt war - wie seit langem - nicht gerade ein Wunschkonzert und sie hatte keine Auswahl gehabt. Naja, wenigstens hatte sie die Kontrolle über alles, was in den medizinischen Bereich fiel. Sie war ein klein wenig die Chefärztin. Chefärztin der Uniklinik wäre ihr zwar lieber gewesen, doch wie gesagt, man muss nehmen was man kriegen kann. Kerstin parkte ihren Wagen auf dem Parkplatz für die Angestellten von Reutlitz und ging zur Schleuse. Der Kollege Neumeyer ließ sie herein und grinste sie dreckig an. Er versuchte bei allen Frauen zu landen. Hatte er immer noch nicht mitbekommen, dass Kerstin nicht auf Männer stand? Außerdem freute er sich, dass Kerstin mal wieder zu spät war. Sie konnte sich schon denken, dass Doktor Strauß, seines Zeichens Direktor in Reutlitz, wieder seine obligatorische Frage gestellt hatte. „Wo ist eigentlich Frau Herzog?“ Diese Frage hatte er bereits mehrmals gestellt. Kerstin hatte nämlich ein Talent dazu die Dienstbesprechungen zu vergessen, verdrängen oder, wie heute, zu verschlafen. Meistens langweilte sie sich eh oder regte sich auf, wenn die Kollegen von ihr erwarteten, die Frauen, die Probleme machten, mit Spritzen und Medikamenten ruhig zu stellen. Kerstin sah auf ihre Uhr. 15 Minuten zu spät, kein Frühstück, ungeduscht und mit einer Laune, die jedem Griesgram Ehre gemacht hätte. Das konnte ein schöner Tag werden. Wie gut, dass bald Wochenende war, da würde sie durch die Clubs in Berlin ziehen und den Ärger der Woche wegfeiern. Kerstin klopfte an und betrat das Besprechungszimmer, das gleichzeitig als Pausenraum fungierte.
„Morgen. Entschuldigung, ich bin im Stadtverkehr hängen geblieben“, log sie spontan und schenkte ihren Kollegen ein bezauberndes Lächeln. Natürlich war sie die einzigste vom Personal, die zu spät war. Alles andere wäre zu schön gewesen.
„Guten Morgen Frau Herzog.“ Doktor Strauß schien immun gegen ihr Lächeln zu sein. „Setzen Sie sich, die nächsten Themen gehen Sie auch was an.“ Kerstin ließ sich auf dem letzten freien Stuhl fallen und unterdrückte ein Gähnen. Dieser Raum sollte dringend aufgepeppt werden. Sie sollten Kilian das überlassen, der würde aus dem grau-grünen Etwas einen gemütlichen, freundlichen Rum zaubern.
„Wie Sie wissen wird am Anfangt des nächstens Monats eine neue Kollegin ihren Dienst hier antreten. Sie wird dafür sorgen, dass die Frauen ihren Schulabschluss nachholen können oder mit dem Studium anfangen.“ Manchmal machte die Stimme von Doktor Strauß Kerstin noch müder.
„Was sind wir? Eine Bildungseinrichtung?“, fragte Trude Schiller. Kerstin war zwar wenig begeistert von den Ideen, die Doktor Strauß ihnen vortrug, aber sie waren ihr lieber als Trude Schiller. Diese Frau konnte Kerstin auf dem Tod nicht ausstehen. So gesehen war ihr alles lieber als Trude Schiller. Wieso hatte Hubert Schiller damals diese Drachen geheiratet statt Frau Mohr? Kerstin wäre beinahe vom Dampfer gekippt, als sie das auf dem letzten Betriebsausflug erfahren hatte.
„Das sind Integrationsmaßnahmen, Frau Schiller. Frau Doktor Kaltenbach möchte aus Reutlitz ein Modelprojekt machen. Die Frauen sollen besser auf ihre Entlassung vorbereitet werden. Das wird die Zahl der Rückfälle nach unten korrigieren und das sollte in dem Interesse von jedem von Ihnen sein.“
„Und als nächstes bieten wir Gymnastik und rhythmisches Tanzen an, weil Sport das Aggressionspotential vermindert“, schlug Hendrik Jansen in die gleiche Schiene wie Trude Schiller. Die beiden waren sich auch sehr ähnlich. Vor allem was das Unsympathisch sein anging, lagen sie auf einer Wellenlänge.
„Und dann werden wir irgendwann zu einem Sanatorium, in dem die Frauen alle Vorteile habe und wir sehen können, wie wir einen ordentlichen Vollzug auf die Reihe bekommen und unserer Autorität wahren.“
„Hendrik hat Recht“, unterstützte Peter Kittler ihn „Wir sind ein Gefängnis keine Vergnügungsanstalt“ Damit wären die drei Musketiere komplett. Wie gut dass Kerstin zu müde war um sich über sie aufzuregen.
„Aber es ist bewiesen, dass gut vorbereitete Frauen weniger rückfällig werden wie unvorbereitete. Nehmen wir die Wünsche. Wenn die etwas Ordentliches gelernt hätte, dann hätten wir die jetzt nicht wieder auf Station B“, unterstützte Birgit Schnoor die Pläne von Doktor Strauß.
„Einmal Knacki immer Knacki“, grummelte Trude Schiller vor sich hin. Nach diesem Schema gesehen, konnte Kerstin sich gut vorstellen was Trude Schiller in ihren früheren Leben gewesen war. Eine Mischung aus Burgdrachen und Pestepidemie.
„Schluss jetzt“, beendete Doktor Strauß die Diskussion „Wir werden dieses Modell durchziehen. Dafür stellt uns die Justizverwaltung auch mehr Personal zur Verfügung. Und es kann nicht schaden wenn Reutlitz ausnahmsweise mal mit positiven Schlagzeilen von sich reden macht. Das war’s, zurück an die Arbeit“ Er stand auf und verließ den Raum. Trude Schiller, Hendrik Jansen und Peter Kittler begangen eine wilde Diskussion über die Überflüssigkeit dieses Projektes. Kerstin schnappte sich ihre Tasche und ging zur Krankenstation. Mal sehen, was sie hier alles erwartete. Wie viele Opfer von Schlägereien sie heute zusammenflicken musste. Sie verstand nicht, wieso erwachsene Menschen sich so daneben benehmen konnten. Als wenn es ihnen etwas bringen würde, andere Frauen zusammenzuschlagen. Sie kamen entweder in den Bunker, auf Station „C“ in den Hochsicherheitstrakt oder durften ein paar Jahre länger einsitzen. Alles keine Argumente für Kerstin jemanden zusammenzuschlagen.
Zu Kerstins Überraschung war es ruhig geblieben. Keine neuen Prellungen, keine neuen Wunden, die genäht, geklebt oder geklammert werden mussten. Sie konnte sich in aller Ruhe den Akten und den vier Patienten auf der Krankenstation widmen. Der erste Lichtblick des Tages. Akten widersprachen nicht, machten keinen Krach und wenn man sie über hatte, legte man sie einfach weg. Sie wünschte sich, manche ihrer Kollegen wären mehr wie Akten.
„Guten Morgen, mein weißer Engel.“ Kerstin sah auf und lächelte. Da war der zweite Lichtblick. Vielleicht konnte der Tag doch schön werden.
„Morgen. Wo warst du heute Morgen?“
„Es gab einen Zwischenfall auf der „C“, da musste ich eingreifen. Eine der Frauen hat versucht einen Notfall zu simulieren und wollte dann türmen. Ziemlich blöd, wenn man von Türen umgeben ist, die sich nur mit Chipkarte öffnen lassen.“
„Und du hast sie wieder eingefangen?“ Kerstin deutete Verena Wüllner sich zu setzen. Verena war wirklich ihr Lichtblick und das jeden Tag. Wenn sie nicht Kerstins Kollegin wäre, dann hätte Kerstin wahrscheinlich schon mehrmals gekündigt. Doch Verena schaffte es immer wieder Kerstin davon zu überzeugen, dass sie lieber in Reutlitz bleiben sollte statt arbeitslos zu sein oder Ärztin unter einem größenwahnsinnigen Chef zu werden. Hier war sie die Chefin und das war viel wert. Und wenn alle Stricke rissen, hatten sie sich.
„Nein, ich habe ihr klar gemacht, dass sie eh nicht weg kann. Sie wollte mich zwar vom Gegenteil überzeugen, doch gegen eine Schließerin mit Kickboxerfahrung möchte kaum eine Frau antreten. Wann kommst du endlich einmal mit zum Training?“
„Gar nicht, das ist nichts für mich. Wenn du tanzen gesagt hättest, aber dieser Kampfsport. Nein. Außerdem warst du ewig nicht mehr da, mein Pseudo Bruce Lee.“ Verena lachte. Sie nahm Kerstins Hand.
„Was ist los? Schlecht geschlafen?“
„Einsam geschlafen. Wo warst du?“
„Wie jede Nacht in meinem Bett.“ Kerstin hatte so oft versucht Verena davon zu überzeugen, ihr eigenes Bett zu verlassen und in Kerstins zu kommen, das konnte keine der beiden mehr zählen. Und jedes Mal hatte Verena abgelehnt. Man sollte meinen, Kerstin würde es mit der Zeit aufgeben, aber das wäre nicht ihr Stil. Vielleicht überlegte es sich Verena eines Tages anders, dann wollte Kerstin gefragt haben.
„Was hat dieser Typ, was ich nicht habe?“, fragte Kerstin verzweifelt. Intelligenz konnte es nicht sein. Verenas letzter Freund war dumm wie Brot gewesen. Und hatte auch so ausgesehen. Aber Kerstin verstand sowieso nie, was Frauen an Männern fanden.
„Er ist männlich und du nicht.“
„Das ist Diskriminierung.“
„Nein, das ist die Wahrheit. Genauso gut könnte ich dich fragen, wieso du in all den Jahren nie etwas mit Kilian angefangen hast.“
„Er schleppt immer Kerle an. Wahrscheinlich würdet ihr beide besser harmonieren. Männer – sharing. Eine Nacht hat er ihn, eine Nacht du.“
„Du hast verschlafen, oder?“
„Ja“, gab Kerstin zerknirscht zu. Wieso konnte Verena ihr das immer ansehen? Wie machte sie das? Sie musste Kerstin nur ansehen und schon konnte sie feststellen, ob sie verschlafen hatte, pünktlich gewesen war oder ob sie die ganze Nacht über gefeiert hatte. Sie war ein offenes Buch für Verena.
„Was war es diesmal?“
„Ich hab vergessen den Wecker zu stellen und Kilian hat mich zu spät geweckt. Er dachte, ich hätte Besuch.“
„Ein sehr netter, höflicher junger Mann.“
„Ich hatte seit Monaten keinen Besuch mehr über Nacht. Ich arbeite zuviel und am falschen Ort. Immer, wenn ich sage, ich bin Ärztin im Gefängnis, heißt es ein paar Minuten später: Goodbye und adios. Wäre ich Chefärztin in einer Klinik, wäre das bestimmt anders. Dann könnte ich wahrscheinlich vor Angeboten meinen Briefkasten nicht wiederfinden.“
„Och, ich kenne ein oder zwei Frauen hier, die würden dich nicht von der Bettkante stoßen“, meinte Verena grinsend.
„Super, was soll ich mit Knackis? Das ist a) gegen die Vorschriften und b) nicht die Art von Beziehung, die ich mir vorstelle. Auf Heimlichkeiten und Versteckspiele habe ich keine Lust. Das reicht mir in anderen Bereichen.“
„Wir beide gehen am Wochenende raus, oder?“
„Ja, bitte. Ich brauche dringend ein Erfolgserlebnis. Aber bei meinem Glück wirst du alle Angebote bekommen und ich werde die Nachtschattenschnepfe sein.“ Kerstin verzog das Gesicht. Verena stand auf und ging um den Schreibtisch herum.
„Du bist die Schönste aller Nachtschattenschnepfen.“ Sie umarmte Kerstin. Kerstin atmete den Duft des Parfums ein. Es musste ein neues sein, das hatte sie vorher nie gerochen. Meistens bedeutete neues Parfum gleich neuer Mann in Sicht. Wieso konnte Kerstin nicht der Grund für das neue Parfum sein? Verena wäre genau ihr Typ. Groß, schlank, blond, humorvoll und die wunderbarsten blauen Augen, die Kerstin jemals gesehen hatte. Kein Wunder, dass jedes Wochenende die Männer Schlange standen um mit Verena zu tanzen, ihr ein Getränk auszugeben oder einfach nur mit ihr zu reden. Wenn Verena wollte, war sie nie alleine, aber sie war sehr anspruchsvoll, was ihre männliche Begleitung anging und bisher hatte Kerstin nur einen Mann gesehen, der es geschafft hatte, Verena für länger als einen Abend zu unterhalten. Der Typ war ein erfolgreicher Filmschauspieler und selber so begehrt wie Verena. Im Gegensatz zu ihr würde er wahrscheinlich kein Angebot ablehnen was letztendlich der Trennungsgrund gewesen war. Der Idiot war selber Schuld. Er hatte eine Traumfrau und musste mit der nächstbesten Schlampe ins Bett springen. Männer waren seltsame Geschöpfe.
„Mein Güte, Spritzenfrau, du hast einen Gesichtsausdruck wie Kittler wenn die Preise für Reis steigen.“ Walter sah Kerstin grinsend an „Was ist los? Musst du mal wieder rangenommen werden?“
„Frau Walter kümmern Sie sich bitte um Ihre eigenen Angelegenheiten. Danke.“ Kerstin nahm ihre Arzttasche und verließ den Aufenthaltsraum. Ein weiteres blaues Auge, das sie verarztet hatte.
„Wenn du willst, ich habe heute Abend nichts vor, da könnten wir beide uns zu einem Dinner treffen. Ich garantiere dir, den Abend würdest du nie vergessen“, versuchte Walter weiter Kerstin zu provozieren. Walter war die Chefin der „B“ und hatte – seitdem sie erfahren hatte, dass Kerstin Frauen gegenüber nicht abgeneigt war – mehr als nur ein Auge auf sie geworfen. Kerstin atmete ruhig aus und zählte still bis fünf. Ganz ruhig bleiben. Keine Angriffsfläche bieten. Lächeln.
„Frau Walter, bevor ich einen Abend mit Ihnen verbringe, bleibe ich lieber alleine Zuhause. Die Gesellschaft meines Haustieres ist mir angenehmer als Ihre.“ Die anderen lachten und pfiffen um Walter anzufeuern.
„Du hast keine Ahnung, was dir entgeht. Oder bist du einfach schüchtern? Ich meine, ich könnte…“ Walter wollte nach Kerstins Schulter fassen, wurde jedoch von einer Hand, die sich plötzlich von rechts zwischen sie schob, gehindert.
„Frau Walter, schön Sie zu sehen. Haben Sie zuviel Energie? Dann wartet der Hof auf sie. Da ist einiges an Unkraut wegzumachen.“ Verena lächelte Walter zuckersüß an. Jede andere Schluse hätte von Walter dafür einen wiederbekommen, doch bei Verena war Walter butterweich.
„Nein Frau Wüllner, ich wollte Frau Herzog nur nett entgegen kommen.“
„Frau DOKTOR Herzog hat Ihnen bereits deutlich gemacht, dass sie kein Interesse an Ihnen hat.“
„Bevor sie einsam Zuhause sitzt.“
„Wird sie nicht. Zu Ihrer Information, ich werde den Abend mit Frau Doktor Herzog verbringen. Kino und Dinner for two im Kerzenschein. Sie sehen, Ihre Hilfe ist nicht nötig.“ Verena zwinkerte Kerstin zu. Diese hatte von den Abendplänen nichts gewusst, würde aber sicherlich nicht widersprechen. Sie würde nie auf die Idee kommen Verena abzusagen. Vor allem hatte sie wirklich nicht mehr vor als mit ihrem Kater Krümel auf der Couch zu sitzen und alte Filme zu gucken.
„Wenn ich mir auch einen weißen Kittel anziehe, gehen Sie dann mit mir essen?“, fragte Walter.
„Nein, ganz sicher nicht. Wie Sie selber wissen, würde das gegen die Strafvollzugsordnung verstoßen und das möchten wir nicht, oder? Außerdem sind Sie nicht mein Typ.“
„Was ist denn ihr Typ?“
„James Bond, ohne Machoallüren und ohne Killeraufträge. Und das kann ich an Ihnen in keiner Weise feststellen. Sie versagen schon bei den guten Manieren.“ Verena drehte sich um und ließ Walter stehen. Kerstin musste grinsen.
„Soso, James Bond“, meinte sie zu Verena als sie gemeinsam den Flur entlang gingen. „Interessant. Welcher von denen?“
„Da es bisher keinen Bond gab, der nicht wahllos Frauen flachgelegt hat, keiner von denen. Mein James Bond muss erst noch erfunden werden.“
„Lass mich dein Bond sein.“
„Du bist meine M. Ist das mit dem Essen heute Abend okay?“
„Klar. Wenn du willst, können wir das bei mir machen. Kilian ist weg und Krümel würde sich über deine Anwesenheit freuen.“
„Gut, dann bin ich um halb acht bei dir. Wenn du Hähnchenfleisch anbrätst, dann bringe ich Reis und Gemüse mit.“
„Lady, wir haben ein Date.“
„Uh, dann werde ich pünktlich sein.“ Kerstin grinste. Das hieß, Verena würde mindestens eine Viertelstunde zu spät sein. Zumindest bedeutete Pünktlichkeit das bei ihr. Kerstin war es recht, dann konnte sie sich vorher duschen und zurecht machen. Man sollte nichts unversucht lassen. Und mit dem richtigen Wein konnte sie vielleicht das Herz ihrer Freundin und Kollegin erobern.
„Du hattest Probleme mit der Walter?“ Hendrik Jansen hatte es für nötig gehalten Kerstin einen Besuch kurz vor Feierabend abzustatten. Das gehörte zu den Teilen des Tages, auf die Kerstin verzichten konnte.
„Sie kapiert einfach nicht, dass ich kein Interesse an ihr habe.“ Kerstin hatte keine Lust mit Hendrik Jansen darüber zu reden.
„Du hättest nie sagen sollen dass du…na ja, du weißt schon…“
„Dass ich lesbisch bin? Ich habe da kein Problem mit. Und wozu es verheimlichen?“
„Die Frauen könnten das gegen dich ausnutzen.“
„Wenn es dich beruhigt, keine der Frauen interessiert mich nur im Geringsten.“
„Ich wäre mir nicht sicher, ob man dir das glauben würde wenn es hart auf hart kommt.“
„Genauso können sie dir unterstellen, du würdest etwas mit den Frauen anfangen“, konterte Kerstin entnervt. Was genau wollte der Typ? Außer ihr den Tag versauen?
„Ich bin verheiratet. Korrigiere mich, wenn ich mir irre, aber du bist nicht einmal in einer festen Beziehung.“
„Mein Privatleben geht hier keinen etwas an. Und nur weil ich Single bin, werfe ich mich nicht jeder an den Hals. Außerdem sind Ehen und feste Partnerschaften kein Hindernis, wenn es ums Fremdgehen geht. Zumindest wäre mir das neu. Und dir sagt man auch die eine oder andere Affäre mit einer der Frauen nach.“
„Gerüchte, nichts als Gerüchte.“
„Siehst du.“
„Du solltest der Walter zeigen, wo ihre Grenzen sind. Verena kann dich nicht immer retten.“
„Darauf lasse ich es ankommen. Ich weiß, es passt dir nicht, dass sie ihre Zeit lieber mit mir verbringt, aber sie ist nun einmal meine Freundin und wenn es um Walters dumme Sprüche geht, meine Verteidigerin. Wozu soll ich mich anstrengen, wenn Walter alles macht, was Verena ihr sagt? Das wäre verschwendete Energie. Aber im Notfall kann ich mich wehren.“ Kerstin lehnte sich zurück. Für sie war das Gespräch beendet.
„Du machst dir das alles zu einfach.“
„Im Moment machst du mir alles schwer. Hendrik, ich habe noch einiges zu erledigen, bevor ich Feierabend habe und wäre dir sehr dankbar, wenn du mich weiterarbeiten lassen würdest. Oder willst du gleich die Visite übernehmen?“
„Ich wollte dir nur einen Rat geben.“ Beleidigt zog Hendrik Jansen davon. Kerstin atmete erleichtert auf. Wenn sie ein Kindermädchen oder einen Klugscheißer haben wollte, dann würde sie Bescheid sagen. Hendrik musste sich laufend als Held und Samariter aufspielen, Rollen, die in keiner Weise zu ihm passten. Kerstin nahm ihr Handy und schrieb Kilian eine Nachricht. Er sollte aufräumen, bevor er das Haus verließ und außerdem würde sie am Abend Besuch haben. Sie wollte verhindern, dass Kilian wieder eine Horde schräger Typen mitbrachte, die dann Kerstins Essen und Wein plünderten. Das war bereits mehrere Male geschehen. So sehr sie ihre WG mochte, diese spontanen Feten ihres Mitbewohners konnten ihr manchmal den Abend und die Nacht versauen. Vor allem, wenn sie mitten in der Woche stattfanden und Kerstin kein Auge zumachen konnte. Das waren dann die Tage, an denen sie zu spät zur Dienstbesprechung kam und dann mindestens einen schweren Notfall versorgen musste. Sie hatte bereits daran gedacht auszuziehen, aber dafür hing sie viel zu sehr an Kilian und dem bunten Leben. Mit wem sollte sie denn sonst alte Doris Day Filme gucken und bei Gewitter auf der Couch kuscheln? Ohne Kilian wäre ihr Leben nichts so lebenswert, wie es war.
„Hi“ Verena kam in Kerstins Arztzimmer. „Alles okay?“
„Jansen wollte mir gute Tipps geben wegen Walters Pöbelei. Ich brauche seine Kommentare nicht. Wieso müssen mir heute alle auf die Eierstöcke gehen?“ Kerstin warf ihren Kugelschreiber auf den Tisch. Verena trat um den Tisch herum und umarmte ihre Freundin.
„Das wird schon. Kann ich etwas für dich tun?“
„Brennst du mit mir nach Las Vegas durch? Wir beide, Spielautomaten, Millionen, Luxushotels, Sigfrid und Roy…falls es Roy dann wieder besser geht. Wäre das nicht schön?“ Kerstin sah Verena mit Kulleraugen an.
„Ach Süße.“ Verena küsste Kerstin aufs Haar „Was sollen wir beide denn in Vegas? Wir brauchen unsere Jobs und wir lieben Berlin. Außerdem: was soll denn Reutlitz ohne uns machen?“
„So weiter leben wie bisher? Vroni, ich habe echt keine Lust mehr.“
„Was hältst du davon wenn du dir mal eine Woche Urlaub nimmst?“
„Nur mit dir.“
„Och Kerstin.“
„Vroni, was soll ich ohne dich mit meiner freien Zeit machen?“
„Wir sind doch kein Ehepaar“ Verena zwickte Kerstin in die Seite.
„Leider. An mir liegt es nicht.“ Kerstin schlang ihre Arme um Verena Taille. Verena streichelte Kerstins übers Haar. Sie würde heute Abend einen langen Abend mit Kerstin verbringen müssen um sie aufzubauen. Sie brauchte wirklich ein wenig Zuspruch.
Kerstins Laune war übers Wochenende besser geworden. Sie hatte die beiden freien Tage mit Kilian und shoppen verbracht und die Abende waren mit Verena in diversen Kneipen der krönende Abschluss gewesen. Trotzdem hätte sie am heutigen Montag lieber ihren Kopf ein paar Stunden länger im Kopfkissen gelassen. Wohlweißlich hatte sie sich die ersten beiden Stunden freigenommen. Gutgelaunt schloss sie ihre Bürotür auf und stolperte beinahe über einen Aktenschrank. Was machte der denn hier? Sollte der nicht im Nebenzimmer stehen? Sie stemmte sich gegen den Schrank und schob ihn mit aller Kraft zur Seite. Dann warf sie ihren Mantel über den Stuhl und verließ den Raum um in das Nebenzimmer zu gehen. Die Tür stand weit offen. Kerstin stürmte um die Ecke und wäre beinahe wieder gegen einen Aktenschrank gestoßen.
„Was soll das?“
„Ich brauche Platz.“ Ein Kopf kam hinter dem Aktenschrank hervor. Eine junge Frau stemmte sich mit ihrem Gewicht gegen den Schrank.
„Und ich auch. Was soll ich in meinem Behandlungszimmer mit den Dingern? Wer sind Sie überhaupt.“ Und wieso musste man ihr schon wieder den Wochenanfang versauen? War das hier Tradition in Reutlitz?
„Klauke, die neue Lehrerin. Und ich kann die Teile auch nicht in meinem Unterrichtsraum gebrauchen. Es sind Ihre Akten, sehen Sie zu wie Sie sie unterbringen.“ Sie strich sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. Ziemlich frech für den ersten Tag.
„Unverschämtheit.“ Kerstin drehte auf dem Absatz um und verschwand in Richtung von Strauß’ Büro. Auf dem Weg traf sie Andy Wagner.
„Hallo Frau Herzog.“
„Morgen Herr Wagner. Sagen Sie, wissen Sie was diese Person in meinem Nebenzimmer macht?“
„Sie meinen Frau Klauke? Sie wird da ihren Unterrichtsraum haben. Doktor Strauß hat ihr den Raum übergeben. Es war der einzigste Raum, den er entbehren konnte.“ Also hatte sie Recht gehabt. Es war die Lehrerin.
„Den er entbehren konnte? Und was ist mit mir? Ich brauche den Platz. Wo soll ich meine Akten hinstellen?“
„Er sprach etwas vom Keller. Der Hausmeister hat Ihnen einen Raum aufgeschlossen und wird die Schränke gleich abholen.“
„Und wieso fragt mich keiner? Diese Entscheidung betrifft mich am meisten.“
„Sie hatten frei, es ist in der Dienstbesprechung besprochen worden. Sie sollten wirklich demnächst regelmäßig zum Dienst erscheinen.“ Andy Wagner lächelte.
„Was ist das hier eigentlich für ein Sauhaufen? Tschuldigung. Ist Doktor Strauß da?“
„Der ist bei der Justizverwaltung.“ Typisch. Wenn sie den Direktor brauchte, war er nicht da.
„Na gut, dann werde ich ihn später sprechen.“ Kerstin drehte sich um und ging zurück zu ihrem Büro, wo bereits der zweite Aktenschrank stand. Wütend trat sie gegen den Schrank. Na gut, der Hausmeister würde ihr gleich die Schränke wegräumen. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und begann die Akten zu studieren. Es waren vier neue Fälle auf der Krankenstation. Eine Schlägerei auf der „A“. Sie brauchte neue Pflaster. Bei der Aktion konnte sie gleich neue Medikamente bestellen. Noch während sie die Liste abarbeitete kamen laute Bohrgeräusche aus dem Nebenzimmer. Kerstin schloss die Augen, atmete tief ein und zählte leise bis zehn. Gut. Gut. Sie würde das regeln. Sie legte den Kugelschreiber zur Seite und trat aus dem Raum. Sie atmete erneut tief ein und trat in ihr ehemaliges Nebenzimmer. Nicht die Beherrschung verlieren. Ganz ruhig.
„Können Sie mir bitte sagen, wieso Sie hier eine Baustelle öffnen? Es gibt Menschen, die arbeiten müssen.“
„Was denken Sie was ich hier mache? Urlaub? Ferien? Der Raum ist nicht gerade in einer guten Verfassung.“ Frau Klauke sah Kerstin wütend an.
„Und wie stellen Sie sich vor, soll ich Patienten behandeln? Mit einer Flüstertüte?“ Sie merkte, dass sie gar nicht ruhig war. Das war nicht gut.
„Bei Ihrem Charme werden die Patienten wegen Unterkühlung eh sterben. Oder werfen Sie die Frauen gleich ihren hauseigenen Löwen zum Fraß vor, Cleopatra?“ Okay, die Frau wollte Streit, Kerstin konnte auch anders. Es reichte anscheinend nicht, dass sie Kerstins Zimmer in Beschlag nahm, ihr Untersuchungszimmer in ein Chaos verwandelte und Lärm machte, nein, sie musste auch noch unverschämt werden. Das musste Kerstin nicht so hinnehmen. Das wollte sie nicht so hinnehmen und das würde sie nicht so hinnehmen. Sie war für einen Krieg bereit.
„Werden Sie mal nicht unverschämt.“
„Denken Sie, nur weil Sie zu den selbsternannten Göttern in weiß gehören, haben Sie mehr Rechte als andere? Das ist mal wieder typisch Arzt. Sie denken, die Welt würde sich nur um Sie drehen. Soll ich Ihnen was sagen, Schätzchen? Das macht sie nicht. Die Welt schert sich einen Dreck um pfuschende Halbgötter.“ Diese Person wagte es sie Schätzchen zu nennen? Es reichte.
„Und die Lehrer, die es im Studium zu nichts gebracht haben und deswegen einen Förderkurs für Gefängnisinsassinnen halten müssen, gehören zu der besseren Schicht? Sie sind hier so überflüssig wie der Dreck im Keller. Sie…“ Kerstin wurde abrupt unterbrochen als sie am Kragen gepackt wurde und aus dem Zimmer gezogen wurde. Wer war das?
„Sorry, ich muss mal kurz mit Frau Doktor Herzog sprechen.“ Verena hatte Kerstin am Schlafittchen gepackt. Ohne auf Kerstins Protest Rücksicht zu nehmen, zog sie sie in das Arztzimmer zurück. Dort drückte sie die protestierende Kerstin auf ihren Stuhl.
„Sag mal, was ist in dich gefahren? Drehst du total ab?“ Verena war nicht sauer, sie war eher überrascht - entsetzt.
„Weißt du wie diese…Person sich aufführt? Sie beschlagnahmt mein Zimmer, verstopft hier alles mit den Aktenschränken und macht einen Krach wie auf den größten Baustellen der Stadt. Und was die für ein Mundwerk hat. Noch ein Wort von ihr und…“
„Kerstin, halt die Luft an!“
„Auf wessen Seite stehst du?“
„Auf deiner. Also, Ruhe! Pass auf, Frau Klauke hat den Raum von Doktor Strauß bekommen, wenn du jemanden deswegen anschreien willst, dann ihn. Er ist gerade nicht da, was wahrscheinlich dein Glück ist, weil du sonst Dinge sagen würdest, die du später bereuen würdest. Zweitens sind die Aktenschränke hier besser aufgehoben als auf dem Flur, wo die Bergdorfer laufend ihre Finger drin hätte. Drittens räumt der Hausmeister die Schränke weg. Viertens lässt sich beim Umgestalten eines Raumes von einem Aktenlagerraum zu einem Unterrichtsraum die Arbeit wohl kaum ohne Krach bewältigen. Ein wenig Kulanz wäre angebracht. Und was die Umgangsformen von Frau Klauke angeht: Ein Sie sind hier so überflüssig wie der Dreck im Keller gehört nicht zu einer netten Umgangsform. Zumindest nicht auf diesem Planeten. Ich würde sagen, ihr habt euch da beide gegenseitig überboten. Und jetzt wirst du endlich deinen Frust vergessen und wieder zu der lieben, netten, umgänglichen Ärztin werden, die du eigentlich bist. Bitte“ Verena sah Kerstin an.
„Und was ist mit ihr?“
„Bin ich deine oder ihre Freundin?“
„Meine.“ Kerstin vergrub ihren Kopf in Verenas Schließeroutfit. Ja! Verena war ihre Freundin. Hey, wenn Kerstin sich das sagte, stieg ihre Laune gleich um einige Prozentpunkte an.
„Gut. Geht’s jetzt besser?“ Kerstin nickte.
„Wieso musste du immer Recht haben?“
„Weil du manchmal überreagierst und deine Gefühlsausbrüche nicht unter Kontrolle hast. Du bist die beste Ärztin, die ich kenne, und die beste Freundin, die ich mir wünschen kann, aber deine Gefühlsausbrüche sind schrecklich. Manchmal handelst du erst und denkst dann nach.“ Verena streichelte Kerstins Rücken.
„Und du magst mich trotzdem.“
„Übertreibe es trotzdem nicht. So, und jetzt geh deiner Arbeit nach. Wir sehen uns in der Mittagspause. Versprichst du mir bis dahin nicht mehr auf Frau Klauke loszugehen?“
„Ja Mama.“
„Geht doch.“ Verena grinste. Manchmal fragte sie sich, wer hier die Ältere war. Kerstin handelte manchmal wie ein hormongesteuerter, pubertierender Teen. Sie war zu impulsiv und brauchte laufend einen Aufpasser, der sie bremste. Und meistens übernahm Verena diesen Job.
Verenas Mission war noch nicht beendet. Nachdem sie Kerstin beruhigt hatte, ging sie zu Frau Klauke.
„Hallo, alles in Ordnung?“ Einer musste ihr erklären, dass Kerstin eigentlich eine nette, umgängliche Person war. Auch wenn sie eben alles getan hatte um das Gegenteil zu beweisen.
„Ja. Danke dass Sie die Furie von mir weggebracht haben. Die Ärztin sollte dringend selber zum Arzt gehen.“
„Kerstin ist von der ganzen Situation ein wenig überrumpelt worden. Sehen Sie ihr das bitte nach. Normalerweise ist sie eine sehr nette und umgängliche Frau.“
„Dann kann sie hervorragend schauspielern.“
„Sie hat überreagiert, das sieht sie selber ein. Geben Sie ihr eine Chance. Ich habe bereits mit ihr geredet.“
„Sind Sie nebenberuflich Psychologin?“
„Nee, nur ihr Verstand. Sie ist impulsiv, doch im Grunde ihres Herzen ist sie ein wunderbarer Mensch.“
„Sie benimmt sich wie meine zwölfjährige Tochter.“
„Sie haben eine zwölfjährige Tochter? Wow, ich hätte sie auf Mitte zwanzig geschätzt.“ Verena war mehr als überrascht.
„Ich bin siebenundzwanzig. Jodie habe ich mit fünfzehn bekommen. War nicht geplant aber ich habe mich trotzdem gefreut. Sie hat ähnliche Ausbrüche wie Ihre Kollegin.“
„Unsere Kollegin. Ich bin mir sicher, Kerstin wird sich wieder einkriegen. Geben Sie ihr eine Chance und ein wenig Zeit.“
„Ich habe Zeit, schließlich bleibe ich länger hier.“
„Zum Glück. Ich finde es gut, dass den Frauen eine Schulbildung ermöglicht wird. Endlich eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung.“
„Hoffentlich sehen das die Frauen ähnlich.“
„Ich denke doch. Ich bin übrigens Verena.“
„Alexandra. Aber nennen Sie mich Sascha.“
„Sascha?“
„Ist mein Spitzname. Den habe ich als Teen schon gehabt. Inzwischen nennen mich alle Sascha und keiner mehr Alexandra, mal von meinem Mann abgesehen.“
„Gut, Sascha. Dann auf gute Zusammenarbeit.“ Verena gab Sascha die Hand. Verena hatte Recht gehabt. Wenn man sich normal mit der neuen Kollegin unterhielt, war sie sehr nett. Das würde sie Kerstin noch beibringen.
„Und was unsere Kollegin betrifft: Die wird sich sicherlich beruhigen. Ich habe ihr den Raum nicht böswillig genommen, sondern nur getan, was Direktor Strauß mir gesagt hat.“
„Sobald Kerstin mit ihm geredet hat, wird sie das einsehen.“ Verena lächelte und verließ den Raum. Es wurde Zeit, dass sie ihrem eigentlichen Job nachging und nicht mehr Kindermädchen für Kerstin spielte. Die brauchte erst einmal Ruhe und Ablenkung durch ihre Arbeit, dann sah alles wieder besser aus. Verena wusste, dass Kerstin sich schnell beruhigte wenn man sie tun ließ was sie wollte. Und wenn das nichts brachte, würde Verena sie heute Abend aufmuntern.
Teil 2
Sascha seufzte. Auf was hatte sie sich da nur eingelassen? Förderunterricht im Gefängnis. Sie bezweifelte stark, dass sie hier ihr Können beweisen konnte. Wahrscheinlich würden die Frauen auch kein großes Interesse daran haben sich weiterzubilden. Ihr Förderkurs würde wohl als Ausrede herhalten müssen um sich vor der Arbeit zu drücken. Und dann diese nervige neue Kollegin. Was spielte die sich eigentlich so auf. Ihr Nebenraum. Gehörte ihr der Knast, oder was? Sascha war mehr als froh, als sie den ersten Arbeitstag endlich hinter sich hatte und das Gefängnisgelände verlassen konnte. Der einzigste positive Aspekt des Tages war Verena, die sie von der wütenden Ärztin befreit hatte. Zuhause erwartete ihre Tochter sie mehr oder weniger.
„Jodie, hast du deine Hausaufgaben gemacht?“
„Ja“, kam es genervt aus dem Kinderzimmer.
„Und was ist mit deiner Arbeit letzte Woche?“
„Die haben wir noch nicht wieder.“ Sascha sah in den Kühlschrank. Leer. Nur eine Dose Kaffeemilch stand einsam und verlassen herum. Immer das Selbe.
„War Papa nicht einkaufen?“
„Keine Ahnung, der war noch nicht hier“
„Wie?“ Sascha sah überrascht auf. Ihr Mann sollte eigentlich seit zwei Stunden Zuhause sein. Aber hatte sie ernsthaft geglaubt, ihr Mann würde einkaufen? Manchmal war Sascha zu naiv.
„Der hat angerufen, es kann später werden.“ Super. Dann konnte Sascha sich mal wieder um alles kümmern. Wieso nahm sich ihr Mann nicht gleich ein Bett mit ins Büro? Sascha konnte sich an keinen Abend erinnern, an dem er mit ihr zusammen vor dem Fernseher gesessen hatte oder an dem sie Essen gegangen waren. Ihr Mann verließ um sieben Uhr das Haus und kam gegen zweiundzwanzig Uhr wieder nach Hause. Und das an mindestens fünf Tagen in der Woche. Samstags standen dann wichtige Termine auf dem Programm, die es ihm unmöglich machten, sich von der Arbeit zu lösen. Ihr Mann war ein Partymanager. Gab es in Berlin oder Umgebung eine Party mit wichtigen Personen, oder mit Personen, die dachten, sie seien wichtig, dann organisierte und plante er alles. So kam es, dass Sascha unter anderen den Bürgermeister und diverse Promis aus dem Showgeschäft kannte, da sie als Frau an der Seite ihres Mannes an manchen Partys teilnahm, aber sie keinen wirklichen Familienabend mehr verlebten.
„Hat Papa gesagt…?“ Sascha stockte. Wozu nachfragen? Es interessierte ihre Tochter wenig wo sich ihr Vater herumtrieb. Sie kannte es nicht anders. Sogar an den Geburtstagen und Feiertagen war er meistens unterwegs. Langsam aber sicher entglitt ihr ihre Familie.
„Ich bin weg, im Kino mit Michaela“, rief Jodie.
„Komm nicht so spät nach Hause.“ Schon hörte sie die Tür knallen. Ein ganz normaler Abend. Sascha würde alleine auf der Couch sitzen. Sie konnte es ihrer Tochter nicht verübeln, dass sie jeden Abend bei Freundinnen war. Wenn sie aus der Schule kam, dann wartete die Haushälterin auf sie und am Abend war Sascha meistens so müde, dass sie keine Kraft mehr hatte mit ihrer Tochter etwas zu unternehmen. Zuerst die lange Ausbildung damit sie unterrichten konnte und jetzt der Job. Sascha nahm sich ein Glas und machte sich an der reichlich gefüllten Hausbar einen Whiskey on the rocks. Dann würde sie eben alleine fernsehen. Und ab morgen würde sie die Haushälterin bitten sich um den Kühlschrank zu kümmern. Anscheinend war ihr Familie so unselbständig, dass sie das nicht schafften.
Kerstin hatte dagegen volles Haus. Als sie von der Arbeit kam, wurde ihr – kaum dass sie richtig in der Wohnung war – ein Glas Sekt in die Hand gedrückt. Eine eigentlich sehr schöne Art und Weise den Abend zu beginnen.
„Party – time, Schätzchen.“ Kilian hatte sich in sein bestes ABBA Outfit geworfen. In ihrer gemeinsamen Wohnung waren etwa ein Dutzend Menschen, die meisten im Outfit der 70er und feierten.
„Was ist denn hier los?“ Das sah Kerstin.
„Wir feiern.“
„Mitten in der Woche?“
„Jordan hat einen neuen Job: er ist Leiter der Bank. Das ist einfach…süüpäährr!“ Kilian küsste seine Fingerspitzen und tanzte um Kerstin herum. Wieso musste sie mit einem schwulen Mann zusammen wohnen? Aber was sollte es? Würde sie das Beste daraus machen. Der Schlaf war für diese Nacht gestrichen.
„Naja, das Leben zu kurz um es nicht zu genießen. Prosit.“
„Na also. Ich habe deine Süße angerufen und sie eingeladen. Sie ist auf dem Weg.“
„Verena?“
„Gibt es denn sonst jemanden?“
„Nein“ Kerstin kämpfte sich durch die Menschen in ihr Zimmer. Sie wollte nicht in ihrem Arbeitsoutfit feiern. Außerdem musste sie Platz für Verena schaffen. Sie nahm alle Klamotten, die achtlos auf ihrem Bett verteilt lagen in die Arme und warf sie in den großen Kleiderschrank. Morgen musste sie dringend aussortieren, was in die Wäsche gehörte und was nicht. Dann zog sie sich ihre Sachen aus und warf die hinter die Tür. Groß herausputzen musste sie sich nicht. Draußen waren alles Männer und die waren zu mindestens 95 Prozent schwul. Wer sollte da Interesse an ihr haben? Sie schlüpfte in ihre Jeans und wählte ein schwarzes T-Shirt. Black is beautiful. Mist, ein großes Loch war auf dem Rücken zu sehen. Kerstin schälte sich wieder aus dem T-Shirt. Gleichzeitig klopfte es an der Tür.
„Komm rein, ich bin gleich so weit.“ Verena war aber schnell gewesen.
„Für mich musst du dir diese Umstände nicht machen.“ Kerstin drehte sich erschrocken um. Das war nicht Verena.
„Patrick!“
„Hast du jemand anderes in deinem Zimmer erwartet?“
„Verena.“
„Die ist noch nicht da. Ich weiß, ich bin ein mieser Ersatz“ Er lächelte sie an. „Willst du so mitfeiern?“ Er deutete auf ihr neues T-Shirt, das sie noch immer in der Hand trug, statt am Körper.
„Nein, ich wollte mir das T-Shirt schon anziehen. Schließlich will ich keinen verschrecken.“ Sie schlüpfte schnell ins T-Shirt.
„Ich glaube nicht, dass du jemanden abschreckst.“
„Charmeur“ Sie umarmte Patrick und küsste ihn auf die Wange. „Weiß Kilian, dass du mir nachsteigst?“
„Der ist froh, wenn ich bei dir bin. Er meint, du wärst die einzigste Person hier, die mich nicht ins Bett kriegen will.“
„Womit er wohl Recht hat“, lachte Kerstin. Patrick war mit seinen beinahe zwei Metern, dem haselnussbraunen Haar, den treuen braunen Augen und einem Körper wie ein junger Gott wohl der Traum aller Männer. Und er war sich dem voll bewusst. Trotzdem war er allein Kilians Freund.
„Wie war dein Arbeitstag?“
„Blutig. Eine gebrochene Nase.“
„Pfui Teufel.“
„Es kann nicht jeder Geschäftsführer von einem Schikimikiladen sein.“
„Dich würde ich jederzeit einstellen, Baby.“
„Mach mich nicht schwach. Verurteilte Frauen gegen reiche, schöne, Singledamen eintauschen ist eine Sache, über die ich gerne ein oder zweimal nachdenken würde.“
„Ey! Finger weg von der Frau! Die gehört zu mir!“ Verena stand im Türrahmen und sah Patrick gespielt böse an. Dann marschierte sie zu den beiden.
„Ich bin enttäuscht von dir, Kerstin.“
„Und ich bin hin und weg. Ich bin deine Frau?“ Kerstin sah Verena schmachtend an. Wie schaffte sie es immer so hinreißend auszusehen? Sogar dann, wenn sie nur eine verwaschene Jeans und einen Pulli trug.
„Meine Kollegin. Dich gebe ich nicht her. Patrick, such dir eine andere Verkäuferin“
„Hallo schöne Frau. Eifersüchtig?“
„Nicht so wie du denkst. Ich will nur meine Lieblingskollegin behalten.“
„Schade“, seufzte Kerstin. „Ich wünschte, du wärst eifersüchtig.“
„Du gibst nie auf, oder?“
„Doch, wenn du mein bist“
„Sag ich ja: Nie. Los, du unhöfliche Mitgastgeberin, verschaff mir ein Glas Sekt und einen Mann wie Patrick.“
„Vergiss es.“ Kerstin prustete empört. Erst ihr einen Korb geben und dann erwarten, dass Kerstin ihr einen Mann suchte. Patrick schnappte sich die Frauen und harkte sich eine rechts und eine links ein.
„Ladies, wir gehen feiern. Der Lieferservice ist gleich da. Jordan hat edles Essen bestellt. Hummer, Kaviar, alles, was das Herz begehrt.“ Sie verließen Kerstins Zimmer und mischten sich wieder unter die Partygäste.
„Ach, du hast meinen Mann.“ Kilian schnappte sich Patrick. „Lass die blonde Frau nicht an ihn ran, ihr Make up ist besser als meins.“ Er zwinkerte Verena zu.
„Make up? Das ist alles Natur“, protestierte diese lachend.
„Ja, so wie bei Cher. Ist auch ganz natürlich.“
„Na super, ich werde mit einem Ersatzteillager verglichen“, schmollte Verena.
„Der Charme der Männer, aber du stehst ja auf die.“ Kerstin grinste und knuffte Verena in die Seiten. Dann schnappten sie sich ein Glas Punsch und stürzten sich richtig in die Party. Immerhin liefen die besten Tanzhits aus den 70er, da konnte man unmöglich stillstehen. Schließlich war sie die Dancing Queen.
„Ich liebe Partys.“ Kerstin nahm einen Schluck Sekt und sah sich entspannt auf der Tanzfläche nach einem möglichen Opfer um. Leider waren die meisten Frauen in männlicher Begleitung unterwegs. Wieso waren sie nicht im „FoGaL“? Da konnte sie davon ausgehen, dass wenn sie eine Frau sah, sie die Chance hatte, diese für sich zu begeistern. Aber heute hatte sie Verenas Wunsch entsprechend einer dieser stinknormalen, langweiligen Diskotheken aufgesucht. Sie würde trotzdem versuchen das Beste aus der Situation zu machen. Und meistens fand man Engel da, wo man am wenigsten mit ihnen rechnete.
„Gut dass Kilian nicht mitgekommen ist.“ Patrick sah sich um. Sein Freund hätte hier eine mittlere Krise bekommen. Alles war farblos, lapidar gesagt: Bürgerlich und kein Hauch der 70er und die Wahrscheinlichkeit, dass man hier ABBA spielt, was sehr gering. Kein Laden für einen Paradiesvogel wie Kilian.
„Ja, er hatte Recht. Mit einem Treffen mit seinen Arbeitskollegen ist er besser gefahren. Naja, wie gefällt dir der Laden?“
„Ich mags. Du weißt, ich bin der seriöse Typ.“ Grinsend schob Patrick sein Hemd in Position. Selbst wenn er wegging war er meistens ganz Geschäftsmann. Man musste ihn schon zum Sport schicken wenn er sich leger kleiden sollte. Das war der Grund wieso er und Patrick so ein lustiges Paar waren.
„Ich werde nie verstehen, wie Kilian es geschafft hat dich von ihm zu überzeugen. Ihr seid wie Himmel und Hölle.“
„Der Reiz des Himmels wäre nur halb so groß wenn man nicht wüsste, dass es eine Hölle gibt. Nein, ich finde es toll, dass wir so unterschiedlich sind. Was wäre es für eine Partnerschaft wenn man ein Abbild seiner selbst hat? Wie langweilig. Ich habe doch einen Freund um einen anderen Menschen um mich herum zu haben. Und Kilian ist so wunderbar anders als ich“
„Das stimmt.“ Kerstin lehnte sich an Patricks Arme. Was für ein Glück, dass sie beiden am Stehtisch standen. So dachten alle Männer, sie wäre Patricks Freundin und alle Frauen dachten, Patrick wäre ihr Freund. Das schaffte beiden mehr Ruhe. Kerstin hatte die Hoffnung in einer Disko von einer Frau angesprochen zu werden eh aufgegeben. Das würde sie lieber selber in die Hand nehmen. Bisher war allerdings nichts aufgetaucht, was sie interessierte. Und Verena hatten sie ebenfalls verloren. Die trieb sich wohl auf der Tanzfläche mit einen ihrer zahlreichen Verehrer herum. Die Typen waren ihrer nie würdig, fand Kerstin.
„Ich sehe Verena Kurs auf uns nehmen, dann werde ich mal eben zur Theke düsen und neue Getränke holen.“ Kerstin fand es nett von Patrick so lange bei ihr zu bleiben, bis Verena zurückkam. Sie hasste es alleine in fremden Clubs herumzustehen. Im „FoGaL“ war das kein Thema, das war wie ein zweites Zuhause für sie. Egal ob sie wirklich alleine herumstand oder sich zu anderen Bekannten gesellte, es war okay.
„Na, wie viele sind es heute?“
„Ein ziemlich aufdringlicher Kerl. Er verfolgt mich schon den ganzen Abend. Ich habe ihm gesagt, ich hätte kein Interesse an ihm, aber er glaubt mir nicht.“
„Du musst den Männern immer das Herz stehlen mit deinen schönen Augen. Selber Schuld. Außerdem weißt du, wie die Männer auf dich reagieren.“
„Sie könnten trotzdem ein „Nein“ akzeptieren. Der ist wirklich aufdringlich. Ich habe ihm dann verzweifelt gesagt, dass ich nicht auf Männer stehe und er wollte mir das nicht glauben. Ich würde nicht in sein Bild über Lesben passen. Klischeedenker.“ Verena ließ ihren Kopf verzweifelt auf Kerstins Schulter fallen.
„Recht hat er trotzdem. Wie sieht das Prachtexemplar denn aus?“
„Groß, dunkelhaarig, blaue Jeans...“
„Weißes T-Shirt, Oberarme wie ein Mann, der meint, er sei Mister Universum, aber in Wirklichkeit weg davon weg ist und ein schleimiges Grinsen?“
„Ja.“
„Der steht keine fünf Meter hinter dir und hat dich anvisiert. Scheint seinen neuen Angriff zu planen.“
„Und jetzt?“
„Er macht sich auf den Weg zu uns...“ Kerstin schnappte sich Verena und küsste sie leidenschaftlich. Das war ihre einzigste Chance, dem Typen zu entkommen. Und Kerstin würde das mehr als gerne machen.
„Was genau machst du da?“, fragte Verena ohne jedoch Kerstin loszulassen.
„Deine Tarnung aufrecht erhalten.“ Und nebenbei Verenas Lippen genießen. Irgendwie war Kerstin dem Typen dankbar. Dank seiner nervigen Penetranz konnte sie in aller Ruhe und ohne Ärger zu bekommen, Verena küssen. Und die konnte küssen! Wow, Kerstin würde problemlos die ganze Nacht damit weitermachen wenn es sein musste, beziehungsweise, wenn sie durfte. Und wenn das schon Verenas Art war jemanden zu küssen, mit dem sie nicht zusammen war, wie gut küsste sie dann erst wenn sie verliebt war? Das würde Kerstin zu gerne erfahren. Wie gut dass Patrick gegangen war, sonst hätte bestimmt der als Alibifreund herhalten müssen. Obwohl, nein, Verena hatte dem Typen gesagt, sie stehe auf Frauen. So oder so, Kerstin wäre ihre Auserwählte geworden. Wie schön. Vorsichtig warf sie einen Blick über Verenas Schulter. Der Typ war verschwunden, ihre Showeinlage muss dementsprechend gut sein. Okay, ein paar Leute starrten sie dumm an, aber damit konnte Kerstin leben. Sie küsste Verena. Wen störten da doofe Blicke?
„Und? Ist er weg?“
„Fast“, log Kerstin grinsend und schnappte sich Verena erneut.
„Ich denke, es reicht. Sogar Frauen, die zusammen sind, sollen angeblich mal etwas trinken oder reden.“ Verena schob Kerstin weg und sah sich unauffällig um. Die Luft war rein. Perfekt.
„Seit wann ist er weg?“
„Öhm...“ Kerstin grinste. Verena warf ihr einen entnervten Blick zu. Okay, sie verstand ihre Pseudogeliebte.
„Er war bereits seit Langem weg, nicht wahr?“
„Vielleich.t“
„Ich wusste es. Dir kann man in dieser Beziehung nicht vertrauen.“
„Ist aber nie böse gemeint. Was sollte ich denn machen? Das war meine Chance, dich von mir zu überzeugen.“ Kerstin setzte ein hilfloses Grinsen auf.
„Ich bin bereits von dir überzeugt, nur eben nicht als Partnerin.“
„Bist du sauer?“, fragte Kerstin vorsichtig. So weit wollte sie es dann auch nicht kommen lassen. Es war ein kleiner Scherz gewesen.
„Nein, aber das nächste Mal, wirst du brav bescheid sagen wenn er weg ist und dann ist Ende mit dem Schauspiel. Kapiert?“
„Ja, alles was du willst. Aber definiere nächstes Mal. Bekomme ich eine weitere Chance wenn dich so ein Kerl nervt?“
„Mal sehen.“ Verena legte ihren Arm um Kerstin „Du bist wirklich unmöglich.“
„Ich weiß. Und du küsst unbeschreiblich gut.“
„Dabei war das gar nicht richtig“, grinste Verena.
„Was? Da ist eine Steigerung drin? Ich wusste es. Wow, ich will eine Kostprobe, sonst zerfließe ich vor Sehnsucht.“
„Vergiss es.“
„Frauen sind so hartherzig.“ Kerstin ließ ihren Kopf auf Verenas Schulter fallen uns sah sie mit einem Hundeblick an. Wie konnte sie ihr das antun? Erst sagen, die Küssen ließen sich problemlos steigern und Kerstin dann keine Kostprobe geben. Wie gemein. Die Gedanken, dass Verena verliebt noch besser küsste war zu ertragen, dass Wissen, dass es eine Steigerung gab, war brutal.
„Na ihr beiden Turteltauben.“ Patrick brachte drei Gläser Sekt mit und stellte sie auf den Tisch.
„Hi schöner Mann. Na, musstest du die Gläser bezahlen oder hat dein Lächeln die Barfrau überzeugt?“, fragte Verena.
„Ich habe mir einen Barmann gesucht. Und ihr beiden? Spielt ihr das Liebespaar? So bekommst du keinen Mann, Vroni.“
„Ich weiß, aber bei der Auswahl hier...“
„Und ja, wir sind ein Liebespaar. Weißt du, wie gut diese Frau küssen kann? Ich werde nicht zulassen, dass die jemals wieder einen Mann bekommt. Die gehört mir.“
„Kerstin spinnt ein wenig, der Kuss ist ihr zu Kopfe gestiegen.“
„Kuss?“ Verena erzählte Patrick von ihrem härtnäckigen Verehrer. Diese musste grinsen. Eine interessante Technik. Und beide hatten bekommen was sie wollten: Verena hatte ihre Ruhe und Kerstin ihren Kuss.
„Beim Nächsten flüchtest du in Kerstins Arme und ich frage ihn, ob er nicht mit mir eine heiße Nacht verbringen möchte. Das schockt noch mehr.“
„Gute Idee.“
„Sag mal, Geliebte, werden wir die Nacht zusammen verbringen?“
„Nein, ich gehe nach Hause. Immerhin müssen wir morgen Nachmittag arbeiten und ich muss vorher einkaufen. Wenn ich erst in deinem Klammergriff gefangen bin, dann werde ich nie fertig werden. Außerdem solltest du für heute genug von mir haben.“
„Nein“, seufzte Kerstin. Wie sollte sie jemals genug von Verena haben? Das war ein Ding der Unmöglichkeit.
„Wir könnten eine Kotaktanzeige für euch beide aufgeben. Mal sehen wer die größeren Flaschen anschleppt.“
„Ein weiteres Wort von dir, Mister perfekte Beziehung, und ich spritze dir morgen ein Mittel, von dem du garantiert Pickel bekommst. Hör sofort auf meine Kollegin zu verkuppeln. Die braucht keinen Mann.“
„Eher als eine Frau.“
„Das werden wir sehen...wenn ich sie überzeugt habe...“
„Schatz, halt den Mund.“ Verena knuffte Kerstin in die Seite. Sie würde sich nicht von Kerstin „überzeugen“ lassen, egal wie oft diese sie küssen würde. Sie empfand nur Freundschaft für sie, mehr nicht. Kerstin musste das akzeptieren und lernen, damit klar zu kommen. Es würde niemals anders sein.
Teil 3
Kerstins Kopf gab nur ein Signal: SCHMERZ. Sie war nicht wirklich wach, hatte die Augen geschlossen und konnte bis in ihren Traum hinein den Schmerz fühlen. Wieso musste sie es immer wieder schaffen sich in der Woche zuviel Alkohol einzuverleiben? Ganz langsam versuchte sie die Augen zu öffnen. Diese Prozedur dauerte mehrere Minuten, dann hatte sie sich endlich an ihre helle Umgebung gewöhnt. Und langsam nahm sie ihre Umwelt wahr. Das wiederum war die erste positive Überraschung dieses so schmerzvoll beginnenden Tages. Sie war nicht alleine in ihrem Bett. Besser: sie lag nicht alleine auf ihrem Kopfkissen. Und die Steigerung davon war: Sie hatte Verena im Arm. Wenn sie ab jetzt jeden Morgen so aufwachen würde, dann würde sie die Schmerzen in ihrem Kopf gerne akzeptieren. Ein nervendes und unmenschlich lautes PIEP! PIEP! PIEP! ließ sie zusammenzucken. Was war das? Krieg? Feueralarm? Rauchmelder?
„Oh nee.“ Verena rieb sich die Augen und schlug mit der Hand nach irgendetwas. Dann war Ruhe.
„Ich hasse deinen Wecker.“ Der Wecker! Kerstin wusste, dass sie dieses Geräusch schon mal gehört hatte. Verena drehte den Kopf und sah direkt in Kerstins Augen, die diese mühevoll wieder geöffnet hatte. Sie sollte sie heute nicht mehr schließen, denn jedes Öffnen schmerzte.
„Und irgendwann schlafe ich auf dem Boden.“
„Machst du nicht.“
„Bist du dir sicher, dass du dieses Klammern unbewusst im Schlaf machst?“
„Ich würde es kuscheln nennen und ja, ich mache das unbewusst im Schlaf. Frag Kilian. Wenn wir bei unseren langen DVD Nächten auf der Couch einschlafen wacht er jedes Mal in meinen Armen auf. Ich mache das reflexartig, das ist keine Absicht. Wobei ich zugeben muss: Es ist keine Strafe für mich mit dir im Arm aufzuwachen.“
„Ja, ja. Typisch. Ich gehe duschen, wir müssen gleich arbeiten, falls du dich daran erinnern kannst.“
„Mhm, leicht.“ Kerstin hatte ihre Augen wieder geschlossen. Verena befreite sich aus Kerstins Armen und stand auf.
„Ich wecke dich, wenn ich fertig bin.“ Sie schnappte sich ihre Sachen und verschwand. Kerstin sah ihr traurig nach und blickte dann auf den Platz, auf dem Verena die Nacht verbracht hatte. Nein, sie machte diese Kuschelattacken nicht mit Absicht, würde jedoch lügen, wenn sie sagen würde, dass es ihr unangenehm war mit Verena im Arm aufzuwachen.
„Guten Morgen.“ Kilian kam fröhlich in ihr Zimmer. Seine bunten Klamotten schmerzten zusätzlich in Kerstins Augen. An Tagen wie dieser wünschte sie sich, ihr Mitbewohner wäre ein Schornsteinfeger.
„Nicht so laut.“
„Na, wieder den einen oder anderen Punsch zuviel gehabt?“
„Vielleicht. Wieso bist du so gut drauf?“
„Das Geheimnis heißt nach jedem Alkoholgetränk ein Wasser trinken. Das hilft wunderbar dabei am nächsten Morgen keinen dicken Kopf zu haben. Wie war deine Nacht mit Verena?“
„Frag mich nicht. Ich habe geschlafen wie ein Stein. Es ist eine Schande. Da habe ich die tollste Frau der Welt in meinem Bett und schlafe.“
„Alles beim Alten“, stellte Kilian fest. Kerstin sah ihn böse an.
„Danke, du bist ein wahrer Freund.“
„Deswegen biete ich dir mein Bad an. Du solltest mal eine Woche am Stück pünktlich zur Arbeit erscheinen. Mit unter die Dusche scheint dich Verena nicht zu nehmen.“
„Leider.“ Kerstin streckte vorsichtig einen Fuß unter der Bettdecke hervor. Zu kalt. Sie würde liegen bleiben. Sie war Ärztin, sie würde sich krankschreiben. Kilian fasste die Bettdecke und zog sie mit einem Ruck weg. Kerstin kreischte über den plötzlichen kalten Schauer.
„Ich nehme die mit zu mir. Sonst stehst du nie auf. Bis gleich beim Frühstück.“ Kerstin warf mit ihrer letzten Kraft mit dem Kissen nach ihm. Doch Kilian verschwand lachend aus dem Zimmer. Sie schien wirklich aufstehen zu müssen. Oder sie blieb liegen und erfror. Dann lieber eine heiße Dusche. Und eine Anzeige bei Amnesty International gegen Kilian. Was er mit ihr anstellte grenze an brutalste Menschenrechtsverletzung, Folter und seelischen sowie körperlichen Qualen.
„Frau Wünsche, was machen Sie da?“ Sascha war entnervt. Heute schienen die Frauen keinerlei Interesse daran zu haben etwas zu lernen. Egal welches Thema sie bearbeiten sollten, sie fanden laufend andere Dinge, die sie mehr interessierten. So hatte sich Sascha den Tag nicht vorgestellt.
„Nichts, Frau Klauke.“
„Merkst du nicht, dass du langweilig bist?“
„Frau…?“
„Gerda. Und ich finde deinen Kurs wirklich zum Einschlafen.“ Nun, Sascha fand die Intelligenz von Gerda auch nicht begeisternd, würde es ihr aber nicht sagen. Wahrscheinlich würde sie sie gar nicht verstehen.
„Nun, es ist Ihnen freigestellt teilzunehmen. Sie können gerne gehen.“
„Nee, dann muss ich arbeiten. Da sitze ich lieber hier herum.“
„Entweder Sie arbeiten mit oder Sie gehen.“ Irgendwann musste Sascha durchgreifen sonst würden ihr die Frauen auf der Nase herumtanzen.
„Leck mich.“ Gerda warf mit ihrem Blatt nach Sascha.
„Sehe ich hier jemanden, der lieber in die Wäscherei möchte?“ Verena sah zur Tür herein.
„Wüllner, geh zu deiner Ärztin.“
„Weißt du Gerda.“ Verena hatte sich angewöhnt, die Problemfälle mit dem Vornamen anzusprechen „Das ist nicht meine Ärztin, du musst nicht eifersüchtig sein. Ich weiß, es ist hart, wenn man keine Chance hat eine Frau herumzubekommen und Männer einen nicht besuchen, weil man einfach nicht liebenswert ist, aber da musst du durch“ Die anderen Frauen grölten vor Freude. Normalerweise bekam man als Schluse keine Anerkennung, doch Verena brauchte sich keine Sorge darum zu machen, Ärger zu bekommen. Selbst wenn Gerda sich beschweren würde, keiner der Frauen würde gegen sie aussagen. Sie war die beliebteste Schluse, keiner wollte, dass sie ging oder Ärger bekam.
„Also? Wäscherei oder lernen?“
„Lernen.“
„Gute Wahl.“ Verena grinste Sascha zu und ging weiter. Nach einigen Schritten rief sie: „Und versuche nicht mit deinem Terror weiterzumachen wenn ich weg bin. Ich habe meine Ohren und Augen überall.“
„Falsche Gegnerin, was?“, fragte Fisch belustigt. Sie hatte einen Hass auf Gerda, seit diese sie als Sklave missbraucht hatte.
„Schnauze, Fischstäbchen.“ Gerda verpasste Fisch einen Stoß in die Rippen, der von Godzilla mit einem Lachen kommentiert wurde. Sascha fragte sich, was diese beiden Frauen hier eigentlich wollten. Weiterbildung konnte es nicht sein, eher einen arbeitsfreien Nachmittag oder so.
„Wenn Sie sich jetzt bitte wieder dem Unterrichtsmaterial widmen würden.“ Sascha sah in die Runde. Gerda warf ihr einen wütenden Blick zu. Sascha beachtete ihn nicht weiter und korrigierte die Hausaufgaben der Frauen. Entsetzlich was sie für Fehler machten. Und gleich musste sie sich bei Verena Wüllner für die Unterstützung bedanken. Sascha musste es dringend schaffen sich Respekt zu verschaffen. Aber wie sollte sie einer Horde krimineller Frauen Respekt einflößen, wenn nicht einmal ihr eigener Mann sie ernst nahm. Sie hatte ihm gestern Abend noch gesagt, dass er weniger arbeiten solle, dass sie mehr Zeit miteinander verbringen müssten und er sich mehr um die gemeinsame Tochter kümmern solle, doch er war einfach eingeschlafen. So wie er es seit Monaten tat. Er kam nur noch zum Wäsche waschen und schlafen nach Hause. Sascha oder Jodie beachtete er nicht weiter. Wobei er Sascha noch weniger beachtete als Jodie. Jodie war langsam in dem Alter, in dem sie in die feine Gesellschaft integriert werden sollte. Immer öfter nahm er sie mit, damit sie wichtige Kontakte knüpfen konnte. Und Sascha hatte keine Chance das zu verhindern. Jodie war ganz besessen darauf die High Society kennen zulernen.
Kerstin hatte bereits vier Aspirin geschluckt um wieder ohne Schmerzen arbeiten zu können. Nie wieder so viel Alkohol in der Woche, schwor sie sich. Welcher Teufel hatte sie geritten sich einem Wetttrinken mit Jacques zu liefern? Er besaß einen Weinladen, er war Alkohol gewöhnt. Aber nein, sie musste unbedingt beweisen, dass Frauen mindestens so viel vertrugen wie Männer. Nun hatte sie den Salat. Das Klopfen an der Tür ließ sie wieder ihre Gedanken verlassen.
„Ja, bitte?“
„Frau Walter für Sie.“ Jansen. Der hatte ihr zu ihrem Unglück heute noch gefehlt. Sein Gesicht war wie eine laute Explosion und kein Aspirin half ihr dabei.
„Sie sehen schlecht aus, Frau Herzog.“
„Danke Herr Jansen. Ich rufe Sie, wenn ich mit Frau Walter fertig bin.“
„Immer schön artig sein“, grinste Jansen fies.
„Arschloch“, murmelte Walter leise. Kerstin stand auf und deutete Walter sich auf die Liege zu setzen.
„Wo ist das Problem?“
„Frau Doktor, ich habe tierische Herzschmerzen.“ Walter griff sich theatralisch ans Herz.
„Walter, was willst du?“
„Wie geht es deiner Schluse?“
„Gut.“
„Hast du sie endlich rumgekriegt?“
„Nein, aber wir hatten trotzdem einen schönen Abend. Fehlt dir überhaupt irgendetwas oder bist du nur hier um mich zu nerven? Walter, da habe ich heute keinen Kopf für. Eigentlich habe ich nur einen Kopf für mein Kissen.“
„Kilians Partys?“
„Ja.“
„Sie müssen wirklich der Renner sein.“
„Das sind sie. Leider sind sie laufend in der Woche. Also?“
„Du musst mir helfen?“
„Muss ich das?“
„Ja.“
„Wieso?“
„Es geht um Bea.“
„Oh.“ Kerstin sah Walter traurig an.
„Warst du in letzter Zeit an ihrem Grab?“ Kerstin nickte. Sie hatte Bea ebenfalls gekannt; eigentlich mehr als das. Durch Zufall hatten sie und Walter bemerkt, dass Bea sie verband. Walter hatte Kerstin erzählt, wo sie Bea begraben hatte und wie Bea umgekommen war. Seitdem kümmerte sich Kerstin darum, dass auf Beas Grab regelmäßig Blumen standen und sie verbrachte mindestens einen Nachmittag im Monat an Beas Grab.
„Und?“
„Ich habe Sonnenblumen draufgepflanzt.“
„Das ist gut. Sie mochte sie.“ Kerstin nahm Walter in den Arm. Offiziell stichelten sie gegeneinander, aber in Wahrheit standen sich Walter und Kerstin sehr nahe.
„Kerstin, ich vermisse sie.“ Walter schluchzte. Kerstin streichelte ihr den Rücken.
„Ich auch. Ich auch. Walter, wir werden das schaffen.“
„Verdammt. Ich kann nicht einmal zu ihrem Grab. Das ist so eine verquirlte Scheiße. Die wollen mir keinen Ausgang geben.“
„Auch keinen Begleiteten?“
„Keinen. Wegen meiner Fluchtversuche habe ich jedes Recht auf Ausgang für die nächsten Monate verloren. Und das, wo bald ihr Todestag ist. Kerstin, ich muss an Beas Grab, hörst du? Ich muss einfach.“
„Was soll ich denn machen? Ich bin Ärztin, ich kann dich krankschreiben, aber dann liegst du auf der Krankenstation. Ich kann dir keinen Ausgang verschaffen.“
„Du hast Verbindungen. Frag die Wüllner.“
„Verena ist deine Vertrauensbeamtin, aber sie kann das nicht entscheiden. Über ihr stehen Strauß, Schnoor und Jansen. Egal, wie sehr sie sich für dich einsetzen würde, du würdest keinen Ausgang bekommen. Die Anweisung ist vom Justizministerium.“
„Verdammt.“ Walter schlug mit der Faust auf die Liege. „Ich muss hier raus.“
„Walter, mach keinen Blödsinn. Bea hätte das nicht gewollt.“
„Hat sie dir von mir erzählt?“
„Ja.“
„Und? Was hast du gesagt? Sie als Schluse mit einem Knacki.“
„Sie hat dich geliebt, das war alles was zählte. Mir war egal wer oder du warst und bist, du bist die Frau, die Bea glücklich gemacht hat. Glaub mir, wenn ich könnte, dann würde ich alles tun um sie wieder lebendig zu machen oder um Baumann das heimzuzahlen, was er euch angetan hat, aber ich kann nicht. Ich konnte es nicht einmal versuchen, weil ich nicht wusste, was passiert war.“
„Ich habe es versucht und habe versagt.“ Kerstin nahm Walter wieder in den Arm. Ja, Walter hatte es wenigstens versucht. Kerstin hatte nichts tun können. Und das war eine Sache, die sie sich ewig vorwerfen würde. Sie war nicht da gewesen, als Beas sie gebraucht hatte, hatte nichts machen können um ihren Tod zu rächen. Sie hatte die Rolle des unbedeutsamen Zuschauers bekommen. Verdammt dazu nichts zu tun.
„Kerstin, wach auf.“ Verena schüttelte Kerstin heftig. Diese war mit dem Kopf auf der Tischplatte eingeschlafen.
„Gleich, ich träume gerade so schön“, murmelte Kerstin im Halbschlaf.
„Du bist nicht in deinem Bett, du bist im Aufenthaltsraum und jede Sekunde kann Strauß oder sonst wer hereinkommen. Du erinnerst dich? Dienstbesprechung. Los jetzt, Augen auf.“ Verena gab Kerstin einen Klaps auf den Hinterkopf. Da war sie pünktlich und was machte sie? Einschlafen.
„Kaffee.“
„Es ist keiner mehr da.“ Die Tür wurde geöffnet und Sascha stand im Raum.
„Morgen.“ Sie sah irritiert auf Kerstin, die weiterhin halb auf dem Tisch schlief.
„Morgen. Sind Strauß oder Jansen schon auf dem Weg?“
„Die schlichten gerade einen kleinen Streit, das kann noch ein oder zwei Minuten dauern. Was ist mit Frau Doktor Herzog los?“
„Übernächtigt und auf Kaffeeentzug. Es ist kein Pulver mehr da und heißes Wasser allein macht sie nicht wach. Kerstin, bitte.“ Verena stieß Kerstin heftig an. Sascha holte eine Thermoskanne aus ihrer Tasche und stellte sie auf den Tisch.
„Frischer Kaffee, extra stark.“
„Oh, super.“ Verena holte Kerstins Tasse und goss einen großen Schluck ein. Dann packte sie Kerstins Haare und zog ihren Kopf hoch.
„Au-a.“
„Trink das.“
„Du bist manchmal echt brutal.“ Kerstin nahm einen Schluck Kaffee. Oh, das war gut. Kerstin konnte förmlich spüren wie ihre Augen langsam geöffnet wurden.
„Du brauchst das. Danke Sascha, du hast ihr wahrscheinlich gerade den Job gerettet. Zumindest hast du sie vor einer Abmahnung bewahrt.“
„Kein Problem.“ Sascha sah Kerstin fasziniert an. Sie hätte nie gedacht, dass eine Ärztin in der Woche so lange feiern würde, dass sie am nächsten Tag kaum die Augen öffnen konnte. Sollten Ärzte nicht Vorbilder sein? Bei ihrem Hausarzt konnte sie sich nicht vorstellen, dass der überhaupt feiern würde. Obwohl, bei dem konnte sie sich nicht vorstellen, dass er irgendeine Freude im Leben hatte.
„Das tut gut.“ Kerstin ließ genüsslich den Kaffee durch ihre Kehle laufen. Ja, jeder Schluck machte sie wacher.
„Irgendwann gebe ich dir Feierverbot.“
„Oder du kommst mit.“
„Nee du, eine Party in der Woche reicht mir. Ich brauche ein wenig Schlaf.“
„Mein Bett steht dir zur Verfügung.“ Bevor Verena etwas sagen konnte, kamen Doktor Strauß, Hendrik Jansen, Peter Kittler und Birgit Schnoor herein. Da war Kerstin gerade noch einmal zum richtigen Zeitpunkt wach geworden.
„Guten Morgen. Fangen wir gleich an.“ Doktor Strauß setzte sich ans Tischende. „Es gab Probleme mit Frau Fischer und Frau Schmidt. Sie haben sich geprügelt. Beide sind im Bunker untergebracht. Hat einer von Ihnen eine Erklärung, was der Grund für diese Auseinandersetzung sein könnte?“ Er sah sich fragend um.
„Nein“, meinte Kerstin. Langsam kam wieder Klarheit in ihrem Kopf. Der Kaffee war wie eine Wiederbelebung. Mel und Fisch? Seitdem Fisch nicht mehr mit Kalle in einer Clique war, hatte sie eigentlich weniger Probleme mit den Frauen. Der neue Streit musste einen alten Grund haben. Aber noch war Kerstin nicht in der Lage sich tiefgehende Gedanken um die Frauen der Stationen zu machen. Ein Tritt von Verena gegen ihr Schienbein ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Hatte man sie angesprochen? Nein, keiner sah sie an. Wahrscheinlich sollte sie einfach wieder in die Wirklichkeit finden. Mit ein wenig Mühe schaffte sie es bis zum Ende der Dienstbesprechung zuzuhören.
„Danke.“ Auf dem Weg zu ihrem Büro sah Kerstin Sascha dankbar an. „Sie haben mir mit Ihrem Kaffee sehr geholfen.“
„Keine Ursache. Ich bin sowieso nicht der Kaffeetrinker. Wenn Sie wollen, dann können Sie den Rest haben.“
„Das wäre sehr nett. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ohne Koffein den Tag überstehe…“ Kerstin machte eine kleine Pause „Es tut mir Leid, dass ich Sie wegen des Raumes und der Akten so angefahren habe. Sie haben schließlich nur getan, was Ihnen Doktor Strauß gesagt hat.“
„Schwamm drüber“ Sascha reichte Kerstin die Hand „Auf gute Zusammenarbeit.“
„Ja.“ Kerstin strahlte.
Wenn sie länger darüber nachdachte, dann war Sascha eine sehr nette Kollegin. Und irgendwie…sie sprach Kerstin an! Dieses süße Lächeln, so schelmisch und lausbübisch. Ihre braunen Haare, die sich nie richtig ordnen ließen, beinahe wie ihre eigenen Haare, die ohne Haarspray auch machten, was sie wollten. Und diese blauen Augen. Wie Wasser in der Karibik. Kerstin könnte problemlos länger in diesen Augen versinken. Dazu eine Stupsnase und Lippen, an die Kerstin lieber gar nicht näher denken wollte, sonst würde sie in Ohnmacht fallen. Und all das hatte sie wegen des dummen Nebenzimmerstreites übersehen. Wie blind konnte sie sein?
„Kerstin, geht es Ihnen gut?“ Wenn man von seinem Engel träumte, dann stand er manchmal sogar vor einem. Kerstin hob ihren Blick und sah Sascha vor ihrem Schreibtisch stehen.
„Ja, danke. Ich war kurz in Gedanken versunken.“ Und du warst mein Gedanke, fügte sie still hinzu.
„Soll ich Ihnen wieder meinen Kaffee überlassen?“
„Nein, das war gestern eine ganz andere Situation. Ich hatte genug Schlaf. Kann ich Ihnen helfen? Ich hoffe mal, es ist nichts wo ich Ihnen als Ärztin helfen sollte.“
„Doch, leider. Haben Sie eine Schmerztablette für mich? Heute bin ich diejenige, die Kopfschmerzen hat“
„Kein Problem.“ Kerstin holte eine Schachtel Schmerztabletten aus ihrer Schublade.
„Muss ich Ihnen etwas quittieren? Wegen der Nachbestellung und dem Nachweis, wo die Medikamente verblieben sind?“
„Nein, das war meine.“ Kerstin schenkte Sascha ihr schönstes Lächeln. Ja, ein Engel. Und diese Grübchen wenn sie lächelte.
„Oh, danke.“
„Kein Problem, dafür bin ich hier.“ Kerstin sah Sascha nachdenklich an. „Geht es Ihnen sonst gut?“
„Ja.“ Eine glatte Lüge. Und eine schlechte. Sascha fühlte sich hundeelend.
„Was ist passiert?“ Kerstin stand auf und deutete Sascha, sich auf die Liege zu setzen. Eine kleine Untersuchung konnte nicht schade. Manchmal war es sehr praktisch Ärztin zu sein. Wer konnte sonst zu einer Frau sagen: Zieh dich aus! Ohne dafür Ärger zu bekommen?
„Alkohol. Viel zu viel. Ich vertrage keine zwei Flaschen Wein und mehrere Whiskeys.“ Sascha legte sich auf die Liege. Liegen war besser als sitzen oder gar stehen. Ihr Kopf dankte ihr die wagerechte Position, indem der stechende Schmerz unter ihrer Schläfe ein wenig nach ließ. Kerstin musste innerlich lächeln. Aha, das war wohl die offizielle Woche der Zuvieltrinker.
„Ein Kater. Na, dem werden wir das Fürchten lehren“ Kerstin begann langsam und vorsichtig Saschas Schläfe und Schädel zu massieren. „Machen Sie die Augen zu und stellen Sie sich vor, Sie lägen an einem einsamen Sandstrand in der Karibik. Um Sie herum ist nur Sand und das Meer rauscht im Hintergrund. Es ist ein angenehmes Rauschen. Die Wellen umspielen sanft Ihre nackten Füße wenn sie an den Strand schlagen. Jede Welle lässt Ihren Körper sich mehr entspannen. Sie sind ganz in der Ruhe Ihrer Umwelt versunken und ganz entspannt. Es ist Ihr Wunschurlaub. Ruhe, viel Ruhe. Sie sind ganz alleine und keiner kann Sie stören. Wie fühlen Sie sich?“ Also, Kerstin fühlte sich klasse, wenn sie sich vorstellte, dass sie neben Sascha an diesem Strand lag.
„Die Kopfschmerzen gehen weg.“ Kerstin lächelte. Das war Sinn der Übung. Viele Kopfschmerzen ließen sich beheben, wenn man dem Patienten die nötige Ruhe und Entspannung verschaffte.
„Fühlen Sie sich wohl?“
„Ja, es beinahe so als wenn ich wirklich an diesem Strand wäre. Wie machen Sie das?“
„Das sind Sie selber mit der Kraft Ihrer Gedanken. Ich massiere nur leicht ihre Schläfe und Ihren Schädel. Die Schmerzen werden Sie wohl heute noch öfter aufsuchen, denn ich kann Sie schlecht den ganzen Tag auf Ihrer Insel liegen lassen, aber wenn Sie selber ab und zu Ihre Schläfe massieren und dabei die Augen schließen, dann sollten Sie die Schmerzen in den Griff bekommen.“ Kerstin ließ Saschas Schläfen los. Ungern.
„Danke.“ Sascha öffnete die Augen und lächelte.
„Keine Ursache, das ist mein Job. Das nächste Mal trinken Sie einfach weniger.“
„Das sagt sich so leicht.“
„Ich weiß. Ich bin schließlich selber das beste Beispiel dafür, wie man es immer wieder falsch macht.“
„Ärzte sind auch nur Menschen.“
„Eben.“ Kerstin seufzte. Was wäre das schön wenn sie den Rest des Tages Sascha ihre Kopfschmerzen wegmassieren könnte. Und das alles nur, weil sie ihr ihren Kaffee überlassen hatte. Kerstin war heilfroh an dem Morgen so müde gewesen zu sein. Sonst würde sie wahrscheinlich noch immer Sascha anschmollen. So war die Situation viel entspannter und angenehmer.
„Jodie?“ Sascha hing ihren Schlüssel in den Schlüsselkasten und betrat das große Wohnzimmer.
„Ihre Tochter ist weg. Sie ist heute auf einer Geburtstagsfeier.“ Johanna, die Haushälterin sah von ihrer Bügelarbeit auf.
„Danke Johanna.“ Ohne Johanna würde Sascha nie wissen, wer gerade wo von ihrer Familie war.
„Hat mein Mann sich gemeldet?“
„Er hat bereits am frühen Morgen angerufen, Sie waren keine zehn Minuten weg. Er hat einen dringenden Geschäftstermin in Zürich und wird erst morgen Abend wieder nach Hause kommen.“ Johanna sah Sascha mitleidig an. Sie konnten sich beide vorstellen, was das für ein Geschäftstermin war.
„Eine neue Woche, ein altes Programm. Naja, dann werde ich mich mit einem Buch zurückziehen. Wollen Sie auch Feierabend machen?“
„Es ist doch erst sechzehn Uhr.“
„Ihr Enkelsohn hat heute Geburtstag. Er wird sich bestimmt freuen, wenn Sie ihn besuchen kommen.“
„Danke.“ Johanna lächelte. Sascha war selten Zuhause, doch sie merkte sich alle Termin, die das Hauspersonal betrafen. Ob es der Geburtstag von Johannas Enkel, der Tierarztbesuch vom Dackel des Kindermädchens oder der Behördengang des Chauffeurs war, sie hatte alle Termine im Kopf, wenn man sie ihr einmal mitgeteilt hatte. Ganz im Gegensatz zum Herrn des Hauses, der außer für seine Arbeit keine Gedanken hatte.
„Kein Problem. Und wenn Sie mögen, dann nehmen Sie sich morgen früh frei, ich muss erst ab dem Mittag arbeiten“
„Das ist sehr nett, aber ich muss morgen früh zur Reinigung.“
„Gut, dann sehen wir uns morgen früh wieder.“ Sascha lächelte und ging in die Bibliothek. Hier war sie am Liebsten. Der Raum war groß und jede freie Stelle war mit Büchern besetzt. Von Biografien über Literaturklassikern zu modernen Romanen und Fachliteratur. Alles war hier zu finden. Unter dem einzigsten Fenster stand eine Couch, auf der Sascha stundenlang lag um zu lesen. Das war ihr Revier, ihr Ort, an den sie sich zurückzog. Und heute würde sie hier ungestört sein. Ihre Tochter würde erst gegen 20 Uhr zurückkommen. Sie hatten abgemacht, dass Jodie im Sommer unter der Woche etwas länger wegbleiben durfte, dafür im Winter zusah bei Dunkelheit wieder Zuhause zu sein oder im Haus einer Freundin, von wo aus Sascha sie abholen konnte. Bisher hatte es mit dieser Abmachung keine Probleme gegeben. Jodie war derzeit ein wenig rebellisch, wie es Kinder in dem Alter sind, aber sie meldete sich immer von sich aus an und ab. Ebenso rief sie an, wenn es später wurde. Diese Verlässlichkeit hatte sie nicht von ihrem Vater. Geschäftstermin in Zürich. Sascha wusste genau, wie der aussah. Der Geschäftstermin hieß Katharina, war Anfang zwanzig und die Tochter eines Geschäftsfreundes. Seitdem Mike, ihr Mann, das erste Mal in Zürich war vor fünf Jahren, hatte er eine Affäre mit Katharina, die damals knapp über achtzehn gewesen sein musste. Er hatte Sascha nie davon erzählt, doch sie konnte zwei und zwei zusammenzählen. Manchmal fragte sich Sascha, wieso sie das alles mitmachte? Was hielt sie hier? Sicher, sie wohnte in einem riesigen Haus, hatte Hauspersonal, musste sich um nichts selber kümmern und lernte aufgrund der Arbeit ihres Mannes interessante Menschen kennen, doch sie hatte keine richtige Familie. Wahrscheinlich war das ein natürlicher Prozess. Sie und Mike waren seit vierzehn Jahren zusammen, für beide war es die erste Beziehung gewesen, aus der dann Jodie nach einigen Monaten entstand. Während Sascha sich nach dem Realschulabschluss um die Tochter kümmerte, ging Mike mit der finanziellen Unterstützung seiner Eltern zum Gymnasium und dann zur Universität. Er wollte schon immer ein erfolgreicher Geschäftsmann sein. Geld und Macht hatten ihn immer fasziniert und nun war er im Spiel der Reichen, Mächtigen und Schönen integriert. Für die Familie und die Ehefrau blieb sehr wenig Zeit.
„Na Frau Doktor, waren Sie wieder erfolglos?“ Hendrik Jansen grinste Kerstin dreckig an. Er hatte beobachtet wie Verena das Arztzimmer verlassen hatte.
„Nein, wir hatten wunderbaren, schnellen Sex auf der Liege. Ich sage dir, sie ist der Hit. Besser geht’s nicht“ Kerstin grinste belustigt. „Ich hoffe mal, du bist nicht zu eifersüchtig wegen der Niederlage.“
„Auf dich? Das was du abbekommst, das werfe ich weg. Mal ganz davon abgesehen, dass ich in einer Beziehung lebe, während du dich jeden Tag nach der Kollegin verzehrst, die dir einen Korb nach dem anderen gibt“, konterte Jansen eiskalt.
„Im Gegensatz zu dir hatte ich sie in meinem Bett. Und ich verbringe jede Menge Zeit mit ihr. Gib ruhig zu, dass es dich extrem wurmt, dass du Verena nicht rum bekommst.“ Kerstin grinste breit. Sie und Jansen konnten sich nicht leiden, das war vom ersten Tag an so gewesen, aber seitdem er feststellte, dass sie sich perfekt mit Verena verstand, versuchte er gegen sie zu sticheln, wo immer er konnte. Er selber hatte bereits unzählige Male versucht Verena zu bezirzen, aber diese hatte sich stets unbeeindruckt gezeigt. Verheiratete Männer fand sie uninteressant. Das gab nur Ärger. Und Jansens Geschwafel, dass er sich scheiden lassen wolle, nahm sie ihm nicht ab.
„Ich habe kein Interesse an der Kollegin Wüllner.“ Hah, der war gut. Den musste sie Verena erzählen. Jansen hatte kein Interesse an ihr.
„Das glaubst du doch selber nicht. Ich nehme dir ab, dass du an der Schiller kein Interesse hast, wobei ihr beide sehr gut zusammenpassen würdet, aber ich weiß genau, wie scharf du auf Verena bist. Sie hat mir von deinen Angeboten erzählt.“ Kerstin sah Jansen triumphierend an. Sie kannte jede Masche, die er bei Verena versucht hatte. Ohne Ausnahme. Jansen warf ihr einen hasserfüllten Blick zu.
„Frustrierte Lesbe.“
„Ich bin in keiner Weise frustriert, mir geht es wunderbar. Im Gegensatz zu dir kleinem abgewiesenen Möchtegerncasanova.“
„Irgendwann machst du einen Fehler und dann werde ich dich packen.“
„Aber Herr Kollege, diese Drohungen immer. Ich mache keine Fehler, ich habe keine Affäre mit den Insassinnen, was man nicht von allen hier Anwesenden behaupten kann und ich versuche nicht am Direktorensessel zu sägen.“ Kerstin verschränkte die Arme hinterm Kopf und lehnte sich zurück. Jansen schnaubte und verließ das Zimmer. Was der sich einbildete. Kerstin sah ihm belustigt nach. Aber er brachte ein wenig Humor in ihren Arbeitstag. Jansen kam ihr vor wie ein schlechtes Comedyprogramm.
„Hi.“ Kerstins Herz machte einen kleinen Sprung. Eigentlich war sie auf dem Weg in die Pause, aber dann hatte sie Sascha in ihrem Unterrichtsraum entdeckt. Sie saß an ihrem Schreibtisch und ordnete einige Zettel.
„Hallo, wie geht es Ihnen?“
„Danke, sehr gut. Und selber?“
„Es könnte besser sein. Doch ich will mich nicht beklagen.“ Sascha lächelte eine Rose auf ihrem Schreibtisch an.
„Verehrerin?“
„Bitte?“
„Eine der Frauen?“ Sie deutete auf die Rose, konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass eine der Frauen an eine Rose kam. In der Gärtnerei gab es nach Kerstins Wissen keine Rosen und sonst kamen hier selten Blumenlieferungen an.
„Nein…“ Sascha wurde rot. Und Kerstin begann rot zu sehen. Dann hatte sie eine konkrete Vorstellung, wer der Absender der Rose war. Das hätte sie sich gleich denken können. Typisch.
„Jansen.“
„Woher…?“
„Das ist seine Masche. Sie sind sein neues Opfer.“ Kerstin hatte Mühe ruhig zu bleiben. Sie könnte Jansen den Hals umdrehen. Nicht nur, weil er mal wieder eine neue Kollegin anbaggerte, sondern auch weil er Sascha ins Visier genommen hatte.
„Opfer?“
„Er gräbt alles an, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.“
„Sie und Hendrik verstehen sich nicht sonderlich gut, oder?“
„Das hat er Ihnen erzählt? Es stimmt, wir können uns nicht leiden“ Und wahrscheinlich war sie in Jansens Geschichten an allem Schuld.
„Er sagt, Sie seien eifersüchtig auf ihn.“ Treffer, Versenkt. Jansen war zu leicht zu durchschauen.
„Hat er auch einen Grund, wieso ich auf ihn eifersüchtig sein sollte?“ Das interessierte Kerstin sehr. Wenn er Sascha schon erzählte, dass sie eifersüchtig war, dann wollte sie wissen welchen Grund er angegeben hatte.
„Weil er bei den Frauen ankommt und im Gegensatz zu Ihnen in einer Beziehung lebte“
„Lebte?“
„Er will sich scheiden lassen.“ Schon wieder die alte Geschichte. Das durfte nicht wahr sein. Wie oft wollte sich der Kerl jetzt schon scheiden lassen?
„Außerdem wären Sie sauer, weil sie bei Verena keine Chance hätten obwohl Sie seit Monaten versuchen sie…sie…na ja…“ Sascha wurde rot. Wie putzig. Kerstin hätte sie in den Arm nehmen können um sie zu knuddeln. Was war diese Frau süß. Und so schüchtern.
„Weil ich Verena ins Bett bekommen will?“, fragte Kerstin. Saschas Gesichtsfarbe wurde einen weiteren Ton roter. Kerstin setzte sich auf die Tischkante und schmunzelte.
„Ich gebe zu, Verena ist eine tolle Frau und ich hätte sie bestimmt nicht von meiner Bettkante geworfen, aber wir sind Freunde. Sie ist meine beste Freundin, das ist wertvoller als eine Beziehung. Nein, ich bin ganz bestimmt nicht eifersüchtig auf Herrn Jansen, das ist er auf mich wegen Verena.“
„Sie haben nichts miteinander?“
„Nein, kein bisschen.“
„Herr…er meinte, sie würden…also Verena würde bei Ihnen…“
„Verena schläft ab und zu bei mir, in meinem Bett, doch ob ich mein Bett mit Verena oder meinem Mitbewohner teile, der nebenbei schwul ist, das ist egal. Bei beiden passiert das gleiche: nichts. Nur weil Herr Jansen mit jeder Frau schläft, die er in die Hände bekommt, heißt das nicht, dass ich das auch mache. Nur weil ich lesbisch bin, will ich nicht jede Frau ins Bett bekommen. Oder wollen Sie jeden Mann ins Bett ziehen?“
„Nein.“ Das musste die Endfarbe sein. Wenn Saschas Kopf noch roter werden würde, dann würde Kerstin sich ernsthaft Sorgen machen ob er platzen würde.
„Sehen Sie. Geben Sie nicht so viel darauf, was Jansen über mich sagt. Wie Sie sehen, haben wir eine sehr problematische Beziehung.“
„Ich merke es. Und Sie meinen, die Rose ist eine Masche?“
„Ich befürchte ja. Ich würde nicht viel darauf setzen, dass er es mal ernst meinen könnte.“ Aber ich kann verstehen, dass er es bei dir versucht, setzte Kerstin stumm hinzu. Sascha passte wunderbar in Hendriks Beuteschema. Jung, gutaussehend und mit dem Geschehen in Reutlitz und im Vollzug nicht vertraut. Da konnte er sich super als Beschützer und Bewacher aufspielen. Eine kleine Rose hier, eine Einladung zum Essen da und schon war eine neue Frau in seiner Liste.
„Riskieren Sie nicht Ihre Ehe wegen Jansen. Das wäre er nicht wert. In jeder Disko finden Sie Männer, die sich dazu besser eignen.“ Oder werfen Sie ein Auge auf ihre Kollegin, die nette Ärztin. Die wäre sehr an Ihnen interessiert. Kerstin stand lächelnd auf. Sie begann zu fantasieren und stumme Selbstgespräche zu führen.
„Ich muss los, meine Affäre.“ Kerstin zwinkerte belustigt „Wartet im Pausenraum. Viel Spaß gleich beim Kurs“
„Danke. Schöne Pause.“ Aus dem Augenwinkel konnte Kerstin noch erkennen wie Sascha die Rose vom Tisch nahm, zerbrach und in den Mülleimer war. Wenn Jansen erfuhr, wer ihm da die Tour vermasselt hatte, würde es wieder Ärger geben. Doch Kerstin freute sich schon darauf. Gab es etwas Schöneres als Jansen eine Tour zu vermasseln?
Teil 4
„Du siehst schlecht aus.“ Verena sah zu Sascha, die sich auf eine Bank unweit von Reutlitz gesetzt hatte. „Stressiger Tag?“ Normalerweise verließen die Leute freudig Reutlitz und sahen nicht aus wie sieben Tage Regenwetter.
„Nein, ich habe einfach keine Lust nach Hause zu gehen. Hast du so etwas nie?“ Sie duzten sich seit einigen Tagen. Verena hatte Sascha Kerstins Geschichten über Jansen bestätigt, was dazu geführt hatte, dass sie ihm reservierter entgegen trat.
„Eigentlich nicht. Zuhause wartet mein Kätzchen auf mich.“
„Auf mich ein leeres Haus.“
„Wo ist deine Familie?“
„Ausgeflogen.“ Sascha sah auf. Kerstin kam mit Jansen im Schlepptau aus Reutlitz. Sie lächelte zufrieden, er schimpfte und gestikulierte wild.
„Sie bringt ihn gerne auf die Palme, oder?“
„Ja, wenn der eine Ruhe gibt, dann stichelt der andere. Normalerweise würde ich sagen, was sich liebt, das neckt sich, aber bei den beiden wird dieses Sprichwort nicht passen.“ Verena sah zu, wie Kerstin Jansen freudig nachwinkte und dann zu ihnen schlenderte.
„Hi.“
„Du hast ihm den Feierabend versaut, oder?“
„Ja, ein wenig. Du weißt, jeder braucht ein Hobby.“ Kerstin grinste und kniff Verena in die Seite. „Sascha, was ist los? Sie sehen aus als wenn ich Sie und nicht Jansen geärgert hätte. Was ich allerdings nie machen würde.“
„Meine Feierabendfreude hält sich in Grenzen. Ein großes, leeres Haus wartet auf mich“
„Oh.“ Kerstin sah nachdenklich drein. Dann erhellte sich ihr Gesicht. Sie hatte eine Idee, wie man Saschas Abend retten konnte.
„Was für eine Schicht haben Sie morgen?“
„Frei. Die Frauen müssen eine dringende Wäschebestellung erledigen. Warum?“
„Vroni und ich haben Spätschicht, da würde sich ein gemeinsamer Abend anbieten. So weit ich weiß, ist im „FoGaL“ ein Live – Event. Ich wollte Vroni sowieso mit dorthin schleppen, kommen Sie mit, das wird lustig.“
„Was ist das „FoGaL“?“
„Meine Stammdisko. Sehr lustig. Was sagen Sie dazu?“
„Ich weiß nicht. Mein Kleiderschrank wird nichts für eine Disko hergeben. Wenn ich mal ausgehe, dann auf die Partys meines Mannes“, zweifelte Sascha.
„Das bekommen wir hin, dafür gibt es Kilian.“
„Kilian?“
„Den musst du kennen lernen“, unterstützte Verena Kerstin. Sie hatte bis eben nichts von der Party gewusst, war es aber gewohnt, dass Kerstin sie mit einem Programm überraschte, wenn sie beide Spätschicht hatten. Und Sascha konnte die Abwechselung vertragen.
„Kilian ist ein Schatz. Ich würde sagen, ihr beide begebt euch in seine Hände, ich kümmere mich um meine Katze und komme dann nach. Soll ich Essen mitbringen?“
„Patrick ist mit dem Essen dran.“
„Hach, dann werde ich wieder nicht zum Essen kommen“, grinste Verena und fing sich einen bösen Blick von Kerstin ein. Sie hoffte, Verena meinte das nicht so, wie sich das angehört hatte.
„Sascha, was hältst du von dem Plan?“
„Ich weiß nicht…ich meine, wenn jetzt einer Zuhause anruft…“
„Dann soll der dich auf dem Handy anrufen. Gib dir einen Ruck, ein wenig Spaß kann nicht schaden.“ Und weil Verena Recht hatte, Sascha keine Lust auf einen weiteren Abend allein hatte und es Zeit wurde, dass sie sich auch mal wieder amüsierte und etwas mit Leuten unternahm, die nicht ihr Mann anschleppte, sagte sie zu.
„Gut, dann sehen wir uns in etwa einer Stunde bei dir.“ Verena küsste Kerstin auf die Wange.
„Lass dich nicht klauen.“
„Kerstin, du weißt was mit Leuten passiert, die versuchen mich zu klauen. Bis gleich.“ Sie winkte Sascha und Kerstin und verschwand dann Richtung Parkplatz.
„Ich hoffe, es stört Sie nicht wenn wir laufen. Ich gehe immer zu Fuß nach Reutlitz…es sei denn, es ist einer dieser Tage, an denen ich verschlafen habe.“ Also ging sie meistens nicht zu Fuß, wenn man es gemein genau betrachtete.
„Kein Problem. Ich habe den ganzen Tag gesessen.“ Sascha stand auf und folgte Kerstin. Tat sie das Richtige? Sollte sie nicht doch lieber nach Hause gehen? Ihr Mann war einen solchen Ausflug nicht von ihr gewohnt.
„So ganz wohl fühlen Sie sich nicht bei dem Gedanken an unser Abendprogramm, oder?“, erriet Kerstin Saschas Gedanken.
„Nein, das ist so neu. Ich war seit…seit ich mit Mike zusammen bin, nicht mehr alleine aus.“ Kerstin legte ihre Stirn in Falten. So was. Wie konnte man sich so abhängig machen? Selbst wenn Kerstin in einer Beziehung war, brauchte sie einen Abend in der Woche, an dem sie etwas alleine unternahm. Und sei es nur mit Verena ins Kino zu gehen oder mit Kilian eine Ausstellung besuchen.
„Der Abend wir Ihnen gut tun. Glauben Sie mir, Sie brauchen keinen Mann um sich zu amüsieren.“
„Sollen wir uns nicht auch duzen? Ich meine, wir gehen schließlich gleich zusammen weg. Da wäre ein Sie umständlich.“
„Das stimmt“, lachte Kerstin. Wenn es nach ihr ging, dann konnten sie auch gerne Brüderschaft, beziehungsweise Schwesterschaft trinken. Alles was ihr Sascha ein wenig näher brachte.
„Kerstin.“
„Sascha. Und wer ist Kilian?“
„Kilian ist mein Mitbewohner. Du wirst ihn mögen, er ist…einzigartig. Es sei denn, du hasst die 70er Jahre. Die und ABBA sind sein Leben.“
„Ich stehe auf ABBA. Ich war bei der Premiere des Musicals in Hamburg. Eine der wenigen Vorteile am Beruf meines Mannes ist, dass er für so etwas Karten bekommen kann. Seitdem war ich bereits dreimal dort. Es ist fantastisch.“
„Kilian wird dich lieben. Was macht dein Mann denn? Ist er Produzent?“
„Nein, er ist so etwas wie ein Event – Manager. Wenn es in Berlin eine Party mit Promis gibt, dann organisiert er die. Und immer öfter macht er das mit Partys außerhalb der Stadt“
„Wow, dann kennt er berühmte Leute. Faszinierend.“ Kerstin war beeindruckt. Sie kannte nur einen Promi, Hella von Sinnen. Die war einmal Stargast in ihrer Stammdisko gewesen. Sascha musste jede Menge Stars kennen.
„Ja, aber glaub mir, die sind genauso interessant wie jeder andere Mensch auch. Und sein Job ist…ist nicht gerade förderlich für ein harmonisches Familienleben.“ Sascha seufzte. Kerstin zog es vor jetzt nicht näher nachzufragen. Außerdem waren sie bei Kerstin in der WG angekommen.
„Guten Abend, Doktor Herzog.“ Eine alte Frau fegte vor ihrer Wohnungstür.
„Guten Abend, Frau Braukmann. Wie geht es Ihnen?“
„Sehr gut, danke. Und Ihnen?“
„Auch, danke.“
„Könnten Sie Herrn Beckmann darum bitten seine Musik gleich etwas leiser zu stellen? Ich habe nichts gegen seine Musik, aber gleich kommt doch der alte Heimatfilm und wenn ich den Fernseher so laut stelle, dann piept Fiffi ohne Unterbrechung.“
„Ich mach die Musik persönlich leiser“, versprach Kerstin. „Einen schönen Abend, wünsche ich Ihnen.“
„Ihnen auch, Frau Doktor.“ Kerstin und Sascha gingen ein Stockwerk höher. Von hier kam die Musik.
„Daran erkennt man, dass Kilian Zuhause ist. Seine Musik erfüllt das Haus.“
„Bekommt ihr keinen Ärger vom Vermieter?“
„Kilian ist der Vermieter. Außerdem wissen alle Leute, dass er die Musik sofort leiser macht, wenn sie fragen. Außer Frau Braukmann wohnen hier noch zwei Studenten WGs, die selber meistens etwas lauter sind. Die Ruhezeiten werden jedoch von allen eingehalten, das ist Ehrensache.“ Kerstin schloss die Haustür auf und ließ Sascha den Vortritt. Staunend sah Sascha sich um. Der Flur war im grellen grün gehalten und überall hingen Poster von Bands, Filmen und Musicals der 70er. Direkt vom Flur führte eine große Tür in das Wohnzimmer, in dem ein Mann in Schlaghose und quietschbuntem Hemd stand und ABBA Lieder mitsang. Das musste Kilian sein. Sascha schätzte ihn auch Mitte zwanzig. Im Wohnzimmer waren die Wände in verschiedenen leuchtenden Farben gehalten. Plüschteppiche und Ohrensessel in den unmöglichsten Farben standen herum und ein großer, unechter Kamin stand an einer Wand. Hier wohnte der Kitsch und der, sagen wir mal, eigensinnige Geschmack der 70er Jahre.
„Man gewöhnt sich daran“, meinte Kerstin. Sie drehte die Musikanlage leiser und Kilian entdeckte sie. Es schien ihm nicht peinlich zu sein, dass die Frauen ihn beim Singen und Tanzen gesehen hatten.
„Kerstin, Schätzchen, du bist das. Und hui, du hast eine schöne Begleitung mitgebracht.“ Er umarmte Kerstin und küsste sie auf die Wange.
„Das ist Sascha, meine Arbeitskollegin.“ Kerstin sah Kilian durchdringend an. Wehe er würde verraten, dass sie bereits mehrmals von Sascha geredet hattet oder gar durchscheinen lassen, dass sie von ihr geschwärmt hatte.
„Hi, ich bin Kilian.“ Kilian reichte Sascha die Hand.
„Hallo.“
„Keine Angst, ich beiße nicht.“
„Sascha begleitet uns heute Abend. Hast du ein passendes Outfit für sie?“
„Gewagt?“
„Wenn es geht, ganz normal.“
„Normal? Na, das wird schwierig. Aber wir werden sehen. Wo ist dein blonder Engel?“
„Zuhause, die Katze füttern. Wahrscheinlich nimmt sie sie mit her.“
„Gut, dann werde ich mal gucken, was ich für Sascha finde. Sascha. Ein schöner Name. Ich hatte mal einen Freund, der hieß Sascha. Der konnte vielleicht tanzen. Wie ein junger Gott. Los, lass uns meinen Kleiderschrank stürmen.“
„Dann mache ich mal die Getränke fertig. Bis ihr aus dem Kleiderschrank wieder raus seid, das dauert“, prophezeite Kerstin. Sascha sah sich zweifelnd Kilian an. Wenn sein Kleiderschrank aus solchen Sachen bestand, dann würde sie niemals etwas finden. Mal ganz davon abgesehen, dass sie nicht dieselbe Größe hatten.
Sascha hatte ein passendes Outfit von Kilian bekommen. Und dass seine Sachen zwei Nummern größer waren als ihre änderte er in Windeseile um. Schließlich war nicht nur ein Innendekorateur, sondern auch Hobbyschneider.
„Du siehst ganz anders aus“, meinte Kerstin als sie Sascha wiedersah.
„Schlimmer?“
„Nein, cool.“
„Sie wird eine Dancing Queen. Entschuldigt mich, ich muss mich fertig machen.“ Kilian verschwand.
„Den sehen wir die nächste Stunde nicht wieder.“
„Badezimmer?“
„Alle Vorurteile über Schwule und ihren Hang eine Diva zu sein passen auf Kilian. Pediküre, Maniküre, alles muss perfekt sein, wenn er raus geht. Mit so einem Mann im Haus braucht man zwei Badezimmer.“
„Dann wäre er bei mir perfekt aufgehoben. Jedes Schlafzimmer hat sein eigenes Badezimmer. Er könnte den ganzen Tag von einem Bad ins andere wechseln. Da eh keiner Zuhause ist, hätte er viel Freiraum. Nur das Personal könnte ihn stören.“
„Personal? Cool. Das muss ein schickes Haus sein.“
„Mike meinte, wir brauchen etwas Großes, etwas, das etwas herzeigt. Im Prinzip wären wir mit einer kleinen Wohnung bedient, aber…der Schein muss stimmen.“
„Du hörst dich nicht sehr glücklich an, wenn du von deiner Familie erzählst.“ Kerstin wagte den Vorstoß.
„Naja, wir leben zusammen wie einer WG. Jodie ist mal Zuhause, meistens jedoch bei Freunden. So wie heute. Und Mike…der ist mindestens einmal die Woche auswärts auf einem Geschäftstermin und kommt nicht nach Hause. Und wenn er Zuhause ist, dann um zu schlafen, duschen und sich frische Kleidung anzuziehen. Keine wirkliche Bilderbuchfamilie.“ Sascha seufzte traurig. Und das ging seit Jahren so.
„Ich finde es faszinierend, dass du trotzdem mit ihm verheiratet bist. Wenn ich mir das vorstelle, ich hätte Angst betrogen zu werden.“
„Ich weiß, dass er mich betrügt.“ Das kam so trocken und gefasst, dass Kerstin zuerst dachte, Sascha würde sie hereinlegen.
„Was?“
„Er betrügt mich seit Jahren mit einer Frau in Zürich und wenn er in der Woche länger weg bleibt, dann nicht, weil er unabkömmlich bei der Arbeit ist, sondern weil er ein Tete a Tete mit der Sekretärin hat. Mein Mann ist mir seit dem Studium nicht mehr treu. Man könnte sogar sagen: frisch getraut und schon betrogen.“ Sascha lachte bitter.
„Wie kannst du…ich meine…wieso ziehst du nicht aus? Wieso lässt du dich nicht scheiden? Nimm deine Tochter und gehe weg.“
„Und dann? Wovon sollen wir leben? Kerstin, wozu sollte ich mich trennen? Ich habe alles, was ich brauche, lebe besser als viele Menschen. Soll ich das alles aufs Spiel setzen? Natürlich hat es wehgetan, als ich bemerkt habe, dass Mike mich betrügt, aber inzwischen ist mir das egal. Ich bin mit ihm zusammen, weil es das Bequemste ist und ich mir so keine Sorgen um irgendetwas machen muss. Von mir aus kann er sich doch Geliebte halten, so lange er sie nicht mit nach Hause bringt. Jodie hält ihn für einen Übervater. Er hat sie mit zu den Backstreet Boys genommen und ermöglicht ihr laufend andere Stars zu treffen. Welche Tochter würde so einen Vater missen wollen?“
„Und was ist mit dir? Du solltest auch glücklich sein. Wer kümmert sich darum, dass es dir gut geht? Dass du glücklich bist. Das ist auch wichtig.“
„Ich komme klar. Vielleicht später, wenn Jodie größer ist, dann werde ich meine Sachen packen, aber bis dahin. Ich habe keinen Grund auszuziehen.“
„Du könntest dich revanchieren. Lach dir einen Geliebten an. Auge um Auge, Zahn um Zahn“, schlug Kerstin vor.
„Nein, das ist nicht mein Stil. Ich habe kein Interesse an diesen Männern, die einen ins Bett schleppen und dann am nächsten Morgen verschwunden sind. Das ist mir zu billig. Wenn ich mit jemanden etwas anfange, dann müssen da Gefühle sein und nicht Rache.“ Sascha sah Kerstin überzeugt an. Kerstin hätte in diesem Moment alles dafür gegeben, wenn sie Saschas Lippen hätte küssen dürfen. Und doch schien ihr Traum, Sascha nahe zu kommen, mit der letzten Aussage ein wenig weiter weg gerückt sein. Wie wahrscheinlich war es schon, dass Sascha etwas mit ihr anfangen würde? Eine, wenn auch unglücklich, verheiratete Ehefrau. Wieso sollte die nach über fünfundzwanzig Jahren plötzlich auf die Idee kommen, etwas mit einer Frau anzufangen? Wobei Kerstin sicherlich besser zu ihr war als ihr Mann. Kerstin würde Sascha nicht betrügen, würde sie nicht jeden Abend alleine lassen, würde sich um sie kümmern, Interesse an ihr und ihrem Leben haben. Sie würde ihr kein Prominentenleben bieten können, keine Villa, aber sie konnte ihr sich selbst bieten. Und ihre Liebe. Nur, was zählte das schon in diesem Fall?
„Du bist bemerkenswert. Ich würde das nicht aushalten.“
„Man gewöhnt sich an vieles. Außerdem bin ich ja jetzt hier und du wirst mir zeigen, dass das Leben lustig sein kann. Was für ein Laden ist dieses „FoGaL“ eigentlich?“
„For Gays and Lesbians. Das sagt alles, oder?“
„Nur über die Menschen, die ihn besuchen. Wobei, wenn du Verena regelmäßig mit dorthin nimmst, scheint es für jeden zu sein.“
„Jeder ist willkommen. Es gibt drei Bereiche. Einen, in denen die Jungs unter sich sein können, einen, in dem die Frauen unter sich sind und einen großen Raum, der über zwei Etagen geht, wo man unten mit Musik quer Beet versorgt wird, die nicht ganz so laut ist, damit man sich unterhalten kann und oben ist jeden Abend eine andere Musikart dran, wo jeder nach Herzenslust tanzen und feiern kann. In einer dieser beiden Etagen halten wir uns immer auf. Und Verena wurde einmal zur Frau des Abends gekürt, hat ihren Preis, eine Frau ihrer Wahl, jedoch abgelehnt. Wenn du jemanden sagst, dass du kein Interesse hast, dann ist das okay. Keiner wird gezwungen.“
„Sehr beruhigend“, lachte Sascha.
„Im Ernstfall werde ich dich beschützen.“ Kerstin grinste. Sie würde sowieso darauf achten, dass keiner Sascha zu nahe kam. Diese Frau gehörte ihr. Und jeder, der versuchen würde sie anzubaggern, der würde Ärger bekommen.
Sascha bekam den Mund kaum zu als sie im „FoGaL“ war. Das war so völlig anders als die Partys, die Mike organisierte. Ganz anders. Keine Anzüge, keine Abendgarderobe, keine aufgetakelten Promis. Hier gab es alles. Vom Typ von nebenan in Jeans über stark geschminkte Männer und Frauen und Dragqueens. Und überall sah man Männer Männer küssen und Frauen Frauen. Sie stellte sich vor, wie beim letzten Empfang für einen englischen Bankdirektor diese Bilder angekommen wären und musste lächeln. Das wäre ein Desaster gewesen. Beim amtierenden Berliner Bürgermeister wäre das kein Problem. Wer weiß, vielleicht war der sogar hier.
„Man gewöhnt sich dran“, meinte Verena zu Sascha.
„Was denn?“
„An den Club. Am ersten Abend war ich auch ein wenig irritiert, aber vergeht sehr schnell.“
„Ich finde es klasse. Endlich eine Party, bei der nicht auf Etikette geachtet werden muss. Wenn ich hier ein Bier aus der Flasche trinke wird mich keiner schief angucken.“
„Das stimmt.“
„Lady, darf ich um einen Tanz bitten?“ Sascha zu sich um und sah…ein T-Shirt. Sie hob den Kopf. Da war das Gesicht zum T-Shirt. Ein junger Mann.
„Patrick.“ Verena schien ihn zu kennen, denn sie fiel ihm um den Hals und küsste ihn auf die Wange. Ihr Freund?
„Sascha, das ist Patrick. Patrick, das ist Sascha.“
„Deine Arbeitskollegin“, schlussfolgerte er. Kerstin hatte ihm bereits mehrmals von Sascha erzählt. Er hatte sie sofort erkannt.
„Genau.“
„Hallo“, meinte Patrick und schenkte Kerstin sein bezauberndstes Lächeln.
„Hi.“ Sascha sah Patrick groß an. Irgendwo hatte sie ihn bereits gesehen.
„Und? Darf ich bitten?“
„Wenn Verena nichts dagegen hat.“
„Was sollte ich dagegen haben? Tanzt ihr beide, ich hole uns etwas zu trinken.“ Sascha nahm den von Patrick angebotenen Arm und ging mit ihm auf die Tanzfläche.
„Woher kenne ich…dich?“ Siezen war hier sicherlich fehl am Platz.
„Ich weiß nicht.“
„Es muss eine Party gewesen sein. Gehobenere Klasse.“
„Die Charity Gala letzten Monat. Sonst war ich auf keiner Party.“
„Dann war es da.“
„Du warst da?“
„Mein Mann organisiert diese Partys.“
„Mike Klauke?“
„Genau der.“
„Du bist die Frau von Mike Klauke und treibst dich hier herum? Da muss dein Mann eine Krise bekommen. Von der Luxusparty ins „FoGaL“. Das ist eine Karriere.“
„Nun, mein Mann ist nicht in der Stadt und weiß nicht, wo ich bin. Mal ganz davon abgesehen, führen wir eine sehr offene Ehe. Er macht was er will, ich was ich will.“ Zumindest bis auf die letzten vier Worte stimmte alles. Dass Sascha machte was sie wollte, war heute das erste Mal. Und es fühlte sich verdammt gut an.
„Sehr lobenswert. Frauen sollten sich nicht unterdrücken lassen.“ Solche Worte von einem Mann? Sascha war hin und weg. Sie hätte nicht gedacht, dass es solche Exemplare noch gab. Ein Mann, der die Emanzipation der Frau unterstützte. Wunderbar.
„Sie tanzen hervorragend.“ Was für ein doofer Spruch, aber Sascha war nichts anderes eingefallen.
„Du.“
„Ja, Entschuldigung. Die Gewohnheit.“
„Ich werde dir für später einen Tanz reservieren. Verena ist mit den Getränken da.“ Sascha hätte Problemlos einen weiteren Tanz verkraftet. Stattdessen gingen sie zu dem Stehtisch zurück, den sie sich am Anfang gesichert hatten. Kerstin und Kilian waren ebenfalls wieder da.
„Na, den Eröffnungstanz überstanden?“, fragte Verena grinsend.
„Ja.“ Sascha nahm das rote Getränk.
„Hi Schatz.“ Patrick küsste Kilian. Deswegen war der Mann so perfekt, dachte Sascha frustriert. Er war schwul. Wie konnte sie auch nur eine Sekunde gedacht haben, dass ein gutaussehender Mann, der kultiviert war, tanzen konnte, höflich war und Frauen unterstützte hetero war? Es hätte ihr auffallen müssen, dass sich das biss. Was für ein Jammer. Patrick und Kilian waren ein komplett gegensätzliches Paar. Kilian flippig in Schlaghosen und bunten Oberteil, Patrick leger in Bluejeans und schwarzen T-Shirt. Er hätte Sascha auch gefallen. Keine Zweifel.
„Wo ist eigentlich Kerstin?“, fragte Sascha Verena. Sie hatte Kerstin seit längerer Zeit nicht mehr gesehen. Irgendwann war sie in der Menge verschwunden.
„Die hat sich bestimmt festgequatscht.“
„Und unsere beiden Herren?“
„Wahrscheinlich bei den anderen Jungs. Patrick meinte, sie müssten mal eben Hallo sagen. Das kann eine Stunde dauern.“
„Faszinierend.“
„Wie schnell man zu zweit hier steht oder Patrick?“
„Ich hatte gedacht, er wäre dein Freund.“
„Leider nein. Bei ihm würde ich auf jeden Fall ja sagen. Doch leider haben wir da keine Chance.“
„Er erfüllt so gar kein Klischee. Und ist so ganz anders als Kilian.“
„Deswegen lieben sie sich so sehr. Sie ergänzen sich perfekt.“ Verena stellte sich auf die Zehenspitzen. War das wirklich Kerstin, die sie dort hinten sah? Knutschend mit einer anderen Frau?
„Eine perfekte Beziehung.“
„Wer? Wo?“ Plötzlich stand Patrick hinter ihnen.
„Du und Kilian“, meinte Verena „Entschuldigt mich kurz, ich muss zu Kerstin.“
„Deswegen bin ich hier. Hol sie zurück. Sie hat definitiv zuviel getrunken.“
„Was macht sie?“, fragte Sascha.
„Das Falsche. Keine Panik, wenn einer Kerstin zähmen kann, dann Vroni.“
„Einer muss es tun.“ Verena verzog das Gesicht und verließ den Tisch. Langsam kämpfte sie sich durch die Menschenmasse. Für eine kurze Zeit hatte sie Kerstin aus den Augen verloren, dann entdeckte sie sie in einer Ecke wieder.
„Lass das.“ Entnervt schnappte sie sich Kerstins Hand und zog sie direkt von den Lippen der Frau weg.
„Ey“, zuerst protestierte die Frau.
„Schnauze.“ Verena hasste Desiree. Wenn es eine Frau gab, auf die die Bezeichnungen Flittchen und Schlampe zutrafen, dann Desiree. Mit der musste Kerstin nicht herumknutschen.
„Was willst du?“, fragte nun auch Kerstin, eher überrascht und angeschäkert als sauer.
„Du kommst mit mir mit. Für diese Tusse bist du zu schade.“ Ohne auf eine Zustimmung zu warten, zog Verena Kerstin von Desiree weg. Diese rief ihnen fluchend etwas hinterher.
„Kannst du mir erklären, was das sollte?“, fragte Verena
„Ich wäre eher berechtigt diese Frage zu stellen. Du hast mir gerade mein Date versaut.“ Kerstin blieb stehen.
„Kerstin, bitte. Die Frau kann nicht dein Ernst sein. Du weißt, ich habe nichts dagegen, wenn du dir eine Frau mit nach Hause nimmst…“
„Das wäre auch noch schöner. Schließlich bist du weder meine Mutter noch sind wir zusammen.“
„…doch diesem Flittchen wirst du dich nicht an den Hals werfen. Außerdem magst du sie gar nicht. Kannst du mir verraten wieso du mit der rumknutscht?“
„Vielleicht weil mir nach knutschen war und sie da war.“
„Es ist wegen Sascha, oder?“
„Was ist wegen Sascha?“
„Kerstin, bitte. Ich weiß, dass du etwas für sie empfindest. Ich muss mir nur ansehen wie du sie ansiehst.“
„Ich habe eh keine Chance bei ihr. Sogar Patrick hat mehr Chancen. Das ist unfair, er ist schwul, er will keine Frau. Wieso kann sie mich nicht so ansehen wie ihn eben?“
„Weil er ein Mann ist. Kerstin, hör mal. Selbst wenn du Sascha heute Nacht nicht ins Bett bekommst ist das kein Grund sich die nächstbeste Schlampe anzulachen. Und es erhöht deine Chancen bei Sascha nicht.“
„Was für Chancen?“ Kerstin sah frustriert zu Verena. Sie hatte keine Chancen, egal was sie machen würde. „Meine Chancen bei ihr sind so hoch wie bei dir. Null Komma Null.“
„Und? Mal davon abgesehen, dass wir nicht knutschend in der Ecke stehen und Sex haben, kannst du nicht behaupten wir würden uns nicht nahe stehen. Bedeutet dir das nichts?“
„Doch.“ Kerstin nahm Verena in den Arm und vergrub ihren Kopf in Verenas T-Shirt. Sie war einfach frustriert, weil sie sich mal wieder in eine Frau verliebt hatte, die keine Gefühle für sie hatte. Auf die Dauer konnte das sehr weh tun.
„Los, komm wieder mit zu uns. Ich bin mir sicher, Sascha freut sich dich wiederzusehen“
„Sie hat Patrick.“
„Deswegen wirst du keine Luft für sie sein. Sie weiß, dass sie keine Chance bei ihm hat. Und? Wirft sie sich deswegen dem nächstbesten Typen um den Hals? Sie ist sogar ihrem Mann treu, der sie betrügt. Vergiss einmal den Sex und freue dich darüber, dass ihr euch so gut versteht.“
„Wieso musste du immer solche Argumente anbringen? Da kann ich nie etwas gegen sagen.“
„Genau aus diesem Grund. Los jetzt.“ Verena stieß Kerstin auffordernd an.
„Ach Vroni, ich liebe dich.“
„Ich dich auch, du Nervensäge.“ Kerstin umarmte Verena erneut und drückte ihr einen riesigen Schmatz auf die Wange. Was würde sie ohne Verena machen?
„Und heute Nacht wirst du mich in deinem Bett haben.“
„Das heißt, wenn ich aufwache wirst du in meinen Armen liegen“, folgerte Kerstin grinsend daraus.
„Wenn ich rausbekomme, dass du das mit Absicht machst, dann bekommst du gewaltigen Ärger, Fräulein.“
„Ich? Absicht? Nie! Ich meine: sonst immer, dabei nicht. Das ist ja das Tolle.“ Kerstin harkte sich bei Verena unter und strahlte.
Sascha fühlte sich am nächsten Morgen wie von einem LKW überrollt. Sie war gegen sechs Uhr aus ihrem Taxi gestolpert und gleich Johanna in die Arme gelaufen. Diese brachte ihre Chefin ins Bett und versprach ihr, sie erst dann zu wecken, wenn sie das Mittagessen fertig hatte. Vorher war Sascha für niemanden zu sprechen. Es war dann beinahe 14 Uhr als sie wieder wach wurde und das auch nur weil Jodie in ihr Zimmer gekommen war.
„Mama, bist du krank?“ Sie hatte ihre Mutter bisher nie mittags im Bett vorgefunden.
„Ich fühle mich zwar so, aber nein, ich bin nicht krank.“
„Was hast du gemacht?“
„Ich war feiern.“
„Feiern?“ Auch das hatte Jodie nie bei ihrer Mutter erlebt. Zumindest nicht unter der Woche und ohne ihren Vater.
„Was sagt Papa dazu?“
„Keine Ahnung, ich habe ihn nicht mehr seit…vorgestern?“ Sascha war sich nicht ganz sicher „Auf jeden Fall ist es länger her, dass ich mit ihm geredet habe.“
„Cool, meine Mutter geht einfach Mitten in der Woche raus und betrinkt sich. Was sagt dein Chef dazu?“
„Ich habe frei. Du findest es nicht schlimm, dass du deine Mutter mit Kater im Bett vorfindest?“ Sascha war überrascht. Sie wäre entsetzt gewesen, wenn sie damals ihre Mutter mit Kater im Bett vorgefunden hätte.
„Nein, ich finde es cool. Wo warst du denn? Mit wem warst de weg? Darf ich mal mit?“ Jodie setzte sich aufs Bett ihrer Mutter und sah sie wissbegierig an. Sascha musste lachen, hörte allerdings sofort damit auf, weil ihr Kopf zu zerplatzen drohte.
„Ich war mit zwei Arbeitskolleginnen und zwei Freunden von denen weg. Wir waren in einem Club in Kreuzberg. Dein Vater würde wahrscheinlich den Glauben an mich verlieren, wenn er erfährt wo ich war. Und ich bin mir nicht ganz sicher, ob du bereits in einen Club kommst. Meistens haben die Bestimmungen, die den Zutritt für unter sechszehn oder achtzehnjährige verbietet. Ich kann mich allerdings mal erkundigen.“
„Wie hieß der Club?“
„Ich denke mal, den kennst du nicht. „FoGaL“. Dürfte nicht ganz für die Leute von deiner Schule sein. Zumindest nicht für die meisten.“
„Wieso? Sag bloß, da gibt es diese grässliche Musik für Alte. Schlager und so etwas.“ Jodie verzog das Gesicht.
„Nein, die Musik ist aktuell, außer einmal die Woche, wenn Oldieabend ist. Ich habe sogar diese Boygroup gehört, die du laufend hörst.“ Sascha suchte verzweifelt nach dem Namen der Band, die laufend in Jodies CD Player vertreten war. Jodie verdrehte sie Augen. Sie hatte ihrer Mutter unzählige Male gesagt, wie die Band hieß, aber sie vergaß es sobald sie es gehört hatte.
„Da will ich auch hin.“
„Wohin willst du?“ Sascha und Jodie sahen sich überrascht um. Da stand Mike. Es sollte doch erst am Abend wieder da sein.
„Papa!“ Jodie umarmte ihren Vater glücklich. Diese streichelte ihr über den Kopf und sah Sascha verständnislos an.
„Was machst du im Bett, Alexandra?“ Er war der einzigste Mensch, der sie Alexandra nannte. Seine Frau als Sascha vorzustellen, wäre auf seinen Partys nicht gut gekommen.
„Sie ist eben erst wachgeworden“, gluckste Jodie „Mama war feiern.“ Sascha stöhnte innerlich. Sie bezweifelte, dass Mike die selbe Begeisterung für ihre Party aufbrachte wie Jodie.
„Du warst weg?“ In seiner Stimme war keine Begeisterung zu hören. Sascha hatte Recht gehabt.
„Ja, ist das nicht cool? Die Mütter der anderen in meiner Klasse gehen höchstens ins Kino und Mama feiert richtig. Ich finde das total cool. Das nächste Mal will ich mit.“ Jodie war so begeistert, dass sie nicht bemerkte, dass ihr Vater das gar nicht gut fand.
„Jodie, lass Mama und mich mal alleine. Wir müssen etwas besprechen.“
„Okay.“ Jodie verließ grinsend den Raum. Ihre Mutter ging in Clubs. Das war so cool. Vor allem war sie noch jung genug, dass es nicht peinlich wirkte. Viele Leute gingen in Clubs. Jodie fand, das wurde erst peinlich, wenn sie auf die vierzig zugingen und dann einen krampfhaft auf jung machten. Ihre Mutter war keine dreißig.
„Du betrinkst dich in der Woche? Unsere Tochter muss dich verkatert im Bett vorfinden?“ Mike tigerte vor dem Bett auf und ab, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Sascha versuchte erst gar nicht ihm mit den Augen zu folgen. Das gab nur Kopfschmerzen.
„Ich habe heute frei, wieso sollte ich nicht feiern?“, rechtfertigte sich Sascha.
„Weil wir eine Tochter haben. Was bist du denn für ein Vorbild?“
„Mike, ich habe nur gefeiert. Wenn wir zu deinen Partys gehen, dann trinken wir auch. Wo ist der Unterschied?“
„Du warst in einem Club, wie kannst du das mit einer Party vergleichen? In diesen Clubs läuft der ganze Abschaum herum, bei unseren Partys triffst du Leute mit Stil“ Notorische Fremdgeher und aufgeblasene Gockel, die ihre aufgetakelten Frauen wie Pokale herumzeigten, dachte Sascha.
„Es ist dieser Knast, oder?“
„Was?“
„Da bekommst du diese Ideen weg. Seitdem du dir in den Kopf gesetzt hast diesen Unterricht für diese Individuen zu geben, kommst du auf die seltsamsten Ideen. Ich war von vorneherein gegen diesen Schwachsinn.“
„Du warst auch dagegen, dass ich überhaupt eine Ausbildung mache“, sagte Sascha wütend.
„Wozu auch? Ich verdiene mehr als genug. Du musst nicht arbeiten. Wie sieht das überhaupt aus? Als wenn ich uns nicht ernähren könnte. Hast du einmal daran gedacht, wie ich vor meinen Kollegen und Kunden dastehe, wenn sie erfahren, mit was du dein Geld verdienst?“ Er blieb stehen und sah sie entrüstet an. Sascha konnte es nicht fassen. Hatte sie das richtig gehört?
„Hast du einmal darüber nachgedacht, dass ich mehr bin als deine Frau, die den ganzen Tag Zuhause sitzt und darauf wartet, dass du nach Hause kommst. Oder mal wieder weg bleibst. Ich bin doch kein Prestigemodell, das du benutzen kannst, wenn es dir passt.“
„Bisher bist du mit deinem Leben mehr als gut gefahren.“
„Woher willst du das denn wissen? Du bist doch nie hier.“
„An was sollte es dir fehlen? Du hast alles, was du brauchst. Geld, ein Auto, Kreditkarten, einen Pool, Tennisplatz, Angestellte.“ Das konnte nicht sein Ernst sein. War das alles was für ihn zählte?
„Du lebst wie die Made im Speck und bist in keiner Weise dankbar.“ Das war es. Das war der Satz, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sascha setzte sich auf und funkelte Mike wütend an.
„Wofür soll ich dankbar sein? Dafür, dass mein Mann mich seit Jahren betrügt? Fünf Jahre mit Katharina, seit dem Studium mit Carola, ganz zu schweigen von all den Flittchen, die du dir nebenbei hältst. Du hast ernsthaft gedacht, ich wüsste nicht, dass du mehrgleisig fährst? Für wie dumm hältst du mich eigentlich? Ich weiß von deinen Affären.“ Damit musste sie ihn den Wind aus den Segeln genommen haben. Eigentlich wollte sie ihm ihr Wissen nicht vor den Kopf knallen, aber sie hatte nicht anders gekonnt. Mike hatte sich zuviel herausgenommen. Einmal war Schluss.
„Hast du dich mal gefragt, woher das kommt? Bist du mal auf die Idee gekommen, dass das so ist, weil du dich nie um mich kümmerst“, ging Mike zum Gegenangriff über. Sascha war fassungslos. Er gab ihr die Schuld an seiner Untreue? Das musste sie träumen.
„Wie soll ich mich um dich kümmern, wenn du nie da bist?“
„Du könntest mich unterstützen, so wie es sich für eine Ehefrau gehört. Aber nein, für dich ist es sogar eine Qual, wenn du mich auf die Partys begleiten musst.“
„Ich fühle mich unter diesen arroganten Promileuten unwohl. Ich kenne niemanden und bin nie mehr als die Frau von Mike Klauke.“
„Oh nein, wie schrecklich. Es muss eine Qual für dich sein meine Frau zu sein. Andere Frauen wären froh, wenn sie deine Privilegien hätten.“
„Ich würde ja jetzt sagen, du sollst dir einer dieser Frauen suchen, aber das hast du ja schon vor Jahren.“
„Das reicht. Ich gehe ins Büro und wenn ich wiederkomme, dann hast du dich wieder beruhigt und bist wieder normal.“ Er drehte sich um.
„Sonst was?“, schrie Sascha.
„Lass es nicht darauf ankommen.“ Mike schlug die Tür hinter sich zu. Sascha ließ sich ins Kissen zurückfallen und schloss die Augen. Das war ihr erster Ehestreit gewesen, der sich nicht um eine Kleinigkeit drehte. Und Mike hatte ihr gedroht. Was war das für eine Ehe, die sie führte?
Teil 5
„Was machst du heute Abend?“ Verena sah Kerstin fragend an. Sie hatten gleich Feierabend.
„Kilian und ich machen einen Videoabend. Er meint, es wäre mal wieder an der Zeit, dass sich die WGler zu einem internen Abend treffen.“
„Barbara Streisand?“, riet Verena.
„Ich habe keine Ahnung.“ Bisher hatte Kilian immer Filme mitgebracht, die Kerstin entweder schon auswendig kannte oder die sie nie hätte sehen wollen. Wenn sie romantische Filme sah, dann nicht mit ihrem Mitbewohner, der sie jedes Mal vollheulte, sondern mit einer Frau im Arm.
„Und du?“
„Mein Stubentiger und ich bekommen Besuch von einem alten Schulfreund.“
„Ich bin eifersüchtig“, grummelte Kerstin.
„Dazu hast du keinen Grund“, lachte Verena.
„Björn?“
„Genau der.“
„Okay.“ Kerstin grinste. Björn war ein netter Typ, der bisher keinerlei Interesse an Verena gezeigt hatte. Kerstin hatte ihn bereits einige Male gesehen und man konnte sich sehr gut mit ihm unterhalten.
„Doktor Herzog?“ Andy Wagner kam ohne anzuklopfen in Kerstins Büro gestürmt.
„Herr Wagner, was ist passiert?“
„Geiselnahme. Wir brauchen Sie. Sie auch, Frau Wüllner.“ Kerstin schnappte sich ihre Arzttasche und folgte Andy Wagner. Zu ihrer Überraschung blieben sie bereits stehen, sobald sie aus ihrem Büro waren. Doktor Strauß, Hendrik Jansen und Birgit Schnoor standen vor der Tür zum Förderunterrichtsraum.
„Frau Walter hält Frau Klauke als Geisel“, erklärte Birgit Schnoor.
„Frau Walter, wenn Sie Frau Klauke nicht freilassen, dann müssen wir das Sondereinsatzkommando rufen“, rief Doktor Strauß durch die geschlossene Tür.
„Walter hat Sascha als Geisel genommen?“, fragte Kerstin überrascht bis entsetzt.
„Ja, nach dem Kurs. Sie hat alle anderen Frauen rausgeschickt und sich dann hier verbarrikadiert. Sie will einen regelmäßigen Ausgang.“
„Das ist genau die falsche Art Ausgang zu bekommen“, seufzte Verena.
„Gibt es Verletzte?“
„Frau Walter hat ein Messer, von Frau Klauke konnten wir bisher nichts hören. Wir hoffen, dass sie geknebelt ist und nichts Schlimmeres.“
„Frau Walter?“ Doktor Strauß versuchte es weiter.
„Ich lasse nicht mit mir verhandeln“, brüllte Walter von Innen „Entweder ihr macht, was ich euch sage, oder ich mache die Klauke kalt“
„Frau Walter, Sie wissen genau, dass wir nicht verhandeln, wenn Sie so etwas sagen. Und Sie sind lange genug hier um zu wissen, was passiert, wenn wir das Sondereinsatzkommando anfordern.“ Dann gibt es nicht selten Tote, dachte Kerstin. Verflucht.
„Lassen Sie mich mal mit ihr reden.“ Sie schob Jansen zur Seite, der außer dumm gucken sowieso nichts machte.
„Walter? Ich bin es. Mach keinen Scheiß.“
„Kerstin? Halt dich da raus.“
„Walter, bitte. Ist einer von euch beiden verletzt?“
„Noch ist es nichts Ernstes.“
„Wir sollten das Sondereinsatzkommando holen“, ergriff nun Hendrik Jansen das Wort „Die Walter lässt nicht mit sich reden.“
„Ich werde reingehen“, sagte Kerstin.
„Vergessen Sie es“, lehnte Strauß ab „Ich werde nicht zulassen, dass Frau Walter zwei Geiseln hat.“
„Doktor Strauß, ich muss nach Sa…Frau Klauke sehen. Und Frau Walter wird mir nichts tun.“ Kerstin sah Doktor Strauß fest an.
„Sind Sie sicher?“
„Das ist totaler Schwachsinn“, mischte sich Jansen wieder ein. Kerstin sah ihn böse an.
„Überlass das mir, ja? Das sind Dinge, von denen du nichts verstehst.“ Kerstin wandte sich wieder an zur Tür. „Walter? Lässt du mich rein?“
„Damit der Rest gleich mit reinstürmt?“
„Nein, nur ich. Du kannst mir vertrauen, das weißt du. Alle werden den Flur verlassen, ich komme rein und du schließ sofort wieder ab, okay? Bitte.“ Stille. An den Gesichtern der anderen konnte Kerstin erkennen, dass sie mit ihrer Idee nicht glücklich waren.
„Okay, aber der Rest verzieht sich so lange wie du hier reinkommst.“
„Danke.“
„Kerstin, das ist zu gefährlich“, meinte Verena. Sie hatte sich bisher zurückgehalten, aber jetzt, wo Walter Kerstins Idee zugestimmt hatte, wollte sie kurz an die Vernunft ihrer Freundin appellieren.
„Vroni.“ So hatte Kerstin Verena bisher nie genannt, wenn sie im Dienst waren, und andere dabei waren „Bitte vertrau mir. Ich weiß, was ich mache.“ Kerstin umarmte Verena. „Doktor Strauß?“
„Gut, wie Sie meinen.“ Doktor Strauß ging einige Schritte zurück. Verena und Birgit Schnoor folgten ihm. Nur Jansen blieb stehen.
„Das galt für alle.“ Kerstin sah ihn böse an. Los, bis hinter die Gitterstäbe und Tür zu.“
„Das hätte die Walter nie bemerkt und wenn, dann wäre es für sie zu spät gewesen“, flüsterte Jansen.
„Ich halte meine Versprechen. Bis ihr nicht alle da hinten seid, werde ich nicht rein gehen.“ Jansen fluchte und verzog sich mit den anderen hinter die Gitterabtrennung. Kerstin klopfte an die Tür ohne sie aus den Augen zu lassen.
„Okay Walter, lass mich rein.“ Der Schlüssel wurde umgedreht und die Tür geöffnet. Kerstin trat schnell ein und schloss die Tür hinter sich ab. Wie es versprochen war. Die Fenster des Raumes waren verdunkelt, so dass von außen keiner hineingucken konnte. Walter saß auf dem Tisch, an dem sonst immer Sascha saß. Wo war Sascha?
„Und? Hast du Sender? Waffen? Oder sonst irgendetwas?“
„Wenn du willst, darfst du mich und meine Tasche gerne durchsuchen.“
„Sag es mir einfach.“
„Nein, habe ich nicht.“ Kerstin ging auf Walter zu. Das Messer lag neben ihr auf dem Tisch. Kerstin zeigte auf die kleine Wunde über Walters linker Schläfe.
„Was ist passiert?“
„Die konnte sich wehren. Zuerst.“
„Wo ist Sascha?“
„Im Schrank. Es geht ihr gut.“ Das beruhigte Kerstin. Sie öffnete die Tasche und holte ein Jodfläschchen heraus. Zuerst Walters Wunde behandeln, dann Sascha retten. Sie stand auf Walters Seite. Zumindest redete sie sich das ein...aber sie würde Walter auf keinen Fall hängen lassen.
„Ich brauche keine Behandlung.“
„Nein, aber siehst besser aus wenn dir kein Blut ins Gesicht tropft. Halt still.“ Sie tupfte die Wunde ab und Walter ließ den beißenden Jod ohne mit der Wimper zu zucken über sich ergehen. Kerstin klebte ein Pflaster auf die gesäuberte Wunde. Kerstin trat einen Schritt zurück als wenn sie ein frisch geschaffenes Kunstwerk betrachten wollte.
„Und jetzt sag mir was los ist?“
„Ich will raus.“
„Das wollen hier alle.“
„Die geben mir nicht einmal einen Nachmittag Ausgang. Ich brauche den Nachmittag!“
„Andreas?“ Walter schüttelte den Kopf. Wenn es nicht um ihren Bruder ging, dann musste es etwas anderes sein und Kerstin war sich sehr sicher zu wissen was es war.
„Bea“
„Ich will zu ihrem Grab. Bald…bald ist ihr Todestag.“
„Ich weiß.“ Kerstin nahm Walter in den Arm und streichelte ihr über den Rücken. Sie konnte Walter verstehen, aber die Art wie sie ihre Interessen vertrat, war falsch.
„Frau Doktor Herzog? Alles in Ordnung?“ Doktor Strauß’ Stimme war von draußen zu hören. Kerstin ließ Walter los und sah zum Schrank. Walter nickte.
„Alles Bestens. Kein Grund zur Panik.“
„Frau Walter, können wir jetzt reden?“ Kerstin stieß Walter aufmunternd an. Das war eine Sache, die sie ihr nicht abnehmen konnte. Sie musste sich jetzt um Sascha kümmern. Die arme saß im Schrank, musste hören, dass Kerstin da war und keiner holte sie aus ihrem Gefängnis.
„Da gibt es nichts zu reden“, brüllte Walter. Kerstin seufzte. Verhandeln musste Walter noch lernen. Sie öffnete die Tür zum Schrank und fand Sascha gefesselt und geknebelt vor. Sonst schien es ihr gut zu gehen. Sascha sah sie mit leichter Panik, aber auch mit Erleichterung in den Augen an. Die Rettung schien nahe. Mit einer Schere schnitt Kerstin die Fesseln durch und löste dann den Knebel.
„Alles in Ordnung?“ Sascha fiel ihr um den Hals und drückte sie fest an sich. Sie war gerettet. Als Walter mit dem Messer vor ihr gestanden hatte, dachte sie, das wäre das Ende gewesen. Dann wurde sie in den Schrank gesperrt und von da an wusste sie, sie konnte nicht mehr machen als hoffen und warten. Kerstins Stimme hatte ihr ein wenig Hoffnung gemacht.
„Hey, ich bin bei dir, keine Angst, dir passiert nichts.“ Kerstin konnte nicht anders als Sascha einen sanften Kuss auf den Hals zu geben. „Ganz ruhig“ Meine Güte, fühlte diese Frau sich toll an.
„Sie hat ein Messer“, brachte Sascha leise hervor.
„Ich weiß. Vertraust du mir?“ Sie sah Sascha tief in die Augen. Saschas Augen waren verheult, doch sie nickte.
„Gut, dann wird dir nichts passieren. Versprochen.“ Sie nahm Sascha wieder in den Arm. Sie musste sich beruhigen und Kerstin würde ihr gerne ihre Schulter dafür zur Verfügung stellen. Sie musste Walter fast dankbar sein.
„Was wird sie machen?“, flüsterte Sascha.
„Nichts, was dir schadet. Komm.“ Sie nahm Saschas Hand und half ihr auf die Beine. Sascha hatte leichte Probleme mit dem Aufstehen, da sie eine ganze Weile gebückt in dem Schrank gesessen hatte, doch mit Kerstins Hilfe ging es.
„Na Frau Lehrerin, wohl geruht?“ Walter warf ihnen nur kurz einen Blick zu, dann brüllte sie Doktor Strauß wieder an.
„Sie haben wohl vergessen, dass ich hier eine Geisel habe. Ich stelle dir Forderungen.“
„Sie haben sogar zwei Geiseln, aber Sie wissen genau, dass wir Ihnen nicht jede Forderung erfüllen können.“
„Eine Geisel, Kerstin kann gehen, wann immer sie will“ Walter sah Kerstin kurz an. „Willst du gehen?“
„Nein, ich bleibe.“
„Sie bleibt. Haben Sie gehört? Es war ihre Entscheidung.“ Kerstin deutete Sascha sich auf einen Stuhl zu setzen. Sie hatte eine Schürfwunde und eine kleine Stichverletzung am Arm. Dinge, die mit einem Pflaster gegessen waren. Das blaue Auge machte Kerstin mehr Sorge. Es schimmerte in vielen Farben.
„Wer war das?“ Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es von Walter sein sollte.
„Ich bin gefallen.“ Nicht diese billige Lüge. Irgendwann würde Kerstin einen Antrag stellen, jedes Mal einen Euro zu bekommen, wenn sie diese Ausrede hörte.
„Das war nicht Walter, oder?“ Sascha schüttelte den Kopf.
„Wer denn? Und lass dir diesmal eine bessere Ausrede einfallen. Ich arbeite im Knast, ich weiß, wie Veilchen aussehen, die mit einer Faust entstanden sind. Und das sieht sehr nach Faust aus. Keine Treppe, Tür oder was auch immer einem angeblich vors Auge fallen kann, macht dieses Muster.“ Sascha sah zu Boden.
„Mike.“
„Dein Mann?“ Jetzt war Kerstin sprachlos. Sascha hatte ein blaues Auge von ihrem eigenen Mann bekommen? Das musste eine Lüge sein. Zumindest hoffte Kerstin das für Sascha.
„Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung, gestern Abend.“
„Sieht er wenigstens Schlimmer aus?“ Sascha schüttelte den Kopf.
„Wieso? Ich meine, wieso schlägt er dich?“
„Unser Ausflug letzte Woche hat ihm gar nicht gefallen und ich habe gewagt ihm zu sagen, dass ich den gerne wiederholen würde. Er hat mich bedroht, ich bin bei meinem Vorsatz geblieben und dann hat er zugeschlagen. Seine Frau macht, was er will.“ Sascha schluckte. Sie hatte die Szenen noch genau vor Augen. Mike hatte ausgeholt und ihr mit aller Kraft eine aufs Auge verpasst. Sie war getaumelt, gefallen und zum Glück relativ sanft auf dem dicken Perserteppich gelandet. Mike war einfach gegangen. Sie wüsste jetzt, was passiert, wenn sie sich über seine Regeln hinweg setzen würde. Sascha hatte dann versucht das Auge zu kühlen, doch es hatte nichts gebracht. Als sie aufgewacht war, hatte sie dieses Veilchen. Deswegen war sie spät nach Reutlitz gekommen um sofort in ihr Zimmer zu gehen. Dabei trug sie die ganze Zeit eine Sonnenbrille.
„Er schlägt dich? Weil wir weg waren?“ Kerstin war fassungslos. Sie nahm Sascha wieder in den Arm. Was sollte sie sonst machen?
„Jetzt weiß ich, wo mein Platz ist. Zuhause, wartend bis er nach Hause kommt.“
„Das lässt du dir doch nicht etwa gefallen, oder?“
„Was soll ich denn machen? Ich meine, seine Seitensprünge akzeptiere ich seit Jahren. Ich muss bei ihm bleiben, was soll denn sonst aus Jodie werden? Von dem Geld, das ich hier verdiene, kann ich uns beide nicht ernähren. Und Mike ist ihr Übervater, das weißt du. Wenn sie erfährt dass er…“ Sascha stockte und schniefte. Kerstin streichelte weiter ihren Rücken. Als sie den Kopf hob fing sie einen Blick von Walter auf. Sie sah beide fragend an. Kerstin sah traurig auf Sascha. Walter sparte sich die Frage was die beiden machten. Was Kerstin gerne machen würde konnte sie sich denken. Ihre Sorgen lagen jetzt allerdings bei den Verhandlungen.
„Sascha, du kannst dich nicht schlagen lassen. Es ist schlimm genug, dass er dich betrügt. Denk einmal an dich.“
„Was wird aus mir wenn ich weg bin von ihm? Kerstin, ich kann ohne ihn nicht überleben.“
„So ein Quatsch.“ Kerstin sah Sascha in die Augen „Erstens brauchst du ihn nicht, du bist eine erwachsene Frau, die sehr gut ohne ihn auskommen kann und zweitens bist du viel zu schade für ihn. Du hast jemanden verdient der dich liebt, dich achtet, dem du wichtig bist, der deine Bedürfnisse respektiert und dich in deinen Vorhaben unterstützt. Jemand, der sich freut wenn ihr einen gemeinsamen Abend verbringen könnt, der dich mit einem Picknick oder einem Ausflug überrascht. Jemanden, für den du das Wichtigste auf der Welt bist. Das und nicht weniger hast du verdient.“ Sie hielt Saschas traurigem Blick stand. Spätestens jetzt musste Sascha klar werden, was Kerstin für sie empfand, wie wichtig sie für Kerstin war. Sascha konnte nichts sagen, sich nicht bewegen. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie sah nur Kerstin, die sie mit einem Blick ansah, wie sie bisher niemand angesehen hatte, die sie festhielt und da war. Und deren Augen ihr zeigten, wie wichtig sie ihr war. Und dann war ihr Kerstins Gesicht plötzlich noch näher und Kerstins Lippen trafen sanft und vorsichtig auf ihre. Ganz sanft, so als wenn ihre Lippen zerbrechen würden, wenn sie sich zu sehr berührten, küsste sie Sascha. Nicht lange, keine fünf Sekunden und doch hatte Sascha das Gefühl, in dem Kuss hatte mehr Liebe und Leidenschaft gesteckt als in all den Küssen zusammen, die sie bisher in ihrem Leben bekommen hatte. Langsam, so wie Kerstins Lippen Saschas berührt hatten, verließen sie wieder Kerstins Lippen.
„Sascha, denk einmal an dich. Lass dich nicht kaputt machen. Bitte.“ Kerstin sah sie an. Sascha schluckte und umarmte Kerstin. Sie wusste nicht, was sie sonst machen sollte. Das war alles so viel gewesen in den letzten Stunden.
„Kerstin? Bist du ansprechbar?“ Kerstin sah auf. Walter sah sie beide an.
„Was ist denn?“
„Ich muss mit dir reden. Deine Kollegen sind wenig kooperativ.“ Kerstin nahm Saschas Hand und zog sie mit durch den Raum zu Walter. Kerstin war sich sicher, dass Walter den Kuss mitbekommen hatte, aber sie erwähnte ihn in keiner Weise.
„Man will mir keinen Ausgang gewähren.“
„Das wusstest du vorher. Sei ehrlich, du bist lange genug hier um zu wissen wie Geiselnahmen ablaufen. Denk an die Letzte. Hast du mir nicht erzählt, dass die Frau, die die Geiselnahme angezettelt hat, hinterher im Leichensack Reutlitz verlassen hat? Obwohl sie vier Geiseln hatten? Oder fünf?“
„Vier. Und Kittler wäre fast draufgegangen.“
„Siehst du. Ich würde dich ungern im Leichensack sehen. Und ich bin mir sicher, Bea würde das auch nicht wollen.“
„Dann wäre ich bei ihr.“
„Walter, Bea hätte nicht gewollt, dass du so endest. Das weißt du auch.“
„Und was soll ich sonst machen? Station C? Dann lieber Tod!“
„Doktor Strauß? Was können Sie Walter anbieten? Gibt es eine andere Möglichkeit als Station C? Wenn sie jetzt aufgibt?“, rief Kerstin.
„Gibt es Verletzte?“
„Nichts, was nicht mit einem Pflaster verarztet ist. Die größte Wunde hat Walter selber. Gibt es eine Möglichkeit Bunker für Station C zu nehmen?“
„Das kommt darauf an. Erstattet Frau Klauke Anzeige?“ Kerstin sah Sascha fragend an. Diese schüttelte den Kopf.
„Nein.“
„Dann können wir sicherlich eine Lösung finden, die es Frau Walter ermöglicht, nicht auf Station C zu kommen.“
„Danke“ Kerstin sah Walter an „Es liegt an dir. Bunker und eine neue Chance oder Station C, beziehungsweise, im schlimmsten Fall der Leichensack.“ Sie sah Walter fragend an.
„Okay, Bunker. Aber ich will nicht von Jansen wie ein Stück Vieh in den Bunker geworfen werden. Deine Verena soll das machen, sie ist meine Vertrauensbeamtin.“ Das sollte sich organisieren lassen.
„Verena? Bringst du Walter in den Bunker?“
„Natürlich, das ist kein Problem.“ Kerstin hatte gewusst, dass sie sich auf Verena verlassen konnte.
„Gut, dann schließen wir jetzt die Tür auf.“ Kerstin hielt Walter ihre freie Hand hin. Walter gab ihr das Messer.
„Ich habe die Waffe, Walter schließ die Tür unbewaffnet auf. Sie wird keine Gewalt anwenden, es besteht also kein Grund Gewalt anzuwenden. Können wir uns darauf einigen, sie ohne den Gummistock in den Bunker zu bringen?“
„Natürlich“, versicherte Doktor Strauß. Kerstin lächelte Walter zu, die langsam die Tür aufschloss. Doktor Strauß öffnete die Tür und trat dann zur Seite damit Verena Walter nach Waffen untersuchen konnte.
„Keine Waffen.“ Das galt mehr ihren Kollegen als den anderen im Raum. Verena nahm ihre Handschellen. „Frau Walter, darf ich um Ihren rechten Arm bitten?“
„Meinen Arm, meine Hand, was immer Sie wünschen.“ Kerstin musste grinsen. Das war Walter. Sie würde in den Bunker kommen und trotzdem versuchte sie zu flirten.
„Und den linken Arm. Dann bringe ich Sie in Ihre Flitterwochensuite“
„Wir beide in der Flitterwochensuite? Unter den Umständen bleibe ich gerne länger.“
„Walter, bitte“, meinte Kerstin. Sie wusste nicht worüber sie sich mehr freuen sollte? Dass alles glimpflich abgelaufen war? Dass Jansen nichts machen konnte außer dumm gucken? Dass sie wirklich Sascha geküsst hatte und diese sich nicht dagegen gewehrt hatte? Dass Sascha noch immer in ihrem Arm war? Oder einfach alles.
Kerstin hatte Sascha in ihr Zimmer gebracht; offiziell zur Untersuchung. Schließlich wollten alle sicher gehen, dass es Sascha gut ging.
„Setz dich.“ Kerstin holte Sascha ein Glas Wasser.
„Danke.“ Sascha setzte sich auf die Liege und trank gierig das Wasser. Nachdem sie lange im Schrank gesessen hatte und einiges an Flüssigkeit ausgeweint hatte, tat das Wasser mehr als gut. Kerstin hielt sich ein wenig im Hintergrund. Sie war sich nicht sicher, wie Sascha nun reagieren würde. Immerhin hatten sie sich eben geküsst. Auf keinen Fall wollte Kerstin aufdringlich sein.
„Geht es dir wieder besser?“
„Ja, danke.“ Sascha sah verlegen zu ihrem Glas, das leer war. Kerstin wollte gerade fragen ob sie mehr Wasser haben wollte als Sascha wieder zu sprechen begann.
„Kerstin, wieso hast du das gemacht?“ Tja, wieso wohl? Weil sie tierisch in Sascha verliebt war. Aber sollte sie ihr das so sagen?
„Was meinst du?“ Lieber etwas ablenken.
„Wieso hast du Walter davon überzeugt, dass sie dich in das Zimmer lassen soll?“ Oh, gut, diese Frage ging einfacher zu beantworten.
„Ich wollte, dass sie mit ihrem Blödsinn aufhört. Und…ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Ich meine, ich konnte mir nicht vorstellen, dass Walter dir wirklich etwas tat, aber sicher ist sicher.“
„Du verstehst dich gut mit Walter, oder? Wer ist Bea?“ Dafür dass Sascha eine Geisel war, hatte ihr Verstand verdammt gut funktioniert.
„Bea war hier mal als Schließerin. Sie und Walter…das ist eine verrückte Geschichte“ Kerstin setzte sich neben Sascha und begann ihr Walters und Beas Geschichte zu erzählen. Wie sie sich in der Lesbenkneipe kennen gelernt hatten, Bea von einem neuen Job am nächsten Tag erzählt hatte und Walter, weil sie ihr nicht sagen wollte, dass sie im Knast saß, ihr erzählte, sie sei Musikmanagerin. Am nächsten Tag fiel der Schwindel auf, denn dann stand plötzlich Bea hinter Walter; während beide miteinander telefonierten. Zuerst wollten sie sich keine Chance geben, aber dann siegte die Liebe. Walter hatte alles für Bea riskiert, am Ende jedoch waren sie dank Baumann getrennt worden – durch den Tod. Baumann hatte den Gashahn im Liebeswagen aufgedreht, beide auf Beas Handy angerufen und dann war der Wohnwagen in die Luft geflogen. Zuerst waren beide noch herausgekommen, doch Bea war zurück um Belastungsmaterial gegen Baumann zu holen und dann passierte das Unglück. Die Explosion brachte ihr so schwere Verletzungen bei, dass sie in Walters Armen verblutete.
„Du hast Bea gekannt?“
„Sie ist…sie war meine Kusine.“ Kerstin schluckte. Das alles so zu erzählen brachte die alten Schmerzen wieder hoch. Sie hatte ewig nichts von Beas Tod gewusst, dann hatte sie erfahren, was mit ihrer Kusine passiert war. Erst als sie Walter traf und sie ihre gemeinsame Verbindung zu Bea feststellten, erfuhr sie wieso und wegen wem Bea sterben musste. Sascha nahm Kerstin in den Arm. Wenn sie geahnt hätte, dass es eine so tragische Geschichte war, dann hätte sie nicht gefragt.
„Das tut mir Leid.“
„Schon okay. Und wegen Bea…wegen Bea wusste ich, dass Walter ganz bestimmt keinen Blödsinn macht wenn ich da bin.“
„Ich bin wirklich froh, dass du sie zur Besinnung gebracht hast“
„Naja, ich habe mich ja gar nicht so sehr um sie gekümmert; mal von ihrer kleinen Wunde abgesehen. Meine Sorgen galten eher dir. Als ich dich nicht gesehen habe, als ich in das Zimmer gekommen bin…da wäre ich beinahe ausgerastet. Es war schlimm genug, dass ich nicht wusste, wie es dir ging, während ich draußen war und dann nicht zu wissen, wie es dir geht, wenn ich im Zimmer bin.“
„Die beiden kleinen Wunden waren keine Sorge wert.“ Sascha sah auf ihre Pflaster. Da war es früher gefährlicher gewesen mit Jodie einen Nachmittag im Wald zu verbringen.
„Dein Veilchen macht mir auch mehr Sorgen.“ Kerstin nahm Saschas Hand „Du musst etwas machen. Du kannst dich nicht schlagen lassen.“
„Das hat er zuvor nie gemacht. Das war ein Ausrutscher.“
„Sascha, du bist eine intelligente Frau, du solltest wissen, dass es bei so etwas keine Ausrutscher gibt. Dass, wenn er dich einmal schlägt, er dich wieder schlagen wird, wenn du etwas machst, was ihm nicht passt. Du kannst nicht ewig ein Leben leben, wie er es haben will, du musst dein Leben leben. So wie du es für richtig hältst.“
„Wenn das so einfach wäre.“
„Sascha, wenn ich dir irgendwie helfen kann, ich werde alles machen. Wenn du ausziehen willst, dann kannst du bei Kilian und mir unterkommen. Du und deine Tochter. Wir werden einen Platz für euch finden.“
„Danke, aber ich weiß nicht, ob das so gut wäre.“ Sascha lächelte. Bevor sie weiterreden konnte oder Kerstin nachfragen konnte, wie Sascha das meinte, klopfte es an der Tür und Doktor Strauß kam herein.
„Was genau habt ihr in dem Zimmer gemacht?“ Verena hatte Kerstin nach Hause begleitet. Sie hatte Kilian bereits angerufen, als Kerstin zu Walter und Sascha ins Zimmer gegangen war, dass es wohl nichts werden würde mit dem Videoabend, da sie eine Geiselnahme hatten. Kilian hatte sich darauf hin auf den Weg in sein Lieblingsrestaurant gemacht und Verena, die ihrerseits Björn abgesagt hatte, hatte Kerstin begleitet. Jetzt saßen sie mit Rotwein und Pizza auf der Couch in der WG und sahen TV.
„Ich habe Walter verarztet und dann Sascha aus dem Schrank geholt.“
„Und sie dann nicht mehr losgelassen.“ Verena hatte genau gesehen, dass Kerstin Sascha erst dann wieder losgelassen hatte, als es nicht mehr anders ging.
„Man tut, was man kann.“ Kerstin grinste.
„Da war mehr.“
„Bitte?“ Kerstin versuchte unbeteiligt zu tun.
„Kerstin, ich sehe dir an deinem Lächeln an, dass da noch etwas war.“ Wieso konnte Verena bitte jetzt schon wieder ihre Gedanken lesen?
„Sei nicht so neugierig.“
„Was war es? Hast du ihr das Veilchen zu liebevoll verarztet? Ist es wirklich nicht von Walter?“
„Nein, Walter hat damit nichts zu tun.“ Kerstin winkelte die Beine an und zog sie auf die Couch.
„Sondern?“
„Eigentlich sollte sie dir das sagen…es war ihr Mann.“
„Was? Sie wird geschlagen?“
„Sie sagt, es war das erste Mal und er würde das bestimmt nicht wieder machen. Du kennst diese Ausreden. Ich habe ihr gesagt, sie kann jederzeit hier unterkommen. Inklusive ihrer Tochter.“
„Und?“
„Sie meint, das wäre nicht so gut.“
„Warum?“
„Naja…“ Kerstin hob die Augenbrauen und sah Verena verschmitzt grinsend an „Vielleicht habe ich vergessen eine kleine Kleinigkeit zu erwähnen…“
„Ich habe es geahnt“, stöhnte Verena „Was hast du angestellt?“
„Naja, ich habe sie aus dem Schrank geholt, ihre beiden kleinen Wunden versorgt und mich dann um ihr Veilchen gekümmert. Dabei habe ich dann erfahren, wie sie dazu gekommen ist und…na ja…ich weiß auch nicht…ich habe ihr gesagt, sie würde jemanden verdienen, der gut zu ihr ist, der sie liebt, unterstützt und achtet und dann…irgendwie habe ich sie dann geküsst. Ganz sanft, ganz kurz, aber es war…wunderbar. Es hat sich angefühlt, als wenn mir einer alle Glückshormone der Welt in meine Venen gespritzt hätte. Ihre Lippen sind göttlich, mehr als göttlich. Das war der beste Kuss, den ich jemals bekommen habe…oder den ich jemals gegeben habe? Ich kann gar nicht mehr sagen, ob sie den Kuss erwidert hat. Ich war so…hingerissen von der Szene, da konnte sich meine Wahrnehmung nicht auf alles konzentrieren. Alles war auf Sascha und ihre Lippen gerichtet.“ Kerstin schloss die Augen und ließ sich auf Verena fallen. Das war ein Erlebnis, das sie wohl nie vergessen würde.
„Du hast ernsthaft Sascha geküsst? Und was hat sie dazu gesagt?“
„Tja, wir hätten hinterher bei mir im Arztzimmer beinahe das Thema angeschnitten, zumindest hatte ich das Gefühl, aber dann kam Strauß rein. Ich habe keine Ahnung, wie sie den Kuss empfunden hat, ob er ihr etwas bedeutet hat oder sonst etwas. Aber würde einiges dafür geben das zu erfahren.“ Kerstin sah Verena verliebt an. Verena knuffte sie in die Seite. Endlich galt dieser Blick nicht mehr ihr, sie hatte Kerstin ungern das Herz gebrochen. Vielleicht hatte sie bei Sascha mehr Glück. Wobei, Verena zweifelte das derzeit an.
Sascha war nach Hause gefahren und hatte sich sofort ins Badezimmer verzogen. Sie brauchte ein heißes Bad. Sascha ließ zu dem heißen Wasser ihr Lieblingsbadeöl ein. Mike war im Büro oder bei einer seiner Schlampen und Jodie war in ihrem Zimmer und hörte Musik. Sie hatte Sascha die Lüge wegen ihres blauen Auges geglaubt. Menschen glaubten gerne Dinge, die sie glauben wollten. Sascha legte sich ins Wasser und schloss die Augen. Kerstin war nicht so. Kerstin hatte wissen wollen, was passiert war. Kerstin hatte gesagt, dass Sascha keine Schuld hatte. Kerstin war…unbeschreiblich. Und sie stand hinter ihr.
„Sie ist wegen mir zu Walter gekommen. Sie hat sich Sorgen um mich gemacht“, murmelte Sascha während das heiße Wasser langsam ihren Körper entspannte. Ihre Hände hatten sich ganz sanft um ihre Wunden gekümmert. So als wenn sie Angst hätte Sascha zu verletzen oder gar zu zerbrechen.
„Sie hat mich geküsst.“ Sascha ließ sich unter die Wasseroberfläche rutschen und genoss wie die Hitze sie nun komplett umschloss. Das war gut. Langsam kam sie mit dem Kopf an die Wasseroberfläche zurück.
„Sie hat mich wirklich geküsst. Mich hat noch nie eine Frau geküsst.“ Sascha schüttelte den Kopf. Sie konnte sich genau daran erinnern wie Kerstin sie geküsst hatte. Erstens brauchst du ihn nicht...zweitens bist du viel zu schade für ihn. Du hast jemanden verdient, der dich liebt, dich achtet, dem du wichtig bist, der deine Bedürfnisse respektiert… der sich freut, wenn ihr einen gemeinsamen Abend verbringen könnt, der dich mit einem Picknick oder einem Ausflug überrascht. Jemanden, für den du das Wichtigste auf der Welt bist. Das und nicht weniger hast du verdient. Das waren Kerstins Worte gewesen und wenn irgendjemand Sascha in dem Moment gefragt hätte, ob sie sich vorstellen könnte, dass Kerstin diese Person sein könnte, die all das sein kann, dann hätte Sascha zugestimmt. Kerstins Augen hatten ihr gezeigt, dass sie all das, was sie sagte, so meinte. Sascha war sich ziemlich sicher, dass Kerstin sich in sie verliebt hatte. Und sie hatte sie angesehen, wie es zuvor niemand getan hatte. Kerstin war…Sascha konnte keine Worte dafür finden. Und sie konnte nicht sagen, dass ihr der Kuss unangenehm gewesen war. Es war neu, es war fremd, aber es war schön. So sanft, so zärtlich, so voller Liebe…niemals hatte Mike sie so geküsst. Weder früher und heute erst Recht nicht mehr.
„Was soll ich jetzt nur machen? Kann ich Kerstin jemals wieder unbefangen entgegen treten?“, rätselte Sascha. Wobei, hinterher im Arztzimmer hatte das auch geklappt. Kerstin hatte nicht mehr gemacht als ihr ein Glas Wasser gegeben. Keine Annäherungsversuche, nichts. Und sie hatte ihr etwas erzählt, was sie wahrscheinlich nicht jedem erzählen würde. Vielleicht sollten sie über den Kuss reden. Oder wäre es besser wenn sie so tun würden, als wenn nichts passiert wäre? Sascha wusste es nicht. Sie wusste überhaupt nichts mehr. Und dann das Angebot, sie und Jodie könnten jederzeit bei ihr in der WG unterkriechen. Wie hatte sie das gemeint? Rein freundschaftlich oder hatte sie da Hintergedanken. Eines war Sascha selber klar. Hier, bei Mike, sollte sie nicht länger als unbedingt nötig bleiben. Sie musste eine Lösung finden, wie sie und Jodie von Mike wegkamen. Nur wie?
„Johanna? Können Sie mir eine Verbindung nach Amerika heraussuchen?“ Sascha stand mit nassem Haar in der Tür zu Mikes Arbeitszimmer Zuhause, das er so gut wie nie benutzte, da er sowieso immer im Büro war.
„Amerika?“
„Ja, Los Angeles, Kalifornien.“
„Ihre Kusine?“, lächelte Johanna. Sascha nickte.
„Grüßen Sie sie von mir. Wann wird sie uns mal wieder besuchen kommen?“
„Das ist eine der Fragen, die ich ihr stellen will. Unsere Großmutter hat bald Geburtstag und so wie ich Kim kenne, vergisst sie das wenn sie keiner anruft.“ Sascha verschwand lächelnd im Badezimmer um sich die Haare zu fönen. Bis Johanna die Nummer von Kim gefunden hatte würde einige Zeit vergehen. Sie hatten die Nummer des Wohnheimes, in dem Kim wohnte, wenn sie in Los Angeles war, aber da sie regelmäßig die Zimmer wechselte, gab es keine direkte Durchwahl. Mal ganz davon abgesehen, dass es in Los Angeles jetzt 22 Uhr war und Kim genauso gut unterwegs sein konnte. Kim war Deutschlands beste Kickboxerin und hatte an einer Universität in L.A. ein Sportstipendium bekommen. Seitdem war sie sehr selten in Deutschland. Sascha fragte sich manchmal, ob sie es ähnlich weit gebracht hätte, wenn sie ihren Sport, der allerdings reiten gewesen war, ähnlich motiviert gewesen wäre? Aber dann kam Mike und die Pferde gerieten in den Hintergrund. Kurze Zeit später war sie schwanger gewesen und dann war es mit dem Reiten ganz vorbei. Heute ritt sie gelegentlich mit Jodie aus.
„Die Nummer.“ Johanna drückte Sascha einen Zettel in die Hand.
„Danke.“ Sie legte den Fön zur Seite und ging ins Schlafzimmer. Mike wäre stolz auf Johanna. Sparvorwahl, Vorwahl für Amerika, Kalifornien, Los Angeles, den Stadtbezirk, des Wohnheimes und des Zimmers. Sascha war sich sicher, einem Geschäftsmann konnte diese Zahl am falschen Ort gehörig den Tag versauen. Im vierten Versuch schaffte sie es die lange Nummer richtig einzugeben und wartete. Es piepte auf jeden Fall, das war ein gutes Zeichen. Die Nummer gab es.
„Hello! This is the…“ Verflucht, der Anrufbeantworter. Hätte Sascha sich ja denken können, dass Kim nicht Zuhause war. Sie wartete bis das Gerät seinen Text zu ende gesprochen hatte und begann nach dem Piepton zu reden. Normalerweise hasste sie Anrufbeantworter und redete nicht mit ihnen.
„Kim, ich bins, Sascha. Kannst du mich mal anrufen? Es ist wirklich dringend. Ich hatte gehofft, dich um diese Uhrzeit Zuhause anzutreffen, ihr Sportler sollt doch nicht die Nächte in Clubs verbringen. Naja, egal, melde dich einfach wenn du wieder…“
„Sascha?“ Atemlos meldete sich Kim am anderen Ende.
„Hey, du bist ja doch da.“
„Ja, sorry. Ich war unter der Dusche. Wie geht es dir?“
„Könnte besser sein. Und selber?“
„Mir geht es fantastisch. Was ist passiert?“ Kim hasste es, wenn Sascha lange um den heißen Brei herumredete.
„Kannst du nach Deutschland kommen?“
„Jetzt?“
„So schnell wie möglich.“
„Es ist ernst, oder?“
„Ja.“
„Mhm.“ Kim dachte nach. Prüfungen standen in der nächsten Zeit nicht an, es war Sommer und somit Semesterferien. Das Training konnte sie eine Woche lang schwänzen, das sollte kein Problem sein. Ihr Trainer mochte sie und weil sie sonst nie fehlte, musste das machbar sein.
„Ich kann gucken, ob ich morgen einen Flug bekomme, dann wäre ich übermorgen bei dir. Was ist denn passiert?“
„Das würde ich dir gerne hier erzählen.“ Sascha war sich nicht ganz sicher, ob Mike nicht die Anrufe aufzeichnen ließ. Er war ein Kontrollmensch.
„Mike“, stellte Kim treffsicher fest.
„Komm bitte einfach so schnell wie möglich her.“
„Okay, ich werde sehen, was ich machen kann.“
„Danke. Und jetzt geh schlafen, ich will nicht Schuld daran sein, wenn du morgen dein Frühtraining verpasst.“
„Sascha, Schlaf ist etwas für Weicheier. Wir sehen uns in etwa sechsunddreißig Stunden und wehe, du holst mich nicht persönlich am Flughafen ab.“
„Ich freue mich und werde pünktlich sein. Bis dann.“ Natürlich würde sie Kim persönlich am Flughafen abholen.
„Bye, Kleines.“ Sascha musste lächeln und legte auf. Kim war die kleine Kusine, nicht Sascha. Sie hoffte, dass Kim einen Flug bekommen würde. Mit Kim an ihrer Seite würde ihr die Entscheidung, was sie wegen Mike machen sollte, leichter fallen.
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