Die Herrschaft des Phönix
von Mirjam Lea
Kurzbeschreibung
General Smith konnte aus der Gefangenschaft entkommen und schickt sich ein zweites Mal an, die Herrschaft in der EAAU zu übernehmen. Aber auch seine grausamen Methoden schaffen es nicht, jeden Widerstand erlahmen zu lassen... (Anmerkung: Es handelt sich um eine radikale Neufassung von der Innere Zirkel, die jetzt auf Gleichgewicht des Schreckens ausbaut.)
GeschichteDrama / P16 / Gen
Gordon B. Smith
Samuel Hirschmann
19.08.2009
28.09.2010
27
114.525
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19.08.2009
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„Mein Bildschirm spinnt schon den ganzen Vormittag, ich glaube, der muss mal ausgetauscht werden. Meinen Sie, Sie kriegen das noch heute hin?“
Nicht alle der Probanden fragten Lavinia so höflich, wenn etwas mit ihrem Arbeitsplatz nicht in Ordnung war. Deshalb war sie geneigt, sich tatsächlich bei der Behebung des Problems zu beeilen. „Ich denke schon“, meinte sie freundlich. „Wir haben ja genug auf Lager, und das Anschließen dauert ja nur ein paar Sekunden.“
„Sie sind wirklich ein Schatz, Miss Drosczek.“
„Kein Problem, Lieutenant Ndongo.“
Der kenianische Lieutenant mit der nachtschwarzen Haut schenkte ihr noch einmal sein freundlichstes Lächeln. Der Wachtposten an der Tür sah schon misstrauisch hinüber. Es wurde nicht gerne gesehen, wenn die Techniker sich mit den Probanden unterhielten, die hier auf Odysseus einem ausgeklügelten Trainingsprogramm unterworfen wurden. So hatte Lavinia auch noch nicht herausfinden können, worum es bei diesem Programm wirklich ging, obwohl ihre Neugier schier übermächtig wurde. Sie bekam auch nur Teile dieses Trainings mit, hauptsächlich diejenigen, bei denen die Männer und Frauen, die daran teilnahmen an ihren Computerterminals auf ihre Reaktionsfähigkeit getestet wurden. Aber sie wusste, dass dies nicht den einzigen Programmpunkt darstellte, den die jungen Soldaten zu bewältigen hatten. Sie waren allesamt treue Anhänger des Generals und deswegen wohl ausgewählt worden bei der Bildung einer Eliteeinheit teilzunehmen. Lavinia wunderte sich, was den immer freundlichen Jaques Ndongo hierher verschlagen hatte, er schien ihr längst nicht so fanatisch zu sein, wie es von einem Anhänger des Generals erwartet wurde. Aber vielleicht zählte er zu denjenigen, die in der Reinigenden Flamme eine Möglichkeit sahen, im Leben weiter zu kommen. Das und die Tatsache, dass er bei den Tests immer hervorragend abschloss und daher wohl auch in den Vorprüfungen immer geglänzt hatte, mochte ihn hierher gebracht haben.
Auf der Station gab es unendlich viele Geheimnisse, die Lavinia gern entschlüsselt hätte, aber die Wachtposten beobachteten sie wie ihre Kollegen auf Schritt und Tritt. Jeder bekam nur so viel Einblick in die Abläufe der Station wie er für die Erledigung seiner Aufgaben benötigte. Lavinia war für die Computersysteme im Trainingsbereich zuständig, eine Arbeit, die sie nur unzureichend ausfüllte, den viel gab es nicht für sie zu tun. Das System streikte nur selten und ließ sich meist problemlos neu starten, wenn es wirklich einmal fest hing, weil es zu viele Informationen verarbeiten musste. Hin und wieder mussten auch einzelne Terminals ausgetauscht werden. Am meisten litten die Tastaturen und Eingabepads, wenn die Probanden wieder einmal zu eifrig damit arbeiteten.
Ganz klar war Lavinia der Zweck dieser Trainingsmaßnahmen nicht, denn in ihrer Ausbildung hatten die jungen Soldaten sicherlich schon Härteres durchlaufen. Zwar schien es auch ein Sportprogramm zu geben – sie hatte schon erlebt, dass die jungen Soldaten in Trainingskleidung im Computerraum erschienen waren – aber das konnte auch nicht allzu hart sein. Die Gruppe war relativ klein, umfasste etwa zwei Dutzend Männer und Frauen. Dafür wurde ein enormer Aufwand betrieben, es gab Techniker, einige Ärzte und auch zwei Neurologen und zwei Psychologen, welche die Fortschritte und das Verhalten der Soldaten bewerteten. Denn nicht alle benahmen sich so wie Lieutenant Ndongo, es gab auch einige deutlich unsympathischere Gesellen unter den Probanden, die an Arroganz nicht zu überbieten waren. Die Techniker waren so etwas wie untergeordnetes Dienstpersonal in ihren Augen – sie wussten sehr wohl, dass die meisten von ihnen nur unfreiwillig hier waren – und dementsprechend wurden sie auch behandelt. Lavinia musste manchmal die Zähne zusammen beißen, wenn sie wieder einmal unhöflich von ihnen angegangen wurde.
Aber es gab noch etwas anders, das sie verwunderte, es schien eine gewisse Fluktuation unter den Soldaten zu geben. Sie hatte nie ein gutes Personengedächtnis gehabt, aber eine Gruppe von weniger als dreißig Menschen blieb doch überschaubar. In den zwei Wochen ihres Dienstes auf Odysseus hatte es aber bestimmt schon fünf Neuzugänge und entsprechend viele Abgänge gegeben. Lavinia fragte sich, warum man den Aufwand betrieb, die Soldaten auf eine wochenlange Reise durch das All zu schicken und sie dann bereits nach einigen Tagen wieder abreisen ließ. Das alles schien ihr sehr ineffektiv zu sein. Aber tat das Regime etwas derart ineffektives, wenn nicht ein Plan dahinter steckte?
Sie besorgte den Monitor für Ndongo und schloss ihn rasch an, wofür der junge Mann sich noch einmal freundlich bedankte. Sonst schien es keine weiteren Probleme zu geben, also meldete sich bei dem Wachtposten ab, um eine Tasse Kaffee in der Stationskantine zu trinken. Die Kantine war kein besonders gemütlicher Ort, die Wände bestanden aus kahlem Kunststoff und die Möblierung setzte sich aus Plastiktischen und Stühlen zusammen, aber es war immerhin ein Platz, an dem man seine Kollegen treffen konnte, denn irgend jemand machte eigentlich immer Pause. Auch hier standen Wachtposten an den Türen, aber so lange die Gespräche unter den Technikern und Wissenschaftlern relativ belanglos blieben, mischten sie sich im allgemeinen nicht ein. Lavinia holte sich einen Milchkaffee und ein Brötchen mit Käse vom Ausgabeautomaten und setzte sich dann an einen Tisch, an dem sie Dr. Jens Bergmann entdeckt hatte, einen der Ärzte aus dem Trainingsprogramm. Sie wusste, dass er einen ähnlich unbefriedigenden Job hatte wie sie, auch er überwachte hauptsächlich Messdaten am Computer. Auch in dieser Beziehung konnte man sich nur wundern, warum das Regime die Anstrengung unternommen hatte, so viele Spezialisten an diesen einsamen Ort verbringen zu lassen. Jeder Medizinstudent im Grundstudium wäre fähig gewesen, diesen Posten auszufüllen.
„Hallo Jens“, begrüßte Lavinia den jungen Mann. Bergmann war wie sie Mitte dreißig, ein mittelgroßer schlanker Mann mit dunkelblondem Haar, der eine randlose Brille auf seiner ausgeprägten Nase balancierte. Bergmann freute sich sichtlich, sie zu sehen, er war wie sie immer zu einem Plausch aufgelegt. „Und, haben sie dich mal ein paar Minuten von deinen Monitoren weg gelassen?“
„Wahrscheinlich, weil ich kurz davor war, vor dem Bildschirm einzuschlafen“, erwiderte Bergmann und hielt ein kleines Kästchen hoch. „Ich habe ja meinen Pieper. Wenn wirklich etwas Außergewöhnliches passiert, dann bin ich sofort wieder zurück.“
„Ich brauchte auch mal einen Kaffee“, stöhnte Lavinia und nippte an dem heißen Getränk. Sofort verzog sie angewidert das Gesicht. „Jetzt probiere ich das Zeug schon jeden Tag, und es wird und wird nicht besser. Das schmeckt, als wenn sie den Kaffeefilter schon das dritte Mal benutzen. Aber ich brauche eben mein Koffein und der nächste anständige Laden ist zu weit entfernt, um zu Fuß hinzugehen.“
Zu Beginn hatten sie sich gefürchtet, selbst so harmlose Kritik zu äußern, aber von Tag zu Tag hatten sie ihre Grenzen weiter ausgelotet. Mittlerweile hatten sie die Erfahrung gemacht, dass die Wachen es nicht für nötig hielten, deshalb einzugreifen. So blieb ihnen wenigstens ein kleines Ventil, um ihren Frust loszuwerden. Die Wachen wussten das genau und hatten wohl den Auftrag, die Techniker und Ärzte so bei Laune zu halten. So funktionierte das System auf Odysseus, mit Zuckerbrot und Peitsche.
„So geht es mir mit meinen Zigaretten“, meinte Bergmann, der trotz seines Berufes früher wie ein Schlot geraucht hatte. „Ich könnte glatt barfuß über die Milchstraße laufen, um anständige zu bekommen. Hier gibt es ja nur Nikotinersatz, immerhin etwas, das man in den Fingern halten kann, um nicht ganz verrückt zu werden.“ Er sah sich rasch um, aber außer den Wachen waren nur wenige Menschen hier, die allesamt in irgendwelche Studien auf ihren Notebooks vertieft schienen. „Und was machen unsere Schützlinge? Läuft alles im Training glatt?“
Lavinia sah ihn einen Moment nachdenklich an. Es schien ihr, als wolle er ihr mit dieser harmlosen Frage etwas mitteilen, vor allem, da er nervös zur Seite geblickt hatte. „Diese Leute überschlagen sich fast in ihrem Eifer, der Beste in der Klasse zu sein. Ich muss ein paar Mal in der Woche die Tastaturen austauschen, weil sie bei den Reaktionstests so darauf einhämmern. Ich kann nur hoffen, dass mit dem nächsten Versorger eine neue Ladung PC-Ersatzteile hier ankommt. Die Terminals glühen geradezu, so als würde ein Wettstreit Mensch gegen Maschine stattfinden. Man könnte meinen, es gäbe hier einen Sonderpreis zu gewinnen, so wie bei diesen Gameshows im Fernsehen.“ Lavinia fragte sich, ob sie mit dieser Bemerkung nicht zu viel gesagt hatte. Sie konnte den misstrauischen Blick des Wachposten in ihrem Rücken gerade zu spüren, hatte sogar das Gefühl, als stellten sich ihre Nackenhaare mit einem leisen Kribbeln auf.
„Fit genug dazu wären sie“, erwiderte Bergmann und sah Lavinia erneut mit viel sagendem Blick an. Soweit sie wusste, war er Facharzt für Sportmedizin, also mehr als jeder andere Arzt geeignet, die Fitness der Probanden einzuschätzen. „Man könnte meinen, wir wären hier in einem Sportlercamp. Leider habe ich nur wenig Kontakt zu meinen Kollegen, aber ich möchte wetten, hier sind einige der besten Ausdauersportler der EAAU versammelt. Schade, dass wir keine Gelegenheit haben, einmal an ihrem Training teilzuhaben.“
Lavinias Verdacht, er wolle ihr tatsächlich etwas zwischen den Zeilen mitteilen, verstärkte sich nochmals. Hatte er eventuell etwas beobachtet, von dem sie noch nichts wusste? Oder hatte er seinerseits Informationen zugeflüstert bekommen? Aber vielleicht war er ja einfach nur fasziniert von dem hier eingerichteten Trainingsprogramm und wollte ein harmloses Gespräch darüber führen. Warum sollte das Regime auch jemand anderen als seine besten Soldaten in eine so aufwändige Schulung schicken, noch dazu an einem so abgelegenen Ort? Aber ihr Bauchgefühl sagte ihr etwas anderes. Bergmann wollte Informationen austauschen, um sich ein besseres Bild der Situation machen zu können. Das eine schloß ja das andere nicht aus. Auch Lavinia war längst neugierig geworden. „Vielleicht werden wir das, wenn wir erst einmal länger hier sind.“ Sie überlegte, wie sie ihm die Widersprüche erklären konnte, die ihr aufgefallen waren. Bergmann sagte zwar nichts Negatives über seinen Aufgabenbereich – das hätte er auch nicht ungestraft tun können – aber sie konnte sich gut vorstellen, wie sehr er unter der eintönigen Arbeit leiden musste. Wahrscheinlich fragte auch er sich, warum man ihn als Spezialisten auf seinem Gebiet mit Routineaufgaben beschäftigte. „Es dauert wohl noch etwas, bis wir genügend eingearbeitet sind.“ Nun war es an ihr, ihn intensiv anzusehen. „Die Arbeiten auf dieser Station sind nun einmal sehr komplex. Ich glaube nicht, dass irgend jemand in alle Arbeitsvorgänge hier eingeweiht ist. Schließlich gibt es hier Spezialisten für jedes Gebiet.“ Den wahren Grund für ihr Hiersein kannten wahrscheinlich nur der General und einige seiner Vertrauten, aber das wagte sie nicht zu sagen.
Sie verabschiedete sich von Bergmann und kehrte an ihren Arbeitsplatz zurück, nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken und den Pappbecher entsorgt hatte. Bergmann ließ sie noch wissen, dass er jeden Tag um diese Zeit in der Cafeteria zu finden sei und wünschte ihr noch einen angenehmen Arbeitstag. Dabei konnte er sich einen ironischen Unterton nicht verkneifen. Lavinia lächelte ihm zum Abschied zu. Dort hatte sich nichts verändert, nur saß jetzt eine andere Gruppe vor den Bildschirmen und büffelte über Reaktionstests. Schon wieder sah sie einige neue Gesichter in der Gruppe. Gerne wäre sie zu den Neuen hingegangen um sie ein wenig auszufragen, aber sie wagte es nicht. Die Wachen beobachteten sie mit stets wachem Misstrauen. Sie dachte an den Spruch, den Major Brendon ihnen noch mit auf den Weg gegeben hatte: Ihre Arbeit würde von der Reinigenden Flamme geschätzt werden, aber niemand sei für das System unentbehrlich, mit Ausnahme des Generals. Diese unausgesprochene Drohung schwebte ständig über ihr.
Einige Tage später führte ihr Weg sie zum Landedeck der Station. Eine Lieferung von Ersatzteilen für die von ihr betreuten Rechner war mit einer Najade angekommen, und es gehörte zu ihren Aufgaben, die Vollzähligkeit der Kisten zu überprüfen und den Empfang zu quittieren. Sie brauchte eine Weile, um den richtigen Ansprechpartner zu finden, denn das Deck summte vor Geschäftigkeit. Es kamen Waren für die Station an, gleichzeitig trafen auch neue Soldaten ein, die gut gelaunt miteinander scherzten. Das hier durchgeführte Trainingsprogramm war ihnen wohl wärmstens ans Herz gelegt worden. Endlich fand Lavinia ihren Ansprechpartner, die Najade hatte an einer Seitenschleuse angelegt. Ein übel gelaunter Frachtpilot ließ ihr die Kartons vor die Füße stellen und hielt ihr dann ein Display unter die Nase, auf dem sie ihren Daumenabdruck hinterlassen sollte.
„Wenn Sie die Kisten immer so hin knallen, dann kann ich gleich die nächsten Ersatzteile bestellen“, meinte Lavinia wenig freundlich. „Und ich werde sicher nicht für den Schaden aufkommen.“
Der Mann nuschelte etwas Unverständliches, das wohl heißen sollte, dass ihm ihre Rüge ziemlich egal war und wandte sich dann seinen anderen Aufgaben zu. Lavinia sah sich nach einem Transportwagen für die Kartons um. Wie immer würde sie alles selbst aufladen und in ihre Abteilung schaffen müssen, die Bewacher rührten keinen Finger für sie. Vorher aber öffnete sie einen der Kartons, die kleine Datenträgerkristalle enthielt. Sie betrachtete den Inhalt und nickte zufrieden. Diesmal hatten sie die richtigen geliefert. Schließlich fand sie auch eine Karre und begann mit dem Aufladen. Nach einigen Minuten türmten sich die Pappschachteln gefährlich auf der Ladefläche und schwankten verdächtig hin und her, als Lavinia sich mit ihnen in Bewegung setzte. Als sie dann noch einen Stapel Kisten umfahren musste, geschah es. Die oberen Kartons verloren das Gleichgewicht und kippten vom Wagen. Dabei platzte der von Lavinia geöffnete auf und verteilte seinen Inhalt zwischen den aufgestapelten Containern. Lavinia stieß einen wütenden Fluch aus, ließ den Handgriff des Karren los und zwängte sich zwischen die beiden Reihen der Kisten, um die Kristalle aufzusammeln. Sie hoffte inständig, die Kristalle wären intakt geblieben, sonst würde sie ihrem Abteilungsleiter gegenüber in Erklärungsnot geraten. Leise schimpfend tauchte sie zwischen den Containern unter und bückte sich nach den Datenträgern.
Ein Gong kündigte eine Durchsage des Stationsmeisters an, der Lavinia zunächst kaum Beachtung schenkte. Zu sehr war sie damit beschäftigt, die in alle Richtungen gerollten Kristalle aufzuheben. Dann aber wurde sie doch aufmerksam.
„... alle unbefugten Anwesenden werden hiermit letztmalig aufgefordert, das Landedeck unverzüglich zu verlassen. Es handelt sich um die letzte Durchsage! Jeder, der dieser Aufforderung nicht nachkommt, hat mir strengsten Sanktionen durch die Stationsleitung zu rechnen!“
Lavinia hielt inne. Sie rang mit sich, ob sie die Kristalle einfach liegen lassen und später wiederkommen sollte. Sie hatte einerseits keine Lust, sich Ärger einzuhandeln, andererseits aber war ihre Neugierde geweckt. Es musste einen Grund haben, warum das Deck für die Allgemeinheit geräumt wurde, und dieser Grund interessierte sie brennend. Vielleicht kam sie so auch den Geheimnissen ihrer eigenen Abteilung auf die Spur. Falls sie erwischt wurde, konnte sie immer noch behaupten, sie habe von der Durchsage nichts mitbekommen, weil sie beschäftigt gewesen war. Rasch duckte sie sich hinter die Kisten und gab vor, ganz in das Aufsammeln der Kristalle vertieft zu sein. Gleichzeitig suchte sie nach einer Lücke zwischen den Containern, durch die sie hindurch spähen konnte. Nach einigem Suchen wurde sie fündig und ging in die Hocke. Es dauerte nicht lange, bis das Deck bis auf die Wachen vollkommen geleert war und eine unheimliche Stille eintrat. Nur das Summen der Belüftungsanlage war noch zu hören.
Dann ging zischend ein Tor zum Deck auf und Schritte waren zu hören. Wieder hörte Lavinia junge Soldaten durcheinander sprechen, einige stimmten auch ein Kampflied an. Die Männer und Frauen sammelten sich in Lavinias Blickfeld, sie konnte sehen, dass sie alle Armeerucksäcke bei sich hatten. Offensichtlich machten sie sich bereit für die Rückreise zur Erde. Warum aber war es dazu nötig, das Deck abzuriegeln? Ein Offizier trat zu der Truppe und sorgte mit einem kurz gebellten Befehl für Ruhe. Die Soldaten stellten sich in zwei Reihen auf, es mochten etwa zwanzig sein. Atemlos harrte Lavinia auf ihrer Beobachtungsposition aus, obwohl ihr schon die Knie von der unbequemen Haltung weh taten. Vorsichtig, um kein Geräusch zu verursachen, ließ sie sich auf de Seite sinken und presste ihr Gesicht an den Spalt.
„Sie haben alle mit Erfolg einen zweiwöchigen Kurs auf Odysseus abgeschlossen“, begann der Offizier mit kräftiger Stimme und ging dabei vor den Soldaten auf und ab. „Wir hatten von Anfang an keine Zweifel an Ihren Fähigkeiten, schließlich haben wir nur die Besten der Besten für dieses Seminar ausgewählt, von denen wir mit Recht erwarten konnten, dass sie erfolgreich sein würden. Nun werden Sie heimkehren zu Ihren Einheiten, mit neuen Erfahrungen und Kenntnissen. Die Reinigende Flamme ist stolz auf Sie, Sie sind eine Stütze des Systems, für das der General so hart gekämpft hat. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen guten Flug – und tragen Sie das Gelernte in die Welt hinaus! Ihre Fähre steht am Gate 23 für Sie bereit und wird Sie anschließend auf eine Flotte von Zerstörern verteilen.“
Damit war die kleine Rede des Offiziers beendet und er gab den Soldaten den Befehl, sich zu rühren und so rasch wie möglich die Fähre aufzusuchen. Die Männer und Frauen stießen laute Jubelrufe aus, fassten sich dann aber rasch wieder und gingen in geordneten Reihen auf das genannte Gate zu. Lavinia sah weiterhin gespannt zu, während sie sich gleichzeitig fragte, warum für diese Verabschiedung die Absperrung des Decks notwendig gewesen war. Die Tatsache, dass hier Schulungen durchgeführt wurden, zählte zu den wenigen Dingen, um die hier kein Geheimnis gemacht wurde.
Das Zischen einer Schleuse verriet, dass die Soldaten sich nun im Durchgangstunnel zur Fähre befanden. Noch immer herrschte Stille auf dem Deck, obwohl Lavinia nun die Aufhebung der Absperrung erwartet hätte. Aber eine Zeit lang tat sich einfach gar nichts. Dann plötzlich ertönte der quäkende Laut einer Alarmsirene. Gleichzeitig öffnete sich eine Seitentür des Decks. Was Lavinia nun sah, ließ sie erneut den Atem anhalten. Der Offizier, der eben noch eine Ansprache vor den Soldaten gehalten hatte, streifte eine Atemschutzmaske über. Ebenso trugen die Wachen, welche das Decke durch den Seiteneingang betreten hatten, Masken über ihren Gesichtern. Gleichzeitig schoben sie etwa zwanzig Bahren vor sich her, mit denen sie auf die Schleuse zu eilten. Lavinias Herz begann zu rasen. Hatte sie einen tödlichen Fehler gemacht, indem sie sich auf dem Deck versteckte? Die Szenerie sah außerordentlich bedrohlich aus. Die Wachen sahen fast so aus, als bereiteten sie sich darauf vor, ein Seuchengebiet zu betreten, oder, was ihr noch wahrscheinlicher schien, auf eine chemische Kontamination der Atemluft. Das Blut schien ihr in den Adern zu gefrieren, und plötzlich zitterten ihre Knie vor Angst. Sie konnte sich immer noch nicht vorstellen, was hier vor sich ging, dennoch erschien es ihr schon jetzt, als wenn sie nicht mehr atmen könnte.
Von ihrem Aussichtsposten konnte sie die Schleuse nicht sehen, aber sie hörte, wie sie geöffnet wurde. Sie hörte, wie die Wachen den Schleusentunnel mit ihren schweren Stiefeln betraten. Dann nahm sie ein schleifendes Geräusch wahr und das schwere Atmen der Männer der Truppe. Anschließend drang ein dumpfer Ton zu ihr hinüber, als würde ein Sack auf einen Karren verladen. Es dauerte eine Weile, bis die ersten der Wachen wieder in ihr Blickfeld gerieten. Fast hätte sie einen erschrockenen Schrei ausgestoßen, denn auf der Bahre lag ein lebloser Körper, der eines der Probanden. Mehr und mehr Bahren mit leblosen Körpern wurden auf dem Deck versammelt.
Ein süßlicher Geruch breitete sich auf dem Deck aus, fast wie der Duft eines Raumsprays. Bald fühlte Lavinia sich ein wenig benommen. Das war wohl der Grund für die Atemmasken, irgend etwas musste im Schleusentunnel zum Einsatz gekommen sein, das nun auch auf das Landedeck vordrang. Sie konnte nur hoffen, dass es hier nicht mehr so stark wirkte wie im Tunnel selbst, sonst würde sie bald ohnmächtig werden, oder gar Schlimmeres. Mühsam stützte sie sich mit den Händen ab, während ihre Augenlider immer schwerer zu werden schienen. Über allem quakte weiterhin die Alarmsirene.
Das Denken fiel Lavinia immer schwerer. Allein die Alarmsirene schien sie wach zu halten. Endlich erlosch das nervtötende Geräusch. Eine große Entlüftungsanlage nahm ihre Arbeit mit einem lauten Brausen auf, die kontaminierte Luft wurde von starken Ventilatoren abgesaugt und gegen saubere ausgetauscht. Lavinia sog sie gierig in ihre Lungen. Dennoch zwang sie sich, weiter zu beobachten. Die Männer mit den Bahren setzten sich nun in Bewegung, wieder auf das Seitentor zu. Ebenso rasch, wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder, die gesamte Aktion hatte nur wenige Minuten gedauert, die Lavinia wie Stunden vorkamen.
Immer noch benommen, verharrte sie in ihrem Versteck, bis der Betrieb auf dem Landedeck wieder aufgenommen wurde. Während sie den Rest der Speicherkristalle aufsammelte, begann sie bereits zu überlegen, wie sie Jens Bergmann ihre unheimliche Beobachtung mitteilen konnte.
***
In Metropolis saß der General über die Berichte gebeugt, die ihm von Odysseus übermittelt worden waren. Vor seinem Schreibtisch wand sich Colonel Jules Bertrand geradezu in seinem Sessel. Smith war unzufrieden, und das hatte er seinen Wissenschaftsoffizier auch fühlen lassen. Seufzend ließ er sich gegen die Lehne seines Ledersessels sinken und sah den Colonel missmutig an. Dabei trank er einen großen Schluck des schwarzen Kaffees, der in einer feinen Porzellantasse auf seinem Schreibtisch stand, wie er es immer tat, wenn er nachdachte. Der General hatte in diesem Punkt seine Prinzipien, es war noch relativ früh am Morgen, zu früh seiner Meinung nach für alkoholische Getränke.
„Die Fortschritte beim Projekt Odysseus sind noch immer außerordentlich unbefriedigend“, meinte er mit einem Seitenblick auf die Akten. „Ich dachte, Ihre Leute hätten nun endlich einen entscheidenden Durchbruch bei der Zusammenstellung des entsprechenden genetischen Materials gemacht, ebenso bei der Übertragbarkeit desselben, deshalb verstehe ich nicht, warum es noch immer so große Misserfolge bei der Impfung der Rohlinge mit dem Gedächtnisimplantat gibt.“
„Sir, ich gebe es nur ungern zu, aber was in der Theorie außerordentlich viel versprechend ist und auch bei Primaten gut funktioniert, ist bei den menschlichen Spendern noch schwierig durchzuführen.“ Bertrand wischte sich die schwitzende Stirn mit einem Taschentuch ab. Er litt deutlich unter Smiths kaltem Blick. Im Falle weiterer Misserfolge stand sein Leben auf dem Spiel, und das wusste er auch. Smith dachte zudem nicht daran, ihm diesen Druck zu nehmen. Für ihn zählten nur die Ergebnisse. „Das Problem besteht noch nicht einmal darin, das entsprechende Gedächtnisimplantat mit den erforderlichen Fertigkeiten und Kenntnissen zusammenzustellen und auf die Rohlinge zu übertragen, es ist vielmehr der Faktor Angst, der uns noch Schwierigkeiten bereitet.“ Diesen Faktor kannte Bertrand nur zu gut, er empfand sie jedes Mal, wenn er vor den General treten musste, um Bericht zu erstatten.
Smith schenkte sich Kaffee nach, ohne seinem Gegenüber auch etwas anzubieten und lehnte sich dann erneut zurück. „Wie soll ich das verstehen? Welcher Faktor Angst? Ich dachte, wir bringen dort nur die besten und fähigsten Soldaten zusammen und keine Angsthasen. Wollen Sie etwa behaupten, dass wir bei diesem Projekt kostbare Zeit mit Versagern und Weicheiern verschwenden? Dann muss ich wohl einmal ein ernstes Wort mit den Offizieren reden, welche die Listen für das Programm zusammenstellen.“
„Das ist es nicht, Sir. Ich hätte mich vielleicht genauer ausdrücken sollen. Es ist der Moment des Todes, in dem bei den Spendern Angst auftritt und diese Angst führt zu Zweifeln. Auch wenn dieser Zweifel nur einen Moment lang aufblitzt, der Proband sich nur den Bruchteil einer Sekunde fragt, warum bloß wir das mit ihm tun, kann dies das Material schon unrettbar verderben. Die Skepsis gegenüber der Reinigenden Flamme wirkt dann wie der berühmte Tropfen Öl in einem Wasserfass, er verdirbt das Wasser für den menschlichen Gebrauch.“
„Wasser kann man filtern“, meinte der General herablassend. „Kann man das Material nicht ebenso behandeln? So wie ein Chirurg das Messer an einem winzigen Tumor ansetzt, bei dem er keinen Millimeter daneben schneiden darf?“
„Leider ist es nicht so einfach, Sir, sonst hätten wir das längst getan.“ Bertrand lachte nervös. „Man kann diesen Zweifel nicht einfach unter dem Mikroskop erkennen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Dazu wären noch kompliziertere Forschungen notwendig.“
„Was schlagen Sie also vor?“
„Eine effektivere Tötungsmethode, die schneller wirkt und gleichzeitig das Material schont. Bisher arbeiten wir mit einem Betäubungsgas in Überdosierung.“
„Mit ist es vollkommen egal, wie Sie das bewerkstelligen, ich will nur Ergebnisse sehen. Denken Sie daran, Odysseus ist nur das Pilotprojekt, ich will so bald wie möglich eine Massenproduktion ins Leben rufen lassen.“ Smith gönnte sich einen Moment der geistigen Abwesenheit, in dem er sich seine neue Armee vor seinem inneren Auge vorstellte. Eine treue Armee, loyal auch in der ausweglosesten Situation. „Bertrand, irgendwann werden wir in den offenen Konflikt mit den VOR eintreten. Wir können zwar eine gigantische Raumflotte aus dem Boden stampfen, aber für diese Flotte brauchen wir auch Piloten und Ingenieure. Und auch unsere Grenzen auf dem Land wollen gesichert werden. Noch ist uns die Armee der VOR zahlenmäßig weit überlegen, es wäre reiner Selbstmord, zum jetzigen Zeitpunkt einen Krieg vom Zaun zu brechen. Wir brauchen Menschen, Bertrand! Und ich kann kaum darauf warten, bis sich die Bevölkerungsentwicklung in der EAAU auf meine Bedürfnisse eingestellt hat.“
„Ich verstehe, Sir.“
„Dann verstehen Sie auch sicher die Dringlichkeit des Problems. Ich gebe Ihnen noch genau vier Wochen, dann will ich Ergebnisse sehen.“ Er gab Bertrand ein Zeichen, sein Büro zu verlassen, als scheuche er eine lästige Fliege fort.
Allein in seinem Büro dachte der General über seine weiteren Möglichkeiten nach. Es war niemals gut, nur ein Standbein zu haben.
Nicht alle der Probanden fragten Lavinia so höflich, wenn etwas mit ihrem Arbeitsplatz nicht in Ordnung war. Deshalb war sie geneigt, sich tatsächlich bei der Behebung des Problems zu beeilen. „Ich denke schon“, meinte sie freundlich. „Wir haben ja genug auf Lager, und das Anschließen dauert ja nur ein paar Sekunden.“
„Sie sind wirklich ein Schatz, Miss Drosczek.“
„Kein Problem, Lieutenant Ndongo.“
Der kenianische Lieutenant mit der nachtschwarzen Haut schenkte ihr noch einmal sein freundlichstes Lächeln. Der Wachtposten an der Tür sah schon misstrauisch hinüber. Es wurde nicht gerne gesehen, wenn die Techniker sich mit den Probanden unterhielten, die hier auf Odysseus einem ausgeklügelten Trainingsprogramm unterworfen wurden. So hatte Lavinia auch noch nicht herausfinden können, worum es bei diesem Programm wirklich ging, obwohl ihre Neugier schier übermächtig wurde. Sie bekam auch nur Teile dieses Trainings mit, hauptsächlich diejenigen, bei denen die Männer und Frauen, die daran teilnahmen an ihren Computerterminals auf ihre Reaktionsfähigkeit getestet wurden. Aber sie wusste, dass dies nicht den einzigen Programmpunkt darstellte, den die jungen Soldaten zu bewältigen hatten. Sie waren allesamt treue Anhänger des Generals und deswegen wohl ausgewählt worden bei der Bildung einer Eliteeinheit teilzunehmen. Lavinia wunderte sich, was den immer freundlichen Jaques Ndongo hierher verschlagen hatte, er schien ihr längst nicht so fanatisch zu sein, wie es von einem Anhänger des Generals erwartet wurde. Aber vielleicht zählte er zu denjenigen, die in der Reinigenden Flamme eine Möglichkeit sahen, im Leben weiter zu kommen. Das und die Tatsache, dass er bei den Tests immer hervorragend abschloss und daher wohl auch in den Vorprüfungen immer geglänzt hatte, mochte ihn hierher gebracht haben.
Auf der Station gab es unendlich viele Geheimnisse, die Lavinia gern entschlüsselt hätte, aber die Wachtposten beobachteten sie wie ihre Kollegen auf Schritt und Tritt. Jeder bekam nur so viel Einblick in die Abläufe der Station wie er für die Erledigung seiner Aufgaben benötigte. Lavinia war für die Computersysteme im Trainingsbereich zuständig, eine Arbeit, die sie nur unzureichend ausfüllte, den viel gab es nicht für sie zu tun. Das System streikte nur selten und ließ sich meist problemlos neu starten, wenn es wirklich einmal fest hing, weil es zu viele Informationen verarbeiten musste. Hin und wieder mussten auch einzelne Terminals ausgetauscht werden. Am meisten litten die Tastaturen und Eingabepads, wenn die Probanden wieder einmal zu eifrig damit arbeiteten.
Ganz klar war Lavinia der Zweck dieser Trainingsmaßnahmen nicht, denn in ihrer Ausbildung hatten die jungen Soldaten sicherlich schon Härteres durchlaufen. Zwar schien es auch ein Sportprogramm zu geben – sie hatte schon erlebt, dass die jungen Soldaten in Trainingskleidung im Computerraum erschienen waren – aber das konnte auch nicht allzu hart sein. Die Gruppe war relativ klein, umfasste etwa zwei Dutzend Männer und Frauen. Dafür wurde ein enormer Aufwand betrieben, es gab Techniker, einige Ärzte und auch zwei Neurologen und zwei Psychologen, welche die Fortschritte und das Verhalten der Soldaten bewerteten. Denn nicht alle benahmen sich so wie Lieutenant Ndongo, es gab auch einige deutlich unsympathischere Gesellen unter den Probanden, die an Arroganz nicht zu überbieten waren. Die Techniker waren so etwas wie untergeordnetes Dienstpersonal in ihren Augen – sie wussten sehr wohl, dass die meisten von ihnen nur unfreiwillig hier waren – und dementsprechend wurden sie auch behandelt. Lavinia musste manchmal die Zähne zusammen beißen, wenn sie wieder einmal unhöflich von ihnen angegangen wurde.
Aber es gab noch etwas anders, das sie verwunderte, es schien eine gewisse Fluktuation unter den Soldaten zu geben. Sie hatte nie ein gutes Personengedächtnis gehabt, aber eine Gruppe von weniger als dreißig Menschen blieb doch überschaubar. In den zwei Wochen ihres Dienstes auf Odysseus hatte es aber bestimmt schon fünf Neuzugänge und entsprechend viele Abgänge gegeben. Lavinia fragte sich, warum man den Aufwand betrieb, die Soldaten auf eine wochenlange Reise durch das All zu schicken und sie dann bereits nach einigen Tagen wieder abreisen ließ. Das alles schien ihr sehr ineffektiv zu sein. Aber tat das Regime etwas derart ineffektives, wenn nicht ein Plan dahinter steckte?
Sie besorgte den Monitor für Ndongo und schloss ihn rasch an, wofür der junge Mann sich noch einmal freundlich bedankte. Sonst schien es keine weiteren Probleme zu geben, also meldete sich bei dem Wachtposten ab, um eine Tasse Kaffee in der Stationskantine zu trinken. Die Kantine war kein besonders gemütlicher Ort, die Wände bestanden aus kahlem Kunststoff und die Möblierung setzte sich aus Plastiktischen und Stühlen zusammen, aber es war immerhin ein Platz, an dem man seine Kollegen treffen konnte, denn irgend jemand machte eigentlich immer Pause. Auch hier standen Wachtposten an den Türen, aber so lange die Gespräche unter den Technikern und Wissenschaftlern relativ belanglos blieben, mischten sie sich im allgemeinen nicht ein. Lavinia holte sich einen Milchkaffee und ein Brötchen mit Käse vom Ausgabeautomaten und setzte sich dann an einen Tisch, an dem sie Dr. Jens Bergmann entdeckt hatte, einen der Ärzte aus dem Trainingsprogramm. Sie wusste, dass er einen ähnlich unbefriedigenden Job hatte wie sie, auch er überwachte hauptsächlich Messdaten am Computer. Auch in dieser Beziehung konnte man sich nur wundern, warum das Regime die Anstrengung unternommen hatte, so viele Spezialisten an diesen einsamen Ort verbringen zu lassen. Jeder Medizinstudent im Grundstudium wäre fähig gewesen, diesen Posten auszufüllen.
„Hallo Jens“, begrüßte Lavinia den jungen Mann. Bergmann war wie sie Mitte dreißig, ein mittelgroßer schlanker Mann mit dunkelblondem Haar, der eine randlose Brille auf seiner ausgeprägten Nase balancierte. Bergmann freute sich sichtlich, sie zu sehen, er war wie sie immer zu einem Plausch aufgelegt. „Und, haben sie dich mal ein paar Minuten von deinen Monitoren weg gelassen?“
„Wahrscheinlich, weil ich kurz davor war, vor dem Bildschirm einzuschlafen“, erwiderte Bergmann und hielt ein kleines Kästchen hoch. „Ich habe ja meinen Pieper. Wenn wirklich etwas Außergewöhnliches passiert, dann bin ich sofort wieder zurück.“
„Ich brauchte auch mal einen Kaffee“, stöhnte Lavinia und nippte an dem heißen Getränk. Sofort verzog sie angewidert das Gesicht. „Jetzt probiere ich das Zeug schon jeden Tag, und es wird und wird nicht besser. Das schmeckt, als wenn sie den Kaffeefilter schon das dritte Mal benutzen. Aber ich brauche eben mein Koffein und der nächste anständige Laden ist zu weit entfernt, um zu Fuß hinzugehen.“
Zu Beginn hatten sie sich gefürchtet, selbst so harmlose Kritik zu äußern, aber von Tag zu Tag hatten sie ihre Grenzen weiter ausgelotet. Mittlerweile hatten sie die Erfahrung gemacht, dass die Wachen es nicht für nötig hielten, deshalb einzugreifen. So blieb ihnen wenigstens ein kleines Ventil, um ihren Frust loszuwerden. Die Wachen wussten das genau und hatten wohl den Auftrag, die Techniker und Ärzte so bei Laune zu halten. So funktionierte das System auf Odysseus, mit Zuckerbrot und Peitsche.
„So geht es mir mit meinen Zigaretten“, meinte Bergmann, der trotz seines Berufes früher wie ein Schlot geraucht hatte. „Ich könnte glatt barfuß über die Milchstraße laufen, um anständige zu bekommen. Hier gibt es ja nur Nikotinersatz, immerhin etwas, das man in den Fingern halten kann, um nicht ganz verrückt zu werden.“ Er sah sich rasch um, aber außer den Wachen waren nur wenige Menschen hier, die allesamt in irgendwelche Studien auf ihren Notebooks vertieft schienen. „Und was machen unsere Schützlinge? Läuft alles im Training glatt?“
Lavinia sah ihn einen Moment nachdenklich an. Es schien ihr, als wolle er ihr mit dieser harmlosen Frage etwas mitteilen, vor allem, da er nervös zur Seite geblickt hatte. „Diese Leute überschlagen sich fast in ihrem Eifer, der Beste in der Klasse zu sein. Ich muss ein paar Mal in der Woche die Tastaturen austauschen, weil sie bei den Reaktionstests so darauf einhämmern. Ich kann nur hoffen, dass mit dem nächsten Versorger eine neue Ladung PC-Ersatzteile hier ankommt. Die Terminals glühen geradezu, so als würde ein Wettstreit Mensch gegen Maschine stattfinden. Man könnte meinen, es gäbe hier einen Sonderpreis zu gewinnen, so wie bei diesen Gameshows im Fernsehen.“ Lavinia fragte sich, ob sie mit dieser Bemerkung nicht zu viel gesagt hatte. Sie konnte den misstrauischen Blick des Wachposten in ihrem Rücken gerade zu spüren, hatte sogar das Gefühl, als stellten sich ihre Nackenhaare mit einem leisen Kribbeln auf.
„Fit genug dazu wären sie“, erwiderte Bergmann und sah Lavinia erneut mit viel sagendem Blick an. Soweit sie wusste, war er Facharzt für Sportmedizin, also mehr als jeder andere Arzt geeignet, die Fitness der Probanden einzuschätzen. „Man könnte meinen, wir wären hier in einem Sportlercamp. Leider habe ich nur wenig Kontakt zu meinen Kollegen, aber ich möchte wetten, hier sind einige der besten Ausdauersportler der EAAU versammelt. Schade, dass wir keine Gelegenheit haben, einmal an ihrem Training teilzuhaben.“
Lavinias Verdacht, er wolle ihr tatsächlich etwas zwischen den Zeilen mitteilen, verstärkte sich nochmals. Hatte er eventuell etwas beobachtet, von dem sie noch nichts wusste? Oder hatte er seinerseits Informationen zugeflüstert bekommen? Aber vielleicht war er ja einfach nur fasziniert von dem hier eingerichteten Trainingsprogramm und wollte ein harmloses Gespräch darüber führen. Warum sollte das Regime auch jemand anderen als seine besten Soldaten in eine so aufwändige Schulung schicken, noch dazu an einem so abgelegenen Ort? Aber ihr Bauchgefühl sagte ihr etwas anderes. Bergmann wollte Informationen austauschen, um sich ein besseres Bild der Situation machen zu können. Das eine schloß ja das andere nicht aus. Auch Lavinia war längst neugierig geworden. „Vielleicht werden wir das, wenn wir erst einmal länger hier sind.“ Sie überlegte, wie sie ihm die Widersprüche erklären konnte, die ihr aufgefallen waren. Bergmann sagte zwar nichts Negatives über seinen Aufgabenbereich – das hätte er auch nicht ungestraft tun können – aber sie konnte sich gut vorstellen, wie sehr er unter der eintönigen Arbeit leiden musste. Wahrscheinlich fragte auch er sich, warum man ihn als Spezialisten auf seinem Gebiet mit Routineaufgaben beschäftigte. „Es dauert wohl noch etwas, bis wir genügend eingearbeitet sind.“ Nun war es an ihr, ihn intensiv anzusehen. „Die Arbeiten auf dieser Station sind nun einmal sehr komplex. Ich glaube nicht, dass irgend jemand in alle Arbeitsvorgänge hier eingeweiht ist. Schließlich gibt es hier Spezialisten für jedes Gebiet.“ Den wahren Grund für ihr Hiersein kannten wahrscheinlich nur der General und einige seiner Vertrauten, aber das wagte sie nicht zu sagen.
Sie verabschiedete sich von Bergmann und kehrte an ihren Arbeitsplatz zurück, nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken und den Pappbecher entsorgt hatte. Bergmann ließ sie noch wissen, dass er jeden Tag um diese Zeit in der Cafeteria zu finden sei und wünschte ihr noch einen angenehmen Arbeitstag. Dabei konnte er sich einen ironischen Unterton nicht verkneifen. Lavinia lächelte ihm zum Abschied zu. Dort hatte sich nichts verändert, nur saß jetzt eine andere Gruppe vor den Bildschirmen und büffelte über Reaktionstests. Schon wieder sah sie einige neue Gesichter in der Gruppe. Gerne wäre sie zu den Neuen hingegangen um sie ein wenig auszufragen, aber sie wagte es nicht. Die Wachen beobachteten sie mit stets wachem Misstrauen. Sie dachte an den Spruch, den Major Brendon ihnen noch mit auf den Weg gegeben hatte: Ihre Arbeit würde von der Reinigenden Flamme geschätzt werden, aber niemand sei für das System unentbehrlich, mit Ausnahme des Generals. Diese unausgesprochene Drohung schwebte ständig über ihr.
Einige Tage später führte ihr Weg sie zum Landedeck der Station. Eine Lieferung von Ersatzteilen für die von ihr betreuten Rechner war mit einer Najade angekommen, und es gehörte zu ihren Aufgaben, die Vollzähligkeit der Kisten zu überprüfen und den Empfang zu quittieren. Sie brauchte eine Weile, um den richtigen Ansprechpartner zu finden, denn das Deck summte vor Geschäftigkeit. Es kamen Waren für die Station an, gleichzeitig trafen auch neue Soldaten ein, die gut gelaunt miteinander scherzten. Das hier durchgeführte Trainingsprogramm war ihnen wohl wärmstens ans Herz gelegt worden. Endlich fand Lavinia ihren Ansprechpartner, die Najade hatte an einer Seitenschleuse angelegt. Ein übel gelaunter Frachtpilot ließ ihr die Kartons vor die Füße stellen und hielt ihr dann ein Display unter die Nase, auf dem sie ihren Daumenabdruck hinterlassen sollte.
„Wenn Sie die Kisten immer so hin knallen, dann kann ich gleich die nächsten Ersatzteile bestellen“, meinte Lavinia wenig freundlich. „Und ich werde sicher nicht für den Schaden aufkommen.“
Der Mann nuschelte etwas Unverständliches, das wohl heißen sollte, dass ihm ihre Rüge ziemlich egal war und wandte sich dann seinen anderen Aufgaben zu. Lavinia sah sich nach einem Transportwagen für die Kartons um. Wie immer würde sie alles selbst aufladen und in ihre Abteilung schaffen müssen, die Bewacher rührten keinen Finger für sie. Vorher aber öffnete sie einen der Kartons, die kleine Datenträgerkristalle enthielt. Sie betrachtete den Inhalt und nickte zufrieden. Diesmal hatten sie die richtigen geliefert. Schließlich fand sie auch eine Karre und begann mit dem Aufladen. Nach einigen Minuten türmten sich die Pappschachteln gefährlich auf der Ladefläche und schwankten verdächtig hin und her, als Lavinia sich mit ihnen in Bewegung setzte. Als sie dann noch einen Stapel Kisten umfahren musste, geschah es. Die oberen Kartons verloren das Gleichgewicht und kippten vom Wagen. Dabei platzte der von Lavinia geöffnete auf und verteilte seinen Inhalt zwischen den aufgestapelten Containern. Lavinia stieß einen wütenden Fluch aus, ließ den Handgriff des Karren los und zwängte sich zwischen die beiden Reihen der Kisten, um die Kristalle aufzusammeln. Sie hoffte inständig, die Kristalle wären intakt geblieben, sonst würde sie ihrem Abteilungsleiter gegenüber in Erklärungsnot geraten. Leise schimpfend tauchte sie zwischen den Containern unter und bückte sich nach den Datenträgern.
Ein Gong kündigte eine Durchsage des Stationsmeisters an, der Lavinia zunächst kaum Beachtung schenkte. Zu sehr war sie damit beschäftigt, die in alle Richtungen gerollten Kristalle aufzuheben. Dann aber wurde sie doch aufmerksam.
„... alle unbefugten Anwesenden werden hiermit letztmalig aufgefordert, das Landedeck unverzüglich zu verlassen. Es handelt sich um die letzte Durchsage! Jeder, der dieser Aufforderung nicht nachkommt, hat mir strengsten Sanktionen durch die Stationsleitung zu rechnen!“
Lavinia hielt inne. Sie rang mit sich, ob sie die Kristalle einfach liegen lassen und später wiederkommen sollte. Sie hatte einerseits keine Lust, sich Ärger einzuhandeln, andererseits aber war ihre Neugierde geweckt. Es musste einen Grund haben, warum das Deck für die Allgemeinheit geräumt wurde, und dieser Grund interessierte sie brennend. Vielleicht kam sie so auch den Geheimnissen ihrer eigenen Abteilung auf die Spur. Falls sie erwischt wurde, konnte sie immer noch behaupten, sie habe von der Durchsage nichts mitbekommen, weil sie beschäftigt gewesen war. Rasch duckte sie sich hinter die Kisten und gab vor, ganz in das Aufsammeln der Kristalle vertieft zu sein. Gleichzeitig suchte sie nach einer Lücke zwischen den Containern, durch die sie hindurch spähen konnte. Nach einigem Suchen wurde sie fündig und ging in die Hocke. Es dauerte nicht lange, bis das Deck bis auf die Wachen vollkommen geleert war und eine unheimliche Stille eintrat. Nur das Summen der Belüftungsanlage war noch zu hören.
Dann ging zischend ein Tor zum Deck auf und Schritte waren zu hören. Wieder hörte Lavinia junge Soldaten durcheinander sprechen, einige stimmten auch ein Kampflied an. Die Männer und Frauen sammelten sich in Lavinias Blickfeld, sie konnte sehen, dass sie alle Armeerucksäcke bei sich hatten. Offensichtlich machten sie sich bereit für die Rückreise zur Erde. Warum aber war es dazu nötig, das Deck abzuriegeln? Ein Offizier trat zu der Truppe und sorgte mit einem kurz gebellten Befehl für Ruhe. Die Soldaten stellten sich in zwei Reihen auf, es mochten etwa zwanzig sein. Atemlos harrte Lavinia auf ihrer Beobachtungsposition aus, obwohl ihr schon die Knie von der unbequemen Haltung weh taten. Vorsichtig, um kein Geräusch zu verursachen, ließ sie sich auf de Seite sinken und presste ihr Gesicht an den Spalt.
„Sie haben alle mit Erfolg einen zweiwöchigen Kurs auf Odysseus abgeschlossen“, begann der Offizier mit kräftiger Stimme und ging dabei vor den Soldaten auf und ab. „Wir hatten von Anfang an keine Zweifel an Ihren Fähigkeiten, schließlich haben wir nur die Besten der Besten für dieses Seminar ausgewählt, von denen wir mit Recht erwarten konnten, dass sie erfolgreich sein würden. Nun werden Sie heimkehren zu Ihren Einheiten, mit neuen Erfahrungen und Kenntnissen. Die Reinigende Flamme ist stolz auf Sie, Sie sind eine Stütze des Systems, für das der General so hart gekämpft hat. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen guten Flug – und tragen Sie das Gelernte in die Welt hinaus! Ihre Fähre steht am Gate 23 für Sie bereit und wird Sie anschließend auf eine Flotte von Zerstörern verteilen.“
Damit war die kleine Rede des Offiziers beendet und er gab den Soldaten den Befehl, sich zu rühren und so rasch wie möglich die Fähre aufzusuchen. Die Männer und Frauen stießen laute Jubelrufe aus, fassten sich dann aber rasch wieder und gingen in geordneten Reihen auf das genannte Gate zu. Lavinia sah weiterhin gespannt zu, während sie sich gleichzeitig fragte, warum für diese Verabschiedung die Absperrung des Decks notwendig gewesen war. Die Tatsache, dass hier Schulungen durchgeführt wurden, zählte zu den wenigen Dingen, um die hier kein Geheimnis gemacht wurde.
Das Zischen einer Schleuse verriet, dass die Soldaten sich nun im Durchgangstunnel zur Fähre befanden. Noch immer herrschte Stille auf dem Deck, obwohl Lavinia nun die Aufhebung der Absperrung erwartet hätte. Aber eine Zeit lang tat sich einfach gar nichts. Dann plötzlich ertönte der quäkende Laut einer Alarmsirene. Gleichzeitig öffnete sich eine Seitentür des Decks. Was Lavinia nun sah, ließ sie erneut den Atem anhalten. Der Offizier, der eben noch eine Ansprache vor den Soldaten gehalten hatte, streifte eine Atemschutzmaske über. Ebenso trugen die Wachen, welche das Decke durch den Seiteneingang betreten hatten, Masken über ihren Gesichtern. Gleichzeitig schoben sie etwa zwanzig Bahren vor sich her, mit denen sie auf die Schleuse zu eilten. Lavinias Herz begann zu rasen. Hatte sie einen tödlichen Fehler gemacht, indem sie sich auf dem Deck versteckte? Die Szenerie sah außerordentlich bedrohlich aus. Die Wachen sahen fast so aus, als bereiteten sie sich darauf vor, ein Seuchengebiet zu betreten, oder, was ihr noch wahrscheinlicher schien, auf eine chemische Kontamination der Atemluft. Das Blut schien ihr in den Adern zu gefrieren, und plötzlich zitterten ihre Knie vor Angst. Sie konnte sich immer noch nicht vorstellen, was hier vor sich ging, dennoch erschien es ihr schon jetzt, als wenn sie nicht mehr atmen könnte.
Von ihrem Aussichtsposten konnte sie die Schleuse nicht sehen, aber sie hörte, wie sie geöffnet wurde. Sie hörte, wie die Wachen den Schleusentunnel mit ihren schweren Stiefeln betraten. Dann nahm sie ein schleifendes Geräusch wahr und das schwere Atmen der Männer der Truppe. Anschließend drang ein dumpfer Ton zu ihr hinüber, als würde ein Sack auf einen Karren verladen. Es dauerte eine Weile, bis die ersten der Wachen wieder in ihr Blickfeld gerieten. Fast hätte sie einen erschrockenen Schrei ausgestoßen, denn auf der Bahre lag ein lebloser Körper, der eines der Probanden. Mehr und mehr Bahren mit leblosen Körpern wurden auf dem Deck versammelt.
Ein süßlicher Geruch breitete sich auf dem Deck aus, fast wie der Duft eines Raumsprays. Bald fühlte Lavinia sich ein wenig benommen. Das war wohl der Grund für die Atemmasken, irgend etwas musste im Schleusentunnel zum Einsatz gekommen sein, das nun auch auf das Landedeck vordrang. Sie konnte nur hoffen, dass es hier nicht mehr so stark wirkte wie im Tunnel selbst, sonst würde sie bald ohnmächtig werden, oder gar Schlimmeres. Mühsam stützte sie sich mit den Händen ab, während ihre Augenlider immer schwerer zu werden schienen. Über allem quakte weiterhin die Alarmsirene.
Das Denken fiel Lavinia immer schwerer. Allein die Alarmsirene schien sie wach zu halten. Endlich erlosch das nervtötende Geräusch. Eine große Entlüftungsanlage nahm ihre Arbeit mit einem lauten Brausen auf, die kontaminierte Luft wurde von starken Ventilatoren abgesaugt und gegen saubere ausgetauscht. Lavinia sog sie gierig in ihre Lungen. Dennoch zwang sie sich, weiter zu beobachten. Die Männer mit den Bahren setzten sich nun in Bewegung, wieder auf das Seitentor zu. Ebenso rasch, wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder, die gesamte Aktion hatte nur wenige Minuten gedauert, die Lavinia wie Stunden vorkamen.
Immer noch benommen, verharrte sie in ihrem Versteck, bis der Betrieb auf dem Landedeck wieder aufgenommen wurde. Während sie den Rest der Speicherkristalle aufsammelte, begann sie bereits zu überlegen, wie sie Jens Bergmann ihre unheimliche Beobachtung mitteilen konnte.
***
In Metropolis saß der General über die Berichte gebeugt, die ihm von Odysseus übermittelt worden waren. Vor seinem Schreibtisch wand sich Colonel Jules Bertrand geradezu in seinem Sessel. Smith war unzufrieden, und das hatte er seinen Wissenschaftsoffizier auch fühlen lassen. Seufzend ließ er sich gegen die Lehne seines Ledersessels sinken und sah den Colonel missmutig an. Dabei trank er einen großen Schluck des schwarzen Kaffees, der in einer feinen Porzellantasse auf seinem Schreibtisch stand, wie er es immer tat, wenn er nachdachte. Der General hatte in diesem Punkt seine Prinzipien, es war noch relativ früh am Morgen, zu früh seiner Meinung nach für alkoholische Getränke.
„Die Fortschritte beim Projekt Odysseus sind noch immer außerordentlich unbefriedigend“, meinte er mit einem Seitenblick auf die Akten. „Ich dachte, Ihre Leute hätten nun endlich einen entscheidenden Durchbruch bei der Zusammenstellung des entsprechenden genetischen Materials gemacht, ebenso bei der Übertragbarkeit desselben, deshalb verstehe ich nicht, warum es noch immer so große Misserfolge bei der Impfung der Rohlinge mit dem Gedächtnisimplantat gibt.“
„Sir, ich gebe es nur ungern zu, aber was in der Theorie außerordentlich viel versprechend ist und auch bei Primaten gut funktioniert, ist bei den menschlichen Spendern noch schwierig durchzuführen.“ Bertrand wischte sich die schwitzende Stirn mit einem Taschentuch ab. Er litt deutlich unter Smiths kaltem Blick. Im Falle weiterer Misserfolge stand sein Leben auf dem Spiel, und das wusste er auch. Smith dachte zudem nicht daran, ihm diesen Druck zu nehmen. Für ihn zählten nur die Ergebnisse. „Das Problem besteht noch nicht einmal darin, das entsprechende Gedächtnisimplantat mit den erforderlichen Fertigkeiten und Kenntnissen zusammenzustellen und auf die Rohlinge zu übertragen, es ist vielmehr der Faktor Angst, der uns noch Schwierigkeiten bereitet.“ Diesen Faktor kannte Bertrand nur zu gut, er empfand sie jedes Mal, wenn er vor den General treten musste, um Bericht zu erstatten.
Smith schenkte sich Kaffee nach, ohne seinem Gegenüber auch etwas anzubieten und lehnte sich dann erneut zurück. „Wie soll ich das verstehen? Welcher Faktor Angst? Ich dachte, wir bringen dort nur die besten und fähigsten Soldaten zusammen und keine Angsthasen. Wollen Sie etwa behaupten, dass wir bei diesem Projekt kostbare Zeit mit Versagern und Weicheiern verschwenden? Dann muss ich wohl einmal ein ernstes Wort mit den Offizieren reden, welche die Listen für das Programm zusammenstellen.“
„Das ist es nicht, Sir. Ich hätte mich vielleicht genauer ausdrücken sollen. Es ist der Moment des Todes, in dem bei den Spendern Angst auftritt und diese Angst führt zu Zweifeln. Auch wenn dieser Zweifel nur einen Moment lang aufblitzt, der Proband sich nur den Bruchteil einer Sekunde fragt, warum bloß wir das mit ihm tun, kann dies das Material schon unrettbar verderben. Die Skepsis gegenüber der Reinigenden Flamme wirkt dann wie der berühmte Tropfen Öl in einem Wasserfass, er verdirbt das Wasser für den menschlichen Gebrauch.“
„Wasser kann man filtern“, meinte der General herablassend. „Kann man das Material nicht ebenso behandeln? So wie ein Chirurg das Messer an einem winzigen Tumor ansetzt, bei dem er keinen Millimeter daneben schneiden darf?“
„Leider ist es nicht so einfach, Sir, sonst hätten wir das längst getan.“ Bertrand lachte nervös. „Man kann diesen Zweifel nicht einfach unter dem Mikroskop erkennen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Dazu wären noch kompliziertere Forschungen notwendig.“
„Was schlagen Sie also vor?“
„Eine effektivere Tötungsmethode, die schneller wirkt und gleichzeitig das Material schont. Bisher arbeiten wir mit einem Betäubungsgas in Überdosierung.“
„Mit ist es vollkommen egal, wie Sie das bewerkstelligen, ich will nur Ergebnisse sehen. Denken Sie daran, Odysseus ist nur das Pilotprojekt, ich will so bald wie möglich eine Massenproduktion ins Leben rufen lassen.“ Smith gönnte sich einen Moment der geistigen Abwesenheit, in dem er sich seine neue Armee vor seinem inneren Auge vorstellte. Eine treue Armee, loyal auch in der ausweglosesten Situation. „Bertrand, irgendwann werden wir in den offenen Konflikt mit den VOR eintreten. Wir können zwar eine gigantische Raumflotte aus dem Boden stampfen, aber für diese Flotte brauchen wir auch Piloten und Ingenieure. Und auch unsere Grenzen auf dem Land wollen gesichert werden. Noch ist uns die Armee der VOR zahlenmäßig weit überlegen, es wäre reiner Selbstmord, zum jetzigen Zeitpunkt einen Krieg vom Zaun zu brechen. Wir brauchen Menschen, Bertrand! Und ich kann kaum darauf warten, bis sich die Bevölkerungsentwicklung in der EAAU auf meine Bedürfnisse eingestellt hat.“
„Ich verstehe, Sir.“
„Dann verstehen Sie auch sicher die Dringlichkeit des Problems. Ich gebe Ihnen noch genau vier Wochen, dann will ich Ergebnisse sehen.“ Er gab Bertrand ein Zeichen, sein Büro zu verlassen, als scheuche er eine lästige Fliege fort.
Allein in seinem Büro dachte der General über seine weiteren Möglichkeiten nach. Es war niemals gut, nur ein Standbein zu haben.
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