Die Herrschaft des Phönix
von Mirjam Lea
Kurzbeschreibung
General Smith konnte aus der Gefangenschaft entkommen und schickt sich ein zweites Mal an, die Herrschaft in der EAAU zu übernehmen. Aber auch seine grausamen Methoden schaffen es nicht, jeden Widerstand erlahmen zu lassen... (Anmerkung: Es handelt sich um eine radikale Neufassung von der Innere Zirkel, die jetzt auf Gleichgewicht des Schreckens ausbaut.)
GeschichteDrama / P16 / Gen
Gordon B. Smith
Samuel Hirschmann
19.08.2009
28.09.2010
27
114.525
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19.08.2009
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Kommissar Latour brachte wie versprochen den Pass am nächsten Tag vorbei, wie Anna erleichtert feststellte. Sie hatte sich heute nicht zur Arbeit getraut, ohne Identifikationskarte hätte das einem Spießrutenlauf geglichen, also hatte sie ihren Abteilungsleiter angerufen und behauptet, sie habe sich den Magen verdorben. Cornelius Schneider war zwar nicht sehr begeistert gewesen, da der Drucktermin für das von Anna zu korrigierende Buch kurz bevorstand, aber sie hatte ihm versichert, sie würde von zu Hause aus daran arbeiten. Das hatte ihren Chef einigermaßen beruhigt. Ihre Schutzbehauptung war zudem nicht vollkommen gelogen gewesen, Magenschmerzen hatte sie tatsächlich seit gestern, aber diese lagen eher an der verfahrenen Situation. Es gefiel ihr gar nicht, nun Latour etwas schuldig zu sein. Immerhin war er ein Kommissar der von ihr verabscheuten III. Abteilung, ein zumindest in seinem Bereich hochrangiger Beamter der Reinigenden Flamme. Wer wusste schon, wie sein Arbeitsalltag aussah, wahrscheinlich verhörte er den ganzen Tag angebliche Dissidenten, und Anna wollte erst recht nicht wissen, mit welchen Methoden. Man konnte nur darüber spekulieren, wie die Geheimpolizei in ihren Verhören mit politischen Gefangenen umging. Sicherlich hatte ihre Vorgehensweise nichts mehr mit den rechtsstaatlichen Methoden der Hirschmann-Ära gemein. Latour musste also entweder ein fanatischer Anhänger der Reinigenden Flamme sein, oder aber einer jener Mitläufer, welche von der neuen Regierung profitierten, sei es auch nur dadurch, dass sie ihre sadistischen Neigungen nun ungestraft ausleben konnten. Anna glaubte eher ersteres, sonst hätte Latour ihr kaum geholfen. Er schien eher zu den Missionaren unter den Anhängern der Reinigenden Flamme zu zählen, die Menschen durch ihre Überzeugungsarbeit auf ihre Seite zu ziehen versuchten. Erst im Nachhinein war ihr zu Bewusstsein gekommen, welches Risiko sie eingegangen war, sich an ihn zu wenden. Genauso gut hätte er sie bei seinen Kollegen denunzieren können. Aus irgendeinem Grund hatte er es nicht getan, sei es auch nur, um ein neues Mitglied für die Partei zu gewinnen. Zumindest schien er kein Opportunist zu sein, sonst hätte er sie sicherlich angezeigt.
Nun stand er vor der Tür und überreichte ihr die neue Passkarte. „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll“, sagte sie lächelnd. „Es war sehr nett von Ihnen, das so schnell zu erledigen.“
„Das habe ich doch gern getan“, erwiderte er, machte aber keine Anstalten, sich zurückzuziehen. Anna begriff, dass er wohl hereingebeten werden wollte. Nach seinem gastfreundlichen Verhalten gestern konnte sie ihm das kaum verwehren. Außerdem wollte sie kein Misstrauen bei ihm erregen indem sie ihm das Gefühl verlieh, etwas zu verbergen zu haben.
„Möchten Sie nicht hereinkommen? Ich habe zwar nicht so guten Wein wie Sie anzubieten, aber einen anständigen Kaffee bekomme ich noch zustande. Sogar ein paar Plätzchen müsste ich noch haben.“
„Das Angebot nehme ich gerne an. Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir, so eine kleine Erfrischung kann ich jetzt gut gebrauchen.“
Er folgte ihr in die gemütliche Küche, die neben einer großen, über Eck laufenden Kochzeile auch eine Sitzecke mit einem alten Sofa, einem rustikalen Tisch und zwei Stühlen zu bieten hatte. In einer Ecke stand Annas Schreibtisch, direkt vor der breiten Fensterfront. Eine Glastür führte auf einen Balkon hinaus, auf dem zwei schon etwas verwitterte Korbstühle und ein kleiner Metalltisch standen. Die Balkonbrüstung verfügte über eingelassene Blumenkästen, in denen Anna einige Herbstblumen und frische Kräuter angepflanzt hatte. Latour ließ es sich kaum anmerken, aber Anna registrierte dennoch seine neugierigen Blicke. Wahrscheinlich wollte er wissen, wie eine Frau lebte, die sich ihren Pass stehlen und ihre Kinder mit den japanischen Nachbarn spielen ließ, dachte sie sarkastisch. Sie bot Latour einen Platz auf dem Sofa an, dessen Federung leise quietschte als er sich setzte und machte sich selbst an der Kaffeemaschine zu schaffen. Aus dem Küchenschrank holte sie ihre besten Tassen hervor, um einen guten Eindruck zu hinterlassen. Latour nahm seine Uniformmütze ab und legte sie auf den Tisch. Er macht es sich schon gemütlich, registrierte Anna verwundert. Die Maschine nahm gurgelnd ihre Arbeit auf, und der Duft frisch aufgebrühten Kaffees verbreitete sich in der Küche.
„Sie haben es schön hier“, meinte der Kommissar. „Ich habe mir nie die Mühe gemacht, meinen Balkon zu bepflanzen. Vielleicht sollte ich das auch mal tun.“
„Oh, es sind nur ein paar anspruchslose Pflanzen, ich bin nicht gerade die geborene Gärtnerin. Im Sommer vertrocknen mir die Blumen meistens.“
„Ich fürchte, mir würde es nicht besser ergehen.“
„Schlimmer als ich kann man gar nicht gärtnern!“
„Sie haben auch frische Kräuter da draußen. Bestimmt sind Sie auch eine gute Köchin.“
„Es geht“, erwiderte sie bescheiden und fragte sich, worauf er hinaus wollte. Er war bestimmt nicht gekommen, um sich mit ihr über Rezepte zu unterhalten. „Ein paar Sachen koche ich recht gut. Aber manchmal helfen die Kräuter auch nur, um ein einfaches Gericht farblich ein wenig zu verschönern.“
„Leider finde ich kaum Zeit für diese Dinge, mein Beruf beansprucht mich zu sehr. Aber abends eine schöne Käseplatte zu einem guten Glas Wein, das lasse ich mir nicht nehmen, und wenn es noch so spät ist.“
Anna fragte sich, warum er ihr das alles erzählte. Sie wurde unwillkürlich misstrauisch. Wollte er eine persönliche Ebene herstellen, um sie besser aushorchen zu können? Wusste er etwas über sie, was er nicht wissen sollte? Dabei hatte er sich bestimmt bereits ihre Akte besorgt und alles nachgelesen, was es über sie in den öffentlichen Archiven zu erfahren gab. Dort würde stehen, dass sie die Witwe eines verdienten Piloten der EAAU war, der in einem Raumzwischenfall mit den VOR vor einigen Jahren ums Leben gekommen war, das verlieh ihr vielleicht einen gewissen Schutz. In den Augen der neuen Machthaber musste ihr Mann ein Held sein, der sein Leben im Kampf gegen die verhassten Asiaten gegeben hatte. Deshalb erhielt sie vom Staat noch immer eine kleine Witwenrente. Mochte Latour ruhig glauben, das wäre die Wahrheit. Aber vielleicht hatte irgendetwas in stutzig gemacht. Eventuell war die Geschichte zu glatt, zu perfekt. Er war Mitglied der misstrauischsten Polizeieinheit, welche die EAAU je hervorgebracht hatte, möglicherweise vermutete er hinter allem etwas Verborgenes, einen Fleck auf der sauberen Weste. Sie durfte es sich nicht mit ihm verderben, schließlich trug sie nicht nur für sich die Verantwortung sondern auch für ihre Tochter.
„Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal ein gutes Glas Wein getrunken habe, von gestern einmal abgesehen. Mit einem kleinen Kind kommt man kaum zur Ruhe, und auch jetzt, obwohl Sophie schon zur Schule geht, fordert sie doch noch viel Aufmerksamkeit. Manchmal ist das wirklich anstrengend!“ Sie lachte.
„Als alleinerziehende Mutter hatten Sie es bestimmt nicht leicht“, erwiderte er mitfühlend. „Da sind Sie ja bestimmt recht froh, dass Sophie jetzt in der Kindergruppe ist. Dort wird sie ordentlich ausgetobt, sie ist doch bestimmt abends hundemüde.“
„Ach, das habe ich auch gedacht!“ Er hakte sich immer wieder an der Kindergruppe fest. Was bezweckte er nur damit? „Aber sie ist immer ziemlich aufgedreht, wenn sie zurückkommt. Natürlich muss Sie mir als erstes erzählen, welche neuen Lieder sie gelernt hat, oder was sie gespielt haben. Das ist alles sehr aufregend für die Kleine, wissen Sie. Die vielen Eindrücke, die sie zu bewältigen hat, machen sie ganz munter. Für uns Erwachsene wäre das wahrscheinlich viel zu stressig.“
„Es gibt auch Gruppen für Erwachsene, in denen es weniger anstrengend zugeht“, erzählte er. „Zum Beispiel das Veteranen-Komitee der Damen. Dort würden Sie viele Gleichgesinnte treffen.“
„Das ist hoffentlich kein Kaffeekränzchen, bei dem Socken gestrickt werden?“ Sie bereute ihre Worte, kaum dass sie ihr herausgerutscht waren. Latour würde wahrscheinlich seine Schlüsse daraus ziehen.
„Aber nein, so altmodisch sind wir nicht. Es sind viele gestandene Frauen dabei, die sich sozial engagieren wollen. Alles andere wäre wohl nicht mehr zeitgemäß.“
Mit einem letzten Schnaufen beendete die Kaffeemaschine ihre Arbeit. „Nehmen Sie Milch und Zucker in den Kaffee?“, fragte sie und füllte die versprochenen Plätzchen in eine Schale um.
„Nur Milch bitte.“
Anna servierte ihm den Kaffee und setzte sich ihm gegenüber an den Küchentisch. „Ich bin noch nie auf die Idee gekommen, mich einem solchen Kreis anzuschließen, auch wenn es für mich nicht immer einfach war. Natürlich auch nicht für Sophie, sie hätte sicherlich gern einen Vater gehabt, wie die meisten Kinder in ihrer Klasse. Aber wir haben es auch immer so geschafft, mit der Armee habe ich eigentlich gar keinen Kontakt mehr.“ Warum erzählte sie ihm das alles bloß? Sie hatte sich den Nachbarn gegenüber immer eher distanziert verhalten, kaum etwas von sich preisgegeben, von den Watanabes einmal abgesehen. Und nun erzählte sie einem Kommissar der Geheimpolizei von ihrem Leben! „Die Kekse habe ich übrigens mit Sophie gebacken.“
Er schaute auf die bunten Zuckerstreusel auf den Plätzchen und nickte lächelnd. „Das sieht auch sehr nach Kinderkeksen aus.“
„Hat es Sie eigentlich große Mühe gekostet, mir den Pass neu machen zu lassen?“
„Nicht der Rede wert, es war eine Sache von ein paar Minuten, ich habe es gern für Sie getan. Schließlich sind wir doch gute Nachbarn, oder?“
„Hat es keine Nachfragen gegeben?“
„Keine, die sich nicht leicht aus der Welt räumen ließen. Ich gebe nicht gern vor Ihnen an, aber immerhin bekleide ich eine gewisse Position, die es mir ermöglicht, einiges unbürokratisch zu regeln.“
Anna hatte fast das Gefühl, als werbe er um ihre Anerkennung. Sein Verhalten kam ihr irgendwie merkwürdig vor. „Ich bin froh, dass ich Ihnen keine Schwierigkeiten bereitet habe. Das wäre mir sehr unangenehm gewesen.“
„Genau genommen gäbe es etwas, womit Sie sich revanchieren könnten.“ Er lächelte.
Annas Magen verkrampfte sich. „Was wäre das?“
Offensichtlich deutete er ihren erschrockenen Gesichtsausdruck richtig. „Keine Angst, ich verlange nichts unmögliches von Ihnen. Um ehrlich zu sein, könnten Sie mich aus einer großen Verlegenheit befreien, es geht dabei um eine dienstliche Angelegenheit.“
„Eine dienstliche Angelegenheit, Kommissar? Aber wie könnte ich Ihnen dabei behilflich sein?“
„Indem Sie mich begleiten, Ms. Corvillo. In zwei Wochen findet in der Innenstadt eine große Militärparade statt, anschließend gibt es einen Empfang im Verteidigungsministerium. Es wäre mir sehr unangenehm, dort allein erscheinen zu müssen, da meine Kollegen alle ihre Familien mitbringen werden. Für Sie würden sich daraus natürlich keinerlei Verpflichtungen ergeben, einmal abgesehen davon, dass die Speisen und Getränke, die dort serviert werden, ausgezeichnet sein sollen.“
„Ich weiß nicht so recht, ob ich dort hineinpasse“, erwiderte Anna verlegen. Allein die Vorstellung, zu einer Militärparade zu gehen, erfüllte sie mit Abneigung. Das Regime würde sich dort mit all seiner Militärgewalt präsentieren, eine Demonstration seiner Stärke geben, die auch in den asiatischen Ländern nicht unbeachtet bleiben würde. Der General würde dort seine modernsten Waffen auffahren lassen um sie der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. „Auch wenn ich die Witwe eines Piloten bin, ich habe nie viel von diesen Dingen verstanden.“
„Aber das macht doch nichts, die Hauptsache ist, dass Sie dabei sind. Spätestens wenn der offizielle Teil vorbei ist, werden Sie sich gut amüsieren, da bin ich mir sicher. Eine Absage kann ich leider nicht akzeptieren!“ Er lächelte, aber Anna spürte, wie ernst es ihm war. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zuzusagen.
Sie war froh, als er sich verabschiedete. Als sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, atmete sie erst einmal tief durch. Sie grübelte noch immer darüber nach, warum er sich solche Mühe machte, sie auf die Probe zu stellen. Falls er etwas wusste oder ahnte, wäre es ihm ein Leichtes sie verhaften zu lassen und die Wahrheit aus ihr mit Gewalt heraus zu holen. Oder aber er wusste mehr, als ihr lieb war und war von oberster Stelle beauftragt, ihr auf den Zahn zu fühlen. Wäre sie doch nie zurück nach Metropolis gezogen! Sie hatte von Anfang an gewusst, dass ein hohes Risiko damit verbunden war, aber im Exil in Europa hatte sie sich einfach nicht zu Hause gefühlt. Als ihr dann die Arbeitsstelle in der Hauptstadt angeboten worden war, hatte sie zugegriffen und die Gefahren verdrängt. Nun saß sie praktisch auf dem Präsentierteller, und das im am besten gesicherten Gefängnis auf dem Planeten.
***
Nach schier unendlich erscheinenden Wochen erreichte die Najade endlich ihr Ziel, aber Erleichterung machte sich bei Lavinia Drosczek dennoch nicht breit. Ihre Reise hatte sie mitten ins Nichts befördert, zu einer Raumstation irgendwo im leeren Raum zwischen den Planeten, die den poetischen Namen Odysseus trug. Es schien tatsächlich so, als irre dieser Kasten aus Stahl ziellos umher, in Wirklichkeit jedoch zog er auf einer vorgegebenen Bahn seine Kreise auf einem imaginären Orbit um die Sonne. Von außen sah die Station aus wie ein Stapel willkürlich und nicht sonderlich ordentlich gestapelter Kartons, aus deren Seite eine Plattform für die landenden Raumschiffe ragte. Neben der Najade hatte dort schon ein weiterer Transporter gleichen Typs angedockt, die ebenfalls über einen flexiblen Tunnel aus Metall und Kunststoff mit der Station verbunden wurde. Major Brendon trieb die Wissenschaftler nach der Landung zur Eile an, ihr Gepäck zusammen zu packen um die Najade schnellst möglich zu verlassen. Viel gab es nicht, das Lavinia mitzunehmen hatte, alles passte wieder in ihre Reisetasche hinein. Ein unbestimmtes Gefühl von Furcht machte sich in ihr breit, fast hatte sie sich an ihr kleines Zimmer an Bord der Najade gewöhnt, und nun würde wieder etwas Ungewisses auf sie zukommen. Ihre Beobachtung in der Nacht des Meteoritenhagels hatte ihr keine Ruhe gelassen. Die seltsamen Zylinder, etwa zwei Meter lang, verfolgten sie bis in ihre Träume. Sie konnte nur Vermutungen darüber anstellen, was sich darin befand, und alle diese Vermutungen führten sie zu Gedanken, die ihr kalte Schauer über den Rücken jagten. Zunächst hatte sie versucht, die Reparatur des ausgefallenen Computersystems so lange wie möglich zu verzögern, um vielleicht doch noch die eine oder andere Information aufschnappen zu können, aber der Major hatte ihre Taktik schnell durchschaut und sie zur Eile angetrieben. So war sie weiter im Ungewissen geblieben. Und ihr war unter Androhung der Todesstrafe verboten worden, ein Wort über das Gesehene zu verlieren. An der Umsetzung dieser Drohung zweifelte Lavinia keinen Augenblick. Nur eins wusste sie mit absoluter Sicherheit: Hier ging es um ein wissenschaftliches Experiment des Generals, das noch zu Zeiten Hirschmanns als moralisch absolut undenkbar gegolten hätte. Warum sonst fand es nicht auf der Erde statt, sondern hier irgendwo im Nichts? Lavinia zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass sie sich hier weit abseits aller beflogenen Routen befanden und sich kaum eine Patrouille hierher verirren würde. Die Raumstation war vermutlich auf keiner offiziellen Karte verzeichnet. Das bedeutete zugleich die Unmöglichkeit jeder Flucht.
Durch die Sichtfenster des Verbindungstunnels konnte sie hin und wieder einen Blick auf das Geschehen auf der Landeplattform werfen. Gestalten in Raumanzügen bedienten Transportfahrzeuge, um Kisten verschiedener Größe aus der Najade zu entladen und in den Bauch der Station zu schaffen. Auf der Plattform gab es also keinerlei künstliche Atmosphäre oder Schwerkraft, ein weiteres Hindernis für eine Flucht. Jeder, der hier hinaus wollte, musste entweder über einen Raumanzug verfügen oder über einen der Tunnel zu seinem Schiff gelangen. Darüber hinaus gab es überall schwer bewaffnete Wachen, die entweder über die Plattform patrouillierten oder die Gänge bewachten. Der General traute wohl noch nicht einmal seinen eigenen Leuten, und noch weniger den hier zwangsverpflichteten Wissenschaftlern.
Major Brendon trieb die kleine Gruppe wieder einmal zur Eile an. Die Najade sollte vom Tunnel abgekoppelt und zu einem Wartungsgerüst verbracht werden, damit sie ihren Rückflug zur Erde so rasch wie möglich antreten konnte. Dort wartete schon das nächste Personal auf seinen Transport zur Station. Das Regime verlor keine Zeit, hier wurde binnen kurzem ein riesiges Forschungslabor aus dem sprichwörtlichen Boden gestampft. Überall herrschte Hektik, auch im Inneren der Station wurden eilige Befehle erteilt und Offiziere trieben ihre Leute zur raschen Arbeit an.
Die kleine Gruppe trat auf eine breite, durch ein Geländer abgeschirmte Galerie hinaus. Die Ebenen der Station gruppierten sich um eine riesige Röhre herum, die etwa dreißig Meter im Durchmesser messen mochte. In der Mitte transportierte ein großer Aufzug, der jeweils über einen Steh zu erreichen war, Güter und Personen hinauf und hinab. Lavinia wagte einen Blick über das Geländer hinweg in die Tiefen der Röhre hinab, die so weit herabreichte, dass man kaum den Boden erkennen konnte. Auf allen Ebenen herrschte hektische Betriebsamkeit wie in einem überdimensionalen Ameisenhaufen, und wie in diesem gab es Krieger und Arbeiter, die ihren Aufgaben nach einem strengen Zeitplan nachgingen. Lavinia sah auch Männer und Frauen in weißen Kitteln, Kollegen wohl, die schon früher hierher gebracht worden waren. Der General musste gleich nach seinem Putsch begonnen haben, diese Station ausbauen zu lassen. Er konnte es wohl kaum abwarten, seinen Zielen endlich ein Stück näher zu kommen.
„Wir werden Ihnen jetzt Ihre Quartiere zuweisen“, verkündete Major Brendon laut, nachdem er die kleine Gruppe um sich versammelt hatte. „Sie haben dann eine Stunde Zeit, um sich ein wenig von der Reise zu erholen und Ihre Sachen zu verstauen. Anschließend werden Ihre Abteilungsleiter Sie kontaktieren, um Ihnen Ihre Arbeitsfelder zuzuweisen. Vergessen Sie niemals, dass wir hier ein militärisch organisierter Betrieb sind. Ihre Abteilungsleiter sind für Sie dasselbe wie ein vorgesetzter Offizier für einen Soldaten, seinen Anweisungen ist unbedingt Folge zu leisten, andernfalls drohen Ihnen strengste Sanktionen. Wir haben hier keine Zeit für Diskussionen, der General persönlich nimmt die Arbeitsberichte dieser Station entgegen, und er erwartet disziplinierte, exakte Arbeit von Ihnen. Für Fehler ist hier kein Platz.“ Er machte eine Pause und sah in die Runde. „Ist Ihnen das klar oder haben Sie noch Fragen?“
Antonio Ragusi sah so aus, als wolle er den Mund öffnen, überlegte es sich dann aber anders, zumal der Major auch niemals ernstlich erwartet hatte, irgendetwas beantworten zu müssen. Die anderen sahen betroffen zu Boden, während Lavinia noch einmal versuchte, einen weiteren Blick über das Geländer zu erhaschen. Ihre Neugierde wurde noch weiter geweckt, als sie sah, wie drei Ebenen weiter unten einige der Metallzylinder verladen wurden. Drei Wissenschaftler in weißen Kitteln begleiteten den Transport, sie wiederum wurden von einem halben Dutzend Wachen begleitet. Die Zylinder waren auf eine Art Rollbahren verladen worden, die von weiteren Soldaten geschoben wurden.
„Was gibt es denn da zu sehen, Miss Drosczek?“, bellte Major Brendon plötzlich neben ihrem Ohr. Lavinia erschrak so sehr, dass sie fast das Gleichgewicht verlor und über die Brüstung gestolpert wäre. Sie wusste nicht, wovor sie sich mehr fürchten sollte, vor Brendons Zorn oder dem Abgrund, der sich vor ihr auftat. Wie weit mochte es dort nach unten gehen? Sicherlich wäre es ein tödlicher Sturz geworden.
„Ich wollte mich nur ein wenig umsehen, Major“, erwiderte sie mit klopfendem Herzen.
„Ihre Neugier wird Ihnen noch vergehen, wenn wir Sie hier ordentlich mit Arbeit eindecken, Drosczek!“ Brendon verschränkte die Hände hinter dem Körper und baute sich vor ihr auf wie ein Feldherr. „Sie sind nicht hier, um die Abläufe auf dieser Station zu beobachten, sondern um Ihre Aufgaben zu erledigen, merken Sie sich das.“ Er wandte sich wieder der Gruppe zu. „Das gilt übrigens für Sie alle. Beschränken Sie sich auf die Aufgaben, die Ihnen zugeteilt werden, und halten Sie sich aus allen anderen Angelegenheiten heraus, dann wird Ihr Aufenthalt hier nicht unerträglich sein.“
Beklommen blieben die Mitglieder der Gruppe auf ihren Plätzen stehen, wagten nicht, sich zu rühren. Jeder wartete auf Brendons nächste Anweisung, aber der Major machte es spannend und genoss den Moment der Einschüchterung. Aus einem der unteren Stockwerke war plötzlich ein blechernes Rumpeln zu hören, begleitet von einem lauten, schmerzhaften Aufschrei. Es klang, als schleife Metall über Metall, ein unangenehmes, kreischendes Geräusch, das bei Lavinia Gänsehaut auf den Unterarmen entstehen ließ. Von den Männern und Frauen fiel in diesem Augenblick die Lähmung ab und machte menschlicher Neugier Platz. Angelockt durch den gequälten Schrei stürzten sie an das Geländer und suchten nach der Quelle des Geräusches. Brendon wurde fast über den Haufen gerannt, als die Neugierigen an ihm vorbei eilten, doch er schien so perplex zu sein, dass er nicht die Geistesgegenwart zu empörtem Protest besaß. Auch Lavinia wandte sich wieder ihrem Aussichtsplatz an der Brüstung zu und hatte schnell den Urheber des Schreis ausgemacht.
Drei Ebenen weiter unten, wo die seltsamen Metallzylinder transportiert wurden, war es zu einem Zwischenfall gekommen. Einer der Behälter war wohl nicht ordnungsgemäß gesichert worden und hatte sich aus der Verankerung gelöst. Er war seitlich von der Transportbahre gerutscht und hatte den Soldaten unter sich begraben, sein Rücken wurde gegen die Brüstung gedrückt. Zwei seiner Kameraden bemühten sich, den schweren Zylinder von ihm herunter zu heben, aber dieser war zu schwer, um ihn allein mit menschlicher Muskelkraft anzuheben. Der Mann musste schwerste innere Verletzungen erlitten haben.
Das aber war nicht das einzige, was Lavinia wie gelähmt an der Brüstung verharren ließ, auch wenn ihr der Soldat trotz seiner schwarzen Uniform Leid tat. Viel mehr starrte sie auf den Zylinder, der unter der Wucht des Aufpralls geborsten war. Eine milchige Flüssigkeit trat aus dem Behälter aus, die es den Soldaten zusätzlich erschwerte, ihren Kameraden zu bergen, da sie keinen festen Stand finden konnten. Die Galerie hatte sich in eine schmierige Rutschbahn verwandelt, die den Stiefeln der Männer keinen Halt mehr bot.
Inzwischen hatte auch Brendon seine Fassung wiedergefunden und drängte sich zwischen den Schaulustigen hindurch. „Gehen Sie sofort zurück! Das ist ein Befehl!“ Seine Stimme überschlug sich fast. Lavinia las pure Panik in seinem Gesicht, keiner von ihnen hätte diesen Zwischenfall zu Gesicht bekommen dürfen, und auch Brendon würde Konsequenzen zu fürchten haben. Unten schrie inzwischen ein Offizier laute Befehle, forderte einen Gabelstapler an, um den Metallzylinder anheben zu können.
Brendon packte die Frau neben Lavinia am Arm und zog sie vom Geländer fort. „Nun machen Sie schon, treten Sie vom Geländer zurück!“
Lavinia starrte auch weiterhin wie gebannt nach unten. Der Zylinder drehte sich noch ein Stück zur Seite. Dann, sie traute ihren Augen nicht, erschien eine bleiche Hand in der Öffnung. Eine Hand, überzogen von Schleim, wie ein Neugeborenes, das gerade aus dem Mutterleib hervor gekommen war. Dann erscholl ein weiterer Schrei, nicht aus dem Mund des Soldaten, sondern aus dem Inneren des Zylinders. Noch nie hatte Lavinia einen solchen Schrei gehört, so durchdringend und animalisch, so voller Schmerz und Angst. Nun endlich taumelte sie entsetzt zurück, aber noch immer hörte sie es aus dem Inneren des Zylinders schreien, als habe die Qual des Wesens dort drinnen kein Ende.
Nun stand er vor der Tür und überreichte ihr die neue Passkarte. „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll“, sagte sie lächelnd. „Es war sehr nett von Ihnen, das so schnell zu erledigen.“
„Das habe ich doch gern getan“, erwiderte er, machte aber keine Anstalten, sich zurückzuziehen. Anna begriff, dass er wohl hereingebeten werden wollte. Nach seinem gastfreundlichen Verhalten gestern konnte sie ihm das kaum verwehren. Außerdem wollte sie kein Misstrauen bei ihm erregen indem sie ihm das Gefühl verlieh, etwas zu verbergen zu haben.
„Möchten Sie nicht hereinkommen? Ich habe zwar nicht so guten Wein wie Sie anzubieten, aber einen anständigen Kaffee bekomme ich noch zustande. Sogar ein paar Plätzchen müsste ich noch haben.“
„Das Angebot nehme ich gerne an. Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir, so eine kleine Erfrischung kann ich jetzt gut gebrauchen.“
Er folgte ihr in die gemütliche Küche, die neben einer großen, über Eck laufenden Kochzeile auch eine Sitzecke mit einem alten Sofa, einem rustikalen Tisch und zwei Stühlen zu bieten hatte. In einer Ecke stand Annas Schreibtisch, direkt vor der breiten Fensterfront. Eine Glastür führte auf einen Balkon hinaus, auf dem zwei schon etwas verwitterte Korbstühle und ein kleiner Metalltisch standen. Die Balkonbrüstung verfügte über eingelassene Blumenkästen, in denen Anna einige Herbstblumen und frische Kräuter angepflanzt hatte. Latour ließ es sich kaum anmerken, aber Anna registrierte dennoch seine neugierigen Blicke. Wahrscheinlich wollte er wissen, wie eine Frau lebte, die sich ihren Pass stehlen und ihre Kinder mit den japanischen Nachbarn spielen ließ, dachte sie sarkastisch. Sie bot Latour einen Platz auf dem Sofa an, dessen Federung leise quietschte als er sich setzte und machte sich selbst an der Kaffeemaschine zu schaffen. Aus dem Küchenschrank holte sie ihre besten Tassen hervor, um einen guten Eindruck zu hinterlassen. Latour nahm seine Uniformmütze ab und legte sie auf den Tisch. Er macht es sich schon gemütlich, registrierte Anna verwundert. Die Maschine nahm gurgelnd ihre Arbeit auf, und der Duft frisch aufgebrühten Kaffees verbreitete sich in der Küche.
„Sie haben es schön hier“, meinte der Kommissar. „Ich habe mir nie die Mühe gemacht, meinen Balkon zu bepflanzen. Vielleicht sollte ich das auch mal tun.“
„Oh, es sind nur ein paar anspruchslose Pflanzen, ich bin nicht gerade die geborene Gärtnerin. Im Sommer vertrocknen mir die Blumen meistens.“
„Ich fürchte, mir würde es nicht besser ergehen.“
„Schlimmer als ich kann man gar nicht gärtnern!“
„Sie haben auch frische Kräuter da draußen. Bestimmt sind Sie auch eine gute Köchin.“
„Es geht“, erwiderte sie bescheiden und fragte sich, worauf er hinaus wollte. Er war bestimmt nicht gekommen, um sich mit ihr über Rezepte zu unterhalten. „Ein paar Sachen koche ich recht gut. Aber manchmal helfen die Kräuter auch nur, um ein einfaches Gericht farblich ein wenig zu verschönern.“
„Leider finde ich kaum Zeit für diese Dinge, mein Beruf beansprucht mich zu sehr. Aber abends eine schöne Käseplatte zu einem guten Glas Wein, das lasse ich mir nicht nehmen, und wenn es noch so spät ist.“
Anna fragte sich, warum er ihr das alles erzählte. Sie wurde unwillkürlich misstrauisch. Wollte er eine persönliche Ebene herstellen, um sie besser aushorchen zu können? Wusste er etwas über sie, was er nicht wissen sollte? Dabei hatte er sich bestimmt bereits ihre Akte besorgt und alles nachgelesen, was es über sie in den öffentlichen Archiven zu erfahren gab. Dort würde stehen, dass sie die Witwe eines verdienten Piloten der EAAU war, der in einem Raumzwischenfall mit den VOR vor einigen Jahren ums Leben gekommen war, das verlieh ihr vielleicht einen gewissen Schutz. In den Augen der neuen Machthaber musste ihr Mann ein Held sein, der sein Leben im Kampf gegen die verhassten Asiaten gegeben hatte. Deshalb erhielt sie vom Staat noch immer eine kleine Witwenrente. Mochte Latour ruhig glauben, das wäre die Wahrheit. Aber vielleicht hatte irgendetwas in stutzig gemacht. Eventuell war die Geschichte zu glatt, zu perfekt. Er war Mitglied der misstrauischsten Polizeieinheit, welche die EAAU je hervorgebracht hatte, möglicherweise vermutete er hinter allem etwas Verborgenes, einen Fleck auf der sauberen Weste. Sie durfte es sich nicht mit ihm verderben, schließlich trug sie nicht nur für sich die Verantwortung sondern auch für ihre Tochter.
„Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal ein gutes Glas Wein getrunken habe, von gestern einmal abgesehen. Mit einem kleinen Kind kommt man kaum zur Ruhe, und auch jetzt, obwohl Sophie schon zur Schule geht, fordert sie doch noch viel Aufmerksamkeit. Manchmal ist das wirklich anstrengend!“ Sie lachte.
„Als alleinerziehende Mutter hatten Sie es bestimmt nicht leicht“, erwiderte er mitfühlend. „Da sind Sie ja bestimmt recht froh, dass Sophie jetzt in der Kindergruppe ist. Dort wird sie ordentlich ausgetobt, sie ist doch bestimmt abends hundemüde.“
„Ach, das habe ich auch gedacht!“ Er hakte sich immer wieder an der Kindergruppe fest. Was bezweckte er nur damit? „Aber sie ist immer ziemlich aufgedreht, wenn sie zurückkommt. Natürlich muss Sie mir als erstes erzählen, welche neuen Lieder sie gelernt hat, oder was sie gespielt haben. Das ist alles sehr aufregend für die Kleine, wissen Sie. Die vielen Eindrücke, die sie zu bewältigen hat, machen sie ganz munter. Für uns Erwachsene wäre das wahrscheinlich viel zu stressig.“
„Es gibt auch Gruppen für Erwachsene, in denen es weniger anstrengend zugeht“, erzählte er. „Zum Beispiel das Veteranen-Komitee der Damen. Dort würden Sie viele Gleichgesinnte treffen.“
„Das ist hoffentlich kein Kaffeekränzchen, bei dem Socken gestrickt werden?“ Sie bereute ihre Worte, kaum dass sie ihr herausgerutscht waren. Latour würde wahrscheinlich seine Schlüsse daraus ziehen.
„Aber nein, so altmodisch sind wir nicht. Es sind viele gestandene Frauen dabei, die sich sozial engagieren wollen. Alles andere wäre wohl nicht mehr zeitgemäß.“
Mit einem letzten Schnaufen beendete die Kaffeemaschine ihre Arbeit. „Nehmen Sie Milch und Zucker in den Kaffee?“, fragte sie und füllte die versprochenen Plätzchen in eine Schale um.
„Nur Milch bitte.“
Anna servierte ihm den Kaffee und setzte sich ihm gegenüber an den Küchentisch. „Ich bin noch nie auf die Idee gekommen, mich einem solchen Kreis anzuschließen, auch wenn es für mich nicht immer einfach war. Natürlich auch nicht für Sophie, sie hätte sicherlich gern einen Vater gehabt, wie die meisten Kinder in ihrer Klasse. Aber wir haben es auch immer so geschafft, mit der Armee habe ich eigentlich gar keinen Kontakt mehr.“ Warum erzählte sie ihm das alles bloß? Sie hatte sich den Nachbarn gegenüber immer eher distanziert verhalten, kaum etwas von sich preisgegeben, von den Watanabes einmal abgesehen. Und nun erzählte sie einem Kommissar der Geheimpolizei von ihrem Leben! „Die Kekse habe ich übrigens mit Sophie gebacken.“
Er schaute auf die bunten Zuckerstreusel auf den Plätzchen und nickte lächelnd. „Das sieht auch sehr nach Kinderkeksen aus.“
„Hat es Sie eigentlich große Mühe gekostet, mir den Pass neu machen zu lassen?“
„Nicht der Rede wert, es war eine Sache von ein paar Minuten, ich habe es gern für Sie getan. Schließlich sind wir doch gute Nachbarn, oder?“
„Hat es keine Nachfragen gegeben?“
„Keine, die sich nicht leicht aus der Welt räumen ließen. Ich gebe nicht gern vor Ihnen an, aber immerhin bekleide ich eine gewisse Position, die es mir ermöglicht, einiges unbürokratisch zu regeln.“
Anna hatte fast das Gefühl, als werbe er um ihre Anerkennung. Sein Verhalten kam ihr irgendwie merkwürdig vor. „Ich bin froh, dass ich Ihnen keine Schwierigkeiten bereitet habe. Das wäre mir sehr unangenehm gewesen.“
„Genau genommen gäbe es etwas, womit Sie sich revanchieren könnten.“ Er lächelte.
Annas Magen verkrampfte sich. „Was wäre das?“
Offensichtlich deutete er ihren erschrockenen Gesichtsausdruck richtig. „Keine Angst, ich verlange nichts unmögliches von Ihnen. Um ehrlich zu sein, könnten Sie mich aus einer großen Verlegenheit befreien, es geht dabei um eine dienstliche Angelegenheit.“
„Eine dienstliche Angelegenheit, Kommissar? Aber wie könnte ich Ihnen dabei behilflich sein?“
„Indem Sie mich begleiten, Ms. Corvillo. In zwei Wochen findet in der Innenstadt eine große Militärparade statt, anschließend gibt es einen Empfang im Verteidigungsministerium. Es wäre mir sehr unangenehm, dort allein erscheinen zu müssen, da meine Kollegen alle ihre Familien mitbringen werden. Für Sie würden sich daraus natürlich keinerlei Verpflichtungen ergeben, einmal abgesehen davon, dass die Speisen und Getränke, die dort serviert werden, ausgezeichnet sein sollen.“
„Ich weiß nicht so recht, ob ich dort hineinpasse“, erwiderte Anna verlegen. Allein die Vorstellung, zu einer Militärparade zu gehen, erfüllte sie mit Abneigung. Das Regime würde sich dort mit all seiner Militärgewalt präsentieren, eine Demonstration seiner Stärke geben, die auch in den asiatischen Ländern nicht unbeachtet bleiben würde. Der General würde dort seine modernsten Waffen auffahren lassen um sie der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. „Auch wenn ich die Witwe eines Piloten bin, ich habe nie viel von diesen Dingen verstanden.“
„Aber das macht doch nichts, die Hauptsache ist, dass Sie dabei sind. Spätestens wenn der offizielle Teil vorbei ist, werden Sie sich gut amüsieren, da bin ich mir sicher. Eine Absage kann ich leider nicht akzeptieren!“ Er lächelte, aber Anna spürte, wie ernst es ihm war. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zuzusagen.
Sie war froh, als er sich verabschiedete. Als sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, atmete sie erst einmal tief durch. Sie grübelte noch immer darüber nach, warum er sich solche Mühe machte, sie auf die Probe zu stellen. Falls er etwas wusste oder ahnte, wäre es ihm ein Leichtes sie verhaften zu lassen und die Wahrheit aus ihr mit Gewalt heraus zu holen. Oder aber er wusste mehr, als ihr lieb war und war von oberster Stelle beauftragt, ihr auf den Zahn zu fühlen. Wäre sie doch nie zurück nach Metropolis gezogen! Sie hatte von Anfang an gewusst, dass ein hohes Risiko damit verbunden war, aber im Exil in Europa hatte sie sich einfach nicht zu Hause gefühlt. Als ihr dann die Arbeitsstelle in der Hauptstadt angeboten worden war, hatte sie zugegriffen und die Gefahren verdrängt. Nun saß sie praktisch auf dem Präsentierteller, und das im am besten gesicherten Gefängnis auf dem Planeten.
***
Nach schier unendlich erscheinenden Wochen erreichte die Najade endlich ihr Ziel, aber Erleichterung machte sich bei Lavinia Drosczek dennoch nicht breit. Ihre Reise hatte sie mitten ins Nichts befördert, zu einer Raumstation irgendwo im leeren Raum zwischen den Planeten, die den poetischen Namen Odysseus trug. Es schien tatsächlich so, als irre dieser Kasten aus Stahl ziellos umher, in Wirklichkeit jedoch zog er auf einer vorgegebenen Bahn seine Kreise auf einem imaginären Orbit um die Sonne. Von außen sah die Station aus wie ein Stapel willkürlich und nicht sonderlich ordentlich gestapelter Kartons, aus deren Seite eine Plattform für die landenden Raumschiffe ragte. Neben der Najade hatte dort schon ein weiterer Transporter gleichen Typs angedockt, die ebenfalls über einen flexiblen Tunnel aus Metall und Kunststoff mit der Station verbunden wurde. Major Brendon trieb die Wissenschaftler nach der Landung zur Eile an, ihr Gepäck zusammen zu packen um die Najade schnellst möglich zu verlassen. Viel gab es nicht, das Lavinia mitzunehmen hatte, alles passte wieder in ihre Reisetasche hinein. Ein unbestimmtes Gefühl von Furcht machte sich in ihr breit, fast hatte sie sich an ihr kleines Zimmer an Bord der Najade gewöhnt, und nun würde wieder etwas Ungewisses auf sie zukommen. Ihre Beobachtung in der Nacht des Meteoritenhagels hatte ihr keine Ruhe gelassen. Die seltsamen Zylinder, etwa zwei Meter lang, verfolgten sie bis in ihre Träume. Sie konnte nur Vermutungen darüber anstellen, was sich darin befand, und alle diese Vermutungen führten sie zu Gedanken, die ihr kalte Schauer über den Rücken jagten. Zunächst hatte sie versucht, die Reparatur des ausgefallenen Computersystems so lange wie möglich zu verzögern, um vielleicht doch noch die eine oder andere Information aufschnappen zu können, aber der Major hatte ihre Taktik schnell durchschaut und sie zur Eile angetrieben. So war sie weiter im Ungewissen geblieben. Und ihr war unter Androhung der Todesstrafe verboten worden, ein Wort über das Gesehene zu verlieren. An der Umsetzung dieser Drohung zweifelte Lavinia keinen Augenblick. Nur eins wusste sie mit absoluter Sicherheit: Hier ging es um ein wissenschaftliches Experiment des Generals, das noch zu Zeiten Hirschmanns als moralisch absolut undenkbar gegolten hätte. Warum sonst fand es nicht auf der Erde statt, sondern hier irgendwo im Nichts? Lavinia zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass sie sich hier weit abseits aller beflogenen Routen befanden und sich kaum eine Patrouille hierher verirren würde. Die Raumstation war vermutlich auf keiner offiziellen Karte verzeichnet. Das bedeutete zugleich die Unmöglichkeit jeder Flucht.
Durch die Sichtfenster des Verbindungstunnels konnte sie hin und wieder einen Blick auf das Geschehen auf der Landeplattform werfen. Gestalten in Raumanzügen bedienten Transportfahrzeuge, um Kisten verschiedener Größe aus der Najade zu entladen und in den Bauch der Station zu schaffen. Auf der Plattform gab es also keinerlei künstliche Atmosphäre oder Schwerkraft, ein weiteres Hindernis für eine Flucht. Jeder, der hier hinaus wollte, musste entweder über einen Raumanzug verfügen oder über einen der Tunnel zu seinem Schiff gelangen. Darüber hinaus gab es überall schwer bewaffnete Wachen, die entweder über die Plattform patrouillierten oder die Gänge bewachten. Der General traute wohl noch nicht einmal seinen eigenen Leuten, und noch weniger den hier zwangsverpflichteten Wissenschaftlern.
Major Brendon trieb die kleine Gruppe wieder einmal zur Eile an. Die Najade sollte vom Tunnel abgekoppelt und zu einem Wartungsgerüst verbracht werden, damit sie ihren Rückflug zur Erde so rasch wie möglich antreten konnte. Dort wartete schon das nächste Personal auf seinen Transport zur Station. Das Regime verlor keine Zeit, hier wurde binnen kurzem ein riesiges Forschungslabor aus dem sprichwörtlichen Boden gestampft. Überall herrschte Hektik, auch im Inneren der Station wurden eilige Befehle erteilt und Offiziere trieben ihre Leute zur raschen Arbeit an.
Die kleine Gruppe trat auf eine breite, durch ein Geländer abgeschirmte Galerie hinaus. Die Ebenen der Station gruppierten sich um eine riesige Röhre herum, die etwa dreißig Meter im Durchmesser messen mochte. In der Mitte transportierte ein großer Aufzug, der jeweils über einen Steh zu erreichen war, Güter und Personen hinauf und hinab. Lavinia wagte einen Blick über das Geländer hinweg in die Tiefen der Röhre hinab, die so weit herabreichte, dass man kaum den Boden erkennen konnte. Auf allen Ebenen herrschte hektische Betriebsamkeit wie in einem überdimensionalen Ameisenhaufen, und wie in diesem gab es Krieger und Arbeiter, die ihren Aufgaben nach einem strengen Zeitplan nachgingen. Lavinia sah auch Männer und Frauen in weißen Kitteln, Kollegen wohl, die schon früher hierher gebracht worden waren. Der General musste gleich nach seinem Putsch begonnen haben, diese Station ausbauen zu lassen. Er konnte es wohl kaum abwarten, seinen Zielen endlich ein Stück näher zu kommen.
„Wir werden Ihnen jetzt Ihre Quartiere zuweisen“, verkündete Major Brendon laut, nachdem er die kleine Gruppe um sich versammelt hatte. „Sie haben dann eine Stunde Zeit, um sich ein wenig von der Reise zu erholen und Ihre Sachen zu verstauen. Anschließend werden Ihre Abteilungsleiter Sie kontaktieren, um Ihnen Ihre Arbeitsfelder zuzuweisen. Vergessen Sie niemals, dass wir hier ein militärisch organisierter Betrieb sind. Ihre Abteilungsleiter sind für Sie dasselbe wie ein vorgesetzter Offizier für einen Soldaten, seinen Anweisungen ist unbedingt Folge zu leisten, andernfalls drohen Ihnen strengste Sanktionen. Wir haben hier keine Zeit für Diskussionen, der General persönlich nimmt die Arbeitsberichte dieser Station entgegen, und er erwartet disziplinierte, exakte Arbeit von Ihnen. Für Fehler ist hier kein Platz.“ Er machte eine Pause und sah in die Runde. „Ist Ihnen das klar oder haben Sie noch Fragen?“
Antonio Ragusi sah so aus, als wolle er den Mund öffnen, überlegte es sich dann aber anders, zumal der Major auch niemals ernstlich erwartet hatte, irgendetwas beantworten zu müssen. Die anderen sahen betroffen zu Boden, während Lavinia noch einmal versuchte, einen weiteren Blick über das Geländer zu erhaschen. Ihre Neugierde wurde noch weiter geweckt, als sie sah, wie drei Ebenen weiter unten einige der Metallzylinder verladen wurden. Drei Wissenschaftler in weißen Kitteln begleiteten den Transport, sie wiederum wurden von einem halben Dutzend Wachen begleitet. Die Zylinder waren auf eine Art Rollbahren verladen worden, die von weiteren Soldaten geschoben wurden.
„Was gibt es denn da zu sehen, Miss Drosczek?“, bellte Major Brendon plötzlich neben ihrem Ohr. Lavinia erschrak so sehr, dass sie fast das Gleichgewicht verlor und über die Brüstung gestolpert wäre. Sie wusste nicht, wovor sie sich mehr fürchten sollte, vor Brendons Zorn oder dem Abgrund, der sich vor ihr auftat. Wie weit mochte es dort nach unten gehen? Sicherlich wäre es ein tödlicher Sturz geworden.
„Ich wollte mich nur ein wenig umsehen, Major“, erwiderte sie mit klopfendem Herzen.
„Ihre Neugier wird Ihnen noch vergehen, wenn wir Sie hier ordentlich mit Arbeit eindecken, Drosczek!“ Brendon verschränkte die Hände hinter dem Körper und baute sich vor ihr auf wie ein Feldherr. „Sie sind nicht hier, um die Abläufe auf dieser Station zu beobachten, sondern um Ihre Aufgaben zu erledigen, merken Sie sich das.“ Er wandte sich wieder der Gruppe zu. „Das gilt übrigens für Sie alle. Beschränken Sie sich auf die Aufgaben, die Ihnen zugeteilt werden, und halten Sie sich aus allen anderen Angelegenheiten heraus, dann wird Ihr Aufenthalt hier nicht unerträglich sein.“
Beklommen blieben die Mitglieder der Gruppe auf ihren Plätzen stehen, wagten nicht, sich zu rühren. Jeder wartete auf Brendons nächste Anweisung, aber der Major machte es spannend und genoss den Moment der Einschüchterung. Aus einem der unteren Stockwerke war plötzlich ein blechernes Rumpeln zu hören, begleitet von einem lauten, schmerzhaften Aufschrei. Es klang, als schleife Metall über Metall, ein unangenehmes, kreischendes Geräusch, das bei Lavinia Gänsehaut auf den Unterarmen entstehen ließ. Von den Männern und Frauen fiel in diesem Augenblick die Lähmung ab und machte menschlicher Neugier Platz. Angelockt durch den gequälten Schrei stürzten sie an das Geländer und suchten nach der Quelle des Geräusches. Brendon wurde fast über den Haufen gerannt, als die Neugierigen an ihm vorbei eilten, doch er schien so perplex zu sein, dass er nicht die Geistesgegenwart zu empörtem Protest besaß. Auch Lavinia wandte sich wieder ihrem Aussichtsplatz an der Brüstung zu und hatte schnell den Urheber des Schreis ausgemacht.
Drei Ebenen weiter unten, wo die seltsamen Metallzylinder transportiert wurden, war es zu einem Zwischenfall gekommen. Einer der Behälter war wohl nicht ordnungsgemäß gesichert worden und hatte sich aus der Verankerung gelöst. Er war seitlich von der Transportbahre gerutscht und hatte den Soldaten unter sich begraben, sein Rücken wurde gegen die Brüstung gedrückt. Zwei seiner Kameraden bemühten sich, den schweren Zylinder von ihm herunter zu heben, aber dieser war zu schwer, um ihn allein mit menschlicher Muskelkraft anzuheben. Der Mann musste schwerste innere Verletzungen erlitten haben.
Das aber war nicht das einzige, was Lavinia wie gelähmt an der Brüstung verharren ließ, auch wenn ihr der Soldat trotz seiner schwarzen Uniform Leid tat. Viel mehr starrte sie auf den Zylinder, der unter der Wucht des Aufpralls geborsten war. Eine milchige Flüssigkeit trat aus dem Behälter aus, die es den Soldaten zusätzlich erschwerte, ihren Kameraden zu bergen, da sie keinen festen Stand finden konnten. Die Galerie hatte sich in eine schmierige Rutschbahn verwandelt, die den Stiefeln der Männer keinen Halt mehr bot.
Inzwischen hatte auch Brendon seine Fassung wiedergefunden und drängte sich zwischen den Schaulustigen hindurch. „Gehen Sie sofort zurück! Das ist ein Befehl!“ Seine Stimme überschlug sich fast. Lavinia las pure Panik in seinem Gesicht, keiner von ihnen hätte diesen Zwischenfall zu Gesicht bekommen dürfen, und auch Brendon würde Konsequenzen zu fürchten haben. Unten schrie inzwischen ein Offizier laute Befehle, forderte einen Gabelstapler an, um den Metallzylinder anheben zu können.
Brendon packte die Frau neben Lavinia am Arm und zog sie vom Geländer fort. „Nun machen Sie schon, treten Sie vom Geländer zurück!“
Lavinia starrte auch weiterhin wie gebannt nach unten. Der Zylinder drehte sich noch ein Stück zur Seite. Dann, sie traute ihren Augen nicht, erschien eine bleiche Hand in der Öffnung. Eine Hand, überzogen von Schleim, wie ein Neugeborenes, das gerade aus dem Mutterleib hervor gekommen war. Dann erscholl ein weiterer Schrei, nicht aus dem Mund des Soldaten, sondern aus dem Inneren des Zylinders. Noch nie hatte Lavinia einen solchen Schrei gehört, so durchdringend und animalisch, so voller Schmerz und Angst. Nun endlich taumelte sie entsetzt zurück, aber noch immer hörte sie es aus dem Inneren des Zylinders schreien, als habe die Qual des Wesens dort drinnen kein Ende.
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