Die Herrschaft des Phönix
von Mirjam Lea
Kurzbeschreibung
General Smith konnte aus der Gefangenschaft entkommen und schickt sich ein zweites Mal an, die Herrschaft in der EAAU zu übernehmen. Aber auch seine grausamen Methoden schaffen es nicht, jeden Widerstand erlahmen zu lassen... (Anmerkung: Es handelt sich um eine radikale Neufassung von der Innere Zirkel, die jetzt auf Gleichgewicht des Schreckens ausbaut.)
GeschichteDrama / P16 / Gen
Gordon B. Smith
Samuel Hirschmann
19.08.2009
28.09.2010
27
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19.08.2009
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An der Metrostation New Yorker Platz herrschte reges Feierabendtreiben, als Kommissar Georges Latour die Rolltreppe hinauffuhr. Es war später Nachmittag, in den meisten Büros ruhte die Arbeit, und auch Dutzende Schüler kamen vom Unterricht in den Ganztagsschulen. Die ersten von ihnen eilten schon wieder die Treppen hinunter, um die Metro zu ihren Verabredungen zu erwischen. Es war ein angenehm warmer Tag, viel zu warm eigentlich für den Oktober, und viele Menschen suchten noch die Straßencafés und Restaurants der Hauptstadt auf. Die neue Regierung sah diese Menschenansammlungen nicht gern, aber bisher hatte der General noch nicht die Schließung gastronomischer Betriebe angeordnet, sondern lediglich deren verstärkte Überwachung. Zu gern zeigten sich auch die zu neuem Selbstbewusstsein gelangten Amtsinhaber der übernommenen Behörden in ihren schwarzen Uniformen in der Öffentlichkeit. Auch Latour liebte seine neue Uniform, man brachte ihm nun allerorten vollkommen andere Achtung entgegen als früher, als er noch bei der städtischen Polizei gedient hatte. Damals war er Kommissar in Zivil gewesen, von anderen Bürgern nicht zu unterscheiden. Nun aber trug er stolz die Schulterklappen eines führenden Dienstgrades der III. Abteilung und sogar die Schulkinder benahmen sich anständig, wenn sie ihn sahen und boten ihm ihren Platz in der Metro an, auch wenn er kaum das Alter erreicht hatte, in dem man üblicherweise auf derlei Höflichkeiten angewiesen war. Im Gegenteil, er sah sogar recht stattlich aus mit seinen vierzig Jahren und seiner, wie er glaubte, ansehnlichen Größe. Sein dunkelbraunes Haar lichtete sich lediglich an den Schläfen ein wenig. Trotz dieser körperlichen Vorzüge lebte er noch immer als Junggeselle, das brachte wohl auch sein Beruf mit sich.
Nach wenigen Schritten erreichte er sein Wohnhaus, das in einer der ruhigeren Gegenden von Metropolis lag und für die Verhältnisse der Hauptstadt recht klein ausfiel. In dem fünfstöckigen Gebäude lebten gerade einmal zwanzig Mietparteien, die sich einen kleinen Garten auf der Rückseite des Gebäudes teilten. Das Haus selbst war in mediterranem Stil errichtet, mit einer hellen Fassade und nach oben hin runden Fenstern. Scheinbar willkürlich versetzt schmiegten sich kleine Balkone an die Hausfront, von denen einige liebevoll bepflanzt waren, was den Stil des Hauses noch betonte. Latour selbst bewohnte eine großzügige Wohnung mit vier Zimmern im fünften Stock, die Nachbarn auf seiner Etage kannte er flüchtig. Die meisten Bewohner des Gebäudes waren stille, unauffällige Menschen, die wie er die Ruhe eines ordentlichen Mietshauses schätzten. Selbstverständlich besaß er Dossiers über alle Bewohner des Gebäudes, das war er seiner Stellung schuldig. Mit Freuden hatte er festgestellt, dass sogar einige langjährige Sympathisanten der Reinigenden Flamme dabei waren. Aber es gab auch ein oder zwei Familien, die seiner besonderen Aufmerksamkeit bedurften.
Latour betrat die Eingangshalle und sah nach seiner Post. Nichts besonderes dabei, also wandte er sich dem Aufzug zu und drückte den Rufknopf. In Anbetracht des herannahenden Feierabends lockerte er schon einmal seine Krawatte und öffnete den oberen Hemdknopf. Er ließ noch einmal den Tag vor seinem inneren Auge Revue passieren. Eigentlich war alles zu seiner Zufriedenheit verlaufen, er hatte wieder einmal ein paar wenig linientreue Wissenschaftler überreden können, an jenen Spezialprogrammen des Generals teilzunehmen, von denen er selbst nicht viel wusste, außer dass sich niemand freiwillig dafür hergab. Und er hatte dafür noch nicht einmal Gewalt anwenden müssen, allein deren Androhung hatte vollkommen ausgereicht. Latour genoss es nicht, wie viele seiner Kollegen Foltermethoden anzuwenden, er bevorzugte die raffiniertere Art der psychologischen Einschüchterung, es genügte, die Drohung über den Menschen schweben zu lassen. Schließlich wollte er dem General für seine Projekte leistungsfähige Mitarbeiter liefern und keine menschlichen Wracks. Mochten sich die anderen Kommissare die Hände schmutzig machen, er griff nur im äußersten Notfall auf deren Methoden zurück.
Hinter sich hörte er das Getrappel von Kinderfüßen auf dem Marmorboden, gefolgt von einem heftigen Kichern. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter, während ein leises Bimmeln die Ankunft des Aufzugs ankündigte. Die einzige Lärmquelle des Hauses näherte sich, die Kinder aus dem vierten Stock, die wohl aus dem Garten kamen. Alle drei waren gerade erst im Grundschulalter, kaum älter als sechs oder sieben Jahre. Allen voran stürmte die kleine Sophie Corvillo, die wie immer die kleine Gruppe anführte. Ein aufgewecktes Mädchen, das eigentlich schon längst Mitglied in einer der neu geschaffenen Jugendorganisationen sein sollte. Auch die Zwillinge, die ihr in einigem Abstand folgten, wären im richtigen Alter gewesen, wenn ihnen nicht ein entscheidender Mangel angehaftet hätte. Beide, der Junge und das Mädchen, hatten schwarzes Haar und waren klein für ihr Alter. Und ihre mandelförmigen Augen verrieten ihre japanische Herkunft. Die Watanabe Zwillinge waren Kinder von asiatischen Einwanderern und als solche suspekt. Latour hatte nichts gegen die beiden, aber ihre Eltern kamen nun einmal aus den Vereinigten Orientalischen Republiken, dem erklärten Feind der EAAU. Er verstand nicht, warum Anna Corvillo, Sophies Mutter, ihrer Tochter den Umgang mit ihnen nicht verbat. Das konnte ihr noch einmal erheblichen Ärger einbringen. Schade eigentlich, denn die zurückhaltende Ms. Corvillo war eine recht sympathische Frau und zudem die Witwe eines Piloten, der in einem der ständigen Raumzwischenfälle der Sechzigerjahre ums Leben gekommen war. Von ihr sollte man eigentlich erwarten können, dass sie die Leitlinien des neuen Regimes zu schätzen wüsste.
Die Kinder drängelten sich neben ihn in die Aufzugkabine. Nein eigentlich war es Sophie, die schnell hinter ihm her schlüpfte, während ihr die Zwillinge vorsichtig folgten. Sie reckte sich nach dem Knopf für die vierte Etage und begrüßte ihn dann salopp mit einem Hallo. Die beiden anderen hatten deutlich mehr Angst vor ihm. Latour griff in seine Aktentasche und förderte ein paar Bonbons zu Tage, die er unter den Kleinen aufteilte. Schließlich, so dachte er ein wenig ketzerisch, waren auch die Zwillinge noch Kinder, und es dauerte noch ein paar Jahre, bis sie zu potentiellen Feinden heran gereift waren. Die Zwillinge nahmen die Bonbons schüchtern entgegen, so als fragten sie sich, ob nicht auch er ihr Gegner war. Nun, früher oder später würden die Watanabes ohnehin hier ausziehen müssen. Da beide Eltern von den neu erlassenen Berufsverboten betroffen waren, würden sie sich in absehbarer Zeit die Miete hier nicht mehr leisten können.
„Nun, Sophie, du spielst zu Hause?“, fragte er freundlich. „Warum schaust du dir nicht einmal eine unserer neuen Kindergruppen an? Wären die jungen Fackelträger nichts für dich?“
„Einige aus meiner Klasse gehen schon hin“, meinte Sophie gelassen. „Aber meine Mutter meint, ich solle noch ein bisschen warten und noch meine Freiheit genießen.“
Der Kommissar in ihm witterte in diesen altklugen Worten des Kindes leise Regimekritik, also beschloss er nachzuhaken. „Meint denn deine Mutter, du wärst nicht mehr frei, wenn du in eine Gruppe gehst?“
Der Aufzug hielt im vierten Stock, aber Sophie blieb in der Tür stehen. „Sie sagt, dort müsste ich Disziplin lernen, und das würde mir doch so schwer fallen. Ich wäre doch so unordentlich.“
„Nun, du könntest lernen, ordentlich zu werden“, erwiderte er. „Das wäre gut für dein weiteres Leben. Vielleicht könntest du Karriere in der Partei machen.“
„Ich glaube, ich werde lieber Tierärztin.“
Latour musste wider Willen lachen. Auf dem Flur wurde eine Tür geöffnet und ein dunkelbrauner Haarschopf erschien im Spalt. Es war Anna Corvillo, die nach ihrer Tochter Ausschau hielt und deren Namen rief.
„Ist sie Ihnen auf die Nerven gefallen?“, fragte sie Latour verlegen. Es war das erste Mal, dass sie mehr als guten Tag zu ihm sagte. Sie hatte eine angenehme Stimme, sehr warm und freundlich. Latour wusste, dass sie oft zu Hause arbeitete, ihre Witwenrente reichte wohl nicht zum Leben, oder sie liebte einfach ihre Beschäftigung. So weit er wusste, arbeitete sie als Lektorin für einen kleinen Verlag.
Etwas bewog ihn, seine Fahrt nach oben zu unterbrechen und ein paar Worte mit Ms. Corvillo zu wechseln. Die Kinder hüpften an ihm vorbei und schlüpften in die Wohnung. Die junge Witwe sollte wirklich wählerischer beim Umgang ihrer Kinder sein, dachte er bei sich. „Ms. Corvillo, auf ein Wort“, sagte er freundlich und trat an die junge Frau heran.
Ihre Augen wirkten unruhig. Die Uniform schien auch sie einzuschüchtern. „Keine Sorge“, meinte er beruhigend, „ich bin nicht dienstlich hier, aber ich habe mich eben kurz mit Ihrer Tochter im Aufzug unterhalten.“
„Sie war doch nicht frech zu Ihnen?“
Sie bat ihn nicht in die Wohnung, aber er erhaschte einen Blick in den Flur. Es war eine der kleineren Wohnungen, eine mit drei Zimmern. Auf dem Boden des quadratischen Flurs lag ein bunter Teppich, an der Wand zwischen zwei Türen stand eine Kommode, über der ein Spiegel hing. Darauf gab es allerlei Dekoratives, das Frauen nun einmal zu lieben schienen, einen Kerzenhalter, eine hölzerne Box mit Halstüchern und einen Bilderrahmen mit dem Foto eines Mannes, wohl des verstorbenen Piloten, mit dem sie verheiratet gewesen war. Auf einer der abzweigenden Türen war Sophies Name mit bunten Holzbuchstaben aufgeklebt. Daneben stand ein Plastikkorb mit zusammen gefalteter Wäsche. Eine ganz normale Wohnung also.
„Aber nein, ich fragte sie lediglich, ob sie nicht bereits in einer unserer Jugendorganisationen sei“, fuhr er fort, „und sie sagte mir, es sei Ihnen noch nicht recht, dass sie dorthin ginge, weil sie noch nicht soweit wäre.“
„Sie ist erst sechs Jahre alt, ist das nicht tatsächlich nicht ein bisschen jung?“ Hatte sich ihre Atmung beim Sprechen etwas beschleunigt? Latour maß sie mit dem erfahrenen Blick des Polizeiermittlers. Menschen konnten ihre innersten Regungen nur schwer vor ihm verbergen und er schaffte es stets, diese Menschen in Verlegenheit zu bringen. In dieser Beziehung war er hartnäckig wie ein Spürhund, der einer einmal gewitterten Fährte folgte.
„Aber nein, Ms. Corvillo, man kann doch nie früh genug anfangen, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden, nicht wahr? Und Sie können sich sicher sein, dass die Kinder dort ihrem Alter entsprechend behandelt werden, es gibt noch keinen militärischen Drill, falls Sie das befürchten sollten. Außerdem“, er räusperte sich und holte anschließend tief Luft, „wäre es doch eine gute Gelegenheit für Ihre Tochter, andere Kinder in ihrem Alter kennen zu lernen.“
„Sophie ist tatsächlich manchmal ein wenig reif für ihr Alter“, sagte die junge Witwe nachdenklich. „Sie hat einen Hang zu Erwachsenen. Deshalb bin ich froh, dass sie hier im Haus gleichaltrige Freunde gefunden hat.“ Sie nickte kurz zum Kinderzimmer hinüber, aus dem lustige Musik eines ihm unbekannten Kinderchors herüber klang. „Sie versteht sich wirklich gut mit den Nachbarskindern.“
Latour senkte die Stimme ein wenig, damit ihn die Kinder nicht hören konnten. Vielleicht stand ja auch schon Ms. Watanabe ängstlich hinter der Tür und lauschte, was er mit ihrer Nachbarin zu besprechen hatte. „Diesen Umgang halte ich angesichts der politischen Umstände für ein wenig problematisch, Ms. Corvillo. Es gibt heutzutage Menschen, von denen man sich besser fernhalten sollte.“
Wenn sie begriff, worauf er anspielte, dann ließ sie es sich nicht anmerken. „Aber es sind wirklich nette Kinder“, meinte sie. „Gut erzogen und freundlich. Sophie hätte es weitaus schlimmer treffen können.“
Fast bewunderte er ihren Mut. Viele Menschen hatten sich bereits von ihren asiatischen Nachbarn losgesagt, sie aber ignorierte die Gegebenheiten einfach. „Das will ich nicht bezweifeln. Aber es sind nun einmal die Kinder asiatischer Einwanderer. Und die sind heutzutage nicht mehr gern gesehen in unserem Staat. Sie sollten die Zeichen der Zeit nicht ignorieren.“ Er beugte sich ein wenig vor, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. „Ms. Corvillo, so weit ich weiß, sind Sie doch die Witwe eines verdienten Piloten, Sie sollten also die Gründe für unsere Politik kennen. Seien Sie klug und brechen Sie solche Kontakte zugunsten wertvolleren Umgangs ab. Ich kann nur an Sie appellieren, das auch im Interesse Ihrer Tochter zu tun.“
„Sie meinen es sicher gut mit uns“, lenkte sie ein, „und ich werde über Ihre Worte nachdenken, Kommissar. Und Sophie muss natürlich auch dazu gefragt werden.“ Ab ihrem Hals bildeten sich rote Flecken, so aufgeregt war sie nun.
„Es ist mir wichtig, dass Sie mich nicht für Ihren Feind halten“, erwiderte er beschwichtigend. „Es war nur ein gut gemeinter Ratschlag von mir. Ich will Sie dann auch nicht länger aufhalten.“ Er streckte ihr die Hand hin, die sie nach kurzem Zögern ergriff. Latour liebte es, anderen Menschen die Hand zu geben, weil er dabei das Gefühl der Macht verspürte, die Knochen seines Gegenübers jederzeit zerbrechen zu können. Seit einem Gefecht im Dienst hatte er diese kybernetische Hand, ein Konstrukt aus edelstem Stahl und modernster Elektronik. Von außen war sie mit täuschend echtem Hautimitat überzogen. Sogar die Adern und Sehnen wirkten täuschend echt. Er blickte beim Händedruck immer in die Augen seine Gegenübers um darin nach einem Zeichen des Erkennens zu forschen, aber bisher hatte noch niemand diese Besonderheit erkannt. Ms. Corvillo bemerkte auch nichts. Als er sich zum Gehen wandte, schloß sie die Tür allerdings einen Hauch zu hastig.
Er würde über das Gespräch eine Meldung machen müssen, aber die Formulierung lag in seinem Ermessen. Vorerst würde er der jungen Witwe keine Schwierigkeiten machen, sie aber weiter im Auge behalten. Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas an ihr seltsam war. Eventuell hatte sie etwas zu verbergen, das weitaus bedeutsamer war als die gute Nachbarschaft zu den Watanabes.
***
Während der zweiten Reisewoche zu einem immer noch unbekannten Ziel wurde die Stimmung an Bord der Najade immer gedrückter. Die Ungewissheit lastete schwer auf den an Bord versammelten Wissenschaftlern. Hinzu kamen die überall präsenten schwer bewaffneten Wachen in ihren schwarzen Overalls und dunklen Helmen, die jede Bewegung zu registrieren schienen. Manch einer stellte sich die Frage, warum ein so großes Kontingent an Wachpersonal für ein gutes Dutzend Passagiere vonnöten war. Hier stellte niemand eine Bedrohung dar, es schien schier unmöglich zu sein, dass jemand irgend etwas an Bord geschmuggelt haben sollte, das nur im entferntesten einer Waffe gleich kam. Sogar die Messer, die zu den Mahlzeiten ausgegeben wurden, waren so stumpf, dass man mit ihnen kaum eine Scheibe Brot durchschneiden konnte. Einer der Ärzte aus der Gruppe hatte gar angemerkt, diese Messer seien eher für eine geschlossene psychiatrische Abteilung gemacht als für eine hungrige Reisegruppe.
Ein weiteres Rätsel stellte die Zusammensetzung der an Bord befindlichen Wissenschaftler dar. Lavinia Drosczek hatte zunächst vermutet, es handele sich hauptsächlich um Techniker, die für den General an einem Prototypen arbeiten sollten, welcher der Delta VII das Wasser reichen konnte, aber in ihren Gesprächen mit den anderen Passagiere hatte sie schnell erfahren, dass es sich scheinbar um eine willkürlich zusammengewürfelte Gruppe von Ärzten, Biologen und Technikern handelte, die alle ebenso ratlos wie sie waren, warum man sie für diesen Flug ausgewählt hatte. Angesichts der Wachen konnten sie sich nur vorsichtig austauschen, denn jedes ihrer Gespräche wurde zweifellos überwacht. Zwar schienen die Schwarzuniformierten manchmal dazustehen wie leblose Statuen, aber niemand zweifelte daran, dass sie jedes Wort gewissenhaft überwachten. Mit Schaudern erinnerte sich Lavinia an einen Zwischenfall vor einigen Tagen. Sie hatten beim Abendessen gesessen, einer trostlosen Mahlzeit, die aus dünnem Tee, ein paar Scheiben Brot, Käse und einem Proteinbrei bestand. Dennoch war es die Zeit, in der sich Gespräche führen und Kontakte knüpfen ließen. Es wurde zwar nicht gern gesehen, dass die Wissenschaftler sich miteinander austauschten, aber bisher hatte niemand ihre Gespräche verboten. Bis Ludger Thomas, einer der Ärzte, die Unterhaltung auf ein brenzliges Thema gebracht hatte, den Grund ihres Fluges. Im Laufe des Gespräches hatte er sich immer mehr darüber aufgeregt, wie sehr sie von Major Brendon darüber im Unklaren gelassen wurden, wohin die Reise gehen sollte. „Ich bin ein qualifizierter Forscher“, meinte er aufgebracht, „so wie wir alle hier. Wir sollten nicht so behandelt werden. Schließlich sind wir keine Gefangenen, das jedenfalls hat man mir versichert, als ich mich auf dieses Abenteuer einließ!“
Die anderen am Tisch hatten zustimmend gemurmelt, auch wenn sie ängstliche Blicke auf die Wachen geworfen hatten. Doch Thomas hatte sich nicht bremsen lassen und weiter seine Gedanken ausgeführt. „Wir können uns ja noch nicht mal auf unsere bevorstehende Aufgabe vorbereiten und vergeuden hier wichtige Zeit. Noch nicht mal meine Aufzeichnungen hat man mir gelassen! Wie soll ich so arbeiten können?“
Eine der anderen Ärztinnen hatte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm gelegt und ihm bedeutet, er solle sich zurückhalten, aber es war schon zu spät. Die Tür des Decks hatte sich geöffnet und Major Brendon war auf der Bildfläche erschienen. Mit wenigen energischen Schritten hatte er den Tisch erreicht und hatte sich kerzengerade davor aufgestellt, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen. „Man berichtete mir, Sie hätten eine Beschwerde, Dr. Thomas?“ Seine Stimme hatte kühl und schneidend geklungen.
„Es ist mir egal, wie Sie es nennen möchten“, hatte Thomas erwidert. „Beschwerde oder Unzufriedenheit, das ist mir vollkommen egal.“ Noch immer hatte die Hand der Ärztin auf seinem Arm gelegen, doch krallte diese sich nun förmlich in seinen Ärmel. „Ich möchte einfach nur wissen, wohin uns dieser verfluchte Transport bringt, das ist doch wohl nicht zu viel verlangt, oder? Außerdem brauche ich dringend meine Aufzeichnungen, wenn ich für Sie arbeiten soll.“
„Teilen die anderen Passagiere Ihre Neugier, Doktor?“, hatte Brendon gefragt, ohne auf seine Äußerungen einzugehen. Er hatte mit eisigem Blick in die Runde geschaut. Niemand hatte geantwortet, die Angst saß bei allen tief. Brendon hatte sich geräuspert und ein zufriedenes Lächeln aufgesetzt. „Sie sehen, Doktor, Sie sind der einzige hier. Deswegen kann ich Sie nur eindringlich warnen, Ihre Hetzreden zu unterlassen. Ich werde nicht dulden, dass Sie hier für schlechte Stimmung sorgen oder die Moral der Anwesenden untergraben. Sollte mir so etwas noch einmal zu Ohren kommen, dann werde ich Maßnahmen dagegen ergreifen. Stecken Sie Ihre Energie besser in Ihre Arbeit!“ Er hatte noch einmal einen drohenden Blick in die Runde geworfen, unter dem sich die Anwesenden ängstlich weggeduckt hatten. „Ich hoffe, ich werde nicht gezwungen sein, Ihnen allen zukünftig gemeinsame Mahlzeiten zu untersagen, sollte sich so etwas wiederholen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch ein angenehmes Abendessen!“ Mit diesen Worten hatte er sich auf dem Absatz umgewandt und war gegangen.
Für ein paar Tage hatte es so ausgesehen, als ob Thomas sich an Brendons Anweisung halten wolle, wenn auch nur aus Angst vor den angedrohten Konsequenzen. Zwar wusste niemand, welche das sein sollten, aber Brendons schiere Drohung hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Lavinia wusste nicht, ob Thomas vor seiner Zwangsverpflichtung ebenfalls in einem Gefängnis der III. Abteilung gewesen war, aber auch wenn er davon verschont geblieben war, so musste ihm bewusst sein, zu welchen Mitteln die uniformierte Polizei zu greifen bereit war. Auch wenn es verboten war, darüber zu sprechen, so wusste doch eigentlich jeder Bescheid, wenn auch nicht in allen Einzelheiten. Bei den folgenden Mahlzeiten war Thomas still geblieben, so als verbiete er sich selbst den Mund. Selbst an den harmlosen Scherzen, die ab und zu die Runde machen, beteiligte er sich nicht.
Lange freilich hielt seine Zurückhaltung nicht vor. Als Lavinia eines Abends den Aufenthaltsraum betrat, um eines der wenigen ihnen erlaubten Bücher am Lesegerät zu lesen, sah sie Thomas mit einem der Biologen, Antonio Ragusi, dort sitzen und sich leise unterhalten. Sie bemühte sich zunächst, das Gespräch zu ignorieren und zog sich einen Stuhl vor den Bildschirm, aber nach ein paar Seiten stellte sie fest, wie wenig sie sich auf den Text des Buches konzentrieren konnte, denn die leisen Worte schienen sie wie magisch anzuziehen.
„Wenn wir auch die anderen dazu bewegen können, Brendon ein paar gezielte Fragen zu stellen, dann wird er nicht mehr ausweichen können“, sagte Thomas gerade. „Er kann sich nicht gegen uns alle stellen, schließlich sind die auf uns doch angewiesen. Warum sonst sollten sie uns auf diesen Flug geschickt haben, anstatt uns im Gefängnis versauern zu lassen? Der ist mehr auf und angewiesen als wir auf ihn, glauben Sie mir!“
„ich weiß nicht, ob Sie da nicht ein bisschen zu leichtfertig sind, Thomas“, erwiderte Ragusi nachdenklich. „Und wie wollen Sie das bewerkstelligen? Sie können schließlich schlecht eine Petition verfassen!“
„Warum eigentlich nicht? Ich könnte es heute Abend vorschlagen, dann werden wir sehen, wie die anderen reagieren. Mehr als nein sagen können sie nicht, aber ich werde auf jeden Fall versuchen, sie zu überzeugen!“
„Sie wissen, wie ungern derlei Gespräche von unseren Wachen gesehen werden! Die Wachen werden bestimmt sofort wieder Brendon auf den Plan rufen, und Sie wissen, was er Ihnen angedroht hat. Wollen Sie es wirklich darauf ankommen lassen?“
„Ich für meinen Teil bin dazu bereit. Was soll Brendon schon tun? Mir den Hintern versohlen? Ich wette, er hat den Auftrag, uns alle heil und an einem Stück an unserem Ziel abzuliefern.“ Thomas stand kurz auf, um sich einen Becher Kaffee aus dem Automaten zu ziehen. Er bot Ragusi auch einen an, aber dieser lehnte dankend ab. Dann setzte er sich wieder geräuschvoll hin.
„Was erhoffen Sie sich eigentlich davon, dass Brendon Ihre Fragen beantwortet? Wir können unser Flugziel ja doch nicht beeinflussen.“
„Aber wir wüssten wenigstens, woran wir sind! Ich für meinen Teil werde nur ungern in einen Teil unseres Sonnensystems verschleppt, den ich nicht kenne. Wenn ich jedoch wüsste, wohin unsere Reise geht, dann wüsste ich wenigstens, wie unsere Chancen stehen, von dort auch wieder fort zu kommen.“
„Also, das sind aber wirklich kühne Pläne! Wollen Sie etwa ein Raumschiff kapern, oder was stellen Sie sich da genau vor?“
„Nun, das ist schließlich sogar unserem neuen Regierungschef gelungen, oder ist er nicht von einer Raumstation geflohen?“
„Das lässt sich doch nicht vergleichen!“, brauste Ragusi auf und warf resignierend die Hände in die Luft. „Der General hatte schließlich eine Menge Helfer, die ihn da raus geholt haben. Und selbst, wenn es uns gelänge, wo wollten Sie dann hin?“
„Ich habe gehört, die Venus wolle auf ihrer Unabhängigkeit bestehen...“
Lavinia hörte atemlos zu, wagte kaum, sich auf ihrem Stuhl zu rühren. Was Thomas da vorschlug, grenzte an Meuterei. Sie wunderte sich nur, das Brendon nicht bereits mit seinen Leuten im Aufenthaltsraum aufgetaucht war und ihn abführen ließ. Am besten war es wohl, wenn sie sich so schnell wie möglich in ihre Kabine zurückzog, auch wenn das feige war. Aber sei hielt es für unsinnig, sich wegen Thomas' Luftschlössern Ärger einzuhandeln. Leise stand sie auf und wollte sich davonschleichen. Aber Thomas hatte sie schon bemerkt.
„Und Sie, Drosczek?“, fragte er. „Was halten Sie von einer Petition? Sollten wir nicht ein wenig entschiedener gegen unseren Bewacher vorgehen?“
„Ich halte das zum jetzigen Zeitpunkt für wenig sinnvoll“, erwiderte Lavinia und kam sich wie ein erbärmlicher Feigling dabei vor. „Was hätten wir denn schon davon? Lassen wir uns doch einfach davon überraschen, was auf uns zukommt, wir werden es schon früh genug erleben.“
„Sind Sie da sicher? Vielleicht ist es dann schon zu spät.“
Lavinia warf einen ängstlichen Blick auf die Wachen am Ende des Ganges, die wieder einmal vollkommen reglos dastanden. Wäre nicht hin und wieder eine Ablösung erschienen, hätte man glauben können, Brendon hätte Wachsfiguren oder Roboter dort aufgestellt. Vielleicht waren sie es auch, Roboter, darauf programmiert, Menschen zu bewachen. Das Risiko, sich mit ihnen anzulegen, erschien ihr jedenfalls ein zu hoher Preis dafür zu sein, nur um zu erfahren, wohin die Reise ging, auch wenn sie das brennend interessiert hätte. Sie verabschiedete sich eilig und floh in ihre Kabine, wo sie sich auf dem Bett ausstreckte. Nach einigen Sekunden bemerkte sie, dass sie vor Angst und Aufregung zitterte. Sie erwartete, dass jeden Moment die Tür zu ihrer Kabine aufgerissen würde und ein Schwarzuniformierter sie hinaus zerrte. Aber nichts dergleichen geschah. Lavinia beschloss zu duschen und sich für die Nacht fertig zu machen, eine weitere Nacht, die sie ihrem Ziel entgegenbrachte.
Sie schlief unruhig, horchte im Dunkeln auf jedes Geräusch, das durch die dünnen Wände der Kabine drang. Nebenan schnarchte jemand laut, sein Ausatmen klang wie das Schnauben eines Pferdes. Ein anderer Nachbar duschte und summte dabei vor sich hin. Das Plätschern des Wassers drang so laut zu ihr vor, als liefe es direkt neben ihr vorbei, die Wände mussten wirklich dünn wie Papier sein. Aber das war wahrscheinlich so gewollt, als die Najade in aller Eile zu einem Passagierschiff umgebaut wurde. Hier konnte man nichts vor seinem Nachbarn verbergen. Lavinia verfiel in einen unruhigen, leichten Schlaf.
Sie wusste nicht, wie lange sie bereits geschlafen hatte, als sie laute Schritte auf dem Gang hörte, aber sie saß mit einem Male kerzengerade im Bett. Ihr Herz pochte bis zum Hals und eine unbestimmte Angst lähmte sie. Ihre Neugier drängte sie, zur Tür zu gehen und auf den Gang hinaus zu spähen, aber sie wagte nicht, sich zu rühren. Eine Stimme, wahrscheinlich die des Majors, bellte ein paar knappe Befehle und eine Tür wurde aufgerissen. Die Stiefel der Bewacher dröhnten auf dem Kunststoffboden des Decks. Lavinia hörte laute Schreie, einen gerufenen Protest. Es war die Stimme von Ludger Thomas, der seine nächtlichen Besucher zornig fragte, was sie von ihm wollten. Niemand antwortete ihm, aber irgend etwas geschah in seiner Kabine. Plötzlich hörte Lavinia den Arzt gellend aufschreien, vor unbändigem, unvorstellbarem Schmerz. Sie hielt sich die Ohren zu, aber die Schmerzensschreie drangen trotzdem weiter zu ihr vor. Sie wusste nicht, was die Wachen unter Brendons Anleitung mit ihm anstellten, aber es musste grausam und furchtbar sein. Und Brendon wollte, dass es alle hörten. Zur Abschreckung und zur Einschüchterung. Er hatte absichtlich eine gewisse Zeit verstreichen lassen, bis er Thomas für seine Worte bestrafte, bis mitten in der Nacht, wo ein trügerisches Gefühl der Sicherheit die Passagiere einhüllte. Die Schreie nahmen kein Ende, auch wenn es kaum noch vorstellbar schien, steigerte sich ihre Intensität noch über das Unerträgliche hinaus. Lavinia spürte Tränen in ihre Augen steigen. Brendons Botschaft war nur zu deutlich, er wollte, dass sie alle wussten, was ihnen bevorstand, sollten sie sich auch nur noch ein einziges Mal mit kritischen Gedanken tragen. Die Zeit schleppte sich dahin, und noch immer ließen die Wachen nicht von Thomas ab. Er schrie und schrie, bis seine Stimme heiser wurde. Bald hatte er noch nicht einmal mehr dazu die Kraft und man hörte ihn heftig schluchzen und seine Bewacher anflehen, sie mögen aufhören. Aber sie hörten nicht auf, quälten ihn weiter, wie auch immer. Eine halbe Stunde ging das so, aber es hätte auch ein Tag oder ein Monat sein können, so unendlich lang erschien es. Lavinia rollte sich auf ihrem Bett zusammen wie ein ängstliches Kind, zog sich das Kissen über die Ohren, aber es half nichts gegen die entsetzlichen Bilder, die vor ihrem inneren Auge auftauchten. Dann endlich war es vorbei, die Wachen zogen geräuschvoll ab und gespenstische Stille legte sich über das Deck. Lavinia fühlte sich, als sei sie selbst gefoltert worden.
Die nächsten zwei Tage erschien Thomas nicht im Aufenthaltsraum, eine Wache brachte ihm sein Essen. Erst am dritten Tag ließ er sich wieder sehen, und auch, wenn ihm äußerlich nichts anzusehen war, so verrieten doch seine leeren Augen, dass er Schreckliches durchgemacht hatte. Wie ein gebrochener Mann schlurfte er in gebückter Haltung zu einem der Stühle und ließ sich darauf fallen. Die anderen blickten beschämt zur Seite, manche sogar vorwurfsvoll, als habe er sich das Erlittene selbst zuzuschreiben. Lavinia lächelte ihm zaghaft zu, aber er erwiderte ihren Blick nicht, bedankte sich nur kurz, als sie ihm einen Kaffeebecher zuschob. Die anderen rückten von ihm ab als habe er die Pest.
Nach wenigen Schritten erreichte er sein Wohnhaus, das in einer der ruhigeren Gegenden von Metropolis lag und für die Verhältnisse der Hauptstadt recht klein ausfiel. In dem fünfstöckigen Gebäude lebten gerade einmal zwanzig Mietparteien, die sich einen kleinen Garten auf der Rückseite des Gebäudes teilten. Das Haus selbst war in mediterranem Stil errichtet, mit einer hellen Fassade und nach oben hin runden Fenstern. Scheinbar willkürlich versetzt schmiegten sich kleine Balkone an die Hausfront, von denen einige liebevoll bepflanzt waren, was den Stil des Hauses noch betonte. Latour selbst bewohnte eine großzügige Wohnung mit vier Zimmern im fünften Stock, die Nachbarn auf seiner Etage kannte er flüchtig. Die meisten Bewohner des Gebäudes waren stille, unauffällige Menschen, die wie er die Ruhe eines ordentlichen Mietshauses schätzten. Selbstverständlich besaß er Dossiers über alle Bewohner des Gebäudes, das war er seiner Stellung schuldig. Mit Freuden hatte er festgestellt, dass sogar einige langjährige Sympathisanten der Reinigenden Flamme dabei waren. Aber es gab auch ein oder zwei Familien, die seiner besonderen Aufmerksamkeit bedurften.
Latour betrat die Eingangshalle und sah nach seiner Post. Nichts besonderes dabei, also wandte er sich dem Aufzug zu und drückte den Rufknopf. In Anbetracht des herannahenden Feierabends lockerte er schon einmal seine Krawatte und öffnete den oberen Hemdknopf. Er ließ noch einmal den Tag vor seinem inneren Auge Revue passieren. Eigentlich war alles zu seiner Zufriedenheit verlaufen, er hatte wieder einmal ein paar wenig linientreue Wissenschaftler überreden können, an jenen Spezialprogrammen des Generals teilzunehmen, von denen er selbst nicht viel wusste, außer dass sich niemand freiwillig dafür hergab. Und er hatte dafür noch nicht einmal Gewalt anwenden müssen, allein deren Androhung hatte vollkommen ausgereicht. Latour genoss es nicht, wie viele seiner Kollegen Foltermethoden anzuwenden, er bevorzugte die raffiniertere Art der psychologischen Einschüchterung, es genügte, die Drohung über den Menschen schweben zu lassen. Schließlich wollte er dem General für seine Projekte leistungsfähige Mitarbeiter liefern und keine menschlichen Wracks. Mochten sich die anderen Kommissare die Hände schmutzig machen, er griff nur im äußersten Notfall auf deren Methoden zurück.
Hinter sich hörte er das Getrappel von Kinderfüßen auf dem Marmorboden, gefolgt von einem heftigen Kichern. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter, während ein leises Bimmeln die Ankunft des Aufzugs ankündigte. Die einzige Lärmquelle des Hauses näherte sich, die Kinder aus dem vierten Stock, die wohl aus dem Garten kamen. Alle drei waren gerade erst im Grundschulalter, kaum älter als sechs oder sieben Jahre. Allen voran stürmte die kleine Sophie Corvillo, die wie immer die kleine Gruppe anführte. Ein aufgewecktes Mädchen, das eigentlich schon längst Mitglied in einer der neu geschaffenen Jugendorganisationen sein sollte. Auch die Zwillinge, die ihr in einigem Abstand folgten, wären im richtigen Alter gewesen, wenn ihnen nicht ein entscheidender Mangel angehaftet hätte. Beide, der Junge und das Mädchen, hatten schwarzes Haar und waren klein für ihr Alter. Und ihre mandelförmigen Augen verrieten ihre japanische Herkunft. Die Watanabe Zwillinge waren Kinder von asiatischen Einwanderern und als solche suspekt. Latour hatte nichts gegen die beiden, aber ihre Eltern kamen nun einmal aus den Vereinigten Orientalischen Republiken, dem erklärten Feind der EAAU. Er verstand nicht, warum Anna Corvillo, Sophies Mutter, ihrer Tochter den Umgang mit ihnen nicht verbat. Das konnte ihr noch einmal erheblichen Ärger einbringen. Schade eigentlich, denn die zurückhaltende Ms. Corvillo war eine recht sympathische Frau und zudem die Witwe eines Piloten, der in einem der ständigen Raumzwischenfälle der Sechzigerjahre ums Leben gekommen war. Von ihr sollte man eigentlich erwarten können, dass sie die Leitlinien des neuen Regimes zu schätzen wüsste.
Die Kinder drängelten sich neben ihn in die Aufzugkabine. Nein eigentlich war es Sophie, die schnell hinter ihm her schlüpfte, während ihr die Zwillinge vorsichtig folgten. Sie reckte sich nach dem Knopf für die vierte Etage und begrüßte ihn dann salopp mit einem Hallo. Die beiden anderen hatten deutlich mehr Angst vor ihm. Latour griff in seine Aktentasche und förderte ein paar Bonbons zu Tage, die er unter den Kleinen aufteilte. Schließlich, so dachte er ein wenig ketzerisch, waren auch die Zwillinge noch Kinder, und es dauerte noch ein paar Jahre, bis sie zu potentiellen Feinden heran gereift waren. Die Zwillinge nahmen die Bonbons schüchtern entgegen, so als fragten sie sich, ob nicht auch er ihr Gegner war. Nun, früher oder später würden die Watanabes ohnehin hier ausziehen müssen. Da beide Eltern von den neu erlassenen Berufsverboten betroffen waren, würden sie sich in absehbarer Zeit die Miete hier nicht mehr leisten können.
„Nun, Sophie, du spielst zu Hause?“, fragte er freundlich. „Warum schaust du dir nicht einmal eine unserer neuen Kindergruppen an? Wären die jungen Fackelträger nichts für dich?“
„Einige aus meiner Klasse gehen schon hin“, meinte Sophie gelassen. „Aber meine Mutter meint, ich solle noch ein bisschen warten und noch meine Freiheit genießen.“
Der Kommissar in ihm witterte in diesen altklugen Worten des Kindes leise Regimekritik, also beschloss er nachzuhaken. „Meint denn deine Mutter, du wärst nicht mehr frei, wenn du in eine Gruppe gehst?“
Der Aufzug hielt im vierten Stock, aber Sophie blieb in der Tür stehen. „Sie sagt, dort müsste ich Disziplin lernen, und das würde mir doch so schwer fallen. Ich wäre doch so unordentlich.“
„Nun, du könntest lernen, ordentlich zu werden“, erwiderte er. „Das wäre gut für dein weiteres Leben. Vielleicht könntest du Karriere in der Partei machen.“
„Ich glaube, ich werde lieber Tierärztin.“
Latour musste wider Willen lachen. Auf dem Flur wurde eine Tür geöffnet und ein dunkelbrauner Haarschopf erschien im Spalt. Es war Anna Corvillo, die nach ihrer Tochter Ausschau hielt und deren Namen rief.
„Ist sie Ihnen auf die Nerven gefallen?“, fragte sie Latour verlegen. Es war das erste Mal, dass sie mehr als guten Tag zu ihm sagte. Sie hatte eine angenehme Stimme, sehr warm und freundlich. Latour wusste, dass sie oft zu Hause arbeitete, ihre Witwenrente reichte wohl nicht zum Leben, oder sie liebte einfach ihre Beschäftigung. So weit er wusste, arbeitete sie als Lektorin für einen kleinen Verlag.
Etwas bewog ihn, seine Fahrt nach oben zu unterbrechen und ein paar Worte mit Ms. Corvillo zu wechseln. Die Kinder hüpften an ihm vorbei und schlüpften in die Wohnung. Die junge Witwe sollte wirklich wählerischer beim Umgang ihrer Kinder sein, dachte er bei sich. „Ms. Corvillo, auf ein Wort“, sagte er freundlich und trat an die junge Frau heran.
Ihre Augen wirkten unruhig. Die Uniform schien auch sie einzuschüchtern. „Keine Sorge“, meinte er beruhigend, „ich bin nicht dienstlich hier, aber ich habe mich eben kurz mit Ihrer Tochter im Aufzug unterhalten.“
„Sie war doch nicht frech zu Ihnen?“
Sie bat ihn nicht in die Wohnung, aber er erhaschte einen Blick in den Flur. Es war eine der kleineren Wohnungen, eine mit drei Zimmern. Auf dem Boden des quadratischen Flurs lag ein bunter Teppich, an der Wand zwischen zwei Türen stand eine Kommode, über der ein Spiegel hing. Darauf gab es allerlei Dekoratives, das Frauen nun einmal zu lieben schienen, einen Kerzenhalter, eine hölzerne Box mit Halstüchern und einen Bilderrahmen mit dem Foto eines Mannes, wohl des verstorbenen Piloten, mit dem sie verheiratet gewesen war. Auf einer der abzweigenden Türen war Sophies Name mit bunten Holzbuchstaben aufgeklebt. Daneben stand ein Plastikkorb mit zusammen gefalteter Wäsche. Eine ganz normale Wohnung also.
„Aber nein, ich fragte sie lediglich, ob sie nicht bereits in einer unserer Jugendorganisationen sei“, fuhr er fort, „und sie sagte mir, es sei Ihnen noch nicht recht, dass sie dorthin ginge, weil sie noch nicht soweit wäre.“
„Sie ist erst sechs Jahre alt, ist das nicht tatsächlich nicht ein bisschen jung?“ Hatte sich ihre Atmung beim Sprechen etwas beschleunigt? Latour maß sie mit dem erfahrenen Blick des Polizeiermittlers. Menschen konnten ihre innersten Regungen nur schwer vor ihm verbergen und er schaffte es stets, diese Menschen in Verlegenheit zu bringen. In dieser Beziehung war er hartnäckig wie ein Spürhund, der einer einmal gewitterten Fährte folgte.
„Aber nein, Ms. Corvillo, man kann doch nie früh genug anfangen, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden, nicht wahr? Und Sie können sich sicher sein, dass die Kinder dort ihrem Alter entsprechend behandelt werden, es gibt noch keinen militärischen Drill, falls Sie das befürchten sollten. Außerdem“, er räusperte sich und holte anschließend tief Luft, „wäre es doch eine gute Gelegenheit für Ihre Tochter, andere Kinder in ihrem Alter kennen zu lernen.“
„Sophie ist tatsächlich manchmal ein wenig reif für ihr Alter“, sagte die junge Witwe nachdenklich. „Sie hat einen Hang zu Erwachsenen. Deshalb bin ich froh, dass sie hier im Haus gleichaltrige Freunde gefunden hat.“ Sie nickte kurz zum Kinderzimmer hinüber, aus dem lustige Musik eines ihm unbekannten Kinderchors herüber klang. „Sie versteht sich wirklich gut mit den Nachbarskindern.“
Latour senkte die Stimme ein wenig, damit ihn die Kinder nicht hören konnten. Vielleicht stand ja auch schon Ms. Watanabe ängstlich hinter der Tür und lauschte, was er mit ihrer Nachbarin zu besprechen hatte. „Diesen Umgang halte ich angesichts der politischen Umstände für ein wenig problematisch, Ms. Corvillo. Es gibt heutzutage Menschen, von denen man sich besser fernhalten sollte.“
Wenn sie begriff, worauf er anspielte, dann ließ sie es sich nicht anmerken. „Aber es sind wirklich nette Kinder“, meinte sie. „Gut erzogen und freundlich. Sophie hätte es weitaus schlimmer treffen können.“
Fast bewunderte er ihren Mut. Viele Menschen hatten sich bereits von ihren asiatischen Nachbarn losgesagt, sie aber ignorierte die Gegebenheiten einfach. „Das will ich nicht bezweifeln. Aber es sind nun einmal die Kinder asiatischer Einwanderer. Und die sind heutzutage nicht mehr gern gesehen in unserem Staat. Sie sollten die Zeichen der Zeit nicht ignorieren.“ Er beugte sich ein wenig vor, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. „Ms. Corvillo, so weit ich weiß, sind Sie doch die Witwe eines verdienten Piloten, Sie sollten also die Gründe für unsere Politik kennen. Seien Sie klug und brechen Sie solche Kontakte zugunsten wertvolleren Umgangs ab. Ich kann nur an Sie appellieren, das auch im Interesse Ihrer Tochter zu tun.“
„Sie meinen es sicher gut mit uns“, lenkte sie ein, „und ich werde über Ihre Worte nachdenken, Kommissar. Und Sophie muss natürlich auch dazu gefragt werden.“ Ab ihrem Hals bildeten sich rote Flecken, so aufgeregt war sie nun.
„Es ist mir wichtig, dass Sie mich nicht für Ihren Feind halten“, erwiderte er beschwichtigend. „Es war nur ein gut gemeinter Ratschlag von mir. Ich will Sie dann auch nicht länger aufhalten.“ Er streckte ihr die Hand hin, die sie nach kurzem Zögern ergriff. Latour liebte es, anderen Menschen die Hand zu geben, weil er dabei das Gefühl der Macht verspürte, die Knochen seines Gegenübers jederzeit zerbrechen zu können. Seit einem Gefecht im Dienst hatte er diese kybernetische Hand, ein Konstrukt aus edelstem Stahl und modernster Elektronik. Von außen war sie mit täuschend echtem Hautimitat überzogen. Sogar die Adern und Sehnen wirkten täuschend echt. Er blickte beim Händedruck immer in die Augen seine Gegenübers um darin nach einem Zeichen des Erkennens zu forschen, aber bisher hatte noch niemand diese Besonderheit erkannt. Ms. Corvillo bemerkte auch nichts. Als er sich zum Gehen wandte, schloß sie die Tür allerdings einen Hauch zu hastig.
Er würde über das Gespräch eine Meldung machen müssen, aber die Formulierung lag in seinem Ermessen. Vorerst würde er der jungen Witwe keine Schwierigkeiten machen, sie aber weiter im Auge behalten. Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas an ihr seltsam war. Eventuell hatte sie etwas zu verbergen, das weitaus bedeutsamer war als die gute Nachbarschaft zu den Watanabes.
***
Während der zweiten Reisewoche zu einem immer noch unbekannten Ziel wurde die Stimmung an Bord der Najade immer gedrückter. Die Ungewissheit lastete schwer auf den an Bord versammelten Wissenschaftlern. Hinzu kamen die überall präsenten schwer bewaffneten Wachen in ihren schwarzen Overalls und dunklen Helmen, die jede Bewegung zu registrieren schienen. Manch einer stellte sich die Frage, warum ein so großes Kontingent an Wachpersonal für ein gutes Dutzend Passagiere vonnöten war. Hier stellte niemand eine Bedrohung dar, es schien schier unmöglich zu sein, dass jemand irgend etwas an Bord geschmuggelt haben sollte, das nur im entferntesten einer Waffe gleich kam. Sogar die Messer, die zu den Mahlzeiten ausgegeben wurden, waren so stumpf, dass man mit ihnen kaum eine Scheibe Brot durchschneiden konnte. Einer der Ärzte aus der Gruppe hatte gar angemerkt, diese Messer seien eher für eine geschlossene psychiatrische Abteilung gemacht als für eine hungrige Reisegruppe.
Ein weiteres Rätsel stellte die Zusammensetzung der an Bord befindlichen Wissenschaftler dar. Lavinia Drosczek hatte zunächst vermutet, es handele sich hauptsächlich um Techniker, die für den General an einem Prototypen arbeiten sollten, welcher der Delta VII das Wasser reichen konnte, aber in ihren Gesprächen mit den anderen Passagiere hatte sie schnell erfahren, dass es sich scheinbar um eine willkürlich zusammengewürfelte Gruppe von Ärzten, Biologen und Technikern handelte, die alle ebenso ratlos wie sie waren, warum man sie für diesen Flug ausgewählt hatte. Angesichts der Wachen konnten sie sich nur vorsichtig austauschen, denn jedes ihrer Gespräche wurde zweifellos überwacht. Zwar schienen die Schwarzuniformierten manchmal dazustehen wie leblose Statuen, aber niemand zweifelte daran, dass sie jedes Wort gewissenhaft überwachten. Mit Schaudern erinnerte sich Lavinia an einen Zwischenfall vor einigen Tagen. Sie hatten beim Abendessen gesessen, einer trostlosen Mahlzeit, die aus dünnem Tee, ein paar Scheiben Brot, Käse und einem Proteinbrei bestand. Dennoch war es die Zeit, in der sich Gespräche führen und Kontakte knüpfen ließen. Es wurde zwar nicht gern gesehen, dass die Wissenschaftler sich miteinander austauschten, aber bisher hatte niemand ihre Gespräche verboten. Bis Ludger Thomas, einer der Ärzte, die Unterhaltung auf ein brenzliges Thema gebracht hatte, den Grund ihres Fluges. Im Laufe des Gespräches hatte er sich immer mehr darüber aufgeregt, wie sehr sie von Major Brendon darüber im Unklaren gelassen wurden, wohin die Reise gehen sollte. „Ich bin ein qualifizierter Forscher“, meinte er aufgebracht, „so wie wir alle hier. Wir sollten nicht so behandelt werden. Schließlich sind wir keine Gefangenen, das jedenfalls hat man mir versichert, als ich mich auf dieses Abenteuer einließ!“
Die anderen am Tisch hatten zustimmend gemurmelt, auch wenn sie ängstliche Blicke auf die Wachen geworfen hatten. Doch Thomas hatte sich nicht bremsen lassen und weiter seine Gedanken ausgeführt. „Wir können uns ja noch nicht mal auf unsere bevorstehende Aufgabe vorbereiten und vergeuden hier wichtige Zeit. Noch nicht mal meine Aufzeichnungen hat man mir gelassen! Wie soll ich so arbeiten können?“
Eine der anderen Ärztinnen hatte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm gelegt und ihm bedeutet, er solle sich zurückhalten, aber es war schon zu spät. Die Tür des Decks hatte sich geöffnet und Major Brendon war auf der Bildfläche erschienen. Mit wenigen energischen Schritten hatte er den Tisch erreicht und hatte sich kerzengerade davor aufgestellt, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen. „Man berichtete mir, Sie hätten eine Beschwerde, Dr. Thomas?“ Seine Stimme hatte kühl und schneidend geklungen.
„Es ist mir egal, wie Sie es nennen möchten“, hatte Thomas erwidert. „Beschwerde oder Unzufriedenheit, das ist mir vollkommen egal.“ Noch immer hatte die Hand der Ärztin auf seinem Arm gelegen, doch krallte diese sich nun förmlich in seinen Ärmel. „Ich möchte einfach nur wissen, wohin uns dieser verfluchte Transport bringt, das ist doch wohl nicht zu viel verlangt, oder? Außerdem brauche ich dringend meine Aufzeichnungen, wenn ich für Sie arbeiten soll.“
„Teilen die anderen Passagiere Ihre Neugier, Doktor?“, hatte Brendon gefragt, ohne auf seine Äußerungen einzugehen. Er hatte mit eisigem Blick in die Runde geschaut. Niemand hatte geantwortet, die Angst saß bei allen tief. Brendon hatte sich geräuspert und ein zufriedenes Lächeln aufgesetzt. „Sie sehen, Doktor, Sie sind der einzige hier. Deswegen kann ich Sie nur eindringlich warnen, Ihre Hetzreden zu unterlassen. Ich werde nicht dulden, dass Sie hier für schlechte Stimmung sorgen oder die Moral der Anwesenden untergraben. Sollte mir so etwas noch einmal zu Ohren kommen, dann werde ich Maßnahmen dagegen ergreifen. Stecken Sie Ihre Energie besser in Ihre Arbeit!“ Er hatte noch einmal einen drohenden Blick in die Runde geworfen, unter dem sich die Anwesenden ängstlich weggeduckt hatten. „Ich hoffe, ich werde nicht gezwungen sein, Ihnen allen zukünftig gemeinsame Mahlzeiten zu untersagen, sollte sich so etwas wiederholen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch ein angenehmes Abendessen!“ Mit diesen Worten hatte er sich auf dem Absatz umgewandt und war gegangen.
Für ein paar Tage hatte es so ausgesehen, als ob Thomas sich an Brendons Anweisung halten wolle, wenn auch nur aus Angst vor den angedrohten Konsequenzen. Zwar wusste niemand, welche das sein sollten, aber Brendons schiere Drohung hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Lavinia wusste nicht, ob Thomas vor seiner Zwangsverpflichtung ebenfalls in einem Gefängnis der III. Abteilung gewesen war, aber auch wenn er davon verschont geblieben war, so musste ihm bewusst sein, zu welchen Mitteln die uniformierte Polizei zu greifen bereit war. Auch wenn es verboten war, darüber zu sprechen, so wusste doch eigentlich jeder Bescheid, wenn auch nicht in allen Einzelheiten. Bei den folgenden Mahlzeiten war Thomas still geblieben, so als verbiete er sich selbst den Mund. Selbst an den harmlosen Scherzen, die ab und zu die Runde machen, beteiligte er sich nicht.
Lange freilich hielt seine Zurückhaltung nicht vor. Als Lavinia eines Abends den Aufenthaltsraum betrat, um eines der wenigen ihnen erlaubten Bücher am Lesegerät zu lesen, sah sie Thomas mit einem der Biologen, Antonio Ragusi, dort sitzen und sich leise unterhalten. Sie bemühte sich zunächst, das Gespräch zu ignorieren und zog sich einen Stuhl vor den Bildschirm, aber nach ein paar Seiten stellte sie fest, wie wenig sie sich auf den Text des Buches konzentrieren konnte, denn die leisen Worte schienen sie wie magisch anzuziehen.
„Wenn wir auch die anderen dazu bewegen können, Brendon ein paar gezielte Fragen zu stellen, dann wird er nicht mehr ausweichen können“, sagte Thomas gerade. „Er kann sich nicht gegen uns alle stellen, schließlich sind die auf uns doch angewiesen. Warum sonst sollten sie uns auf diesen Flug geschickt haben, anstatt uns im Gefängnis versauern zu lassen? Der ist mehr auf und angewiesen als wir auf ihn, glauben Sie mir!“
„ich weiß nicht, ob Sie da nicht ein bisschen zu leichtfertig sind, Thomas“, erwiderte Ragusi nachdenklich. „Und wie wollen Sie das bewerkstelligen? Sie können schließlich schlecht eine Petition verfassen!“
„Warum eigentlich nicht? Ich könnte es heute Abend vorschlagen, dann werden wir sehen, wie die anderen reagieren. Mehr als nein sagen können sie nicht, aber ich werde auf jeden Fall versuchen, sie zu überzeugen!“
„Sie wissen, wie ungern derlei Gespräche von unseren Wachen gesehen werden! Die Wachen werden bestimmt sofort wieder Brendon auf den Plan rufen, und Sie wissen, was er Ihnen angedroht hat. Wollen Sie es wirklich darauf ankommen lassen?“
„Ich für meinen Teil bin dazu bereit. Was soll Brendon schon tun? Mir den Hintern versohlen? Ich wette, er hat den Auftrag, uns alle heil und an einem Stück an unserem Ziel abzuliefern.“ Thomas stand kurz auf, um sich einen Becher Kaffee aus dem Automaten zu ziehen. Er bot Ragusi auch einen an, aber dieser lehnte dankend ab. Dann setzte er sich wieder geräuschvoll hin.
„Was erhoffen Sie sich eigentlich davon, dass Brendon Ihre Fragen beantwortet? Wir können unser Flugziel ja doch nicht beeinflussen.“
„Aber wir wüssten wenigstens, woran wir sind! Ich für meinen Teil werde nur ungern in einen Teil unseres Sonnensystems verschleppt, den ich nicht kenne. Wenn ich jedoch wüsste, wohin unsere Reise geht, dann wüsste ich wenigstens, wie unsere Chancen stehen, von dort auch wieder fort zu kommen.“
„Also, das sind aber wirklich kühne Pläne! Wollen Sie etwa ein Raumschiff kapern, oder was stellen Sie sich da genau vor?“
„Nun, das ist schließlich sogar unserem neuen Regierungschef gelungen, oder ist er nicht von einer Raumstation geflohen?“
„Das lässt sich doch nicht vergleichen!“, brauste Ragusi auf und warf resignierend die Hände in die Luft. „Der General hatte schließlich eine Menge Helfer, die ihn da raus geholt haben. Und selbst, wenn es uns gelänge, wo wollten Sie dann hin?“
„Ich habe gehört, die Venus wolle auf ihrer Unabhängigkeit bestehen...“
Lavinia hörte atemlos zu, wagte kaum, sich auf ihrem Stuhl zu rühren. Was Thomas da vorschlug, grenzte an Meuterei. Sie wunderte sich nur, das Brendon nicht bereits mit seinen Leuten im Aufenthaltsraum aufgetaucht war und ihn abführen ließ. Am besten war es wohl, wenn sie sich so schnell wie möglich in ihre Kabine zurückzog, auch wenn das feige war. Aber sei hielt es für unsinnig, sich wegen Thomas' Luftschlössern Ärger einzuhandeln. Leise stand sie auf und wollte sich davonschleichen. Aber Thomas hatte sie schon bemerkt.
„Und Sie, Drosczek?“, fragte er. „Was halten Sie von einer Petition? Sollten wir nicht ein wenig entschiedener gegen unseren Bewacher vorgehen?“
„Ich halte das zum jetzigen Zeitpunkt für wenig sinnvoll“, erwiderte Lavinia und kam sich wie ein erbärmlicher Feigling dabei vor. „Was hätten wir denn schon davon? Lassen wir uns doch einfach davon überraschen, was auf uns zukommt, wir werden es schon früh genug erleben.“
„Sind Sie da sicher? Vielleicht ist es dann schon zu spät.“
Lavinia warf einen ängstlichen Blick auf die Wachen am Ende des Ganges, die wieder einmal vollkommen reglos dastanden. Wäre nicht hin und wieder eine Ablösung erschienen, hätte man glauben können, Brendon hätte Wachsfiguren oder Roboter dort aufgestellt. Vielleicht waren sie es auch, Roboter, darauf programmiert, Menschen zu bewachen. Das Risiko, sich mit ihnen anzulegen, erschien ihr jedenfalls ein zu hoher Preis dafür zu sein, nur um zu erfahren, wohin die Reise ging, auch wenn sie das brennend interessiert hätte. Sie verabschiedete sich eilig und floh in ihre Kabine, wo sie sich auf dem Bett ausstreckte. Nach einigen Sekunden bemerkte sie, dass sie vor Angst und Aufregung zitterte. Sie erwartete, dass jeden Moment die Tür zu ihrer Kabine aufgerissen würde und ein Schwarzuniformierter sie hinaus zerrte. Aber nichts dergleichen geschah. Lavinia beschloss zu duschen und sich für die Nacht fertig zu machen, eine weitere Nacht, die sie ihrem Ziel entgegenbrachte.
Sie schlief unruhig, horchte im Dunkeln auf jedes Geräusch, das durch die dünnen Wände der Kabine drang. Nebenan schnarchte jemand laut, sein Ausatmen klang wie das Schnauben eines Pferdes. Ein anderer Nachbar duschte und summte dabei vor sich hin. Das Plätschern des Wassers drang so laut zu ihr vor, als liefe es direkt neben ihr vorbei, die Wände mussten wirklich dünn wie Papier sein. Aber das war wahrscheinlich so gewollt, als die Najade in aller Eile zu einem Passagierschiff umgebaut wurde. Hier konnte man nichts vor seinem Nachbarn verbergen. Lavinia verfiel in einen unruhigen, leichten Schlaf.
Sie wusste nicht, wie lange sie bereits geschlafen hatte, als sie laute Schritte auf dem Gang hörte, aber sie saß mit einem Male kerzengerade im Bett. Ihr Herz pochte bis zum Hals und eine unbestimmte Angst lähmte sie. Ihre Neugier drängte sie, zur Tür zu gehen und auf den Gang hinaus zu spähen, aber sie wagte nicht, sich zu rühren. Eine Stimme, wahrscheinlich die des Majors, bellte ein paar knappe Befehle und eine Tür wurde aufgerissen. Die Stiefel der Bewacher dröhnten auf dem Kunststoffboden des Decks. Lavinia hörte laute Schreie, einen gerufenen Protest. Es war die Stimme von Ludger Thomas, der seine nächtlichen Besucher zornig fragte, was sie von ihm wollten. Niemand antwortete ihm, aber irgend etwas geschah in seiner Kabine. Plötzlich hörte Lavinia den Arzt gellend aufschreien, vor unbändigem, unvorstellbarem Schmerz. Sie hielt sich die Ohren zu, aber die Schmerzensschreie drangen trotzdem weiter zu ihr vor. Sie wusste nicht, was die Wachen unter Brendons Anleitung mit ihm anstellten, aber es musste grausam und furchtbar sein. Und Brendon wollte, dass es alle hörten. Zur Abschreckung und zur Einschüchterung. Er hatte absichtlich eine gewisse Zeit verstreichen lassen, bis er Thomas für seine Worte bestrafte, bis mitten in der Nacht, wo ein trügerisches Gefühl der Sicherheit die Passagiere einhüllte. Die Schreie nahmen kein Ende, auch wenn es kaum noch vorstellbar schien, steigerte sich ihre Intensität noch über das Unerträgliche hinaus. Lavinia spürte Tränen in ihre Augen steigen. Brendons Botschaft war nur zu deutlich, er wollte, dass sie alle wussten, was ihnen bevorstand, sollten sie sich auch nur noch ein einziges Mal mit kritischen Gedanken tragen. Die Zeit schleppte sich dahin, und noch immer ließen die Wachen nicht von Thomas ab. Er schrie und schrie, bis seine Stimme heiser wurde. Bald hatte er noch nicht einmal mehr dazu die Kraft und man hörte ihn heftig schluchzen und seine Bewacher anflehen, sie mögen aufhören. Aber sie hörten nicht auf, quälten ihn weiter, wie auch immer. Eine halbe Stunde ging das so, aber es hätte auch ein Tag oder ein Monat sein können, so unendlich lang erschien es. Lavinia rollte sich auf ihrem Bett zusammen wie ein ängstliches Kind, zog sich das Kissen über die Ohren, aber es half nichts gegen die entsetzlichen Bilder, die vor ihrem inneren Auge auftauchten. Dann endlich war es vorbei, die Wachen zogen geräuschvoll ab und gespenstische Stille legte sich über das Deck. Lavinia fühlte sich, als sei sie selbst gefoltert worden.
Die nächsten zwei Tage erschien Thomas nicht im Aufenthaltsraum, eine Wache brachte ihm sein Essen. Erst am dritten Tag ließ er sich wieder sehen, und auch, wenn ihm äußerlich nichts anzusehen war, so verrieten doch seine leeren Augen, dass er Schreckliches durchgemacht hatte. Wie ein gebrochener Mann schlurfte er in gebückter Haltung zu einem der Stühle und ließ sich darauf fallen. Die anderen blickten beschämt zur Seite, manche sogar vorwurfsvoll, als habe er sich das Erlittene selbst zuzuschreiben. Lavinia lächelte ihm zaghaft zu, aber er erwiderte ihren Blick nicht, bedankte sich nur kurz, als sie ihm einen Kaffeebecher zuschob. Die anderen rückten von ihm ab als habe er die Pest.
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