Die Herrschaft des Phönix
von Mirjam Lea
Kurzbeschreibung
General Smith konnte aus der Gefangenschaft entkommen und schickt sich ein zweites Mal an, die Herrschaft in der EAAU zu übernehmen. Aber auch seine grausamen Methoden schaffen es nicht, jeden Widerstand erlahmen zu lassen... (Anmerkung: Es handelt sich um eine radikale Neufassung von der Innere Zirkel, die jetzt auf Gleichgewicht des Schreckens ausbaut.)
GeschichteDrama / P16 / Gen
Gordon B. Smith
Samuel Hirschmann
19.08.2009
28.09.2010
27
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19.08.2009
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„Madam, ich habe den Auftrag, Sie zu bitten, mit mir zu kommen.“
Der junge Mann in der Uniform eines Majors befand sich in Begleitung von zwei bewaffneten Soldaten, was den Tonfall seiner zugegebenermaßen freundlich geäußerten Aufforderung Lügen strafte. Anna erschrak bis ins Mark. Gerade hatte sie überlegt, wie sie sich unauffällig von der Gala verabschieden konnte, indem sie etwa vorschützte, Sophie abholen zu müssen, als der Major an sie herangetreten war. Langsam, wie gelähmt vor Angst, hatte sie sich zu ihm umgewandt. Sie fragte sich, ob das Gespräch zwischen ihr und Manuel Rodriguez wohl doch belauscht worden war und sie nun verhaftet wurde. Um kein Aufsehen in der Menge zu erregen, sollte dies wohl möglichst diskret geschehen. Anna hatte bereits zwei Gläser Champagner getrunken, die von den herum eilenden Ordonanzen reichlich angeboten wurden, um ihre Nervosität zu bekämpfen, aber in diesem Moment schlug ihr Schwips ins Gegenteil um, sie fühlte sich noch unsicherer und hilflos.
„Was gibt es denn, Major?“, fragte Kommissar Latour und legte beruhigend eine Hand auf Annas Arm. Er teilte wohl ihre Furcht vor einer Verhaftung, und sie war ihm sogar ein wenig dankbar dafür, dass er sich nicht hastig von ihr abwandte wie von einer Pestkranken.
„Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben“, erwiderte der Major ruhig. „Aber es ist eine Angelegenheit, die eilt. Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, Madam, wenn Sie meiner Bitte nun Folge leisten würden. Wir wollen doch kein Aufsehen erregen.“
„Natürlich, das verstehe ich“, erwiderte Anna, obwohl sich ihre Beine so taub anfühlten, als könne sie keinen Schritt mit dem Offizier mitgehen. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. „Wird es lange dauern? Ich muss meine Tochter bald von ihrer Kindergruppe abholen.“
„Es ist bereits veranlasst, dass sich um Ihre Tochter angemessen gekümmert wird. Sie brauchen sich keine Sorgen um das Mädchen zu machen.“
Anna wusste nicht, ob sie diese Aussage beruhigend oder beängstigend finden sollte. In ihrer Fantasie sah sie sich selbst schon im Gefängnis und Sophie in einem der berüchtigten staatlichen Kinderheime, in denen der General die nächste Generation seiner Gefolgsleute erziehen ließ. Ihre Augen begannen zu brennen, mit einiger Verzögerung erkannte sie, wie nahe sie daran war, in Tränen auszubrechen. Die Situation kam ihr vollkommen unwillkürlich vor, aber hatte es nicht so kommen müssen? Wahrscheinlich wurde ihr jetzt die Rechnung für ihre Freundlichkeit zu den Watanabes präsentiert. Sie wunderte sich nur, warum die Polizei das nicht dezenter in ihrer Wohnung erledigt hatte.
„Wir sehen uns bestimmt heute Abend“, sagte Kommissar Latour beruhigend. „Die Angelegenheit wird sich bestimmt bald aufklären.“
Anna wollte seinen Worten gern Glauben schenken, aber sie konnte es nicht. Voller Angst verabschiedete sie sich von Latour und wurde dann von den drei Männern in die Mitte genommen, die sie auf den Hauptausgang des Saales zuführten. Um sie herum begannen die Menschen zu tuscheln und warfen ihr neugierige Blicke zu, wandten aber sofort ihre Augen ab, wenn sie sich beobachtet wähnten. In ihre Gesichter war aber deutlich die Frage geschrieben, warum diese Frau in Begleitung von zwei Soldaten abgeführt wurde. Hastig wichen sie zur Seite aus, wenn sie der kleinen Gruppe im Weg standen. Der Saal war brechend voll, sie mussten oft neugierigen Gästen ausweichen, die sich rasch mit ihren Tellern und Gläsern in Sicherheit brachten.
Anna erwartete, man würde sie nach draußen führen, zu einem jener verdunkelten Fahrzeuge, mit denen die Geheimpolizei gewöhnlich Dissidenten abholte und in ihr Hauptquartier verbrachte, aber stattdessen führte man sie zu einem der Aufzüge. Dabei sprachen die Männer kein Wort, und auch sie wagte es nicht eine Frage zu stellen, dabei brannten ihr ein Dutzend davon auf der Zunge. Ob man Manuel Rodriguez auch bereits festgenommen und abgeführt hatte?
Der Aufzug schien beinahe endlos lange nach oben zu fahren, obwohl er sich sehr schnell bewegte. Anna fühlte bald einen unangenehmen Druck auf den Ohren. Der Major hatte die Bedienungstafel mit einer Schlüsselkarte aktivieren müssen, daraus schloß Anna, dass ihr Ziel in keinem frei zugänglichem Stockwerk lag.Während der gesamten Fahrt sprach niemand ein Wort mit ihr. Sie machte auch keinen weiteren Versuch, den Major nach dem Zweck ihrer Verhaftung zu fragen, weil sie es als sinnlos erachtete.
Im Zielstockwerk angelangt, wurde sie noch einmal einer gründlichen Untersuchung unterzogen. Eine Beamtin der III. Abteilung tastete ihre Kleidung mit einem Metalldetektor ab und ließ sich nochmals ihre Handtasche zeigen. Sie förderte mit vorwurfsvollem Blick eine winzige Nagelfeile zu Tage, die von der Kontrolle auf der Straße nicht beanstandet worden war und verstaute sie in einer kleinen Plastiktüte für polizeiliche Beweismittel. Anna kam sich vor wie eine Schwerverbrecherin. Sogar ihren Hut, unter dem sie sich noch immer versteckte, musste sie abnehmen und untersuchen lassen. Zum Glück verwendete sie keine Hutnadeln, sonst wären wohl auch diese als potentielle Waffe eingestuft und eingezogen worden. So aber fand sich daran nichts Verdächtiges, und sie konnte ihn wieder aufsetzen.
Erst nachdem diese Kontrolle beendet war, kam Anna dazu, sich in ihrer Umgebung ein wenig umzusehen. Trotz der allgegenwärtigen Wachsoldaten sah der Gang, in dem sie sich befand, nicht wie der Flur eines Polizeipräsidiums aus, auf dem sie verhört werden sollte. Vielmehr schienen sich hier die Büros der hochrangigen Offiziere zu befinden, so edel, wie hier alles ausgestattet war. Auf dem Boden lag ein hochfloriger, weicher Teppich, die Wände waren mit dunklem Holz vertäfelt und mit Ölgemälden verziert. Nur wenige doppelflügelige Türen zweigten rechts und links ab. Einige große Topfpflanzen in Messingkübeln vervollständigten das Bild.
„Bitte folgen Sie uns“, sagte der Major und machte eine auffordernde Geste. In schnellem Schritt ging er auf das Ende des Ganges zu, an dem sich eine breite Tür befand, die von zwei Soldaten mit schweren Handfeuerwaffen bewacht wurde. Offensichtlich waren sie bereits dort angemeldet, denn die beiden ließen die kleine Gruppe ohne weitere Nachfrage passieren. Sie betraten ein geräumiges Vorzimmer, das nur spärlich möbliert war, aber trotzdem imposant wirkte. Hinter einem großen Schreibtisch saß eine junge Frau. Anna erkannte sie, es war die hübsche Offizierin, die ihr schon bei der Parade und unten im Saal aufgefallen war. Sie trug noch immer ihr Abendkleid. Anna bemerkte, wie sehr die Frau sich zusammenreißen musste, um nicht unfreundlich zu wirken, und ihr wurde noch ängstlicher zumute. Ihre Vermutung, sie könne etwas von dem Gespräch zwischen Manuel Rodriguez und ihr mitbekommen haben, schien sich zur Gewissheit zu verdichten. Übelkeit stieg in Anna auf. Am liebsten wäre sie geflohen, aber angesichts ihrer Bewacher wäre das wohl ein aussichtsloses Unterfangen gewesen.
„Sie werden bereits erwartet“, sagte die junge Frau und deutete auf die andere Tür. Hier lag gewiss kein Verhörraum, aber Anna fürchtete sich dennoch.
„Wir begleiten Sie noch bis zur Tür, dann können Sie allein weitergehen“, meinte der Major zu Anna. „Man wünscht Sie allein zu sprechen.“
Die Frau drückte einen Knopf auf ihrer Schreibtischplatte. „Ms. Corvillo ist jetzt da, Sir.“
Der Major nickte Anna aufmunternd zu. Zögernd ging die auf die Tür zu und drückte langsam die Klinke hinunter. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Langsam öffnete sie die Tür.
„Kommen Sie herein, Ms. Corvillo“, sagte eine kühle Stimme, die Anna nur zu gut kannte. Sie machte ein paar vorsichtige Schritte in den Raum hinein. „Und schließen Sie bitte die Tür hinter sich, ich möchte Sie unter vier Augen sprechen.“
Anna tat, worum sie gebeten worden war und verharrte dann auf der Stelle. Ein großer brauner Collie schoss plötzlich wie aus dem Nichts auf sie zu und begrüßte sie schwanzwedelnd und freudig bellend. Dann leckte er ihr zum Willkommen die Hand. Geistesabwesend streichelte sie das Tier hinter den Ohren.
Der General saß hinter seinem ausladenden Schreibtisch und musterte sie kühl. Hinter ihm erstreckte sich eine breite Fensterfront, die einen beeindruckenden Ausblick auf seine Hauptstadt bot. Die untergehende Sonne tauchte die gläsernen Fensterfronten der Wolkenkratzer in ein goldenes Rot, und ließ die Stadt umso majestätischer erscheinen. Der General hätte ebenso gut vor einem epischen Gemälde sitzen können, aber die hin und her huschenden Silhouetten der Skytaxis und anderer Fahrzeuge verrieten, dass das Bild lebendig war. Smith saß da wie ein Kaiser, der über seinem Reich thronte, und genauso war es auch. Er war der uneingeschränkte Herrscher der westlichen Welt, unangreifbar und absolut, eine Tatsache, die nicht gerade dazu beitrug, ihre Angst abzubauen.
Anna stand auf ihrem Platz wie festgefroren. Nun war es also soweit, er wollte der Sache nachgehen. Sie hätte nie auf diese Parade mitgehen sollen! Auch wenn die Wahrscheinlichkeit gering gewesen war, ihm zu begegnen, so hatte es dennoch das Risiko gegeben, und nun war der unwahrscheinliche Fall eingetreten. Sie stand ihm gegenüber. Auch wenn er sich vielleicht nicht sicher war, wer sie wirklich war, so musste ihm die Angelegenheit äußerst merkwürdig vorkommen. Seine Frau war von den Toten auferstanden, aber sie lebte unter einem anderen Namen direkt unter seiner Nase in der Hauptstadt. Und sie hatte keinerlei Anstalten unternommen, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Oder würde er die Lüge glauben, die Manuel und sie sich ausgedacht hatten, um neugierige Fragen abzuwimmeln?
„Was stehen Sie da an der Tür herum?“ Sein Tonfall war unverändert kühl. „Kommen Sie zu mir und setzen Sie sich in einen der Sessel. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Kaffee vielleicht? Oder doch lieber Champagner?“
„Könnte ich ein Glas Wasser haben?“, fragte sie heiser . Auch ihre Stimme würde sie verraten. Warum verhielt der General sich plötzlich so kühl? Wenn er bereits einen Bericht über das Gespräch zwischen ihr und Rodriguez erhalten hatte, so hätte er sich gewiss nicht die Mühe gemacht, noch mit ihr selbst zu sprechen, sondern sie gleich der III. Abteilung übergeben. Es musste also einen anderen Grund haben. In Begleitung des Hundes ging sie mit wackligen Knien auf den Schreibtisch zu und setzte sich, während der General die Bestellung aufgab und auch für sich einen Kaffee orderte. Er trug noch immer seine Galauniform, die Orden klimperten leise auf seiner Brust, als er sich vorbeugte. Sein Hund trollte sich unter den Tisch und legte den Kopf auf die Pfoten.
„Sie wirken verängstigt, Ms. Corvillo“, fuhr er fort. „Gibt es einen Grund dafür?“
„Nicht, dass ich wüsste, Sir. Ich bin nur ein wenig verwirrt, weil ich nicht weiß, warum Sie sich die Zeit für ein Gespräch mit mir nehmen.“ Vielleicht war es gut, ein wenig seiner Eitelkeit zu schmeicheln, um ihn wohlgesonnen zu stimmen. „Sie haben doch gewiss viel zu tun an einem solchen Tag.“
„Es gibt Dinge, für die nehme ich mir einfach Zeit, trotz meines vollen Terminkalenders. Vor allem, wenn mir etwas Kurioses, Interessantes begegnet. Und die Begegnung mit Ihnen heute Mittag rechne ich eindeutig mit dazu.“
„Inwieweit stelle ich eine Kuriosität dar, Sir?“, wagte sie zu fragen. „Ich steche doch nicht sonderlich aus der Masse hervor.“ Natürlich tat sie das. Sie sah einfach aus, wie sie aussah, nicht sonderlich hübsch, wie sie fand, aber eben wie die Frau, die einmal seine gewesen war. Die er so geliebt hatte, dass er sie nach kurzer Zeit gebeten hatte, ihn zu heiraten. Damals war er noch der Chef der strategischen Raumflotte gewesen und hatte seinen ersten Putschversuch unternommen und zugleich das größte Kriegsverbrechen in der Geschichte der EAAU begangen, die Zerstörung einer nichtmiltärischen Raumstation der VOR. Das hatte ihm die Verbannung eingebracht, und Manuel hatte damals ihren Tod inszeniert, um sie in Sicherheit zu bringen. Sie hatte Smith also in seiner dunkelsten Stunde im Stich gelassen, als seine Karriere beendet schien. Damals hatte niemand geglaubt, er würde jemals wieder auf die Erde zurückkehren, er schien kaltgestellt zu sein, auf einer Raumstation im Nichts. Wie sehr die Menschen sich getäuscht und seinen Willen, wieder Fuß zu fassen unterschätzt hatten. Ihr war es nicht anders gegangen, sonst wäre sei niemals nach Metropolis zurückgekehrt. Hatte sie ihn damals geliebt? Das war eine Frage, die sie sich selbst nur schwer beantworten konnte. Er hatte sie mit einer Aufmerksamkeit behandelt, die ihr zuvor nie von einem Mann zuteil geworden war, war zärtlich und liebevoll gewesen. Aber er hatte sie auch mit seiner Eifersucht verfolgt und sie vollkommen mit Beschlag belegt. Ein wenig verliebt war sie sicherlich gewesen, verliebt und auch fasziniert von ihm. Aber sie hatte auch Angst vor ihm gehabt. Attraktiv fand sie ihn auch heute noch, aber sie verabscheute, was er tat, wofür er stand. Damals hatte er ihre politischen Ansichten geduldet, weil er sie wahrscheinlich nicht ganz ernst genommen hatte, aber heute würde er diese Toleranz sicherlich nicht mehr aufbringen. Und nun saß sie vor ihm und fühlte sich wie auf dem Seziertisch.
Er nahm ein silbern gerahmtes Foto von seinem Schreibtisch und schob es ihr über den Tisch zu. Ihr Hochzeitsfoto, wie hätte sie es vergessen können. Mit zitternden Fingern nahm sie es entgegen. Sie musste sich zusammenreißen, um ihr Erschrecken nicht zu zeigen. Er kam also gleich zur Sache.
„Finden Sie nicht, dass Sie der Frau auf dem Foto sehr ähnlich sind, fast wie aus dem Gesicht geschnitten?“ Er ließ ihr Zeit, das Bild zu betrachten. „Mir ist es gleich aufgefallen, eben bei der Parade. Sie können mir glauben, wie sehr mich das in Erstaunen versetzt hat, da ich meine Frau eigentlich für tot hielt, ermordet bei einem Bombenattentat vor etwas über sieben Jahren, am selben Tag als dieses Bild entstand. Wundern Sie sich jetzt noch, warum ich Sie um dieses Gespräch gebeten habe?“
Anna schluckte. „Nein, natürlich nicht“, erwiderte sie verlegen. „Das muss ein schrecklicher Verlust für Sie gewesen sein, damals. Ich habe nur aus der Zeitung davon erfahren.“
„Und es gibt keine Verbindung zwischen Ihnen und meiner verstorbenen Frau?“
„Doch, die gibt es“, sagte Anna mit zitternder Stimme. „Das war meine Cousine Emma. Nun, sie war eigentlich nicht meine Cousine, unsere Großväter waren Brüder. Aber wir hatten nie viel Kontakt, nur alle paar Jahre einmal, wenn es einen besonderen Familienanlass gab. Es tat mir natürlich trotzdem Leid, so etwas wünscht man ja niemanden, schon gar nicht jemandem aus der eigenen Familie.“
„Und obwohl Sie nur so entfernt miteinander verwandt sind, sehen Sie sich so ähnlich?“, fragte der General lauernd. „Das findet man selten.“
„Ja, wir könnten fast Zwillinge sein.“ Anna spürte, wie die Hitze in ihr Gesicht stieg. Durchschaute er wirklich die Täuschung nicht oder wollte er sie nur auf die Probe stellen? Aber hätte er denn einen Grund gehabt, an Emmas Tod zu zweifeln?
„Ich wusste nicht einmal, dass Emma eine Cousine hatte“, sagte der General nachdenklich. „Sie hat es mir nie erzählt.“
„Wie gesagt hatten wir nur losen Kontakt. Vielleicht erschien es ihr einfach nicht wichtig zu sein.“
Die Tür öffnete sich nach einem leisen Klopfen und die junge Frau im Abendkleid trat ein, mit einem Tablett in der Hand. Darauf balancierte sie die bestellten Getränke, die sie ohne ein Wort vor beiden abstellte. Wieder maß sie Anna mit einem abschätzenden Blick. Stumm, wie sie gekommen war, verließ sie den Raum auch wieder. Anna trank einen kräftigen Schluck von ihrem Wasser. Die kühle Flüssigkeit tat ihr gut.
„Ich habe es mir natürlich nicht nehmen lassen, sofort Erkundigungen über Sie einzuziehen“, fuhr der General fort, und seine Stimme klang immer noch nicht freundlicher. Anna hatte das Gefühl, unter dem kalten Blick seiner graublauen Augen zu frösteln. „Und was ich dort gesehen habe, hat mir nicht unbedingt gefallen. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass Sie als Cousine meiner verstorbenen Frau auch mit Brigadegeneral Rodriguez verwandt sind, der wie Sie wissen, eine wichtige Position in meinem Stab innehat.“
„Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinaus wollen, Sir. Habe ich mir etwas zuschulden kommen lassen?“ Natürlich hatte sie das. Wenn er ihre Akte eingesehen hatte, dann würde er von ihren guten nachbarschaftlichen Beziehungen zu den Watanabes wissen, und diese würden ihm gar nicht gefallen. Anna erinnerte sich an einen Zwischenfall vor einigen Jahren, als er sie im Krankenhaus besucht hatte. Ein freundlicher japanischer Pfleger hatte sie betreut und sich sofort seinen Zorn zugezogen. Nicht genug, dass ein anderer Mann mit ihr freundlich umging, dieser musste auch noch ausgerechnet ein Asiat sein. Damals hatte er fast die Beherrschung verloren. Es war das erste Mal gewesen, dass dies vor ihren Augen geschehen war, sonst war er ihr immer sehr souverän und gefasst vorgekommen.
„Nun, ich lege Wert darauf, dass nicht nur meine Stabsoffiziere, sondern auch deren Angehörige mit Leib und Seele hinter den Zielen der Reinigenden Flamme stehen. Die Familie ist eine wichtige Keimzelle unserer Bewegung und dort sollte Einigkeit über die vertretenen Ansichten bestehen. Wie kann einer meiner Offiziere mir mir vollem Einsatz dienen, wenn seine Familie nicht hinter ihm steht?“
„Das verstehe ich natürlich vollkommen, Sir“, erwiderte Anna, „aber natürlich stehe ich hinter meinem Cousin und dem was er tut.“ Dazu musste sie ihn noch nicht einmal anlügen, nur stand sie mehr hinter den Aktivitäten, die Manuel Rodriguez hinter dem Rücken des Generals tätigte. Zudem musste sie aufpassen, nicht von ihrem Bruder zu sprechen.
„Tun Sie das wirklich, Ms. Corvillo?“ Der General ließ ein in die Tischplatte eingelassenes Computerterminal aufklappen indem er die entsprechende Stelle antippte und sah interessiert auf den Schirm. „Ich habe hier einige Einträge vorliegen, die das nicht bestätigen. Zum Beispiel haben Sie trotz einer Ermahnung durch den zuständigen Kommissar noch immer gute Beziehungen zu ihren japanischen Nachbarn. So etwas sehe ich nicht gerne.“
„Das sind sehr freundliche Menschen, die schon jahrelang in der EAAU leben“, verteidigte Anna sich und ihre Nachbarn. „Sie sind immer nett zu mir und meiner Tochter gewesen.“
„Ach ja, eine Tochter haben Sie ja auch. Aus der Ehe mit einem verdienten Piloten der strategischen Raumflotte, eine Tatasche, welche die III. Abteilung bisher ein Auge zudrücken ließ.“ Der General lehnte sich in seinem Sessel zurück und schlug die Beine übereinander. „Ihre Tochter übrigens verhält sich weitaus linientreuer als Sie. Ein aufgewecktes Mädchen, wenn man den Berichten der Betreuer glauben darf, und zudem sehr offen ihnen gegenüber. Sie hat schon früher begriffen als Sie, was es bedeutet, sich mit dem politischen Gegner abzugeben. Wie man hört, wollten Sie sie dennoch überreden, weiterhin mit den Kindern der bewussten Japaner zu spielen.“
„Die beiden Kinder der Watanabes waren lange Zeit Sophies einzige Freunde. Ich fand es nicht richtig, sie plötzlich einfach abzuschieben wie ein unerwünschtes Paket.“ Anna reckte trotzig das Kinn vor. Natürlich wäre es besser gewesen, dem General in allen Punkten zuzustimmen, aber etwas an seinem Verhalten ließ sie stur werden, auch wenn sie sich dadurch selbst in Gefahr brachte. Zudem ärgerte es sie, wie Sophie in ihre Bespitzelung eingespannt wurde. Scheinbar hielten die Gruppenleiter die Kinder dazu an, ihnen über ihre Eltern zu berichten. Wahrscheinlich kam es bald wie in vergangenen Diktaturen dazu, dass die Kleinen ihre Eltern bewusst bei den Behörden anschwärzten, weil ihnen beigebracht wurde, dass das gut und richtig so war. Welche barbarischen Zeiten ihnen bevorstanden.
„An Ihrer Stelle würde ich mehr an das Wohl Ihrer Tochter denken. Sie ist eine kleine Hoffnungsträgerin, aus der noch etwas werden kann. Das hat Ihnen Kommissar Latour sicherlich auch schon gesagt.“ Der General trank einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse dann auf die Tischplatte zurück. „Was ist das übrigens mit Ihnen und dem Kommissar? Gehen Sie mit ihm aus?“
Am liebsten hätte ihm Anna geantwortet, dass er das ja sicher schon selbst von seinen Spitzeln erfahren hatte, aber das wagte sie dann doch nicht. „Nein, er ist nur ein besorgter Nachbar. Allerdings hat er mich heute gebeten, ihn zu begleiten.“
„Ein Zufall, der Sie in meine Nähe geführt hat“, meinte der General und lächelte das erste Mal. „Hören Sie, Ms. Corvillo, Sie sollen nicht denken, dass ich Ihr Feind bin. Ich möchte nur, dass Sie sich Ihre nächsten Schritte gut überlegen, um Ihrer Tochter und Ihres Cousins willen. Sie wollen ihnen doch nicht die Zukunft verderben, oder?“
„Das möchte ich natürlich nicht“, erwiderte sie scheinbar reumütig. „Wahrscheinlich denke ich einfach zu unpolitisch, sondern mehr aus dem Bauch heraus. Auch ich habe Werte, denen ich nicht untreu werden will.“
„Sehen Sie nur in Zukunft zu, dass sich diese Werte mehr mit denen der Partei decken“, erwiderte er aufmunternd. „Ich hätte gern, dass wenn ich das nächste Mal in Ihre Akte sehe, dort steht, dass Sie in die Partei eingetreten sind. Das wäre doch bestimmt kein zu großes Opfer für Ihre Familie, oder?“
Anna schauderte es schon allein bei dem Gedanken. Sie wollte kein Mitglied dieser totalitären Vereinigung sein. „Ich werde mich darum kümmern“, entgegnete sie ausweichend.
„Es tut Ihnen gewiss nicht weh“, meinte der General lächelnd. „Denken Sie nur daran, dass Sie Teil einer großartigen Bewegung werden, welche die Zukunft der EAAU neu erschaffen wird. Sehen Sie, auf gewisse Weise sind wir ja auch miteinander verwandt, Sie tun es also auch für mich.“ Er räusperte sich und sah sie einen Augenblick lang durchdringend an. „Sagen Sie, würden Sie mir einen großen Gefallen tun?“
Anna fragte sich, was er jetzt noch von ihr wollte. „Wenn es in meiner Macht steht, gerne, Sir.“
„Würden Sie einmal diesen Hut abnehmen? Ich würde gerne Ihr Haar sehen, ob es genauso ist wie Emmas.“
Anna sah ihn überrascht an. Nach dem kühlen Beginn des Gesprächs hätte sie nicht mit einer solchen Aufforderung gerechnet. „Natürlich, Sir.“ Vorsichtig nahm sie den Hut ab. Ihr Haar darunter war aufgesteckt, aber einige Strähnen hatten sich im Laufe des Tages gelöst. Natürlich würde er das Haar wiedererkennen.
„Tatsächlich, es ist genauso“, meinte er zufrieden. „Wissen Sie, Sie sehen nicht nur genauso aus wie Emma, Sie erinnern mich auch sehr an sie. Deswegen sollten Sie nicht befürchten, dass ich wegen der Einträge in Ihrer Akte lange ärgerlich sein werde. Nur vorsichtig muss ich natürlich sein.“
„Das verstehe ich, Sir.“
„Ich hoffe doch, dass wir Freunde werden“, fuhr er fort. „Jetzt, da ich Sie entdeckt habe, würde ich Sie nur ungern wieder in der Masse verschwinden lassen. Sie gefallen mir, Ms. Corvillo, Sie haben eine offene, ehrliche Art, und dann ist da natürlich die Ähnlichkeit zu meiner verstorbenen Frau.“ Nun begann er also wieder seinen Charme einzusetzen, wie er das so gut konnte. Sein Gesicht hatte etwas sehr jungenhaftes, wenn er lächelte, man sah ihm seine siebenundvierzig Jahre nur an, wenn man genauer hinsah. Anna wusste, wie sehr er auf sich achtete. Wahrscheinlich hatte er mehr Cremetöpfe in seinem Badezimmerschrank stehen als sie. Sicherlich wünschte er sich ein unendliches Leben in ewiger Jugend, um die nächsten Generationen seiner Gefolgsleute heranwachsen zu sehen. „Wissen Sie“, fuhr er fort, „in meiner Position begegnen mir nur selten aufrichtige Menschen, und Sie scheinen einer davon zu sein. Ich weiß das wirklich zu schätzen.“ Wenn er nicht alle Menschen verhaften ließe, die zu ehrlich zu ihm waren, so hätte er sicherlich mehr aufrichtige Freunde um sich herum gehabt. So aber war er wohl dazu verdammt, sich bei jeder neuen Bekanntschaft zu fragen, ob man es ehrlich mit ihm meinte oder nicht. „Vielleicht fiele es Ihnen ja leichter, in die Partei einzutreten, wenn ich persönlich als Ihr Bürge auftreten würde? Es wäre mir eine Ehre, Sie unter meine Fittiche zu nehmen.“
„Ich will Ihnen wirklich keine Umstände machen, Sir. Zudem, wenn ich etwas falsch mache, würde es dann nicht auf Sie zurückfallen?“
Er lachte schallend, warf den Kopf dabei in den Nacken. Anna konnte seine makellosen Zähne sehen. „Das ist ein Risiko, das ich gern auf mich nehme. Ich würde Ihre Entwicklung und die Ihrer Tochter gern beobachten.“ Er warf nochmals einen Blick auf seinen Bildschirm. „Sie sind Lektorin bei einem Verlag, wie ich sehe. Wäre es Ihnen nicht lieber, im Dienste der Partei zu arbeiten? Wir könnten Ihnen sicher eine gute Position anbieten, natürlich mit einem entsprechendem Gehalt. Ihre Tochter könnte dann auch auf eine gute Schule wechseln, auf der man ihre Fähigkeiten fördert. Diese öffentlichen Schulen sind doch noch nicht so gut, wie ich sie gerne hätte, auch wenn wir daran arbeiten. Aber solche Dinge brauchen nun einmal Zeit.“
„Wir sind recht zufrieden mit unserem Leben, Sir, auch wenn ich Ihnen natürlich für das großzügige Angebot danke. Ich möchte Sophie auch nur ungern aus ihrer gewohnten Umgebung herausreißen.“
Er verzog kurz den Mund, als habe er nicht mit einer Ablehnung gerechnet. „Auch darin gleichen Sie Emma. Ich musste sie stets zu ihrem Glück überreden. Aber ich habe Geduld und werde mein Angebot aufrecht erhalten. Überlegen Sie es sich gut.“ Er lehnte sich vor und beugte sich zu ihr hinüber. „Kann ich sonst etwas für Sie tun, um Ihnen zu beweisen, dass ich Ihnen wohlgesonnen bin?“
„Für mich selbst nicht, Sir.“ Sie wusste nicht, ob sie sich so weit vorwagen sollte, wie es ihr auf der Seele brannte, konnte sich dann aber nicht zurückhalten. Eben noch hatte sie Manuel etwas über Zivilcourage erzählt, nun konnte sie selbst nicht schweigen. „Aber es würde mich freuen, wenn Sie etwas für meine Nachbarn tun könnten. Es sind wirklich anständige Leute, und ich würde mich freuen, wenn man sie in Ruhe lassen würde.“
Der General spielte Entsetzen. „Sie meinen diese Japaner? Warum setzen Sie sich so für sie ein?“
„Weil es nette Menschen sind, die sich noch nie etwas zuschulden kommen ließen.“
Er seufzte theatralisch und ließ sich gegen die Sessellehne sinken. „Also gut, ich werde sehen, was sich da tun lässt. Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie sich nicht ausnutzen lassen werden! Ich mache mir ernsthafte Sorgen um Sie. Sie sollten mehr gesunden Egoismus beweisen.“
„Ich verspreche Ihnen, dass ich auf mich aufpassen werde“, bekräftigte Anna. „Auf mich und vor allem auf meine Tochter natürlich.“
„Das höre ich gerne.“ Ruckartig stand er auf und bedeutete ihr so, dass das Gespräch für ihn wohl nun beendet war. „Leider rufen mich noch weitere Verpflichtungen heute, obwohl ich mich gern noch mit Ihnen unterhalten hätte. Aber ich hoffe doch sehr, dass wir das bald wiederholen. Ich würde Sie wirklich gern wiedersehen.“
Anna stand ebenfalls auf, froh, endlich aus dieser Unterhaltung entlassen zu sein. „Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben, Sir, trotz Ihrer vielen Verpflichtungen.“
„Aber das war mir doch eine Freude.“ Er kam um den Schreibtisch herum und bedeutete ihr, dass er sie zur Tür begleiten wolle. Der Collie unter dem Schreibtisch hob den Kopf und bellte einmal kurz zum Abschied, legte sich dann aber gleich wieder zum Schlafen hin. Der General legte Anna kurz die Hand auf den Rücken, und sofort spürte sie wieder das Prickeln wie damals. Sie konnte sich seiner Ausstrahlung nicht ganz entziehen, auch wenn sie wusste, wofür er stand. An der Tür angelangt nahm er ihre Hand in die seinen und hielt sie länger als nötig fest. Seine Handflächen fühlten sich kühl und angenehm an. „Passen Sie gut auf sich auf und hören Sie auf meinen Rat. Das ist mir wirklich wichtig.“
Er führte ihre Hand an seinen Mund und küsste sie kurz. Anna fühlte sich wie von einem Stromschlag getroffen. Sie war froh, als sie das Büro hinter sich lassen konnte und die Soldaten sie wieder in den Festsaal zurück brachten.
Der junge Mann in der Uniform eines Majors befand sich in Begleitung von zwei bewaffneten Soldaten, was den Tonfall seiner zugegebenermaßen freundlich geäußerten Aufforderung Lügen strafte. Anna erschrak bis ins Mark. Gerade hatte sie überlegt, wie sie sich unauffällig von der Gala verabschieden konnte, indem sie etwa vorschützte, Sophie abholen zu müssen, als der Major an sie herangetreten war. Langsam, wie gelähmt vor Angst, hatte sie sich zu ihm umgewandt. Sie fragte sich, ob das Gespräch zwischen ihr und Manuel Rodriguez wohl doch belauscht worden war und sie nun verhaftet wurde. Um kein Aufsehen in der Menge zu erregen, sollte dies wohl möglichst diskret geschehen. Anna hatte bereits zwei Gläser Champagner getrunken, die von den herum eilenden Ordonanzen reichlich angeboten wurden, um ihre Nervosität zu bekämpfen, aber in diesem Moment schlug ihr Schwips ins Gegenteil um, sie fühlte sich noch unsicherer und hilflos.
„Was gibt es denn, Major?“, fragte Kommissar Latour und legte beruhigend eine Hand auf Annas Arm. Er teilte wohl ihre Furcht vor einer Verhaftung, und sie war ihm sogar ein wenig dankbar dafür, dass er sich nicht hastig von ihr abwandte wie von einer Pestkranken.
„Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben“, erwiderte der Major ruhig. „Aber es ist eine Angelegenheit, die eilt. Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, Madam, wenn Sie meiner Bitte nun Folge leisten würden. Wir wollen doch kein Aufsehen erregen.“
„Natürlich, das verstehe ich“, erwiderte Anna, obwohl sich ihre Beine so taub anfühlten, als könne sie keinen Schritt mit dem Offizier mitgehen. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. „Wird es lange dauern? Ich muss meine Tochter bald von ihrer Kindergruppe abholen.“
„Es ist bereits veranlasst, dass sich um Ihre Tochter angemessen gekümmert wird. Sie brauchen sich keine Sorgen um das Mädchen zu machen.“
Anna wusste nicht, ob sie diese Aussage beruhigend oder beängstigend finden sollte. In ihrer Fantasie sah sie sich selbst schon im Gefängnis und Sophie in einem der berüchtigten staatlichen Kinderheime, in denen der General die nächste Generation seiner Gefolgsleute erziehen ließ. Ihre Augen begannen zu brennen, mit einiger Verzögerung erkannte sie, wie nahe sie daran war, in Tränen auszubrechen. Die Situation kam ihr vollkommen unwillkürlich vor, aber hatte es nicht so kommen müssen? Wahrscheinlich wurde ihr jetzt die Rechnung für ihre Freundlichkeit zu den Watanabes präsentiert. Sie wunderte sich nur, warum die Polizei das nicht dezenter in ihrer Wohnung erledigt hatte.
„Wir sehen uns bestimmt heute Abend“, sagte Kommissar Latour beruhigend. „Die Angelegenheit wird sich bestimmt bald aufklären.“
Anna wollte seinen Worten gern Glauben schenken, aber sie konnte es nicht. Voller Angst verabschiedete sie sich von Latour und wurde dann von den drei Männern in die Mitte genommen, die sie auf den Hauptausgang des Saales zuführten. Um sie herum begannen die Menschen zu tuscheln und warfen ihr neugierige Blicke zu, wandten aber sofort ihre Augen ab, wenn sie sich beobachtet wähnten. In ihre Gesichter war aber deutlich die Frage geschrieben, warum diese Frau in Begleitung von zwei Soldaten abgeführt wurde. Hastig wichen sie zur Seite aus, wenn sie der kleinen Gruppe im Weg standen. Der Saal war brechend voll, sie mussten oft neugierigen Gästen ausweichen, die sich rasch mit ihren Tellern und Gläsern in Sicherheit brachten.
Anna erwartete, man würde sie nach draußen führen, zu einem jener verdunkelten Fahrzeuge, mit denen die Geheimpolizei gewöhnlich Dissidenten abholte und in ihr Hauptquartier verbrachte, aber stattdessen führte man sie zu einem der Aufzüge. Dabei sprachen die Männer kein Wort, und auch sie wagte es nicht eine Frage zu stellen, dabei brannten ihr ein Dutzend davon auf der Zunge. Ob man Manuel Rodriguez auch bereits festgenommen und abgeführt hatte?
Der Aufzug schien beinahe endlos lange nach oben zu fahren, obwohl er sich sehr schnell bewegte. Anna fühlte bald einen unangenehmen Druck auf den Ohren. Der Major hatte die Bedienungstafel mit einer Schlüsselkarte aktivieren müssen, daraus schloß Anna, dass ihr Ziel in keinem frei zugänglichem Stockwerk lag.Während der gesamten Fahrt sprach niemand ein Wort mit ihr. Sie machte auch keinen weiteren Versuch, den Major nach dem Zweck ihrer Verhaftung zu fragen, weil sie es als sinnlos erachtete.
Im Zielstockwerk angelangt, wurde sie noch einmal einer gründlichen Untersuchung unterzogen. Eine Beamtin der III. Abteilung tastete ihre Kleidung mit einem Metalldetektor ab und ließ sich nochmals ihre Handtasche zeigen. Sie förderte mit vorwurfsvollem Blick eine winzige Nagelfeile zu Tage, die von der Kontrolle auf der Straße nicht beanstandet worden war und verstaute sie in einer kleinen Plastiktüte für polizeiliche Beweismittel. Anna kam sich vor wie eine Schwerverbrecherin. Sogar ihren Hut, unter dem sie sich noch immer versteckte, musste sie abnehmen und untersuchen lassen. Zum Glück verwendete sie keine Hutnadeln, sonst wären wohl auch diese als potentielle Waffe eingestuft und eingezogen worden. So aber fand sich daran nichts Verdächtiges, und sie konnte ihn wieder aufsetzen.
Erst nachdem diese Kontrolle beendet war, kam Anna dazu, sich in ihrer Umgebung ein wenig umzusehen. Trotz der allgegenwärtigen Wachsoldaten sah der Gang, in dem sie sich befand, nicht wie der Flur eines Polizeipräsidiums aus, auf dem sie verhört werden sollte. Vielmehr schienen sich hier die Büros der hochrangigen Offiziere zu befinden, so edel, wie hier alles ausgestattet war. Auf dem Boden lag ein hochfloriger, weicher Teppich, die Wände waren mit dunklem Holz vertäfelt und mit Ölgemälden verziert. Nur wenige doppelflügelige Türen zweigten rechts und links ab. Einige große Topfpflanzen in Messingkübeln vervollständigten das Bild.
„Bitte folgen Sie uns“, sagte der Major und machte eine auffordernde Geste. In schnellem Schritt ging er auf das Ende des Ganges zu, an dem sich eine breite Tür befand, die von zwei Soldaten mit schweren Handfeuerwaffen bewacht wurde. Offensichtlich waren sie bereits dort angemeldet, denn die beiden ließen die kleine Gruppe ohne weitere Nachfrage passieren. Sie betraten ein geräumiges Vorzimmer, das nur spärlich möbliert war, aber trotzdem imposant wirkte. Hinter einem großen Schreibtisch saß eine junge Frau. Anna erkannte sie, es war die hübsche Offizierin, die ihr schon bei der Parade und unten im Saal aufgefallen war. Sie trug noch immer ihr Abendkleid. Anna bemerkte, wie sehr die Frau sich zusammenreißen musste, um nicht unfreundlich zu wirken, und ihr wurde noch ängstlicher zumute. Ihre Vermutung, sie könne etwas von dem Gespräch zwischen Manuel Rodriguez und ihr mitbekommen haben, schien sich zur Gewissheit zu verdichten. Übelkeit stieg in Anna auf. Am liebsten wäre sie geflohen, aber angesichts ihrer Bewacher wäre das wohl ein aussichtsloses Unterfangen gewesen.
„Sie werden bereits erwartet“, sagte die junge Frau und deutete auf die andere Tür. Hier lag gewiss kein Verhörraum, aber Anna fürchtete sich dennoch.
„Wir begleiten Sie noch bis zur Tür, dann können Sie allein weitergehen“, meinte der Major zu Anna. „Man wünscht Sie allein zu sprechen.“
Die Frau drückte einen Knopf auf ihrer Schreibtischplatte. „Ms. Corvillo ist jetzt da, Sir.“
Der Major nickte Anna aufmunternd zu. Zögernd ging die auf die Tür zu und drückte langsam die Klinke hinunter. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Langsam öffnete sie die Tür.
„Kommen Sie herein, Ms. Corvillo“, sagte eine kühle Stimme, die Anna nur zu gut kannte. Sie machte ein paar vorsichtige Schritte in den Raum hinein. „Und schließen Sie bitte die Tür hinter sich, ich möchte Sie unter vier Augen sprechen.“
Anna tat, worum sie gebeten worden war und verharrte dann auf der Stelle. Ein großer brauner Collie schoss plötzlich wie aus dem Nichts auf sie zu und begrüßte sie schwanzwedelnd und freudig bellend. Dann leckte er ihr zum Willkommen die Hand. Geistesabwesend streichelte sie das Tier hinter den Ohren.
Der General saß hinter seinem ausladenden Schreibtisch und musterte sie kühl. Hinter ihm erstreckte sich eine breite Fensterfront, die einen beeindruckenden Ausblick auf seine Hauptstadt bot. Die untergehende Sonne tauchte die gläsernen Fensterfronten der Wolkenkratzer in ein goldenes Rot, und ließ die Stadt umso majestätischer erscheinen. Der General hätte ebenso gut vor einem epischen Gemälde sitzen können, aber die hin und her huschenden Silhouetten der Skytaxis und anderer Fahrzeuge verrieten, dass das Bild lebendig war. Smith saß da wie ein Kaiser, der über seinem Reich thronte, und genauso war es auch. Er war der uneingeschränkte Herrscher der westlichen Welt, unangreifbar und absolut, eine Tatsache, die nicht gerade dazu beitrug, ihre Angst abzubauen.
Anna stand auf ihrem Platz wie festgefroren. Nun war es also soweit, er wollte der Sache nachgehen. Sie hätte nie auf diese Parade mitgehen sollen! Auch wenn die Wahrscheinlichkeit gering gewesen war, ihm zu begegnen, so hatte es dennoch das Risiko gegeben, und nun war der unwahrscheinliche Fall eingetreten. Sie stand ihm gegenüber. Auch wenn er sich vielleicht nicht sicher war, wer sie wirklich war, so musste ihm die Angelegenheit äußerst merkwürdig vorkommen. Seine Frau war von den Toten auferstanden, aber sie lebte unter einem anderen Namen direkt unter seiner Nase in der Hauptstadt. Und sie hatte keinerlei Anstalten unternommen, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Oder würde er die Lüge glauben, die Manuel und sie sich ausgedacht hatten, um neugierige Fragen abzuwimmeln?
„Was stehen Sie da an der Tür herum?“ Sein Tonfall war unverändert kühl. „Kommen Sie zu mir und setzen Sie sich in einen der Sessel. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Kaffee vielleicht? Oder doch lieber Champagner?“
„Könnte ich ein Glas Wasser haben?“, fragte sie heiser . Auch ihre Stimme würde sie verraten. Warum verhielt der General sich plötzlich so kühl? Wenn er bereits einen Bericht über das Gespräch zwischen ihr und Rodriguez erhalten hatte, so hätte er sich gewiss nicht die Mühe gemacht, noch mit ihr selbst zu sprechen, sondern sie gleich der III. Abteilung übergeben. Es musste also einen anderen Grund haben. In Begleitung des Hundes ging sie mit wackligen Knien auf den Schreibtisch zu und setzte sich, während der General die Bestellung aufgab und auch für sich einen Kaffee orderte. Er trug noch immer seine Galauniform, die Orden klimperten leise auf seiner Brust, als er sich vorbeugte. Sein Hund trollte sich unter den Tisch und legte den Kopf auf die Pfoten.
„Sie wirken verängstigt, Ms. Corvillo“, fuhr er fort. „Gibt es einen Grund dafür?“
„Nicht, dass ich wüsste, Sir. Ich bin nur ein wenig verwirrt, weil ich nicht weiß, warum Sie sich die Zeit für ein Gespräch mit mir nehmen.“ Vielleicht war es gut, ein wenig seiner Eitelkeit zu schmeicheln, um ihn wohlgesonnen zu stimmen. „Sie haben doch gewiss viel zu tun an einem solchen Tag.“
„Es gibt Dinge, für die nehme ich mir einfach Zeit, trotz meines vollen Terminkalenders. Vor allem, wenn mir etwas Kurioses, Interessantes begegnet. Und die Begegnung mit Ihnen heute Mittag rechne ich eindeutig mit dazu.“
„Inwieweit stelle ich eine Kuriosität dar, Sir?“, wagte sie zu fragen. „Ich steche doch nicht sonderlich aus der Masse hervor.“ Natürlich tat sie das. Sie sah einfach aus, wie sie aussah, nicht sonderlich hübsch, wie sie fand, aber eben wie die Frau, die einmal seine gewesen war. Die er so geliebt hatte, dass er sie nach kurzer Zeit gebeten hatte, ihn zu heiraten. Damals war er noch der Chef der strategischen Raumflotte gewesen und hatte seinen ersten Putschversuch unternommen und zugleich das größte Kriegsverbrechen in der Geschichte der EAAU begangen, die Zerstörung einer nichtmiltärischen Raumstation der VOR. Das hatte ihm die Verbannung eingebracht, und Manuel hatte damals ihren Tod inszeniert, um sie in Sicherheit zu bringen. Sie hatte Smith also in seiner dunkelsten Stunde im Stich gelassen, als seine Karriere beendet schien. Damals hatte niemand geglaubt, er würde jemals wieder auf die Erde zurückkehren, er schien kaltgestellt zu sein, auf einer Raumstation im Nichts. Wie sehr die Menschen sich getäuscht und seinen Willen, wieder Fuß zu fassen unterschätzt hatten. Ihr war es nicht anders gegangen, sonst wäre sei niemals nach Metropolis zurückgekehrt. Hatte sie ihn damals geliebt? Das war eine Frage, die sie sich selbst nur schwer beantworten konnte. Er hatte sie mit einer Aufmerksamkeit behandelt, die ihr zuvor nie von einem Mann zuteil geworden war, war zärtlich und liebevoll gewesen. Aber er hatte sie auch mit seiner Eifersucht verfolgt und sie vollkommen mit Beschlag belegt. Ein wenig verliebt war sie sicherlich gewesen, verliebt und auch fasziniert von ihm. Aber sie hatte auch Angst vor ihm gehabt. Attraktiv fand sie ihn auch heute noch, aber sie verabscheute, was er tat, wofür er stand. Damals hatte er ihre politischen Ansichten geduldet, weil er sie wahrscheinlich nicht ganz ernst genommen hatte, aber heute würde er diese Toleranz sicherlich nicht mehr aufbringen. Und nun saß sie vor ihm und fühlte sich wie auf dem Seziertisch.
Er nahm ein silbern gerahmtes Foto von seinem Schreibtisch und schob es ihr über den Tisch zu. Ihr Hochzeitsfoto, wie hätte sie es vergessen können. Mit zitternden Fingern nahm sie es entgegen. Sie musste sich zusammenreißen, um ihr Erschrecken nicht zu zeigen. Er kam also gleich zur Sache.
„Finden Sie nicht, dass Sie der Frau auf dem Foto sehr ähnlich sind, fast wie aus dem Gesicht geschnitten?“ Er ließ ihr Zeit, das Bild zu betrachten. „Mir ist es gleich aufgefallen, eben bei der Parade. Sie können mir glauben, wie sehr mich das in Erstaunen versetzt hat, da ich meine Frau eigentlich für tot hielt, ermordet bei einem Bombenattentat vor etwas über sieben Jahren, am selben Tag als dieses Bild entstand. Wundern Sie sich jetzt noch, warum ich Sie um dieses Gespräch gebeten habe?“
Anna schluckte. „Nein, natürlich nicht“, erwiderte sie verlegen. „Das muss ein schrecklicher Verlust für Sie gewesen sein, damals. Ich habe nur aus der Zeitung davon erfahren.“
„Und es gibt keine Verbindung zwischen Ihnen und meiner verstorbenen Frau?“
„Doch, die gibt es“, sagte Anna mit zitternder Stimme. „Das war meine Cousine Emma. Nun, sie war eigentlich nicht meine Cousine, unsere Großväter waren Brüder. Aber wir hatten nie viel Kontakt, nur alle paar Jahre einmal, wenn es einen besonderen Familienanlass gab. Es tat mir natürlich trotzdem Leid, so etwas wünscht man ja niemanden, schon gar nicht jemandem aus der eigenen Familie.“
„Und obwohl Sie nur so entfernt miteinander verwandt sind, sehen Sie sich so ähnlich?“, fragte der General lauernd. „Das findet man selten.“
„Ja, wir könnten fast Zwillinge sein.“ Anna spürte, wie die Hitze in ihr Gesicht stieg. Durchschaute er wirklich die Täuschung nicht oder wollte er sie nur auf die Probe stellen? Aber hätte er denn einen Grund gehabt, an Emmas Tod zu zweifeln?
„Ich wusste nicht einmal, dass Emma eine Cousine hatte“, sagte der General nachdenklich. „Sie hat es mir nie erzählt.“
„Wie gesagt hatten wir nur losen Kontakt. Vielleicht erschien es ihr einfach nicht wichtig zu sein.“
Die Tür öffnete sich nach einem leisen Klopfen und die junge Frau im Abendkleid trat ein, mit einem Tablett in der Hand. Darauf balancierte sie die bestellten Getränke, die sie ohne ein Wort vor beiden abstellte. Wieder maß sie Anna mit einem abschätzenden Blick. Stumm, wie sie gekommen war, verließ sie den Raum auch wieder. Anna trank einen kräftigen Schluck von ihrem Wasser. Die kühle Flüssigkeit tat ihr gut.
„Ich habe es mir natürlich nicht nehmen lassen, sofort Erkundigungen über Sie einzuziehen“, fuhr der General fort, und seine Stimme klang immer noch nicht freundlicher. Anna hatte das Gefühl, unter dem kalten Blick seiner graublauen Augen zu frösteln. „Und was ich dort gesehen habe, hat mir nicht unbedingt gefallen. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass Sie als Cousine meiner verstorbenen Frau auch mit Brigadegeneral Rodriguez verwandt sind, der wie Sie wissen, eine wichtige Position in meinem Stab innehat.“
„Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinaus wollen, Sir. Habe ich mir etwas zuschulden kommen lassen?“ Natürlich hatte sie das. Wenn er ihre Akte eingesehen hatte, dann würde er von ihren guten nachbarschaftlichen Beziehungen zu den Watanabes wissen, und diese würden ihm gar nicht gefallen. Anna erinnerte sich an einen Zwischenfall vor einigen Jahren, als er sie im Krankenhaus besucht hatte. Ein freundlicher japanischer Pfleger hatte sie betreut und sich sofort seinen Zorn zugezogen. Nicht genug, dass ein anderer Mann mit ihr freundlich umging, dieser musste auch noch ausgerechnet ein Asiat sein. Damals hatte er fast die Beherrschung verloren. Es war das erste Mal gewesen, dass dies vor ihren Augen geschehen war, sonst war er ihr immer sehr souverän und gefasst vorgekommen.
„Nun, ich lege Wert darauf, dass nicht nur meine Stabsoffiziere, sondern auch deren Angehörige mit Leib und Seele hinter den Zielen der Reinigenden Flamme stehen. Die Familie ist eine wichtige Keimzelle unserer Bewegung und dort sollte Einigkeit über die vertretenen Ansichten bestehen. Wie kann einer meiner Offiziere mir mir vollem Einsatz dienen, wenn seine Familie nicht hinter ihm steht?“
„Das verstehe ich natürlich vollkommen, Sir“, erwiderte Anna, „aber natürlich stehe ich hinter meinem Cousin und dem was er tut.“ Dazu musste sie ihn noch nicht einmal anlügen, nur stand sie mehr hinter den Aktivitäten, die Manuel Rodriguez hinter dem Rücken des Generals tätigte. Zudem musste sie aufpassen, nicht von ihrem Bruder zu sprechen.
„Tun Sie das wirklich, Ms. Corvillo?“ Der General ließ ein in die Tischplatte eingelassenes Computerterminal aufklappen indem er die entsprechende Stelle antippte und sah interessiert auf den Schirm. „Ich habe hier einige Einträge vorliegen, die das nicht bestätigen. Zum Beispiel haben Sie trotz einer Ermahnung durch den zuständigen Kommissar noch immer gute Beziehungen zu ihren japanischen Nachbarn. So etwas sehe ich nicht gerne.“
„Das sind sehr freundliche Menschen, die schon jahrelang in der EAAU leben“, verteidigte Anna sich und ihre Nachbarn. „Sie sind immer nett zu mir und meiner Tochter gewesen.“
„Ach ja, eine Tochter haben Sie ja auch. Aus der Ehe mit einem verdienten Piloten der strategischen Raumflotte, eine Tatasche, welche die III. Abteilung bisher ein Auge zudrücken ließ.“ Der General lehnte sich in seinem Sessel zurück und schlug die Beine übereinander. „Ihre Tochter übrigens verhält sich weitaus linientreuer als Sie. Ein aufgewecktes Mädchen, wenn man den Berichten der Betreuer glauben darf, und zudem sehr offen ihnen gegenüber. Sie hat schon früher begriffen als Sie, was es bedeutet, sich mit dem politischen Gegner abzugeben. Wie man hört, wollten Sie sie dennoch überreden, weiterhin mit den Kindern der bewussten Japaner zu spielen.“
„Die beiden Kinder der Watanabes waren lange Zeit Sophies einzige Freunde. Ich fand es nicht richtig, sie plötzlich einfach abzuschieben wie ein unerwünschtes Paket.“ Anna reckte trotzig das Kinn vor. Natürlich wäre es besser gewesen, dem General in allen Punkten zuzustimmen, aber etwas an seinem Verhalten ließ sie stur werden, auch wenn sie sich dadurch selbst in Gefahr brachte. Zudem ärgerte es sie, wie Sophie in ihre Bespitzelung eingespannt wurde. Scheinbar hielten die Gruppenleiter die Kinder dazu an, ihnen über ihre Eltern zu berichten. Wahrscheinlich kam es bald wie in vergangenen Diktaturen dazu, dass die Kleinen ihre Eltern bewusst bei den Behörden anschwärzten, weil ihnen beigebracht wurde, dass das gut und richtig so war. Welche barbarischen Zeiten ihnen bevorstanden.
„An Ihrer Stelle würde ich mehr an das Wohl Ihrer Tochter denken. Sie ist eine kleine Hoffnungsträgerin, aus der noch etwas werden kann. Das hat Ihnen Kommissar Latour sicherlich auch schon gesagt.“ Der General trank einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse dann auf die Tischplatte zurück. „Was ist das übrigens mit Ihnen und dem Kommissar? Gehen Sie mit ihm aus?“
Am liebsten hätte ihm Anna geantwortet, dass er das ja sicher schon selbst von seinen Spitzeln erfahren hatte, aber das wagte sie dann doch nicht. „Nein, er ist nur ein besorgter Nachbar. Allerdings hat er mich heute gebeten, ihn zu begleiten.“
„Ein Zufall, der Sie in meine Nähe geführt hat“, meinte der General und lächelte das erste Mal. „Hören Sie, Ms. Corvillo, Sie sollen nicht denken, dass ich Ihr Feind bin. Ich möchte nur, dass Sie sich Ihre nächsten Schritte gut überlegen, um Ihrer Tochter und Ihres Cousins willen. Sie wollen ihnen doch nicht die Zukunft verderben, oder?“
„Das möchte ich natürlich nicht“, erwiderte sie scheinbar reumütig. „Wahrscheinlich denke ich einfach zu unpolitisch, sondern mehr aus dem Bauch heraus. Auch ich habe Werte, denen ich nicht untreu werden will.“
„Sehen Sie nur in Zukunft zu, dass sich diese Werte mehr mit denen der Partei decken“, erwiderte er aufmunternd. „Ich hätte gern, dass wenn ich das nächste Mal in Ihre Akte sehe, dort steht, dass Sie in die Partei eingetreten sind. Das wäre doch bestimmt kein zu großes Opfer für Ihre Familie, oder?“
Anna schauderte es schon allein bei dem Gedanken. Sie wollte kein Mitglied dieser totalitären Vereinigung sein. „Ich werde mich darum kümmern“, entgegnete sie ausweichend.
„Es tut Ihnen gewiss nicht weh“, meinte der General lächelnd. „Denken Sie nur daran, dass Sie Teil einer großartigen Bewegung werden, welche die Zukunft der EAAU neu erschaffen wird. Sehen Sie, auf gewisse Weise sind wir ja auch miteinander verwandt, Sie tun es also auch für mich.“ Er räusperte sich und sah sie einen Augenblick lang durchdringend an. „Sagen Sie, würden Sie mir einen großen Gefallen tun?“
Anna fragte sich, was er jetzt noch von ihr wollte. „Wenn es in meiner Macht steht, gerne, Sir.“
„Würden Sie einmal diesen Hut abnehmen? Ich würde gerne Ihr Haar sehen, ob es genauso ist wie Emmas.“
Anna sah ihn überrascht an. Nach dem kühlen Beginn des Gesprächs hätte sie nicht mit einer solchen Aufforderung gerechnet. „Natürlich, Sir.“ Vorsichtig nahm sie den Hut ab. Ihr Haar darunter war aufgesteckt, aber einige Strähnen hatten sich im Laufe des Tages gelöst. Natürlich würde er das Haar wiedererkennen.
„Tatsächlich, es ist genauso“, meinte er zufrieden. „Wissen Sie, Sie sehen nicht nur genauso aus wie Emma, Sie erinnern mich auch sehr an sie. Deswegen sollten Sie nicht befürchten, dass ich wegen der Einträge in Ihrer Akte lange ärgerlich sein werde. Nur vorsichtig muss ich natürlich sein.“
„Das verstehe ich, Sir.“
„Ich hoffe doch, dass wir Freunde werden“, fuhr er fort. „Jetzt, da ich Sie entdeckt habe, würde ich Sie nur ungern wieder in der Masse verschwinden lassen. Sie gefallen mir, Ms. Corvillo, Sie haben eine offene, ehrliche Art, und dann ist da natürlich die Ähnlichkeit zu meiner verstorbenen Frau.“ Nun begann er also wieder seinen Charme einzusetzen, wie er das so gut konnte. Sein Gesicht hatte etwas sehr jungenhaftes, wenn er lächelte, man sah ihm seine siebenundvierzig Jahre nur an, wenn man genauer hinsah. Anna wusste, wie sehr er auf sich achtete. Wahrscheinlich hatte er mehr Cremetöpfe in seinem Badezimmerschrank stehen als sie. Sicherlich wünschte er sich ein unendliches Leben in ewiger Jugend, um die nächsten Generationen seiner Gefolgsleute heranwachsen zu sehen. „Wissen Sie“, fuhr er fort, „in meiner Position begegnen mir nur selten aufrichtige Menschen, und Sie scheinen einer davon zu sein. Ich weiß das wirklich zu schätzen.“ Wenn er nicht alle Menschen verhaften ließe, die zu ehrlich zu ihm waren, so hätte er sicherlich mehr aufrichtige Freunde um sich herum gehabt. So aber war er wohl dazu verdammt, sich bei jeder neuen Bekanntschaft zu fragen, ob man es ehrlich mit ihm meinte oder nicht. „Vielleicht fiele es Ihnen ja leichter, in die Partei einzutreten, wenn ich persönlich als Ihr Bürge auftreten würde? Es wäre mir eine Ehre, Sie unter meine Fittiche zu nehmen.“
„Ich will Ihnen wirklich keine Umstände machen, Sir. Zudem, wenn ich etwas falsch mache, würde es dann nicht auf Sie zurückfallen?“
Er lachte schallend, warf den Kopf dabei in den Nacken. Anna konnte seine makellosen Zähne sehen. „Das ist ein Risiko, das ich gern auf mich nehme. Ich würde Ihre Entwicklung und die Ihrer Tochter gern beobachten.“ Er warf nochmals einen Blick auf seinen Bildschirm. „Sie sind Lektorin bei einem Verlag, wie ich sehe. Wäre es Ihnen nicht lieber, im Dienste der Partei zu arbeiten? Wir könnten Ihnen sicher eine gute Position anbieten, natürlich mit einem entsprechendem Gehalt. Ihre Tochter könnte dann auch auf eine gute Schule wechseln, auf der man ihre Fähigkeiten fördert. Diese öffentlichen Schulen sind doch noch nicht so gut, wie ich sie gerne hätte, auch wenn wir daran arbeiten. Aber solche Dinge brauchen nun einmal Zeit.“
„Wir sind recht zufrieden mit unserem Leben, Sir, auch wenn ich Ihnen natürlich für das großzügige Angebot danke. Ich möchte Sophie auch nur ungern aus ihrer gewohnten Umgebung herausreißen.“
Er verzog kurz den Mund, als habe er nicht mit einer Ablehnung gerechnet. „Auch darin gleichen Sie Emma. Ich musste sie stets zu ihrem Glück überreden. Aber ich habe Geduld und werde mein Angebot aufrecht erhalten. Überlegen Sie es sich gut.“ Er lehnte sich vor und beugte sich zu ihr hinüber. „Kann ich sonst etwas für Sie tun, um Ihnen zu beweisen, dass ich Ihnen wohlgesonnen bin?“
„Für mich selbst nicht, Sir.“ Sie wusste nicht, ob sie sich so weit vorwagen sollte, wie es ihr auf der Seele brannte, konnte sich dann aber nicht zurückhalten. Eben noch hatte sie Manuel etwas über Zivilcourage erzählt, nun konnte sie selbst nicht schweigen. „Aber es würde mich freuen, wenn Sie etwas für meine Nachbarn tun könnten. Es sind wirklich anständige Leute, und ich würde mich freuen, wenn man sie in Ruhe lassen würde.“
Der General spielte Entsetzen. „Sie meinen diese Japaner? Warum setzen Sie sich so für sie ein?“
„Weil es nette Menschen sind, die sich noch nie etwas zuschulden kommen ließen.“
Er seufzte theatralisch und ließ sich gegen die Sessellehne sinken. „Also gut, ich werde sehen, was sich da tun lässt. Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie sich nicht ausnutzen lassen werden! Ich mache mir ernsthafte Sorgen um Sie. Sie sollten mehr gesunden Egoismus beweisen.“
„Ich verspreche Ihnen, dass ich auf mich aufpassen werde“, bekräftigte Anna. „Auf mich und vor allem auf meine Tochter natürlich.“
„Das höre ich gerne.“ Ruckartig stand er auf und bedeutete ihr so, dass das Gespräch für ihn wohl nun beendet war. „Leider rufen mich noch weitere Verpflichtungen heute, obwohl ich mich gern noch mit Ihnen unterhalten hätte. Aber ich hoffe doch sehr, dass wir das bald wiederholen. Ich würde Sie wirklich gern wiedersehen.“
Anna stand ebenfalls auf, froh, endlich aus dieser Unterhaltung entlassen zu sein. „Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben, Sir, trotz Ihrer vielen Verpflichtungen.“
„Aber das war mir doch eine Freude.“ Er kam um den Schreibtisch herum und bedeutete ihr, dass er sie zur Tür begleiten wolle. Der Collie unter dem Schreibtisch hob den Kopf und bellte einmal kurz zum Abschied, legte sich dann aber gleich wieder zum Schlafen hin. Der General legte Anna kurz die Hand auf den Rücken, und sofort spürte sie wieder das Prickeln wie damals. Sie konnte sich seiner Ausstrahlung nicht ganz entziehen, auch wenn sie wusste, wofür er stand. An der Tür angelangt nahm er ihre Hand in die seinen und hielt sie länger als nötig fest. Seine Handflächen fühlten sich kühl und angenehm an. „Passen Sie gut auf sich auf und hören Sie auf meinen Rat. Das ist mir wirklich wichtig.“
Er führte ihre Hand an seinen Mund und küsste sie kurz. Anna fühlte sich wie von einem Stromschlag getroffen. Sie war froh, als sie das Büro hinter sich lassen konnte und die Soldaten sie wieder in den Festsaal zurück brachten.
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