Die Herrschaft des Phönix
von Mirjam Lea
Kurzbeschreibung
General Smith konnte aus der Gefangenschaft entkommen und schickt sich ein zweites Mal an, die Herrschaft in der EAAU zu übernehmen. Aber auch seine grausamen Methoden schaffen es nicht, jeden Widerstand erlahmen zu lassen... (Anmerkung: Es handelt sich um eine radikale Neufassung von der Innere Zirkel, die jetzt auf Gleichgewicht des Schreckens ausbaut.)
GeschichteDrama / P16 / Gen
Gordon B. Smith
Samuel Hirschmann
19.08.2009
28.09.2010
27
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19.08.2009
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„Gilt dein Angebot noch, etwas für mich zu kochen?“
Smith beugte sich über Isabels Stuhllehne und küsste sie auf den Nacken. Er lehnte sich ein wenig zur Seite und ließ seine Hand tiefer gleiten, unter den hochgerutschten Saum ihres Rockes, hin zum Rand ihrer halterlosen Strümpfe. Seine Finger fanden den Weg unter den zarten, elastischen Seidenstoff, fühlten ihre Weiche Haut. Leise seufzend ließ sie es sich gefallen und wandte ihm ihr Gesicht zu. Seine Fingerspitzen fühlten, wie sich unter seiner Berührung eine Gänsehaut auf ihren Oberschenkeln bildete.
„Natürlich gilt das noch“, erwiderte sie lächelnd, „ich freue mich, dass du es endlich annimmst. Die Nachrichten haben dich wohl in gute Laune versetzt, oder?“ Sie legte ihre Hand auf die seine.
Gerade erst waren seine Adjutanten aus dem Büro verschwunden, nachdem sie ihm die Neuigkeiten über den Angriff auf die Venus gebracht hatten. Endlich einmal wieder ein Erfolgserlebnis, nach all den Schlappen, die ihm die Besatzung der Delta VII in den letzten Wochen zugefügt hatte. Aus irgendeinem Grund hatte dieses bemerkenswerte Schiff nicht in das Gefecht eingegriffen, aber das konnte ihm nur Recht sein. Auf diese Weise hatten seine Leute keinerlei Verluste erlitten. Sie hatten dem sogenannten Präsidenten Hirschmann gezeigt, was es ihm gebracht hatte, die Kolonie Venus als unabhängig zu erklären! Diese Ansiedlung im Weltraum mochte klein sein, aber sie gehörte dennoch zur EAAU, davon war Smith felsenfest überzeugt. Hunderte Dissidenten waren bereits dorthin geflohen bevor seine Leute ihrer habhaft werden konnten, und er war nicht länger bereit, das zu dulden. Zwar mochte ihre Anzahl angesichts der fünf Milliarden Bewohner der Union gering sein, aber jede Revolution fing einmal mit einem kleinen Nest von Widerständlern an. Der General war entschlossen, diesem Widerstand schon von Anfang an entschieden gegenüber zu treten. Er würde sich nicht von einigen Aufrührern an der Nase herumführen lassen.
„Weißt du, wonach mir jetzt ist?“, fragte er Isabel und küsste sie erneut auf den Nacken.
„Ich kann es mir denken“, kicherte sie.
Sie war wirklich eine hingebungsvolle Geliebte. Etwas anspruchsvoll hin und wieder, vor allem was seine Zuwendungen anging. Nicht materieller, sondern emotionaler Art. Emotionen, die er ihr nun einmal nicht entgegenbringen konnte. Aber mit der Zeit würde sie lernen müssen, sich mit dem zufrieden zu geben, was er ihr freiwillig zukommen ließ. Sonst musste er sich überlegen, eine andere, dankbarere Frau an ihre Stelle zu setzen. Das allerdings behielt er für sich, er würde es ihr offenbaren, sobald er sich dementsprechend entschieden hatte. Vorerst jedoch würde er die Affäre fortführen, sie hatte sich für ihn als befriedigend erwiesen.
„Nein, nicht das, obwohl das an zweiter Stelle kommt“, er richtete sich auf und ließ sie los. Lachend tippte er ihr auf die Schulter. „Ich möchte gern hören, wie es meinem Freund Hirschmann geht. Stell mir doch eine Verbindung zu ihm her, in mein Büro. Es stört mich auch nicht, wenn du mithörst. Gönn dir einfach den Genuss, den alten Mann mit mir verhandeln zu hören, denn das wird er sicherlich versuchen.“
„Was tust du, wenn er nicht verhandeln will?“
„Dann werde ich ihm in Erinnerung rufen, was ein einzelnes Geschwader unserer Schiffe heute ausgerichtet hat und ihm einen weiteren Besuch ankündigen.“ Smith fühlte sich beschwingt, wie seit Tagen nicht. Der Gedanke, Hirschmann könne sich ihm widersetzen, flammte nur kurz in ihm auf, dann drängte er ihn rasch in einen hinteren Winkel seines Gehirns zurück. Er wollte seinen Triumph über den alten Mann genießen, sich für alte und neue Demütigungen seinerseits revanchieren. Ein Gefühl der Lebendigkeit erfüllte ihn, ausgelöst durch den leicht errungenen Sieg über die Venuskolonie. Er hatte sie bei ihrer empfindlichsten Stelle erwischt, bei der Versorgung der Bewohner mit dem Notwendigsten, mit Lebensmitteln. Noch verheerender hätte nur ein Angriff auf das Lebenserhaltungssystem ausfallen können, aber das war nicht seine Absicht gewesen. Er wollte die Kolonie wieder in die EAAU eingliedern, sie nicht vernichten. Sie war trotz ihrer geringen Größe nicht unwichtig, sondern ein wichtiger Lieferant für Energie. Er würde Hirschmann schon zeigen, dass er ihm den Zugriff darauf nicht einfach entziehen konnte.
Beschwingten Schrittes ging er in sein Büro zurück, während Isabel die verschlüsselte Verbindung zu Hirschmanns Amtssitz aufbaute. Mit Schwung ließ er sich in seinen Schreibtischsessel fallen und dehnte seine Hände. Unter dem Tisch sah sein Hund kurz zu ihm auf, wo er bisher ruhig geschlafen hatte. Das Tier hatte sich an die Turbulenzen in seinem Büro mittlerweile gewöhnt, war es zu Beginn noch hektisch hin und her gerannt, so ließ es nun geduldig jede Aufregung über sich ergehen, hob höchstens einmal den Kopf. Der General bückte sich und kraulte den Collie hinter den Ohren.
Der Bildschirm seines Computers zeigte noch das Wartezeichen, ein sich drehendes, dreidimensionales Logo der Reinigenden Flamme, die Verbindung zur Venus wurde noch aufgebaut. Smiths Blick fiel auf das silbern gerahmte Foto, das rechts auf seinem Schreibtisch stand, gleich unter der Designerlampe, die den Tisch erhellte. Emma und er an ihrem Hochzeitstag, das war nun über sieben Jahre her. Kurz nach ihrer Eheschließung war sie durch einen Bombenanschlag brutal getötet worden. Im Grunde hatte er ihren Tod bis heute noch nicht verwunden, sie hatte ihm so viel bedeutet. Die Affäre mit Isabel beruhte mehr oder minder nur auf körperlicher Anziehung, auch wenn er die junge Frau mochte. Emma aber hatte er sehr geliebt, mehr noch als seine erste Frau, die ebenfalls ermordet worden war. Er brachte seinen Ehefrauen wohl kein Glück, dachte er mit einem Anflug von Wehmut. Nun, als Clara durch die Hand eines Mörders gestorben war, lebten sie bereits in Scheidung, eine Bindung zwischen ihnen existierte faktisch nicht mehr. Mit Emma allerdings glaubte er, gerade am Anfang einer lebenslangen Beziehung zu stehen, auch wenn er damals von ihr getrennt und ins Exil geschickt worden war. Aber er hatte niemals daran gezweifelt, eines Tages wieder frei zu kommen, und dann hätte er sie zu sich zurück geholt. Vielleicht hätten sie sogar eine Familie gegründet, denn sie war eine warmherzige, intelligente Frau gewesen, der er sich sehr nahe gefühlt hatte. Er hatte sie an Gedanken teilhaben lassen, die er sonst keinem Menschen offenbart hätte, persönlichen Dingen, die weder seine Kameraden von der Reinigenden Flamme noch die anderen Offiziere etwas angingen, da sie von ihnen als Schwäche missdeutet werden konnten. Emma aber hatte ihn immer verstanden. Er fragte sich, was sie ihm jetzt raten würde. Ihre Gutmütigkeit ließ sie viele Dinge anders sehen als er es tat. Wahrscheinlich würde sie ihm zu einer gütlichen Einigung mit Hirschmann drängen. Das allerdings lag ihm bei aller Liebe so fern wie ein Friedensschluss mit den Feinden in den VOR.
Endlich regte sich etwas auf dem Bildschirm, eine rothaarige junge Frau erschien auf dem Monitor und teilte ihm sachlich, aber ohne jeden Anflug von Freundlichkeit mit, dass Präsident Hirschmann nun zu einem Gespräch mit ihm bereit sei. Präsident Hirschmann! Allein die Nennung dieses Titels weckte Aggressionen in ihm, erschien ihm als bloße Anmaßung. Wie konnte es der alte Mann wagen, sich zum Präsidenten einer Republik aufzuschwingen, die einfach als solche nicht existieren durfte? Bisher hatte die Venuskolonie einen Gouverneur gehabt, der mehr oder minder als deren Verwalter tätig war. Nun nannten sie sich unabhängige Republik, welche Arroganz! Smith wollte gerade etwas erwidern, als das Bild wieder wechselte und Samuel Hirschmann auf dem Monitor erschien.
„General, womit habe ich die Ehre dieses Anrufes verdient?“ Hirschmann hatte nichts von seinem Sarkasmus eingebüßt. Fast verflog Smiths gute Laune und machte einem Wutanfall Platz. Aber der General beherrschte sich, sagte sich entschlossen, er würde sich von Hirschmann nicht wieder in die Rolle des getadelten Jungen drängen lassen wie früher, als er noch ein sehr junger Offizier des Generalstabes gewesen war. Er zwang sich zu lächeln.
„Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Herr Präsident“, erwiderte er, wobei er den Titel des alten Mannes ironisch betonte. Warum ließ er sich eigentlich emotional so beeindrucken von dem alten Mann? Er selbst verfügte bereits jetzt über eine weitaus größere Machtfülle als Hirschmann sie je besessen hatte, war der absolute Herrscher der EAAU, weder durch Gesetze noch durch eine Verfassung gebunden. Es gab überhaupt keinen Grund, sich dem alten Mann gegenüber befangen zu fühlen, und dennoch nagten die alten Gefühle an ihm. Das allein stimmte ihn aggressiv, auch wenn er das unter einer kühlen, selbstbewussten Fassade verbarg. „Ich hoffe, mein kleiner Anstandsbesuch ist Ihnen nicht zu sehr zur Last gefallen? Ich wollte mich Ihnen nur noch einmal in Erinnerung bringen.“
„Das ist Ihnen allerdings gelungen, General.“ Ein kurzer Anflug von Zorn ließ die altersmüden Augen des Präsidenten aufblitzen, dann riss auch er sich wieder zusammen. „Wenn Ihr feiger Angriff auf unsere Republik auch nicht den gewünschten Effekt erzielt hat. Wir sind mehr denn je entschlossen, für unsere Unabhängigkeit zu kämpfen, egal was Sie uns auch androhen. Unsere Freiheit ist uns wichtiger als unsere Sicherheit, das haben alle Bürger hier begriffen.“
Smith lachte. Er dachte an die Geheimdienstberichte, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Diese berichteten über den Fluchtversuch von unzähligen Zivilschiffen während des Angriffs, bei dem es zu zahlreichen tödlichen Unfällen gekommen war. Die Menschen waren in unbeherrschte Panik ausgebrochen, hatten nichts anderes mehr im Sinn gehabt, als die Kolonie so schnell wie möglich zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. Dabei hatte niemand mehr an die Sicherheitsvorschriften für Starts gedacht, die meisten Schiffe waren zerstört worden, ohne dass seine Leute einen Schuss auf sie abgegeben hätten. „Herr Präsident, wir wollen uns doch hier nichts gegenseitig vormachen. Ihre Bürger hatten nichts besseres vor, als die Kolonie so schnell wie möglich zu verlassen, um sich vor meinen Leuten in Sicherheit zu bringen, ich habe die entsprechenden Berichte hier vorliegen. Diese Menschen scheinen nicht so sehr hinter Ihrer Politik zu stehen, wie Sie es sich einreden. Zumindest war keiner davon bereit, für Ihre Ideale zu sterben.“
„Diese Menschenleben haben Sie auf dem Gewissen, General! Ideale sind wohl etwas, worüber ich nicht mit Ihnen zu diskutieren brauche, denn unsere Vorstellungen klaffen hier wohl zu sehr auseinander. Mein Ideal jedenfalls ist es, die Menschen hier zu schützen, nicht, sie dem Tod im All auszuliefern!“
„Dann wären wir uns ja doch in einem Punkt einig, denn ich habe diese Menschen nicht in die Flucht getrieben, ich wollte Ihnen, Herr Präsident, lediglich eine kleine Demonstration meiner Möglichkeiten geben.“ Smith atmete tief durch. „Ich habe mir nichts vorzuwerfen, schließlich habe ich Ihnen eine Chance gegeben, mir die Kolonie friedlich zu übergeben. Mir ist nicht an deren Zerstörung gelegen, ich will sie lediglich wieder in den Verband der EAAU eingliedern, so wie es historisch und rechtlich richtig ist.“
„Sie, General, sprechen von Recht?“ Hirschmanns furchiges Gesicht verriet nun offenen Zorn. „Das Recht in unserer Republik hat Sie doch nie interessiert. Die einzige Sprache, die Sie verstehen, ist die der Gewalt Ihrer Waffen! Sie haben keinerlei Skrupel, die Menschen hier dem Hungertod preiszugeben, oder sie unter Ihr Joch zu zwingen! Aber wir werden hier ein Zeichen setzen, uns Ihrer Diktatur entgegenstellen, um den Bürgern der EAAU ein Zeichen der Hoffnung zu setzen, egal, was Sie versuchen.“
„Weder Hoffnung noch demokratische Ideale kann man essen, Hirschmann“, erwiderte Smith sarkastisch. „Wie lange werden Sie Ihren Leuten diese Werte noch verkaufen können, wenn ich meine Flotte noch einmal zu Ihnen schicke und noch eine weitere Agraranlage zerstören lasse? Obwohl mir das eigentlich fern liegt. Ich will keinen Krieg gegen einen Teil meines eigenen Staates führen, aber ich werde es tun, wenn es sein muss. Und dann werden sich die Menschen fragen, wem das zuzurechnen ist, mir oder einem sturen alten Mann, der auf seiner Position beharrt.“
„Sie sind schon immer über Leichen gegangen, General“, meinte Hirschmann empört, aber sein Zorn prallte an Smith ab wie an einer Wand. Der General spürte, wie kurz Hirschmann davor stand, seine Fassung zu verlieren, und das erfüllte ihn mit großer Befriedigung. „Und ich bin mir sicher, dass Sie auch vor der Zerstörung der Kolonie nicht zurückschrecken. Das wird eine weitere Untat auf der Liste Ihrer Kriegsverbrechen sein, mit denen Sie in die Geschichte eingehen werden!“
„Es liegt in Ihrer Hand, das zu verhindern, Hirschmann“, entgegnete der General kühl. „Es ist ja nicht so, dass ich Ihnen nicht noch einmal Gelegenheit geben würde, Ihre Position zu überdenken. Ich bin ja kein Unmensch, auch wenn Sie das offensichtlich von mir denken.“ Lächelnd beugte er sich vor, näher an das Kameraauge heran, das sein Bild auf die Venus übertrug. „Ich bin bereit, Ihnen noch einmal eine Frist von einer Woche einzuräumen, bevor ich weitere Schritte einleite. Mir ist bewusst, dass bei Ihnen die Entscheidungswege etwas komplizierter sind als hier auf der Erde, wo ich das alles ein wenig effizienter gestaltet habe. Also, gehen Sie in sich, und ich bin bereit Ihnen im Falle der bedingungslosen Übergabe entgegen zu kommen.“
„Bedingungslose Übergabe!“ Hirschmann sah aus, als wolle er vor ihm ausspucken. „Übergabe in die Sklaverei trifft es besser!“
„Aber was erwarten Sie von mir, Hirschmann? Ich bin doch ein Kriegsverbrecher, wie Sie selbst sagten. Welche Garantien könnte ich Ihnen wohl geben? Amnestie für die geflohenen politischen Straftäter? Diesen Punkt haben wir längst überschritten! Das einzige, was ich Ihnen anbieten kann, ist Ihr Leben und das Ihrer Bürger.“
„Für mich gibt es da nichts zu überlegen, General“, sagte Hirschmann kalt. „Meine Antwort wird in einer Woche die gleiche sein wie jetzt. Ich sage nein zu einer Übergabe. Noch haben wir Mittel, uns zu wehren.“
„Das habe ich gesehen!“ Smith lachte erneut und lehnte sich zufrieden in seinem Sessel zurück. Er hatte Hirschmann an dem Punkt, an dem er ihn schon immer einmal erleben wollte, am Rande seiner Selbstbeherrschung. „Es sei denn natürlich, es gelänge Ihnen innerhalb einer Woche, eine komplett neue Raumflotte aus dem Boden zu stampfen.“
„Wir werden noch wachsamer sein als bisher!“
„Dann freue ich mich auf unser Wiedersehen!“ Ohne Hirschmanns Erwiderung abzuwarten, berührte er das Schaltfeld, das die Verbindung unterbrach.
***
In diesen Tagen konnte selbst etwas, was sonst nur ein mittelgroßes Ärgernis darstellte, zu einer großen Katastrophe werden. Überall in den U-Bahnstationen, auf den Plätzen und in den Straßen hingen Überwachungskameras, offiziell, um Verbrechen zu verhindern, aber in Wahrheit, um die Bürger unter Kontrolle zu halten. Verbrechen verhinderten sie nicht, wie Anna Corvillo am eigenen Leib erfahren musste. Wieder einmal war sie mit der überfüllten Metro unterwegs gewesen, in der sich die Menschen dicht an dicht drängten. Sophie hatte sie nicht bei sich gehabt, die befand sich noch in ihrer Jugendgruppe und sollte später mit einem Schulbus nach Hause gebracht werden. Nun befand sie sich auf dem Weg nach Hause, unter den Arm ihre Aktentasche geklemmt, über der Schulter ihre Handtasche. Sie hatte sich Arbeit aus dem Büro mit nach Hause genommen, ein fast fertiges Buch eines jungen Autors, der einen Ratgeber für ebenso junge Familien geschrieben hatte. Ihre Aufgabe war es, das Buch noch einmal auf fachliche Schwächen zu überprüfen und sperrige Stellen im Text umzuschreiben. Die Arbeit machte ihr Freude, auch wenn sie manchmal erschöpft nach Hause kam. Aber sie hätte es schlimmer treffen können, und immerhin hatte sie überhaupt noch einen Job. Man munkelte davon, dass mehr und mehr Menschen ihre Arbeit verloren, weil der Staat bei allem, was nicht unmittelbar mit der Armee zu tun hatte, drastische Einsparungen vornahm.
Vor Anna tauchte eine der obligatorischen Warteschlangen auf, die einem Kontrollposten der III. Abteilung vorausgingen. Innerlich fluchte sie, wagte es aber nicht, ein gequältes Gesicht zu machen. Alles wurde registriert und konnte als Kritik am General und seiner Militärregierung ausgelegt werden. Wie viel Unmut mochte in den Menschen brodeln! Auch früher gab es Kritik an der Regierung, aber man konnte seinem Zorn überall Luft machen, bei Freunden, im Straßencafé oder im Kreis der Kollegen. Nun aber musste man auf jedes Wort Acht geben, selbst eine Klage über das Wetter konnte einem zum Verhängnis werden. Das Verbreiten schlechter Stimmung nannte man das, und die durfte offiziell niemand mehr haben. Zur Not zwang das Regime einen zum Glücklichsein.
Anna fühlte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Sie reihte sich in die Warteschlange ein, die nur langsam vorrückte. Heute schienen die Militärpolizisten besonders aufmerksam zu kontrollieren. Die Menschen vor der Sperre unterhielten sich nur gedämpft, eine Frau sah ungeduldig auf ihre Uhr. In der Warteschlange wurde Anna bewusst, wie sehr ihre Füße schmerzten, sie bewegte vorsichtig ihre Zehen in ihren halbhohen Pumps. Zu Hause würde sie als erstes ihre Beine hoch legen. Bis Sophie nach Hause kam, würde es noch eine Stunde dauern, diese Zeit konnte sie noch für sich nutzen und sich entspannen. Sie hatte ein wenig ein schlechtes Gewissen dabei, aber sei freute sich auf diese Zeit der Ruhe. Auch wenn sie es sich nur ungern eingestand, so hatte sie das Gefühl, dass sich ihre eigene Tochter durch ihre Mitgliedschaft bei der Jugendorganisation der Reinigenden Flamme mehr und mehr von ihr entfremdete. Das Mädchen ging ganz in den Gruppentreffen auf, Anna musste zugeben, dass die Leiter es auch sehr geschickt anstellten, die Kinder für sich und ihre Ideologie zu gewinnen. Die Propaganda wurde ihnen nicht so offen vermittelt wie den Erwachsenen, denen die Ziele der Reinigenden Flamme über alle Medien regelrecht eingetrichtert wurden. Bei den Kindern ging man subtiler vor, motivierte sie mit Spielen und Liedern. Aber Anna würde nie vergessen, wie Sophie noch vor ein paar Tagen über die Zwillinge von nebenan geredet hatte. Sie hatte sich so unendlich geschämt und fühlte sich wie eine Versagerin, der es nicht gelungen war, ihrer Tochter Werte wie Toleranz und Freundschaft nahe zu bringen.
Die Schlange rückte erneut ein Stück vor. Anna griff nach ihrer Handtasche, um ihren Pass herauszuholen, damit sie nicht erneut den Zorn der Militärpolizisten auf sich ziehen würde. Erstaunt stellte sie fest, dass der Reißverschluss offen stand, obwohl sie sich sicher war, ihn verschlossen zu haben. Ein ungutes Gefühl beschlich sie, das rasch zu einer blanken Panik heranwuchs. Sie suchte in allen Fächern der Tasche nach ihrem Portemonnaie, in dem sich auch ihr Pass befand, aber sie fand nichts. Auch in den Seitenfächern sah sie nach, um zu überprüfen, ob sie die Börse nicht vielleicht dort verstaut hatte. Aber sie war nirgends zu finden, so sehr sie auch zwischen alten Briefen und Päckchen mit Papiertaschentüchern suchte. Ihr Herz schlug mittlerweile bis zum Hals, die Angst trieb ihr die Tränen in die Augen. Der offene Reißverschluss ließ nur einen Schluss zu, sie war bestohlen worden. Es musste im Gedränge der U_Bahn geschehen sein, die Erkenntnis traf sie wie ein elektrischer Schlag. Nicht um das wenige Bargeld in der Börse war es ihr bange, sondern um den Pass. Ohne den Pass war sie eine Unperson, ein Nichts, das man ohne weiteres Aufhebens verhaften und ins Gefängnis stecken konnte. Bald würde sie in das Blickfeld der Militärs geraten, und ihr hektisches Wühlen in der Tasche musste sie sofort verdächtig machen. Sie atmete einmal tief durch und zwang sich zur Ruhe. Entschlossen drückte sie ihre Schultern durch und hob den Kopf. Mit etwas Glück würden die Soldaten sie vielleicht einfach durch winken und sie gewann etwas Zeit, um ihre nächsten Schritte zu überdenken.
Nur noch drei Meter bis zur Absperrung. Mit tragbaren Gittern war der Weg zur Rolltreppe nach oben versperrt, rechts und links standen Soldaten mit tragbaren Laserkanonen. In ihren blank polierten Helmen spiegelten sich verzerrt die Gesichter der Wartenden. Hinter ihnen stand ein kleiner Klapptisch mit einem Computerterminal, dahinter saß ein Mann in schwarzer Uniform und überprüfte sie ihm angereichten Pässe. Hinter ihm war ein Zelt aufgebaut, in das verhaftete Personen verbracht wurden, bis ein Transporter sie abholen würde, um sie ins Gefängnis zu schaffen. Obwohl Anna sich bemühte, ihre Panik im Zaum zu halten, schnürte ihr die Angst die Kehle zu, sie hatte Angst, sich vor Aufregung übergeben zu müssen. Das hätte gerade noch gefehlt, hier vor den Augen der Soldaten. Ihre Hände verkrampften sich um das Leder ihrer Aktentasche. Wieder rückte die Schlange vor. Ein Mann wurde beiseite genommen, seine Aktentasche durchsucht. Papiere wurden achtlos auf den Boden geworfen, gefolgt von einer Frischhaltedose für sein Frühstück. Aber der Wachhabende fand offensichtlich nicht, was er gesucht hatte und drückte dem Mann die nun leere Tasche wieder in die Hand. Dieser bemühte sich, den Inhalt so rasch wie möglich wieder vom Boden aufzulesen, begleitet von den hämischen Kommentaren des Soldaten. Auch die Taschen der nächsten Passanten wurden durchsucht. Anna erkannte den Soldaten, es war derselbe, der sie vor einigen Tagen beschimpft hatte, weil sie ihren Pass nicht schnell genug zur Hand gehabt hatte. Sie konnte nur darum beten, dass er sie nicht wiedererkannte. Zwei weitere Frauen wurden kontrolliert, aber die Männer sahen von einer Taschenkontrolle ab. Anna stand nun fast an der Sperre.
Ihr Blick traf sich mit dem des Soldaten, und sie glaubte sich bereits verloren, er hatte sie erkannt. Er würde sie wieder kontrollieren, schon um sie zu schikanieren. So waren sie, die Militärpolizisten der III. Abteilung, so weit unten sie in der Hierarchie der Reinigenden Flamme auch stehen mochten, so sehr fühlten sie sich dennoch den Bürgern überlegen. Eine Frau trennte sie nun noch von der Kontrolle. Diese zeigte selbstbewusst ihren Pass und eine weitere Datenkarte, worauf der Soldat plötzlich salutierte. Anna brauchte einen Moment, um die Situation zu begreifen, aber dann dämmerte ihr, dass die Frau Parteimitglied sein musste, die Karte war ihr Mitgliedsausweis. Vielleicht war sie selbst eine Kommissarin in Zivil, sonst hätte sich der Polizist wohl kaum so respektvoll verhalten. Die Frau lächelte und nickte dem Soldaten zu, dann ging sie davon.
„Nun gehen Sie schon, bevor Sie wieder den ganzen Betrieb aufhalten!“
Einen Moment lang verharrte Anna unschlüssig auf der Stelle, bevor sie begriff, dass die barsche Aufforderung ihr galt. Vorsichtig machte sie ein paar Schritte auf die Rolltreppe zu, bemüht, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Ihre Beine drohten ihr den Dienst zu versagen, der Boden schien sich unter ihr zu drehen. Als sie die Rolltreppe endlich erreicht hatte, klammerte sie sich wie eine Ertrinkende an den Handlauf. Über ihr schien die Sonne auf den New Yorker Platz herunter, so als sei nichts geschehen.
Zurück in der Wohnung fand sie noch keine Ruhe. Was sollte sie nur jetzt tun? In den Zeiten vor dem Putsch wäre sie einfach zum nächsten Bürgerbüro gegangen und hätte den Pass als gestohlen gemeldet, um einen neuen zu beantragen. Aber dieser Weg war ihr jetzt versperrt, zu viele Kontrollen mochten auf dem Weg liegen. Ein Freund fiel ihr ein, der ihr eventuell helfen konnte, aber auch ihn mochte sie in Gefahr bringen. Unruhig saß sie auf ihrem Wohnzimmersofa und biss sich auf die Fingerknöchel. Sie verfluchte den gewissenlosen Dieb, der ihr Portemonnaie wahrscheinlich nur wegen ein bisschen Kleingeld gestohlen hatte und sie dadurch in eine solche Krise gestürzt hatte. Es dauerte eine Weile, bis ihr eine Lösung einfiel, aber diese Lösung gefiel ihr überhaupt nicht, kam ihr wie ein Pakt mit dem Teufel vor. Aber vorerst wusste sie keinen anderen Ausweg.
Vor dem Spiegel im Flur richtete sie ihre Frisur und brachte ihre Kleidung in Ordnung. Sie wollte gepflegt aussehen, aber nicht zu weiblich. Ihr potentieller Helfer sollte keinen falschen Eindruck von ihr bekommen und erst recht nicht auf abwegige Gedanken kommen. Ein paar Augenblicke später war sie auf dem Weg zum fünften Stock, hastete die Treppe hinauf und fand schließlich die gesuchte Wohnungstür. Bevor sie anklingelte, atmete sie noch einmal tief durch. Es dauerte nicht lange, und hinter der Tür waren Schritte zu hören. Das Schloss klapperte.
„Ms. Corvillo, guten Abend! Was führt Sie zu mir?“ Georges Latour lächelte ihr freundlich entgegen und bedeutete ihr, einzutreten. Sie folgte der Aufforderung nur zögerlich.
„Kommissar, es ist mir wirklich unangenehm, Sie behelligen zu müssen, aber ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte.“ Verlegen trat sie auf der Stelle, während ihre Handflächen zu schwitzen begannen. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, herzukommen, aber jetzt war es zu spät um noch einen Rückzieher zu machen. Er trug noch immer seine Uniform, nur die Jacke hatte er aufgeknöpft. Wahrscheinlich war er auch noch nicht sehr lange zu Hause und hatte noch keine Zeit gehabt, sich umzuziehen. Oder, so dachte Anna ketzerisch, er fühlte sich in seiner Uniform zu wohl, um sie jemals auszuziehen.
„Aber kommen Sie doch erst einmal herein, Ms. Corvillo, dann können Sie mir alles erklären.“
Seine Wohnung war hell und geräumig. Moderne Möbel mischten sich mit einigen ausgewählten Antiquitäten, aber es gab kaum dekorative Gegenstände und erst recht keine Unordnung. Die Zimmer sahen aus wie aus einem Hochglanzmagazin entsprungen. Anna war beeindruckt. Latour führte sie in das großzügige Wohnzimmer und bot ihr an auf einem der schwarzen Ledersofas Platz zu nehmen. Dann ging er zu einem Wandschrank hinüber und holte zwei Weingläser hinaus, von denen er eins vor ihr auf den Glastisch stellte, der den Raum zwischen den beiden Sofas ausfüllte. „Ein Glas Rotwein?“
„Hören Sie, ich will Ihnen gewiss keine Umstände machen“, wehrte Anna ab, setzte sich aber vorsichtig auf das Sofa. Das Leder quietschte leise. Anna zog ihren Rock über die Knie.
„Aber Sie machen mir keine Umstände. Ich freue mich, wenn Sie ein Glas mit mir trinken.“ Aus einem Weinregal in der nähe der Verandatür holte er eine Flasche und machte sich daran sie zu öffnen. Mit einem leisen Ploppen zog er den Korken aus dem Flaschenhals, füllte den Wein in ein Dekantiergefäß um und kehrte damit an den Tisch zurück. Anna leistete keinen Widerstand, als er ihr das Glas eingoss. Vielleicht tat ein bisschen Wein ihr ja gut um entspannter zu werden. „Nun erzählen Sie mir doch einmal, was Ihnen auf dem Herzen liegt. Ich kann Ihnen sicherlich helfen.“ Er setzte sich neben sie auf das Sofa, hielt aber einen angemessenen Abstand ein, wie sie erleichtert feststellte.
Sie fasste ihm die Ereignisse kurz zusammen, wobei er aufmerksam zuhörte. Dabei bemühte sie sich, möglichst sachlich zu bleiben und behielt ihre Angst vor Verhaftung möglichst für sich. „Sie kennen ja die Ausweispflicht“, sagte sie lediglich. „Und nun fürchte ich, mich nicht rechtzeitig ausweisen zu können.“
Vorsichtig legte er ihr die Hand auf den Arm. „Es ist gut, dass Sie sich an mich gewandt haben, Ms. Corvillo“, sagte er beruhigend. „Ich werde Ihren Ausweis unverzüglich als gestohlen melden. Es ist unglaublich, was heutzutage geschieht, wissen Sie das?“ Bevor sie sich wundern konnte, warum er sich so äußerte, obwohl es als regimekritisch aufgefasst werden konnte, fuhr er fort: „Wissen Sie, das sind Dissidenten, welche die Enge in der Metro nutzen, obwohl wir bereits alles tun, um solche Zwischenfälle zu verhindern. Sie stehlen Pässe, um sich eine falsche Identität zu beschaffen.“
„Meinen Sie nicht, es könnte auch ein einfacher Taschendieb gewesen sein?“
„Das ist natürlich möglich, Ms. Corvillo, aber ich halte es nicht für wahrscheinlich. Sie ahnen ja nicht, welche Kräfte es gibt, die den General und seine Regierung sabotieren wollen! Menschen, die sich der neuen Zeit entgegenstellen wollen, mit allen Mitteln. Und Sie sind bereits ein Opfer geworden.“
„So hatte ich das noch gar nicht gesehen“, erwiderte Anna schwach. „Ich glaubte, derjenige wäre lediglich hinter ein wenig Geld her gewesen.“
„Sie sind eine gutmütige Frau, Ms. Corvillo, wahrscheinlich ist Ihnen solches kriminelles Gedankengut vollkommen fremd.“
Sie trank von ihrem Rotwein, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Er schmeckte kräftig und fruchtig zugleich, kein billiger Wein, ganz gewiss nicht. Latour meinte es gut mit ihr. „Aber was kann ich denn jetzt tun?“, fragte sie verzweifelt. „Ich brauche Ihren Rat.“
„Ich bin in der glücklichen Position Ihnen helfen zu können“, erwiderte er beruhigend. „Mit etwas Glück haben Sie schon morgen einen neuen Pass, Ihre Daten haben wir ja im Netzwerk. Aber dafür müssen Sie mir auch einen Gefallen tun.“
„Was... was hatten Sie sich da vorgestellt?“ Unsicher wich sie automatisch ein wenig vor ihm zurück, aber er tat so als bemerke er es nicht.
„Nun, ich habe ja gesehen, dass Sie bereits auf dem richtigen Weg sind“, meinte er großmütig. „Sie lassen Ihre kleine Tochter endlich in die Jugendgruppe gehen, das ist schon einmal ein wichtiger Anfang. Aber Sie müssen noch weiter gehen. Wie ich eben schon sagte, halte ich Sie für eine sehr gutmütige Frau, aber diese Gutmütigkeit könnte Ihnen noch einmal zum Verhängnis werden, wenn Sie sich für die falschen Leute engagieren. Glauben Sie mir, Ms. Corvillo, so etwas bleibt heutzutage nicht unbemerkt, und ich bin der letzte, der möchte, dass Sie deswegen Ärger bekommen. Halten Sie sich zukünftig ein wenig mehr zurück.“
Anna musste schlucken. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte ihm gesagt, sie würde auf seine Hilfe verzichten. Aber das konnte sie sich nicht leisten, sie musste auch an Sophie denken. „Also gut“, erwiderte sie ausweichend, „ich werde mir Ihre Worte zu Herzen nehmen.“
„Das freut mich, Ms. Corvillo. Und jetzt lassen Sie uns den Wein genießen, es ist wirklich ein guter Tropfen.“
Smith beugte sich über Isabels Stuhllehne und küsste sie auf den Nacken. Er lehnte sich ein wenig zur Seite und ließ seine Hand tiefer gleiten, unter den hochgerutschten Saum ihres Rockes, hin zum Rand ihrer halterlosen Strümpfe. Seine Finger fanden den Weg unter den zarten, elastischen Seidenstoff, fühlten ihre Weiche Haut. Leise seufzend ließ sie es sich gefallen und wandte ihm ihr Gesicht zu. Seine Fingerspitzen fühlten, wie sich unter seiner Berührung eine Gänsehaut auf ihren Oberschenkeln bildete.
„Natürlich gilt das noch“, erwiderte sie lächelnd, „ich freue mich, dass du es endlich annimmst. Die Nachrichten haben dich wohl in gute Laune versetzt, oder?“ Sie legte ihre Hand auf die seine.
Gerade erst waren seine Adjutanten aus dem Büro verschwunden, nachdem sie ihm die Neuigkeiten über den Angriff auf die Venus gebracht hatten. Endlich einmal wieder ein Erfolgserlebnis, nach all den Schlappen, die ihm die Besatzung der Delta VII in den letzten Wochen zugefügt hatte. Aus irgendeinem Grund hatte dieses bemerkenswerte Schiff nicht in das Gefecht eingegriffen, aber das konnte ihm nur Recht sein. Auf diese Weise hatten seine Leute keinerlei Verluste erlitten. Sie hatten dem sogenannten Präsidenten Hirschmann gezeigt, was es ihm gebracht hatte, die Kolonie Venus als unabhängig zu erklären! Diese Ansiedlung im Weltraum mochte klein sein, aber sie gehörte dennoch zur EAAU, davon war Smith felsenfest überzeugt. Hunderte Dissidenten waren bereits dorthin geflohen bevor seine Leute ihrer habhaft werden konnten, und er war nicht länger bereit, das zu dulden. Zwar mochte ihre Anzahl angesichts der fünf Milliarden Bewohner der Union gering sein, aber jede Revolution fing einmal mit einem kleinen Nest von Widerständlern an. Der General war entschlossen, diesem Widerstand schon von Anfang an entschieden gegenüber zu treten. Er würde sich nicht von einigen Aufrührern an der Nase herumführen lassen.
„Weißt du, wonach mir jetzt ist?“, fragte er Isabel und küsste sie erneut auf den Nacken.
„Ich kann es mir denken“, kicherte sie.
Sie war wirklich eine hingebungsvolle Geliebte. Etwas anspruchsvoll hin und wieder, vor allem was seine Zuwendungen anging. Nicht materieller, sondern emotionaler Art. Emotionen, die er ihr nun einmal nicht entgegenbringen konnte. Aber mit der Zeit würde sie lernen müssen, sich mit dem zufrieden zu geben, was er ihr freiwillig zukommen ließ. Sonst musste er sich überlegen, eine andere, dankbarere Frau an ihre Stelle zu setzen. Das allerdings behielt er für sich, er würde es ihr offenbaren, sobald er sich dementsprechend entschieden hatte. Vorerst jedoch würde er die Affäre fortführen, sie hatte sich für ihn als befriedigend erwiesen.
„Nein, nicht das, obwohl das an zweiter Stelle kommt“, er richtete sich auf und ließ sie los. Lachend tippte er ihr auf die Schulter. „Ich möchte gern hören, wie es meinem Freund Hirschmann geht. Stell mir doch eine Verbindung zu ihm her, in mein Büro. Es stört mich auch nicht, wenn du mithörst. Gönn dir einfach den Genuss, den alten Mann mit mir verhandeln zu hören, denn das wird er sicherlich versuchen.“
„Was tust du, wenn er nicht verhandeln will?“
„Dann werde ich ihm in Erinnerung rufen, was ein einzelnes Geschwader unserer Schiffe heute ausgerichtet hat und ihm einen weiteren Besuch ankündigen.“ Smith fühlte sich beschwingt, wie seit Tagen nicht. Der Gedanke, Hirschmann könne sich ihm widersetzen, flammte nur kurz in ihm auf, dann drängte er ihn rasch in einen hinteren Winkel seines Gehirns zurück. Er wollte seinen Triumph über den alten Mann genießen, sich für alte und neue Demütigungen seinerseits revanchieren. Ein Gefühl der Lebendigkeit erfüllte ihn, ausgelöst durch den leicht errungenen Sieg über die Venuskolonie. Er hatte sie bei ihrer empfindlichsten Stelle erwischt, bei der Versorgung der Bewohner mit dem Notwendigsten, mit Lebensmitteln. Noch verheerender hätte nur ein Angriff auf das Lebenserhaltungssystem ausfallen können, aber das war nicht seine Absicht gewesen. Er wollte die Kolonie wieder in die EAAU eingliedern, sie nicht vernichten. Sie war trotz ihrer geringen Größe nicht unwichtig, sondern ein wichtiger Lieferant für Energie. Er würde Hirschmann schon zeigen, dass er ihm den Zugriff darauf nicht einfach entziehen konnte.
Beschwingten Schrittes ging er in sein Büro zurück, während Isabel die verschlüsselte Verbindung zu Hirschmanns Amtssitz aufbaute. Mit Schwung ließ er sich in seinen Schreibtischsessel fallen und dehnte seine Hände. Unter dem Tisch sah sein Hund kurz zu ihm auf, wo er bisher ruhig geschlafen hatte. Das Tier hatte sich an die Turbulenzen in seinem Büro mittlerweile gewöhnt, war es zu Beginn noch hektisch hin und her gerannt, so ließ es nun geduldig jede Aufregung über sich ergehen, hob höchstens einmal den Kopf. Der General bückte sich und kraulte den Collie hinter den Ohren.
Der Bildschirm seines Computers zeigte noch das Wartezeichen, ein sich drehendes, dreidimensionales Logo der Reinigenden Flamme, die Verbindung zur Venus wurde noch aufgebaut. Smiths Blick fiel auf das silbern gerahmte Foto, das rechts auf seinem Schreibtisch stand, gleich unter der Designerlampe, die den Tisch erhellte. Emma und er an ihrem Hochzeitstag, das war nun über sieben Jahre her. Kurz nach ihrer Eheschließung war sie durch einen Bombenanschlag brutal getötet worden. Im Grunde hatte er ihren Tod bis heute noch nicht verwunden, sie hatte ihm so viel bedeutet. Die Affäre mit Isabel beruhte mehr oder minder nur auf körperlicher Anziehung, auch wenn er die junge Frau mochte. Emma aber hatte er sehr geliebt, mehr noch als seine erste Frau, die ebenfalls ermordet worden war. Er brachte seinen Ehefrauen wohl kein Glück, dachte er mit einem Anflug von Wehmut. Nun, als Clara durch die Hand eines Mörders gestorben war, lebten sie bereits in Scheidung, eine Bindung zwischen ihnen existierte faktisch nicht mehr. Mit Emma allerdings glaubte er, gerade am Anfang einer lebenslangen Beziehung zu stehen, auch wenn er damals von ihr getrennt und ins Exil geschickt worden war. Aber er hatte niemals daran gezweifelt, eines Tages wieder frei zu kommen, und dann hätte er sie zu sich zurück geholt. Vielleicht hätten sie sogar eine Familie gegründet, denn sie war eine warmherzige, intelligente Frau gewesen, der er sich sehr nahe gefühlt hatte. Er hatte sie an Gedanken teilhaben lassen, die er sonst keinem Menschen offenbart hätte, persönlichen Dingen, die weder seine Kameraden von der Reinigenden Flamme noch die anderen Offiziere etwas angingen, da sie von ihnen als Schwäche missdeutet werden konnten. Emma aber hatte ihn immer verstanden. Er fragte sich, was sie ihm jetzt raten würde. Ihre Gutmütigkeit ließ sie viele Dinge anders sehen als er es tat. Wahrscheinlich würde sie ihm zu einer gütlichen Einigung mit Hirschmann drängen. Das allerdings lag ihm bei aller Liebe so fern wie ein Friedensschluss mit den Feinden in den VOR.
Endlich regte sich etwas auf dem Bildschirm, eine rothaarige junge Frau erschien auf dem Monitor und teilte ihm sachlich, aber ohne jeden Anflug von Freundlichkeit mit, dass Präsident Hirschmann nun zu einem Gespräch mit ihm bereit sei. Präsident Hirschmann! Allein die Nennung dieses Titels weckte Aggressionen in ihm, erschien ihm als bloße Anmaßung. Wie konnte es der alte Mann wagen, sich zum Präsidenten einer Republik aufzuschwingen, die einfach als solche nicht existieren durfte? Bisher hatte die Venuskolonie einen Gouverneur gehabt, der mehr oder minder als deren Verwalter tätig war. Nun nannten sie sich unabhängige Republik, welche Arroganz! Smith wollte gerade etwas erwidern, als das Bild wieder wechselte und Samuel Hirschmann auf dem Monitor erschien.
„General, womit habe ich die Ehre dieses Anrufes verdient?“ Hirschmann hatte nichts von seinem Sarkasmus eingebüßt. Fast verflog Smiths gute Laune und machte einem Wutanfall Platz. Aber der General beherrschte sich, sagte sich entschlossen, er würde sich von Hirschmann nicht wieder in die Rolle des getadelten Jungen drängen lassen wie früher, als er noch ein sehr junger Offizier des Generalstabes gewesen war. Er zwang sich zu lächeln.
„Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Herr Präsident“, erwiderte er, wobei er den Titel des alten Mannes ironisch betonte. Warum ließ er sich eigentlich emotional so beeindrucken von dem alten Mann? Er selbst verfügte bereits jetzt über eine weitaus größere Machtfülle als Hirschmann sie je besessen hatte, war der absolute Herrscher der EAAU, weder durch Gesetze noch durch eine Verfassung gebunden. Es gab überhaupt keinen Grund, sich dem alten Mann gegenüber befangen zu fühlen, und dennoch nagten die alten Gefühle an ihm. Das allein stimmte ihn aggressiv, auch wenn er das unter einer kühlen, selbstbewussten Fassade verbarg. „Ich hoffe, mein kleiner Anstandsbesuch ist Ihnen nicht zu sehr zur Last gefallen? Ich wollte mich Ihnen nur noch einmal in Erinnerung bringen.“
„Das ist Ihnen allerdings gelungen, General.“ Ein kurzer Anflug von Zorn ließ die altersmüden Augen des Präsidenten aufblitzen, dann riss auch er sich wieder zusammen. „Wenn Ihr feiger Angriff auf unsere Republik auch nicht den gewünschten Effekt erzielt hat. Wir sind mehr denn je entschlossen, für unsere Unabhängigkeit zu kämpfen, egal was Sie uns auch androhen. Unsere Freiheit ist uns wichtiger als unsere Sicherheit, das haben alle Bürger hier begriffen.“
Smith lachte. Er dachte an die Geheimdienstberichte, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Diese berichteten über den Fluchtversuch von unzähligen Zivilschiffen während des Angriffs, bei dem es zu zahlreichen tödlichen Unfällen gekommen war. Die Menschen waren in unbeherrschte Panik ausgebrochen, hatten nichts anderes mehr im Sinn gehabt, als die Kolonie so schnell wie möglich zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. Dabei hatte niemand mehr an die Sicherheitsvorschriften für Starts gedacht, die meisten Schiffe waren zerstört worden, ohne dass seine Leute einen Schuss auf sie abgegeben hätten. „Herr Präsident, wir wollen uns doch hier nichts gegenseitig vormachen. Ihre Bürger hatten nichts besseres vor, als die Kolonie so schnell wie möglich zu verlassen, um sich vor meinen Leuten in Sicherheit zu bringen, ich habe die entsprechenden Berichte hier vorliegen. Diese Menschen scheinen nicht so sehr hinter Ihrer Politik zu stehen, wie Sie es sich einreden. Zumindest war keiner davon bereit, für Ihre Ideale zu sterben.“
„Diese Menschenleben haben Sie auf dem Gewissen, General! Ideale sind wohl etwas, worüber ich nicht mit Ihnen zu diskutieren brauche, denn unsere Vorstellungen klaffen hier wohl zu sehr auseinander. Mein Ideal jedenfalls ist es, die Menschen hier zu schützen, nicht, sie dem Tod im All auszuliefern!“
„Dann wären wir uns ja doch in einem Punkt einig, denn ich habe diese Menschen nicht in die Flucht getrieben, ich wollte Ihnen, Herr Präsident, lediglich eine kleine Demonstration meiner Möglichkeiten geben.“ Smith atmete tief durch. „Ich habe mir nichts vorzuwerfen, schließlich habe ich Ihnen eine Chance gegeben, mir die Kolonie friedlich zu übergeben. Mir ist nicht an deren Zerstörung gelegen, ich will sie lediglich wieder in den Verband der EAAU eingliedern, so wie es historisch und rechtlich richtig ist.“
„Sie, General, sprechen von Recht?“ Hirschmanns furchiges Gesicht verriet nun offenen Zorn. „Das Recht in unserer Republik hat Sie doch nie interessiert. Die einzige Sprache, die Sie verstehen, ist die der Gewalt Ihrer Waffen! Sie haben keinerlei Skrupel, die Menschen hier dem Hungertod preiszugeben, oder sie unter Ihr Joch zu zwingen! Aber wir werden hier ein Zeichen setzen, uns Ihrer Diktatur entgegenstellen, um den Bürgern der EAAU ein Zeichen der Hoffnung zu setzen, egal, was Sie versuchen.“
„Weder Hoffnung noch demokratische Ideale kann man essen, Hirschmann“, erwiderte Smith sarkastisch. „Wie lange werden Sie Ihren Leuten diese Werte noch verkaufen können, wenn ich meine Flotte noch einmal zu Ihnen schicke und noch eine weitere Agraranlage zerstören lasse? Obwohl mir das eigentlich fern liegt. Ich will keinen Krieg gegen einen Teil meines eigenen Staates führen, aber ich werde es tun, wenn es sein muss. Und dann werden sich die Menschen fragen, wem das zuzurechnen ist, mir oder einem sturen alten Mann, der auf seiner Position beharrt.“
„Sie sind schon immer über Leichen gegangen, General“, meinte Hirschmann empört, aber sein Zorn prallte an Smith ab wie an einer Wand. Der General spürte, wie kurz Hirschmann davor stand, seine Fassung zu verlieren, und das erfüllte ihn mit großer Befriedigung. „Und ich bin mir sicher, dass Sie auch vor der Zerstörung der Kolonie nicht zurückschrecken. Das wird eine weitere Untat auf der Liste Ihrer Kriegsverbrechen sein, mit denen Sie in die Geschichte eingehen werden!“
„Es liegt in Ihrer Hand, das zu verhindern, Hirschmann“, entgegnete der General kühl. „Es ist ja nicht so, dass ich Ihnen nicht noch einmal Gelegenheit geben würde, Ihre Position zu überdenken. Ich bin ja kein Unmensch, auch wenn Sie das offensichtlich von mir denken.“ Lächelnd beugte er sich vor, näher an das Kameraauge heran, das sein Bild auf die Venus übertrug. „Ich bin bereit, Ihnen noch einmal eine Frist von einer Woche einzuräumen, bevor ich weitere Schritte einleite. Mir ist bewusst, dass bei Ihnen die Entscheidungswege etwas komplizierter sind als hier auf der Erde, wo ich das alles ein wenig effizienter gestaltet habe. Also, gehen Sie in sich, und ich bin bereit Ihnen im Falle der bedingungslosen Übergabe entgegen zu kommen.“
„Bedingungslose Übergabe!“ Hirschmann sah aus, als wolle er vor ihm ausspucken. „Übergabe in die Sklaverei trifft es besser!“
„Aber was erwarten Sie von mir, Hirschmann? Ich bin doch ein Kriegsverbrecher, wie Sie selbst sagten. Welche Garantien könnte ich Ihnen wohl geben? Amnestie für die geflohenen politischen Straftäter? Diesen Punkt haben wir längst überschritten! Das einzige, was ich Ihnen anbieten kann, ist Ihr Leben und das Ihrer Bürger.“
„Für mich gibt es da nichts zu überlegen, General“, sagte Hirschmann kalt. „Meine Antwort wird in einer Woche die gleiche sein wie jetzt. Ich sage nein zu einer Übergabe. Noch haben wir Mittel, uns zu wehren.“
„Das habe ich gesehen!“ Smith lachte erneut und lehnte sich zufrieden in seinem Sessel zurück. Er hatte Hirschmann an dem Punkt, an dem er ihn schon immer einmal erleben wollte, am Rande seiner Selbstbeherrschung. „Es sei denn natürlich, es gelänge Ihnen innerhalb einer Woche, eine komplett neue Raumflotte aus dem Boden zu stampfen.“
„Wir werden noch wachsamer sein als bisher!“
„Dann freue ich mich auf unser Wiedersehen!“ Ohne Hirschmanns Erwiderung abzuwarten, berührte er das Schaltfeld, das die Verbindung unterbrach.
***
In diesen Tagen konnte selbst etwas, was sonst nur ein mittelgroßes Ärgernis darstellte, zu einer großen Katastrophe werden. Überall in den U-Bahnstationen, auf den Plätzen und in den Straßen hingen Überwachungskameras, offiziell, um Verbrechen zu verhindern, aber in Wahrheit, um die Bürger unter Kontrolle zu halten. Verbrechen verhinderten sie nicht, wie Anna Corvillo am eigenen Leib erfahren musste. Wieder einmal war sie mit der überfüllten Metro unterwegs gewesen, in der sich die Menschen dicht an dicht drängten. Sophie hatte sie nicht bei sich gehabt, die befand sich noch in ihrer Jugendgruppe und sollte später mit einem Schulbus nach Hause gebracht werden. Nun befand sie sich auf dem Weg nach Hause, unter den Arm ihre Aktentasche geklemmt, über der Schulter ihre Handtasche. Sie hatte sich Arbeit aus dem Büro mit nach Hause genommen, ein fast fertiges Buch eines jungen Autors, der einen Ratgeber für ebenso junge Familien geschrieben hatte. Ihre Aufgabe war es, das Buch noch einmal auf fachliche Schwächen zu überprüfen und sperrige Stellen im Text umzuschreiben. Die Arbeit machte ihr Freude, auch wenn sie manchmal erschöpft nach Hause kam. Aber sie hätte es schlimmer treffen können, und immerhin hatte sie überhaupt noch einen Job. Man munkelte davon, dass mehr und mehr Menschen ihre Arbeit verloren, weil der Staat bei allem, was nicht unmittelbar mit der Armee zu tun hatte, drastische Einsparungen vornahm.
Vor Anna tauchte eine der obligatorischen Warteschlangen auf, die einem Kontrollposten der III. Abteilung vorausgingen. Innerlich fluchte sie, wagte es aber nicht, ein gequältes Gesicht zu machen. Alles wurde registriert und konnte als Kritik am General und seiner Militärregierung ausgelegt werden. Wie viel Unmut mochte in den Menschen brodeln! Auch früher gab es Kritik an der Regierung, aber man konnte seinem Zorn überall Luft machen, bei Freunden, im Straßencafé oder im Kreis der Kollegen. Nun aber musste man auf jedes Wort Acht geben, selbst eine Klage über das Wetter konnte einem zum Verhängnis werden. Das Verbreiten schlechter Stimmung nannte man das, und die durfte offiziell niemand mehr haben. Zur Not zwang das Regime einen zum Glücklichsein.
Anna fühlte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Sie reihte sich in die Warteschlange ein, die nur langsam vorrückte. Heute schienen die Militärpolizisten besonders aufmerksam zu kontrollieren. Die Menschen vor der Sperre unterhielten sich nur gedämpft, eine Frau sah ungeduldig auf ihre Uhr. In der Warteschlange wurde Anna bewusst, wie sehr ihre Füße schmerzten, sie bewegte vorsichtig ihre Zehen in ihren halbhohen Pumps. Zu Hause würde sie als erstes ihre Beine hoch legen. Bis Sophie nach Hause kam, würde es noch eine Stunde dauern, diese Zeit konnte sie noch für sich nutzen und sich entspannen. Sie hatte ein wenig ein schlechtes Gewissen dabei, aber sei freute sich auf diese Zeit der Ruhe. Auch wenn sie es sich nur ungern eingestand, so hatte sie das Gefühl, dass sich ihre eigene Tochter durch ihre Mitgliedschaft bei der Jugendorganisation der Reinigenden Flamme mehr und mehr von ihr entfremdete. Das Mädchen ging ganz in den Gruppentreffen auf, Anna musste zugeben, dass die Leiter es auch sehr geschickt anstellten, die Kinder für sich und ihre Ideologie zu gewinnen. Die Propaganda wurde ihnen nicht so offen vermittelt wie den Erwachsenen, denen die Ziele der Reinigenden Flamme über alle Medien regelrecht eingetrichtert wurden. Bei den Kindern ging man subtiler vor, motivierte sie mit Spielen und Liedern. Aber Anna würde nie vergessen, wie Sophie noch vor ein paar Tagen über die Zwillinge von nebenan geredet hatte. Sie hatte sich so unendlich geschämt und fühlte sich wie eine Versagerin, der es nicht gelungen war, ihrer Tochter Werte wie Toleranz und Freundschaft nahe zu bringen.
Die Schlange rückte erneut ein Stück vor. Anna griff nach ihrer Handtasche, um ihren Pass herauszuholen, damit sie nicht erneut den Zorn der Militärpolizisten auf sich ziehen würde. Erstaunt stellte sie fest, dass der Reißverschluss offen stand, obwohl sie sich sicher war, ihn verschlossen zu haben. Ein ungutes Gefühl beschlich sie, das rasch zu einer blanken Panik heranwuchs. Sie suchte in allen Fächern der Tasche nach ihrem Portemonnaie, in dem sich auch ihr Pass befand, aber sie fand nichts. Auch in den Seitenfächern sah sie nach, um zu überprüfen, ob sie die Börse nicht vielleicht dort verstaut hatte. Aber sie war nirgends zu finden, so sehr sie auch zwischen alten Briefen und Päckchen mit Papiertaschentüchern suchte. Ihr Herz schlug mittlerweile bis zum Hals, die Angst trieb ihr die Tränen in die Augen. Der offene Reißverschluss ließ nur einen Schluss zu, sie war bestohlen worden. Es musste im Gedränge der U_Bahn geschehen sein, die Erkenntnis traf sie wie ein elektrischer Schlag. Nicht um das wenige Bargeld in der Börse war es ihr bange, sondern um den Pass. Ohne den Pass war sie eine Unperson, ein Nichts, das man ohne weiteres Aufhebens verhaften und ins Gefängnis stecken konnte. Bald würde sie in das Blickfeld der Militärs geraten, und ihr hektisches Wühlen in der Tasche musste sie sofort verdächtig machen. Sie atmete einmal tief durch und zwang sich zur Ruhe. Entschlossen drückte sie ihre Schultern durch und hob den Kopf. Mit etwas Glück würden die Soldaten sie vielleicht einfach durch winken und sie gewann etwas Zeit, um ihre nächsten Schritte zu überdenken.
Nur noch drei Meter bis zur Absperrung. Mit tragbaren Gittern war der Weg zur Rolltreppe nach oben versperrt, rechts und links standen Soldaten mit tragbaren Laserkanonen. In ihren blank polierten Helmen spiegelten sich verzerrt die Gesichter der Wartenden. Hinter ihnen stand ein kleiner Klapptisch mit einem Computerterminal, dahinter saß ein Mann in schwarzer Uniform und überprüfte sie ihm angereichten Pässe. Hinter ihm war ein Zelt aufgebaut, in das verhaftete Personen verbracht wurden, bis ein Transporter sie abholen würde, um sie ins Gefängnis zu schaffen. Obwohl Anna sich bemühte, ihre Panik im Zaum zu halten, schnürte ihr die Angst die Kehle zu, sie hatte Angst, sich vor Aufregung übergeben zu müssen. Das hätte gerade noch gefehlt, hier vor den Augen der Soldaten. Ihre Hände verkrampften sich um das Leder ihrer Aktentasche. Wieder rückte die Schlange vor. Ein Mann wurde beiseite genommen, seine Aktentasche durchsucht. Papiere wurden achtlos auf den Boden geworfen, gefolgt von einer Frischhaltedose für sein Frühstück. Aber der Wachhabende fand offensichtlich nicht, was er gesucht hatte und drückte dem Mann die nun leere Tasche wieder in die Hand. Dieser bemühte sich, den Inhalt so rasch wie möglich wieder vom Boden aufzulesen, begleitet von den hämischen Kommentaren des Soldaten. Auch die Taschen der nächsten Passanten wurden durchsucht. Anna erkannte den Soldaten, es war derselbe, der sie vor einigen Tagen beschimpft hatte, weil sie ihren Pass nicht schnell genug zur Hand gehabt hatte. Sie konnte nur darum beten, dass er sie nicht wiedererkannte. Zwei weitere Frauen wurden kontrolliert, aber die Männer sahen von einer Taschenkontrolle ab. Anna stand nun fast an der Sperre.
Ihr Blick traf sich mit dem des Soldaten, und sie glaubte sich bereits verloren, er hatte sie erkannt. Er würde sie wieder kontrollieren, schon um sie zu schikanieren. So waren sie, die Militärpolizisten der III. Abteilung, so weit unten sie in der Hierarchie der Reinigenden Flamme auch stehen mochten, so sehr fühlten sie sich dennoch den Bürgern überlegen. Eine Frau trennte sie nun noch von der Kontrolle. Diese zeigte selbstbewusst ihren Pass und eine weitere Datenkarte, worauf der Soldat plötzlich salutierte. Anna brauchte einen Moment, um die Situation zu begreifen, aber dann dämmerte ihr, dass die Frau Parteimitglied sein musste, die Karte war ihr Mitgliedsausweis. Vielleicht war sie selbst eine Kommissarin in Zivil, sonst hätte sich der Polizist wohl kaum so respektvoll verhalten. Die Frau lächelte und nickte dem Soldaten zu, dann ging sie davon.
„Nun gehen Sie schon, bevor Sie wieder den ganzen Betrieb aufhalten!“
Einen Moment lang verharrte Anna unschlüssig auf der Stelle, bevor sie begriff, dass die barsche Aufforderung ihr galt. Vorsichtig machte sie ein paar Schritte auf die Rolltreppe zu, bemüht, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Ihre Beine drohten ihr den Dienst zu versagen, der Boden schien sich unter ihr zu drehen. Als sie die Rolltreppe endlich erreicht hatte, klammerte sie sich wie eine Ertrinkende an den Handlauf. Über ihr schien die Sonne auf den New Yorker Platz herunter, so als sei nichts geschehen.
Zurück in der Wohnung fand sie noch keine Ruhe. Was sollte sie nur jetzt tun? In den Zeiten vor dem Putsch wäre sie einfach zum nächsten Bürgerbüro gegangen und hätte den Pass als gestohlen gemeldet, um einen neuen zu beantragen. Aber dieser Weg war ihr jetzt versperrt, zu viele Kontrollen mochten auf dem Weg liegen. Ein Freund fiel ihr ein, der ihr eventuell helfen konnte, aber auch ihn mochte sie in Gefahr bringen. Unruhig saß sie auf ihrem Wohnzimmersofa und biss sich auf die Fingerknöchel. Sie verfluchte den gewissenlosen Dieb, der ihr Portemonnaie wahrscheinlich nur wegen ein bisschen Kleingeld gestohlen hatte und sie dadurch in eine solche Krise gestürzt hatte. Es dauerte eine Weile, bis ihr eine Lösung einfiel, aber diese Lösung gefiel ihr überhaupt nicht, kam ihr wie ein Pakt mit dem Teufel vor. Aber vorerst wusste sie keinen anderen Ausweg.
Vor dem Spiegel im Flur richtete sie ihre Frisur und brachte ihre Kleidung in Ordnung. Sie wollte gepflegt aussehen, aber nicht zu weiblich. Ihr potentieller Helfer sollte keinen falschen Eindruck von ihr bekommen und erst recht nicht auf abwegige Gedanken kommen. Ein paar Augenblicke später war sie auf dem Weg zum fünften Stock, hastete die Treppe hinauf und fand schließlich die gesuchte Wohnungstür. Bevor sie anklingelte, atmete sie noch einmal tief durch. Es dauerte nicht lange, und hinter der Tür waren Schritte zu hören. Das Schloss klapperte.
„Ms. Corvillo, guten Abend! Was führt Sie zu mir?“ Georges Latour lächelte ihr freundlich entgegen und bedeutete ihr, einzutreten. Sie folgte der Aufforderung nur zögerlich.
„Kommissar, es ist mir wirklich unangenehm, Sie behelligen zu müssen, aber ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte.“ Verlegen trat sie auf der Stelle, während ihre Handflächen zu schwitzen begannen. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, herzukommen, aber jetzt war es zu spät um noch einen Rückzieher zu machen. Er trug noch immer seine Uniform, nur die Jacke hatte er aufgeknöpft. Wahrscheinlich war er auch noch nicht sehr lange zu Hause und hatte noch keine Zeit gehabt, sich umzuziehen. Oder, so dachte Anna ketzerisch, er fühlte sich in seiner Uniform zu wohl, um sie jemals auszuziehen.
„Aber kommen Sie doch erst einmal herein, Ms. Corvillo, dann können Sie mir alles erklären.“
Seine Wohnung war hell und geräumig. Moderne Möbel mischten sich mit einigen ausgewählten Antiquitäten, aber es gab kaum dekorative Gegenstände und erst recht keine Unordnung. Die Zimmer sahen aus wie aus einem Hochglanzmagazin entsprungen. Anna war beeindruckt. Latour führte sie in das großzügige Wohnzimmer und bot ihr an auf einem der schwarzen Ledersofas Platz zu nehmen. Dann ging er zu einem Wandschrank hinüber und holte zwei Weingläser hinaus, von denen er eins vor ihr auf den Glastisch stellte, der den Raum zwischen den beiden Sofas ausfüllte. „Ein Glas Rotwein?“
„Hören Sie, ich will Ihnen gewiss keine Umstände machen“, wehrte Anna ab, setzte sich aber vorsichtig auf das Sofa. Das Leder quietschte leise. Anna zog ihren Rock über die Knie.
„Aber Sie machen mir keine Umstände. Ich freue mich, wenn Sie ein Glas mit mir trinken.“ Aus einem Weinregal in der nähe der Verandatür holte er eine Flasche und machte sich daran sie zu öffnen. Mit einem leisen Ploppen zog er den Korken aus dem Flaschenhals, füllte den Wein in ein Dekantiergefäß um und kehrte damit an den Tisch zurück. Anna leistete keinen Widerstand, als er ihr das Glas eingoss. Vielleicht tat ein bisschen Wein ihr ja gut um entspannter zu werden. „Nun erzählen Sie mir doch einmal, was Ihnen auf dem Herzen liegt. Ich kann Ihnen sicherlich helfen.“ Er setzte sich neben sie auf das Sofa, hielt aber einen angemessenen Abstand ein, wie sie erleichtert feststellte.
Sie fasste ihm die Ereignisse kurz zusammen, wobei er aufmerksam zuhörte. Dabei bemühte sie sich, möglichst sachlich zu bleiben und behielt ihre Angst vor Verhaftung möglichst für sich. „Sie kennen ja die Ausweispflicht“, sagte sie lediglich. „Und nun fürchte ich, mich nicht rechtzeitig ausweisen zu können.“
Vorsichtig legte er ihr die Hand auf den Arm. „Es ist gut, dass Sie sich an mich gewandt haben, Ms. Corvillo“, sagte er beruhigend. „Ich werde Ihren Ausweis unverzüglich als gestohlen melden. Es ist unglaublich, was heutzutage geschieht, wissen Sie das?“ Bevor sie sich wundern konnte, warum er sich so äußerte, obwohl es als regimekritisch aufgefasst werden konnte, fuhr er fort: „Wissen Sie, das sind Dissidenten, welche die Enge in der Metro nutzen, obwohl wir bereits alles tun, um solche Zwischenfälle zu verhindern. Sie stehlen Pässe, um sich eine falsche Identität zu beschaffen.“
„Meinen Sie nicht, es könnte auch ein einfacher Taschendieb gewesen sein?“
„Das ist natürlich möglich, Ms. Corvillo, aber ich halte es nicht für wahrscheinlich. Sie ahnen ja nicht, welche Kräfte es gibt, die den General und seine Regierung sabotieren wollen! Menschen, die sich der neuen Zeit entgegenstellen wollen, mit allen Mitteln. Und Sie sind bereits ein Opfer geworden.“
„So hatte ich das noch gar nicht gesehen“, erwiderte Anna schwach. „Ich glaubte, derjenige wäre lediglich hinter ein wenig Geld her gewesen.“
„Sie sind eine gutmütige Frau, Ms. Corvillo, wahrscheinlich ist Ihnen solches kriminelles Gedankengut vollkommen fremd.“
Sie trank von ihrem Rotwein, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Er schmeckte kräftig und fruchtig zugleich, kein billiger Wein, ganz gewiss nicht. Latour meinte es gut mit ihr. „Aber was kann ich denn jetzt tun?“, fragte sie verzweifelt. „Ich brauche Ihren Rat.“
„Ich bin in der glücklichen Position Ihnen helfen zu können“, erwiderte er beruhigend. „Mit etwas Glück haben Sie schon morgen einen neuen Pass, Ihre Daten haben wir ja im Netzwerk. Aber dafür müssen Sie mir auch einen Gefallen tun.“
„Was... was hatten Sie sich da vorgestellt?“ Unsicher wich sie automatisch ein wenig vor ihm zurück, aber er tat so als bemerke er es nicht.
„Nun, ich habe ja gesehen, dass Sie bereits auf dem richtigen Weg sind“, meinte er großmütig. „Sie lassen Ihre kleine Tochter endlich in die Jugendgruppe gehen, das ist schon einmal ein wichtiger Anfang. Aber Sie müssen noch weiter gehen. Wie ich eben schon sagte, halte ich Sie für eine sehr gutmütige Frau, aber diese Gutmütigkeit könnte Ihnen noch einmal zum Verhängnis werden, wenn Sie sich für die falschen Leute engagieren. Glauben Sie mir, Ms. Corvillo, so etwas bleibt heutzutage nicht unbemerkt, und ich bin der letzte, der möchte, dass Sie deswegen Ärger bekommen. Halten Sie sich zukünftig ein wenig mehr zurück.“
Anna musste schlucken. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte ihm gesagt, sie würde auf seine Hilfe verzichten. Aber das konnte sie sich nicht leisten, sie musste auch an Sophie denken. „Also gut“, erwiderte sie ausweichend, „ich werde mir Ihre Worte zu Herzen nehmen.“
„Das freut mich, Ms. Corvillo. Und jetzt lassen Sie uns den Wein genießen, es ist wirklich ein guter Tropfen.“
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