Die Herrschaft des Phönix
von Mirjam Lea
Kurzbeschreibung
General Smith konnte aus der Gefangenschaft entkommen und schickt sich ein zweites Mal an, die Herrschaft in der EAAU zu übernehmen. Aber auch seine grausamen Methoden schaffen es nicht, jeden Widerstand erlahmen zu lassen... (Anmerkung: Es handelt sich um eine radikale Neufassung von der Innere Zirkel, die jetzt auf Gleichgewicht des Schreckens ausbaut.)
GeschichteDrama / P16 / Gen
Gordon B. Smith
Samuel Hirschmann
19.08.2009
28.09.2010
27
114.525
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19.08.2009
4.016
Die Bar im oberen Stockwerk des Regierungsgebäudes stand nur hohen Offizieren und Ministern offen, nur auf Einladung durften auch andere Besucher die exklusiven Räumlichkeiten betreten. Die Einrichtung war edel gestaltet, mit Messingbeschlägen an der Theke, ledernen Clubsesseln und teuren Teppichen. An den Wänden hingen Drucke zeitgenössischer Künstler. Neben der gedämpften regulären Beleuchtung tauchten Kerzen in Gläsern den Raum in flackerndes Licht. Es duftete nach Leder und dem Rasierwasser der anwesenden Offiziere. Nur wenige Frauen waren anwesend, einige saßen an der eigentlichen Bar, andere unterhielten sich in den Sitzecken.
Isabel war einigermaßen nervös, als sie an der Seite des Generals die Bar betrat. Seltsamerweise hatte sie auf dem Weg nach oben an Tim Selbert denken müssen, der so plötzlich aus ihrem Leben verschwunden war. Wo mochte Tim jetzt sein? Sie nahm sich vor, bei passender Gelegenheit nach seinem Verbleib zu forschen. Eigentlich musste es doch möglich sein, seinen Einsatzort herauszufinden. Es wunderte sie immer noch, warum aus ihm so plötzlich ein Anhänger des Generals und der Reinigenden Flamme geworden war, aber scheinbar hatte er in seiner Spezialeinheit seine Bestimmung gefunden. Sein schroffes Benehmen war ihr in unangenehmer Erinnerung geblieben. Sie hatte sich wirklich einen freundschaftlicheren Abschied gewünscht, schließlich waren sie mehrere Monate ein Paar gewesen. Aber sie würde wohl nie mehr herausfinden, warum er sich so schnell von ihr abgewandt hatte.
„Und? Gefällt es Ihnen hier?“, fragte der General in ihre Gedanken hinein.
„Aber ja, es sieht sehr edel aus.“
Smith trug noch immer seinen Maßanzug, sie ihre Uniform. Sie hatten noch lange gearbeitet, erst als es draußen schon dunkel wurde, hatte er zum Aufbruch gedrängt und seinen Hund der Obhut eines Adjutanten überlassen. Nachdem er kurz die Glückwünsche der anwesenden Offiziere zu seinem Einzug ins Regierungsgebäude entgegen genommen hatte benahm er sich wie ein perfekter Gentleman, reichte ihr seine Hand, als sie auf einen Barhocker kletterte und fragte, was sie trinken wolle. Da ihr schon vor Aufregung schwindelig war, wollte sie nichts riskieren und bestellte sich lediglich einen leichten Weißwein. Der General orderte sich einen doppelten Whisky mit Eis. Die junge Barkeeperin beeilte sich, ihre Wünsche zu erfüllen, auch sie schien ein wenig nervös zu sein, den General persönlich vor sich zu haben. Smith hob sein Glas.
„Auf eine hervorragende Mitarbeiterin!“, sagte er lächelnd. „Und auf eine lange Zusammenarbeit im Dienste der Reinigenden Flamme!“
„Darauf hoffe ich auch, Sir!“ Isabel nippte an ihrem Glas. „Außerdem auf einen erfolgreichen Tag morgen!“
„Meine Leute haben dafür gesorgt, dass er erfolgreich sein wird“, erwiderte er geheimnisvoll. „Das hoffe ich jedenfalls. So richtig entspannt werde ich erst morgen Abend sein!“
„Ich hörte, Tom Collins kommentiert den Auftritt des Präsidenten? Dann kann doch eigentlich nichts mehr schief gehen.“ Noch so ein Rätsel. Auch Collins war plötzlich wie ausgewechselt. Das Charisma des Generals musste einfach überwältigend sein, wenn es sogar einen Zweifler wie diesen Journalisten überzeugt hatte. Die Menschen in der Hauptstadt schätzten seine Kommentare, es konnte also nur zum Besten der EAAU sein, wenn er beschwichtigend auf sie einredete.
„Auch Tom Collins war ein harter Brocken. Aber schließlich hat er doch noch begriffen, was der richtige politische Weg ist.“
Ein südländisch aussehender Mann löste sich aus einer der Sitzgruppen und kam auf sie zu. Den Schulterklappen nach war auch er ein General, wenn auch nur mit zwei Sternen ausgezeichnet. Er lächelte breit und ging mit weit ausgebreiteten Armen auf Smith zu. „Gordon, mein Freund, ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir zu deinem überwältigenden Sieg zu gratulieren! Endlich bist du wieder da, wo du hingehörst! Und ich sehe, du gönnst dir ein wenig nette Gesellschaft und einen Whisky zur Belohnung!“
„Und dann kommst du gleich und willst mir die nette Gesellschaft streitig machen, wie ich dich kenne?“ Smith klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter und ließ sich in eine kurze Umarmung ziehen. „Seien Sie vorsichtig mit diesem Mann, Lieutenant Montero, das ist Fabrizio Conti, der schlimmste Frauenheld der Armee. Dabei ist er seit Jahren mit einer wunderbaren Frau dauerverlobt. Aber sie muss sich wohl noch ein paar Jahre die Augen nach ihm ausweinen.“
Isabel wusste nicht recht, was sie von dieser Aussage des Generals zu halten hatte und beschloss daher, zunächst zurückhaltend zu sein. „Sie sind ein alter Kampfgenosse des Generals nehme ich an?“
„Wir sind fast zur selben Zeit der Reinigenden Flamme beigetreten“, erklärte Conti. „Wobei wir uns noch immer streiten, wer zuerst die Idee hatte.“
„Es kann sich nur um Tage gehandelt haben“, meinte Smith schmunzelnd. „Aber die Hauptsache ist doch, dass wir beide den richtigen Weg eingeschlagen haben.“
„Das sagst du nur, weil ich letztendlich zuerst aufgenommen worden bin. Aber davon willst du heute natürlich nichts mehr wissen.“
Isabel fragte sich, ob sich hinter diesen scherzhaften Worten nicht doch ein gewisses Konkurrenzdenken der beiden Männer verbarg. Bei der letzten Bemerkung Contis hatte Smith Mundwinkel für einen kurzen Moment kaum merklich gezuckt und der Blick seiner Augen war hart geworden, sie hatte ihn wohl heftiger getroffen, als er zugeben würde.
„Dafür wartest du noch immer auf deinen dritten Stern“, merkte er lächelnd an, „und wenn du mich weiter vor Lieutenant Montero bloß stellst, lasse ich dich auch noch ein Weilchen zappeln.“
„Das würde dir ähnlich sehen!“
Smith leerte seinen Whisky in einem Zug. „Du weißt, ich bin verdammt nachtragend, mein Freund.“
„Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, einen gemeinsamen Versöhnungsschluck zu nehmen?“, fragte Isabel vorsichtig.
„Nehmen Sie uns nicht zu ernst, Lieutenant“, meinte Conti und bestellte sich dennoch einen Whisky. „Wie Sie schon sagten, wir sind alte Kameraden, ab und zu brauchen wir das. Immerhin haben wir uns in der Verbannung sieben Jahre gegenseitig auf der Pelle gehangen, ohne ein wenig Humor wäre das nicht zu ertragen gewesen.“
„Das ist wohl eine schlimme Zeit für Sie beide gewesen?“, fragte Isabel mitfühlend. Die Tatsache, dass die beiden für ein Kriegsverbrechen verurteilt worden waren, verdrängte sie schnell.
„Wir hatten viel Zeit zum Nachdenken“, meinte Smith. „Um unsere Leitlinien noch einmal zu überdenken.“
„Mit Erfolg, sonst wären wir jetzt nicht hier“, Conti klopfte Smith noch einmal auf die Schulter und zwinkerte Isabel zweideutig zu. „Aber ich will nicht länger stören und ziehe mich wieder in meine Sitzecke zurück. Vielleicht habe ich ja Glück und finde ebenso charmante Gesellschaft.“
Smith schien erleichtert zu sein als Conti schließlich ging, auch wenn er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Auch trank er jetzt gemächlicher und lenkte das Gespräch auf unverfänglichere Themen. Der General schien mit seiner Uniform auch seine Zurückhaltung abgelegt zu haben, gab sich ganz als Privatmann. Er schlug ihr Orte in Metropolis vor, die sie unbedingt besuchen solle, Parks und Museen. Auch pries er die Einkaufsmöglichkeiten der Stadt, die sie als Frau doch bestimmt interessierten. Isabel vergab ihm die klischeehafte Bemerkung, auch weil er ihr erzählte, wie gern seine erste Frau neue Kleider und Schuhe gekauft hatte, was ihn nie gestört habe. Isabel hatte nicht gewusst, dass er vor Emma Rodriguez schon einmal verheiratet gewesen war und verkniff sich die Frage, was aus dieser ersten Frau geworden war. Von Emma erzählte er nichts, was ihr auch Recht war. Sie mochte nichts über die Frau hören, deren Bild noch immer auf seinem Schreibtisch stand. Im Gegenzug berichtete sie ihm einiges über ihr Leben, was sie nach Asinara verschlagen hatte und warum sie überhaupt zur Armee gegangen war. Sie hatte große Zukunftspläne daran geknüpft, von einer Karriere geträumt. Er versicherte ihr, dass er sie in ihren Bemühungen unterstützen würde. Die Zeit verging wie im Flug, die Bar begann sich bereits zu leeren, und sie unterhielten sich immer noch.
„Isabel“, er benutzte das erste Mal ihren Vornamen, „ich hoffe, Sie verstehen es jetzt nicht falsch, wenn ich Ihnen das sage, aber mir liegt viel an Ihrer Gesellschaft. In meiner Position gibt es nicht viele Menschen mit denen man reden kann, aber Sie sind so ein Mensch. Ich mag Sie, aber ich will mich Ihnen nicht aufdrängen. Sie sollen nicht das Gefühl haben, dass ich meine Position als Ihr Vorgesetzter ausnutze...“
„Aber das glaube ich nicht, Sir.“ Ihr Herz begann zu rasen.
„Wenn ich Ihnen zu nahe komme, sagen Sie es mir nur, ich werde es akzeptieren.“ Er griff nach ihrer Hand, die auf der Tischplatte lag und drückte sie. „Sie sind eine sehr hübsche junge Frau und gefallen mir sehr gut.“
Eindeutiger konnte er seine Absichten nicht ausdrücken. Schnell trank Isabel noch einen Schluck Wein. „Sir, ich weiß nicht, was ich sagen soll...“
„Ich kann Sie nur bitten, mir einen Teil Ihrer Freizeit zu widmen“, meinte er lächelnd.
Vielleicht, wenn er sie mehr gedrängt oder seine Position tatsächlich stärker herausgestrichen hätte, wäre es ihr leichter gefallen, seinem Ansinnen zu widerstehen. So aber drängte es sie geradezu, seine Zweifel zu zerstreuen. „Das macht mich jetzt ein wenig verlegen“, gab sie zu.
„Aber es gibt keinen Grund für Verlegenheit.“ Er beugte sich zu ihr hinüber. Sein Mund streifte ihre Schläfe. „Sie können immer noch zurück. Ich würde Ihnen dennoch keine Steine in den Weg legen.“
Sie glaubte ihm kein Wort, aber seine Anziehungskraft war einfach überwältigend. „Vielleicht will ich gar nicht zurück“, sagte sie und lächelte.
„Wenn ich Sie jetzt bitte, zu bleiben, werden Sie nicht nein sagen?“ Seine Fingerspitzen wanderten über ihre Wange, dann beugte er sich zu ihr hinüber und küsste sie sanft auf den Mund.
„Ich bleibe sogar gern“, erwiderte sie und spürte gleichzeitig, wie ihre Befangenheit ihm gegenüber zusehends abnahm.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war er schon gegangen. Nun lag sie allein in einem der Gästezimmer des Regierungsgebäudes und fragte sich, ob sie vielleicht doch zu schnell nachgegeben und zu leichtfertig gehandelt hatte. Sie hatte das Zusammensein mit ihm sehr genossen, er war erfahren und zärtlich, aber nun blieb ihr ein schaler Nachgeschmack. Das Zimmer war bequem über einen diskreten Aufzug von der Bar aus erreichbar gewesen, böse Zungen mochten dahinter eine eindeutige Absicht erkennen, es Paaren einfach zu machen, die in der Bar einen Drink zu viel genommen hatten. Sicherlich war der General nicht der einzige, der diese bequeme Möglichkeit eines intimen Treffens genutzt hatte. Immerhin war er so charmant gewesen, ihr einen Strauß Blumen auf seine leere Seite des Bettes zu legen. Isabel kämpfte gegen einen wütenden Impuls an, diesen gegen die Wand zu werfen. Vielleicht war der General einfach zu einer Besprechung gerufen worden, sagte sie sich, das musste alles nicht bedeuten, dass er sie nur benutzt hatte.
Sie sah auf die Uhr, es war kurz vor sieben. Gerade noch genug Zeit, um schnell ihr kleines Apartment Im Regierungsviertel aufzusuchen, zu duschen und etwas Frisches anzuziehen. Schließlich war heute der große Tag, an dem der ehemalige Präsident seine Rede halten sollte. Auch Isabel war zu der Feierlichkeit eingeladen und sie dachte nicht daran, sie zu versäumen. Vorher allerdings musste sie noch ins Büro, was ihr zwiespältige Gefühle verursachte, wie mochte Smith auf ihr Erscheinen reagieren? Kühl und gelassen? Oder freute er sich, sie zu sehen? Im schlimmsten Fall bereute er es selbst bereits, dass er sich mit ihr eingelassen hatte. Sie schlüpfte rasch in ihre Kleider und griff nach dem Blumenstrauß.
Gegen halb neun erreichte sie ihr Büro, wo sie bereits erwartet wurde. Einige Offiziere harrten darauf, zu Smith vorgelassen zu werden und unterhielten sich leise. Der General hatte ihr eine Notiz auf dem Schreibtisch hinterlegt, sie möge sich gleich bei ihm melden, sobald sie einträfe. Sie stellte rasch ihre Tasche ab und ging an den beiden Wachen vorbei durch die Tür.
„Guten Morgen, Lieutenant“, grüßte sie der General gut gelaunt und zwinkerte ihr zu. Das war somit auch geklärt, sie würden in der Öffentlichkeit bei der förmlichen Anrede bleiben. Isabel würde auch das überleben, wenn er nur weiterhin freundlich blieb. „Heute ist unser großer Tag, noch gute drei Stunden bis zu Hirschmanns Rede. Ich habe Ihnen einen Platz in der ersten Reihe reservieren lassen.“
„Das ist sehr freundlich von Ihnen, Sir.“
„Außerdem möchte ich Sie um einen kleinen Gefallen bitten, da ich selbst vorn bei Hirschmann beschäftigt sein werde“, der General begann vor seinem Schreibtisch auf und ab zu gehen, „es handelt sich um einen Auftrag als informelle Mitarbeiterin der III. Abteilung sozusagen. Sie müssen nicht viel dafür tun, lediglich ein wenig die Augen offen halten. Mit Ihnen vorn werden eine Menge wichtiger Leute sitzen, teilweise solche, die wir aus ihren alten Ämtern heraus übernommen haben. Da ich Sie für eine aufmerksame junge Frau halte, möchte ich, dass Sie die Gesichter dieser Menschen während Hirschmanns Rede unauffällig aber sorgsam beobachten und mir später über ihre Reaktionen berichten. Ich erhoffe mir davon Aufschluss über die tatsächliche Loyalität dieser Amtsträger, schließlich will ich mir keine wankelmütigen Opportunisten ins Haus holen. Meinen Sie, Sie kriegen das hin?“
„Ich denke schon, Sir“, erwiderte sie, auch wenn ihr die Aufgabe Unbehagen bereitete. Ihr gefiel es nicht, dass es von ihrem Urteilsvermögen abhing, ob jemand seines Amtes enthoben werden sollte oder nicht. Auch wollte sie dem General keinen Gefälligkeitsbericht liefern.
„Ich hatte auch nicht daran gezweifelt“, meinte Smith lächelnd. Er ging zu seinem Schreibtisch und nahm ein Blatt Papier von der Schreibunterlage. „Hier haben Sie die Sitzordnung, prägen Sie sich die Namen bis heute Mittag so gut wie möglich ein. Wir wollen ja nicht, dass es zu einer Verwechselung kommt, das könnte für den Betreffenden üble Folgen haben.“ Er lachte leise.
Isabel warf einen Blick auf die Liste, auf der die Plätze der ersten zwei Sitzreihen mit Namen beschriftet waren. Es handelte sich um mindestens dreißig Personen, sie fragte sich, wie sie alle diese Menschen gleichzeitig im Auge behalten sollte. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so viele sind“, sagte sie ehrlich.
„Meinen Sie, dass Sie damit überfordert sind?“, fragte Smith mit unüberhörbarer Enttäuschung in der Stimme. „Ich kann den Auftrag auch jemand anderem geben, wenn Sie nicht in der Lage sind, ihn auszuführen.“
„Aber, nein, Sir“, wehrte sie verzweifelt ab. „Natürlich kann ich das für Sie erledigen. Ich werde mich gleich daran machen, die Namen auswendig zu lernen.“ Sie kam sich vor wie ein getadeltes Schulmädchen.
„Das freut mich“, das Lächeln war auf sein Gesicht zurückgekehrt. „Dann habe ich noch eine gute Neuigkeit für Sie: Mit sofortiger Wirkung erhebe ich Sie in den Rang eines Sonderkommissars der III. Abteilung. Ihre Aufgabe und die Ihrer Kollegen wird die innere Sicherheit sein, eine Sektion zur Überwachung der Überwacher sozusagen. Keiner von Ihnen wird wissen, wer außer ihm selbst noch in dieser Sektion arbeitet. Sie sind damit auch für die Sicherheit meiner Person zuständig, eine Aufgabe mit großer Verantwortung also. Nehmen Sie die Sache also nicht auf die leichte Schulter, ich verzeihe hier keine Fehler.“
„Das ist eine große Ehre für mich, Sir.“ Sie schluckte. Smith musste große Angst vor Übergriffen aus den eigenen Reihen haben. Sie dachte an das kurze Gespräch mit General Conti am Vorabend zurück. Auch in der Führungselite der Reinigenden Flamme gab es Neid und Konkurrenzdenken, und nicht jeder sprach es so offen aus wie Conti. Schlimmer waren diejenigen unter Smith Gefolgsleuten, die ihm nach dem Mund redeten.
„Kennen Sie bereits Colonel Dumont, den Leiter der III. Abteilung?“
Isabel hatte ihn bereits einmal am Telefon gehabt, der Colonel war ein unangenehmer Mensch, steif wie ein Besenstiel und vollkommen humorlos. „Ja, Sir, ich hatte bereits das Vergnügen.“
„Ich glaube kaum, dass es für Sie ein Vergnügen war“, erwiderte Smith kühl, als habe er sie bereits bei der ersten Lüge ertappt. „Nun, wie dem auch sei, Sie werden mit dem Colonel auskommen müssen. Und ihm gleichzeitig auf die Finger schauen.“
„Wie Sie wünschen.“ Isabel fragte sich, wie sie das bewerkstelligen sollte, wagte aber nicht noch einmal zu widersprechen. Mit der Zeit würde sie sicher in engeren Kontakt mit dem Colonel kommen, und dann würde es leichter werden, Smiths Auftrag auszuführen. In den nächsten Wochen standen laut Smiths Terminkalender so viele Parteiveranstaltungen an, dass es ein leichtes sein würde, sich den Chef der III. Abteilung einmal näher anzusehen.
„Das wäre es dann vorerst, wir sehen uns dann spätestens bei der Rede des Präsidenten.“ Er hatte sich schon abgewandt, drehte sich dann aber noch einmal um und sah sie mit einem schwer zu deutenden Blick an. „Ach übrigens, Sie sollten mal in Ihre oberste Schreibtischschublade sehen, da muss, glaube ich, etwas weggeräumt werden.“
Isabel zuckte unter seinen Worten gedemütigt zusammen. „Ja, Sir.“
Verletzt verließ sie sein Büro und setzte sich an ihren Schreibtisch. Nun, immerhin hatte er ihr einen verantwortungsvollen Posten übertragen, aber die unpersönliche Art, mit der er das getan hatte, schmerzte sie. Und was sollte nur die Bemerkung über ihren Schreibtisch, den sie stets ordentlich hielt? Mit einer ruppigen Bewegung riss sie die besagte Schreibtischschublade auf, die penibler kaum aufgeräumt sein konnte. Obenauf lag ein kleines Samtkästchen. Kurz sah sie sich um, ob niemand sie beachtete, und als sie sich unbeobachtet wähnte, nahm sie das Kästchen heraus und öffnete es. Ein Zettel fiel ihr in den Schoß, darunter kam ein Paar diamantbesetzter Ohrringe zum Vorschein. Isabel hielt überrascht den Atem an und faltete den Zettel auseinander. Er war mit der steifen Handschrift des Generals bedeckt, der ihr darin noch einmal für das Treffen in der letzten Nacht dankte und sie darum bat, das möglichst bald zu wiederholen. Isabel las den Text zweimal. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, beschloss dann aber, sich möglichst rasch wieder ihrer Aufgabe zuzuwenden, um nicht zu viel nachdenken zu müssen.
Wenige Stunden später begab sie sich in die große Festhalle des Ministeriums, in der es schon von Menschen wimmelte. Hochrangige Offiziere beiderlei Geschlechts standen in Gruppen beieinander und unterhielten sich oder hatten sich bereits auf die ihnen zugewiesenen Plätze gesetzt. Isabel sah auch einige Zivilpersonen, aber sie waren deutlich in der Minderheit. Überall waren bewaffnete Wachen mit schweren Lasergewehren postiert, teilweise unauffällig hinter den imposanten Säulen, welche den Saal in regelmäßigen Abständen zierten, andere ganz offen an den Eingängen. Einige der Wachposten gingen auch langsam im Saal umher. Der General ging kein Risiko ein. Oder ging es ihm auch darum, Hirschmann einzuschüchtern? Isabel konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass der Altpräsident seine Meinung so schnell geändert haben sollte und eine Rede zugunsten des neuen Machthabers halten würde. Aber Smith war so zuversichtlich gewesen!
Im Hintergrund übte ein Orchester, das unterhalb des Podiums saß. Das Podium selbst war mit Blumen geschmückt und mit den Fahnen der Reinigenden Flamme beflaggt. Eine schwarz uniformierte junge Frau beaufsichtigte eine Gruppe von Kindern, die Mädchen in rosa Kleidchen und die Jungen in dunklen Samtanzügen. Zwei der Mädchen hatten Blumensträuße in den Händen, die offensichtlich später an die Redner überreicht werden sollten. Die Kinder zappelten ungeduldig, während die Frau unablässig auf sie einredete. Weiter vorn hatten die Kamerateams Aufstellung genommen, die Kommentatoren der verschiedenen Fernsehsender saßen in einer Glaskabine an der Seite des Saals. Die gesamte EAAU würde an ihren Schilderungen des Ereignisses teilhaben. Isabel erkannte Tom Collins, den bekannten Fernsehmoderator unter ihnen. Gerade klopfte er einem Kollegen auf die Schulter und wandte sich dann wieder seinen Aufzeichnungen zu.
Ein kleines Namensschild wies Isabel auf ihren Platz hin. Als sie sich setzte, versuchte sie, möglichst gelassen zu wirken und sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. Ein Teil der Stühle war bereits besetzt und sie rief sich die Namen der Männer und Frauen ins Gedächtnis, die dort saßen. Ein Mann, General Volkmann, schien zu dösen, sein Kinn war ihm auf die Brust gesunken und er atmete gleichmäßig. Würde das Smith auch interessieren? Vielleicht konnte man es als Desinteresse an der Politik des Generals auslegen. Isabel fragte sich, wie viele Mitarbeiter der III. Abteilung mit der gleichen Aufgabe im Publikum saßen. So unauffällig wie möglich ließ sie ihren Blick schweifen. Wie sie hatten die Offiziere ihre Ausgehuniformen angelegt und warteten auf das große Ereignis.
Aus unsichtbaren Lautsprechern forderte eine sanfte weibliche Stimme die Anwesenden auf, ihre Plätze aufzusuchen, die Veranstaltung würde in wenigen Minuten beginnen. Unter lautem Stimmengewirr folgten die Menschen der Aufforderung, und es dauerte tatsächlich einige Minuten, bis alle auf ihren Plätzen saßen und Ruhe einkehrte. Auch als das Orchester schon zu spielen begann, irgendetwas Klassisches, das Isabel nicht kannte, gab es noch Stimmengewirr. Dann brandete am Eingang des Saales plötzlich Applaus auf, der sich wie eine Welle nach vorn ausbreitete und die Menschen verstummen ließ. Köpfe wandten sich dem Mittelgang zu, der von General Smith und Samuel Hirschmann beschritten wurde, denen eine kleine Armee von Bewachern folgte. Smith stützte den gebrechlich wirkenden Altpräsidenten und sprach leise auf ihn ein. Hirschmann nickte ihm zu, die beiden boten ein Bild der Eintracht, wie es niemand bei ihrer gemeinsamen Vorgeschichte für möglich gehalten hätte. Gemessenen Schrittes näherten sie sich dem Podium und dem Rednerpult. Smith stützte Hirschmann auch auf den Stufen, die dieser mühsam erklomm. Der alte Mann wirkte erschöpft. Isabel sah ein kleines Pflaster an seinem Hinterkopf, wo er sich wohl verletzt hatte. Im Saal wurde es still, niemand wagte noch ein Wort zu sagen. Sogar das Rascheln von Stoff, als hinter Isabel jemand seine Beine übereinander schlug, wirkte unhöflich laut.
Smith trat neben Hirschmann ans Rednerpult und begrüßte seinen Ehrengast öffentlich. Dann fand er lobende Worte über die Verdienste des alten Mannes, der einer der beliebtesten Politiker der EAAU gewesen sei. Es sei ihm eine Freude, heute an seiner Seite zu stehen. Wieder brandete Applaus auf, der aber auf ein kurzes Handzeichen des Generals hin sofort wieder abebbte. Dann übergab Smith das Wort an seinen Gast. Die Spannung im Saal war fast körperlich zu spüren.
„Wie wir alle wissen,“ begann der Präsident nach einigen Worten der Begrüßung, „ist eine Zeit des Handelns gekommen, in der die Völker unserer Republik Hand in Hand zusammenarbeiten müssen, um Freiheit und Wohlergehen unserer Länder zu sichern, bevor eine nie gekannte Bedrohung dies alles zunichte machen kann. Wir leben in einer Zeit der Täuschung und der Gewalt, einer Gewalt, die droht, uns alle im Strudel der Ereignisse mitzureißen.“
Das war nicht die Rede, die sie mit Smith vorbereitet hatte! Entweder hatte Smith noch schnell umdisponiert oder der Präsident improvisierte. Isabel hielt den Atem an und fürchtete bereits, diese Ansprache würde für den General mit einem Debakel enden. Gleich würde Hirschmann beginnen, die Menschen aufzurütteln, sie vor der Gefahr zu warnen, die ihnen durch den größenwahnsinnigen General drohte. Er würde einen Aufstand der sogenannten anständigen Menschen heraufbeschwören, der dem unseligen Treiben unter den Vorzeichen des Ausnahmezustands ein Ende bereitete. Die Revolution des Generals war vorbei, sie stellte sich vor, dass die Kamera in diesen Sekunden auf das fassungslose Gesicht Smiths schwenkte.
„Ich bin stets ein Mann des Ausgleichs gewesen“, fuhr Hirschmann fort, „ein Freund der Demokratie und der Bürgerrechte. Diese Bürgerrechte aber sind in Gefahr." Isabels Herz schien einen Augenblick auszusetzen. Warum unterbrach Smith den Altpräsidenten nicht? „Leider muss auch ein Mann wie ich sich einmal eingestehen, wenn er Fehler gemacht hat. Mein größter politischer Fehler war es, gutgläubig den leeren Versprechungen aus Peking zu vertrauen, die uns Frieden und Zusammenarbeit verhießen. In Wirklichkeit aber bin ich einer skrupellosen Lüge aufgesessen, die uns alle an den Rand des Abgrunds manövriert hat.“
Darauf also wollte Hirschmann hinaus. Erstaunt hörte Isabel zu, wie der Präsident mit seinen Selbstanklagen fort fuhr und seine Schuld an der gegenwärtigen Situation eingestand. Hätte er doch die Gefahr durch VOR rechtzeitig erkannt und sich nicht von idealistischen Beratern täuschen lassen! Isabel suchte verwundert nach einer Botschaft zwischen den Zeilen, nach einem verräterischen Blinzeln oder einem ironischen Unterton in Hirschmanns Stimme, aber bei allem guten Willen, es ließ sich nichts dergleichen finden.
„Darum, meine Damen und Herren“, schloss der Präsident, „bin ich zu einer Entscheidung gekommen. Meine Zeit in der Politik ist abgelaufen, ich habe mein Bestes getan, aber nicht das erreicht, was ich für uns alle erreichen wollte. Daher bin ich zu dem Entschluss gekommen, für eine jüngere, entschlossenere Generation von Politikern meinen Platz zu räumen und meinen Nachfolger zu begrüßen. Ich habe diesem Mann einmal bitter unrecht getan, als ich ihn bezichtigte, ein Kriegstreiber zu sein und kann ihn nur um Entschuldigung bitten. Das soll meine Entschuldigung sein: Ich empfehle General Smith als meinen Nachfolger, da ich ihn allein für fähig halte, uns alle aus dieser Notlage zu befreien.“
Isabel ließ sich auf ihrem Stuhl zurücksinken und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig ihres Auftrages. In den Gesichtern der Menschen um sie herum war jedoch nichts als Erstaunen zu lesen. Mit dieser Entwicklung hatte wohl niemand gerechnet.
Isabel war einigermaßen nervös, als sie an der Seite des Generals die Bar betrat. Seltsamerweise hatte sie auf dem Weg nach oben an Tim Selbert denken müssen, der so plötzlich aus ihrem Leben verschwunden war. Wo mochte Tim jetzt sein? Sie nahm sich vor, bei passender Gelegenheit nach seinem Verbleib zu forschen. Eigentlich musste es doch möglich sein, seinen Einsatzort herauszufinden. Es wunderte sie immer noch, warum aus ihm so plötzlich ein Anhänger des Generals und der Reinigenden Flamme geworden war, aber scheinbar hatte er in seiner Spezialeinheit seine Bestimmung gefunden. Sein schroffes Benehmen war ihr in unangenehmer Erinnerung geblieben. Sie hatte sich wirklich einen freundschaftlicheren Abschied gewünscht, schließlich waren sie mehrere Monate ein Paar gewesen. Aber sie würde wohl nie mehr herausfinden, warum er sich so schnell von ihr abgewandt hatte.
„Und? Gefällt es Ihnen hier?“, fragte der General in ihre Gedanken hinein.
„Aber ja, es sieht sehr edel aus.“
Smith trug noch immer seinen Maßanzug, sie ihre Uniform. Sie hatten noch lange gearbeitet, erst als es draußen schon dunkel wurde, hatte er zum Aufbruch gedrängt und seinen Hund der Obhut eines Adjutanten überlassen. Nachdem er kurz die Glückwünsche der anwesenden Offiziere zu seinem Einzug ins Regierungsgebäude entgegen genommen hatte benahm er sich wie ein perfekter Gentleman, reichte ihr seine Hand, als sie auf einen Barhocker kletterte und fragte, was sie trinken wolle. Da ihr schon vor Aufregung schwindelig war, wollte sie nichts riskieren und bestellte sich lediglich einen leichten Weißwein. Der General orderte sich einen doppelten Whisky mit Eis. Die junge Barkeeperin beeilte sich, ihre Wünsche zu erfüllen, auch sie schien ein wenig nervös zu sein, den General persönlich vor sich zu haben. Smith hob sein Glas.
„Auf eine hervorragende Mitarbeiterin!“, sagte er lächelnd. „Und auf eine lange Zusammenarbeit im Dienste der Reinigenden Flamme!“
„Darauf hoffe ich auch, Sir!“ Isabel nippte an ihrem Glas. „Außerdem auf einen erfolgreichen Tag morgen!“
„Meine Leute haben dafür gesorgt, dass er erfolgreich sein wird“, erwiderte er geheimnisvoll. „Das hoffe ich jedenfalls. So richtig entspannt werde ich erst morgen Abend sein!“
„Ich hörte, Tom Collins kommentiert den Auftritt des Präsidenten? Dann kann doch eigentlich nichts mehr schief gehen.“ Noch so ein Rätsel. Auch Collins war plötzlich wie ausgewechselt. Das Charisma des Generals musste einfach überwältigend sein, wenn es sogar einen Zweifler wie diesen Journalisten überzeugt hatte. Die Menschen in der Hauptstadt schätzten seine Kommentare, es konnte also nur zum Besten der EAAU sein, wenn er beschwichtigend auf sie einredete.
„Auch Tom Collins war ein harter Brocken. Aber schließlich hat er doch noch begriffen, was der richtige politische Weg ist.“
Ein südländisch aussehender Mann löste sich aus einer der Sitzgruppen und kam auf sie zu. Den Schulterklappen nach war auch er ein General, wenn auch nur mit zwei Sternen ausgezeichnet. Er lächelte breit und ging mit weit ausgebreiteten Armen auf Smith zu. „Gordon, mein Freund, ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir zu deinem überwältigenden Sieg zu gratulieren! Endlich bist du wieder da, wo du hingehörst! Und ich sehe, du gönnst dir ein wenig nette Gesellschaft und einen Whisky zur Belohnung!“
„Und dann kommst du gleich und willst mir die nette Gesellschaft streitig machen, wie ich dich kenne?“ Smith klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter und ließ sich in eine kurze Umarmung ziehen. „Seien Sie vorsichtig mit diesem Mann, Lieutenant Montero, das ist Fabrizio Conti, der schlimmste Frauenheld der Armee. Dabei ist er seit Jahren mit einer wunderbaren Frau dauerverlobt. Aber sie muss sich wohl noch ein paar Jahre die Augen nach ihm ausweinen.“
Isabel wusste nicht recht, was sie von dieser Aussage des Generals zu halten hatte und beschloss daher, zunächst zurückhaltend zu sein. „Sie sind ein alter Kampfgenosse des Generals nehme ich an?“
„Wir sind fast zur selben Zeit der Reinigenden Flamme beigetreten“, erklärte Conti. „Wobei wir uns noch immer streiten, wer zuerst die Idee hatte.“
„Es kann sich nur um Tage gehandelt haben“, meinte Smith schmunzelnd. „Aber die Hauptsache ist doch, dass wir beide den richtigen Weg eingeschlagen haben.“
„Das sagst du nur, weil ich letztendlich zuerst aufgenommen worden bin. Aber davon willst du heute natürlich nichts mehr wissen.“
Isabel fragte sich, ob sich hinter diesen scherzhaften Worten nicht doch ein gewisses Konkurrenzdenken der beiden Männer verbarg. Bei der letzten Bemerkung Contis hatte Smith Mundwinkel für einen kurzen Moment kaum merklich gezuckt und der Blick seiner Augen war hart geworden, sie hatte ihn wohl heftiger getroffen, als er zugeben würde.
„Dafür wartest du noch immer auf deinen dritten Stern“, merkte er lächelnd an, „und wenn du mich weiter vor Lieutenant Montero bloß stellst, lasse ich dich auch noch ein Weilchen zappeln.“
„Das würde dir ähnlich sehen!“
Smith leerte seinen Whisky in einem Zug. „Du weißt, ich bin verdammt nachtragend, mein Freund.“
„Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, einen gemeinsamen Versöhnungsschluck zu nehmen?“, fragte Isabel vorsichtig.
„Nehmen Sie uns nicht zu ernst, Lieutenant“, meinte Conti und bestellte sich dennoch einen Whisky. „Wie Sie schon sagten, wir sind alte Kameraden, ab und zu brauchen wir das. Immerhin haben wir uns in der Verbannung sieben Jahre gegenseitig auf der Pelle gehangen, ohne ein wenig Humor wäre das nicht zu ertragen gewesen.“
„Das ist wohl eine schlimme Zeit für Sie beide gewesen?“, fragte Isabel mitfühlend. Die Tatsache, dass die beiden für ein Kriegsverbrechen verurteilt worden waren, verdrängte sie schnell.
„Wir hatten viel Zeit zum Nachdenken“, meinte Smith. „Um unsere Leitlinien noch einmal zu überdenken.“
„Mit Erfolg, sonst wären wir jetzt nicht hier“, Conti klopfte Smith noch einmal auf die Schulter und zwinkerte Isabel zweideutig zu. „Aber ich will nicht länger stören und ziehe mich wieder in meine Sitzecke zurück. Vielleicht habe ich ja Glück und finde ebenso charmante Gesellschaft.“
Smith schien erleichtert zu sein als Conti schließlich ging, auch wenn er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Auch trank er jetzt gemächlicher und lenkte das Gespräch auf unverfänglichere Themen. Der General schien mit seiner Uniform auch seine Zurückhaltung abgelegt zu haben, gab sich ganz als Privatmann. Er schlug ihr Orte in Metropolis vor, die sie unbedingt besuchen solle, Parks und Museen. Auch pries er die Einkaufsmöglichkeiten der Stadt, die sie als Frau doch bestimmt interessierten. Isabel vergab ihm die klischeehafte Bemerkung, auch weil er ihr erzählte, wie gern seine erste Frau neue Kleider und Schuhe gekauft hatte, was ihn nie gestört habe. Isabel hatte nicht gewusst, dass er vor Emma Rodriguez schon einmal verheiratet gewesen war und verkniff sich die Frage, was aus dieser ersten Frau geworden war. Von Emma erzählte er nichts, was ihr auch Recht war. Sie mochte nichts über die Frau hören, deren Bild noch immer auf seinem Schreibtisch stand. Im Gegenzug berichtete sie ihm einiges über ihr Leben, was sie nach Asinara verschlagen hatte und warum sie überhaupt zur Armee gegangen war. Sie hatte große Zukunftspläne daran geknüpft, von einer Karriere geträumt. Er versicherte ihr, dass er sie in ihren Bemühungen unterstützen würde. Die Zeit verging wie im Flug, die Bar begann sich bereits zu leeren, und sie unterhielten sich immer noch.
„Isabel“, er benutzte das erste Mal ihren Vornamen, „ich hoffe, Sie verstehen es jetzt nicht falsch, wenn ich Ihnen das sage, aber mir liegt viel an Ihrer Gesellschaft. In meiner Position gibt es nicht viele Menschen mit denen man reden kann, aber Sie sind so ein Mensch. Ich mag Sie, aber ich will mich Ihnen nicht aufdrängen. Sie sollen nicht das Gefühl haben, dass ich meine Position als Ihr Vorgesetzter ausnutze...“
„Aber das glaube ich nicht, Sir.“ Ihr Herz begann zu rasen.
„Wenn ich Ihnen zu nahe komme, sagen Sie es mir nur, ich werde es akzeptieren.“ Er griff nach ihrer Hand, die auf der Tischplatte lag und drückte sie. „Sie sind eine sehr hübsche junge Frau und gefallen mir sehr gut.“
Eindeutiger konnte er seine Absichten nicht ausdrücken. Schnell trank Isabel noch einen Schluck Wein. „Sir, ich weiß nicht, was ich sagen soll...“
„Ich kann Sie nur bitten, mir einen Teil Ihrer Freizeit zu widmen“, meinte er lächelnd.
Vielleicht, wenn er sie mehr gedrängt oder seine Position tatsächlich stärker herausgestrichen hätte, wäre es ihr leichter gefallen, seinem Ansinnen zu widerstehen. So aber drängte es sie geradezu, seine Zweifel zu zerstreuen. „Das macht mich jetzt ein wenig verlegen“, gab sie zu.
„Aber es gibt keinen Grund für Verlegenheit.“ Er beugte sich zu ihr hinüber. Sein Mund streifte ihre Schläfe. „Sie können immer noch zurück. Ich würde Ihnen dennoch keine Steine in den Weg legen.“
Sie glaubte ihm kein Wort, aber seine Anziehungskraft war einfach überwältigend. „Vielleicht will ich gar nicht zurück“, sagte sie und lächelte.
„Wenn ich Sie jetzt bitte, zu bleiben, werden Sie nicht nein sagen?“ Seine Fingerspitzen wanderten über ihre Wange, dann beugte er sich zu ihr hinüber und küsste sie sanft auf den Mund.
„Ich bleibe sogar gern“, erwiderte sie und spürte gleichzeitig, wie ihre Befangenheit ihm gegenüber zusehends abnahm.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war er schon gegangen. Nun lag sie allein in einem der Gästezimmer des Regierungsgebäudes und fragte sich, ob sie vielleicht doch zu schnell nachgegeben und zu leichtfertig gehandelt hatte. Sie hatte das Zusammensein mit ihm sehr genossen, er war erfahren und zärtlich, aber nun blieb ihr ein schaler Nachgeschmack. Das Zimmer war bequem über einen diskreten Aufzug von der Bar aus erreichbar gewesen, böse Zungen mochten dahinter eine eindeutige Absicht erkennen, es Paaren einfach zu machen, die in der Bar einen Drink zu viel genommen hatten. Sicherlich war der General nicht der einzige, der diese bequeme Möglichkeit eines intimen Treffens genutzt hatte. Immerhin war er so charmant gewesen, ihr einen Strauß Blumen auf seine leere Seite des Bettes zu legen. Isabel kämpfte gegen einen wütenden Impuls an, diesen gegen die Wand zu werfen. Vielleicht war der General einfach zu einer Besprechung gerufen worden, sagte sie sich, das musste alles nicht bedeuten, dass er sie nur benutzt hatte.
Sie sah auf die Uhr, es war kurz vor sieben. Gerade noch genug Zeit, um schnell ihr kleines Apartment Im Regierungsviertel aufzusuchen, zu duschen und etwas Frisches anzuziehen. Schließlich war heute der große Tag, an dem der ehemalige Präsident seine Rede halten sollte. Auch Isabel war zu der Feierlichkeit eingeladen und sie dachte nicht daran, sie zu versäumen. Vorher allerdings musste sie noch ins Büro, was ihr zwiespältige Gefühle verursachte, wie mochte Smith auf ihr Erscheinen reagieren? Kühl und gelassen? Oder freute er sich, sie zu sehen? Im schlimmsten Fall bereute er es selbst bereits, dass er sich mit ihr eingelassen hatte. Sie schlüpfte rasch in ihre Kleider und griff nach dem Blumenstrauß.
Gegen halb neun erreichte sie ihr Büro, wo sie bereits erwartet wurde. Einige Offiziere harrten darauf, zu Smith vorgelassen zu werden und unterhielten sich leise. Der General hatte ihr eine Notiz auf dem Schreibtisch hinterlegt, sie möge sich gleich bei ihm melden, sobald sie einträfe. Sie stellte rasch ihre Tasche ab und ging an den beiden Wachen vorbei durch die Tür.
„Guten Morgen, Lieutenant“, grüßte sie der General gut gelaunt und zwinkerte ihr zu. Das war somit auch geklärt, sie würden in der Öffentlichkeit bei der förmlichen Anrede bleiben. Isabel würde auch das überleben, wenn er nur weiterhin freundlich blieb. „Heute ist unser großer Tag, noch gute drei Stunden bis zu Hirschmanns Rede. Ich habe Ihnen einen Platz in der ersten Reihe reservieren lassen.“
„Das ist sehr freundlich von Ihnen, Sir.“
„Außerdem möchte ich Sie um einen kleinen Gefallen bitten, da ich selbst vorn bei Hirschmann beschäftigt sein werde“, der General begann vor seinem Schreibtisch auf und ab zu gehen, „es handelt sich um einen Auftrag als informelle Mitarbeiterin der III. Abteilung sozusagen. Sie müssen nicht viel dafür tun, lediglich ein wenig die Augen offen halten. Mit Ihnen vorn werden eine Menge wichtiger Leute sitzen, teilweise solche, die wir aus ihren alten Ämtern heraus übernommen haben. Da ich Sie für eine aufmerksame junge Frau halte, möchte ich, dass Sie die Gesichter dieser Menschen während Hirschmanns Rede unauffällig aber sorgsam beobachten und mir später über ihre Reaktionen berichten. Ich erhoffe mir davon Aufschluss über die tatsächliche Loyalität dieser Amtsträger, schließlich will ich mir keine wankelmütigen Opportunisten ins Haus holen. Meinen Sie, Sie kriegen das hin?“
„Ich denke schon, Sir“, erwiderte sie, auch wenn ihr die Aufgabe Unbehagen bereitete. Ihr gefiel es nicht, dass es von ihrem Urteilsvermögen abhing, ob jemand seines Amtes enthoben werden sollte oder nicht. Auch wollte sie dem General keinen Gefälligkeitsbericht liefern.
„Ich hatte auch nicht daran gezweifelt“, meinte Smith lächelnd. Er ging zu seinem Schreibtisch und nahm ein Blatt Papier von der Schreibunterlage. „Hier haben Sie die Sitzordnung, prägen Sie sich die Namen bis heute Mittag so gut wie möglich ein. Wir wollen ja nicht, dass es zu einer Verwechselung kommt, das könnte für den Betreffenden üble Folgen haben.“ Er lachte leise.
Isabel warf einen Blick auf die Liste, auf der die Plätze der ersten zwei Sitzreihen mit Namen beschriftet waren. Es handelte sich um mindestens dreißig Personen, sie fragte sich, wie sie alle diese Menschen gleichzeitig im Auge behalten sollte. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so viele sind“, sagte sie ehrlich.
„Meinen Sie, dass Sie damit überfordert sind?“, fragte Smith mit unüberhörbarer Enttäuschung in der Stimme. „Ich kann den Auftrag auch jemand anderem geben, wenn Sie nicht in der Lage sind, ihn auszuführen.“
„Aber, nein, Sir“, wehrte sie verzweifelt ab. „Natürlich kann ich das für Sie erledigen. Ich werde mich gleich daran machen, die Namen auswendig zu lernen.“ Sie kam sich vor wie ein getadeltes Schulmädchen.
„Das freut mich“, das Lächeln war auf sein Gesicht zurückgekehrt. „Dann habe ich noch eine gute Neuigkeit für Sie: Mit sofortiger Wirkung erhebe ich Sie in den Rang eines Sonderkommissars der III. Abteilung. Ihre Aufgabe und die Ihrer Kollegen wird die innere Sicherheit sein, eine Sektion zur Überwachung der Überwacher sozusagen. Keiner von Ihnen wird wissen, wer außer ihm selbst noch in dieser Sektion arbeitet. Sie sind damit auch für die Sicherheit meiner Person zuständig, eine Aufgabe mit großer Verantwortung also. Nehmen Sie die Sache also nicht auf die leichte Schulter, ich verzeihe hier keine Fehler.“
„Das ist eine große Ehre für mich, Sir.“ Sie schluckte. Smith musste große Angst vor Übergriffen aus den eigenen Reihen haben. Sie dachte an das kurze Gespräch mit General Conti am Vorabend zurück. Auch in der Führungselite der Reinigenden Flamme gab es Neid und Konkurrenzdenken, und nicht jeder sprach es so offen aus wie Conti. Schlimmer waren diejenigen unter Smith Gefolgsleuten, die ihm nach dem Mund redeten.
„Kennen Sie bereits Colonel Dumont, den Leiter der III. Abteilung?“
Isabel hatte ihn bereits einmal am Telefon gehabt, der Colonel war ein unangenehmer Mensch, steif wie ein Besenstiel und vollkommen humorlos. „Ja, Sir, ich hatte bereits das Vergnügen.“
„Ich glaube kaum, dass es für Sie ein Vergnügen war“, erwiderte Smith kühl, als habe er sie bereits bei der ersten Lüge ertappt. „Nun, wie dem auch sei, Sie werden mit dem Colonel auskommen müssen. Und ihm gleichzeitig auf die Finger schauen.“
„Wie Sie wünschen.“ Isabel fragte sich, wie sie das bewerkstelligen sollte, wagte aber nicht noch einmal zu widersprechen. Mit der Zeit würde sie sicher in engeren Kontakt mit dem Colonel kommen, und dann würde es leichter werden, Smiths Auftrag auszuführen. In den nächsten Wochen standen laut Smiths Terminkalender so viele Parteiveranstaltungen an, dass es ein leichtes sein würde, sich den Chef der III. Abteilung einmal näher anzusehen.
„Das wäre es dann vorerst, wir sehen uns dann spätestens bei der Rede des Präsidenten.“ Er hatte sich schon abgewandt, drehte sich dann aber noch einmal um und sah sie mit einem schwer zu deutenden Blick an. „Ach übrigens, Sie sollten mal in Ihre oberste Schreibtischschublade sehen, da muss, glaube ich, etwas weggeräumt werden.“
Isabel zuckte unter seinen Worten gedemütigt zusammen. „Ja, Sir.“
Verletzt verließ sie sein Büro und setzte sich an ihren Schreibtisch. Nun, immerhin hatte er ihr einen verantwortungsvollen Posten übertragen, aber die unpersönliche Art, mit der er das getan hatte, schmerzte sie. Und was sollte nur die Bemerkung über ihren Schreibtisch, den sie stets ordentlich hielt? Mit einer ruppigen Bewegung riss sie die besagte Schreibtischschublade auf, die penibler kaum aufgeräumt sein konnte. Obenauf lag ein kleines Samtkästchen. Kurz sah sie sich um, ob niemand sie beachtete, und als sie sich unbeobachtet wähnte, nahm sie das Kästchen heraus und öffnete es. Ein Zettel fiel ihr in den Schoß, darunter kam ein Paar diamantbesetzter Ohrringe zum Vorschein. Isabel hielt überrascht den Atem an und faltete den Zettel auseinander. Er war mit der steifen Handschrift des Generals bedeckt, der ihr darin noch einmal für das Treffen in der letzten Nacht dankte und sie darum bat, das möglichst bald zu wiederholen. Isabel las den Text zweimal. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, beschloss dann aber, sich möglichst rasch wieder ihrer Aufgabe zuzuwenden, um nicht zu viel nachdenken zu müssen.
Wenige Stunden später begab sie sich in die große Festhalle des Ministeriums, in der es schon von Menschen wimmelte. Hochrangige Offiziere beiderlei Geschlechts standen in Gruppen beieinander und unterhielten sich oder hatten sich bereits auf die ihnen zugewiesenen Plätze gesetzt. Isabel sah auch einige Zivilpersonen, aber sie waren deutlich in der Minderheit. Überall waren bewaffnete Wachen mit schweren Lasergewehren postiert, teilweise unauffällig hinter den imposanten Säulen, welche den Saal in regelmäßigen Abständen zierten, andere ganz offen an den Eingängen. Einige der Wachposten gingen auch langsam im Saal umher. Der General ging kein Risiko ein. Oder ging es ihm auch darum, Hirschmann einzuschüchtern? Isabel konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass der Altpräsident seine Meinung so schnell geändert haben sollte und eine Rede zugunsten des neuen Machthabers halten würde. Aber Smith war so zuversichtlich gewesen!
Im Hintergrund übte ein Orchester, das unterhalb des Podiums saß. Das Podium selbst war mit Blumen geschmückt und mit den Fahnen der Reinigenden Flamme beflaggt. Eine schwarz uniformierte junge Frau beaufsichtigte eine Gruppe von Kindern, die Mädchen in rosa Kleidchen und die Jungen in dunklen Samtanzügen. Zwei der Mädchen hatten Blumensträuße in den Händen, die offensichtlich später an die Redner überreicht werden sollten. Die Kinder zappelten ungeduldig, während die Frau unablässig auf sie einredete. Weiter vorn hatten die Kamerateams Aufstellung genommen, die Kommentatoren der verschiedenen Fernsehsender saßen in einer Glaskabine an der Seite des Saals. Die gesamte EAAU würde an ihren Schilderungen des Ereignisses teilhaben. Isabel erkannte Tom Collins, den bekannten Fernsehmoderator unter ihnen. Gerade klopfte er einem Kollegen auf die Schulter und wandte sich dann wieder seinen Aufzeichnungen zu.
Ein kleines Namensschild wies Isabel auf ihren Platz hin. Als sie sich setzte, versuchte sie, möglichst gelassen zu wirken und sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. Ein Teil der Stühle war bereits besetzt und sie rief sich die Namen der Männer und Frauen ins Gedächtnis, die dort saßen. Ein Mann, General Volkmann, schien zu dösen, sein Kinn war ihm auf die Brust gesunken und er atmete gleichmäßig. Würde das Smith auch interessieren? Vielleicht konnte man es als Desinteresse an der Politik des Generals auslegen. Isabel fragte sich, wie viele Mitarbeiter der III. Abteilung mit der gleichen Aufgabe im Publikum saßen. So unauffällig wie möglich ließ sie ihren Blick schweifen. Wie sie hatten die Offiziere ihre Ausgehuniformen angelegt und warteten auf das große Ereignis.
Aus unsichtbaren Lautsprechern forderte eine sanfte weibliche Stimme die Anwesenden auf, ihre Plätze aufzusuchen, die Veranstaltung würde in wenigen Minuten beginnen. Unter lautem Stimmengewirr folgten die Menschen der Aufforderung, und es dauerte tatsächlich einige Minuten, bis alle auf ihren Plätzen saßen und Ruhe einkehrte. Auch als das Orchester schon zu spielen begann, irgendetwas Klassisches, das Isabel nicht kannte, gab es noch Stimmengewirr. Dann brandete am Eingang des Saales plötzlich Applaus auf, der sich wie eine Welle nach vorn ausbreitete und die Menschen verstummen ließ. Köpfe wandten sich dem Mittelgang zu, der von General Smith und Samuel Hirschmann beschritten wurde, denen eine kleine Armee von Bewachern folgte. Smith stützte den gebrechlich wirkenden Altpräsidenten und sprach leise auf ihn ein. Hirschmann nickte ihm zu, die beiden boten ein Bild der Eintracht, wie es niemand bei ihrer gemeinsamen Vorgeschichte für möglich gehalten hätte. Gemessenen Schrittes näherten sie sich dem Podium und dem Rednerpult. Smith stützte Hirschmann auch auf den Stufen, die dieser mühsam erklomm. Der alte Mann wirkte erschöpft. Isabel sah ein kleines Pflaster an seinem Hinterkopf, wo er sich wohl verletzt hatte. Im Saal wurde es still, niemand wagte noch ein Wort zu sagen. Sogar das Rascheln von Stoff, als hinter Isabel jemand seine Beine übereinander schlug, wirkte unhöflich laut.
Smith trat neben Hirschmann ans Rednerpult und begrüßte seinen Ehrengast öffentlich. Dann fand er lobende Worte über die Verdienste des alten Mannes, der einer der beliebtesten Politiker der EAAU gewesen sei. Es sei ihm eine Freude, heute an seiner Seite zu stehen. Wieder brandete Applaus auf, der aber auf ein kurzes Handzeichen des Generals hin sofort wieder abebbte. Dann übergab Smith das Wort an seinen Gast. Die Spannung im Saal war fast körperlich zu spüren.
„Wie wir alle wissen,“ begann der Präsident nach einigen Worten der Begrüßung, „ist eine Zeit des Handelns gekommen, in der die Völker unserer Republik Hand in Hand zusammenarbeiten müssen, um Freiheit und Wohlergehen unserer Länder zu sichern, bevor eine nie gekannte Bedrohung dies alles zunichte machen kann. Wir leben in einer Zeit der Täuschung und der Gewalt, einer Gewalt, die droht, uns alle im Strudel der Ereignisse mitzureißen.“
Das war nicht die Rede, die sie mit Smith vorbereitet hatte! Entweder hatte Smith noch schnell umdisponiert oder der Präsident improvisierte. Isabel hielt den Atem an und fürchtete bereits, diese Ansprache würde für den General mit einem Debakel enden. Gleich würde Hirschmann beginnen, die Menschen aufzurütteln, sie vor der Gefahr zu warnen, die ihnen durch den größenwahnsinnigen General drohte. Er würde einen Aufstand der sogenannten anständigen Menschen heraufbeschwören, der dem unseligen Treiben unter den Vorzeichen des Ausnahmezustands ein Ende bereitete. Die Revolution des Generals war vorbei, sie stellte sich vor, dass die Kamera in diesen Sekunden auf das fassungslose Gesicht Smiths schwenkte.
„Ich bin stets ein Mann des Ausgleichs gewesen“, fuhr Hirschmann fort, „ein Freund der Demokratie und der Bürgerrechte. Diese Bürgerrechte aber sind in Gefahr." Isabels Herz schien einen Augenblick auszusetzen. Warum unterbrach Smith den Altpräsidenten nicht? „Leider muss auch ein Mann wie ich sich einmal eingestehen, wenn er Fehler gemacht hat. Mein größter politischer Fehler war es, gutgläubig den leeren Versprechungen aus Peking zu vertrauen, die uns Frieden und Zusammenarbeit verhießen. In Wirklichkeit aber bin ich einer skrupellosen Lüge aufgesessen, die uns alle an den Rand des Abgrunds manövriert hat.“
Darauf also wollte Hirschmann hinaus. Erstaunt hörte Isabel zu, wie der Präsident mit seinen Selbstanklagen fort fuhr und seine Schuld an der gegenwärtigen Situation eingestand. Hätte er doch die Gefahr durch VOR rechtzeitig erkannt und sich nicht von idealistischen Beratern täuschen lassen! Isabel suchte verwundert nach einer Botschaft zwischen den Zeilen, nach einem verräterischen Blinzeln oder einem ironischen Unterton in Hirschmanns Stimme, aber bei allem guten Willen, es ließ sich nichts dergleichen finden.
„Darum, meine Damen und Herren“, schloss der Präsident, „bin ich zu einer Entscheidung gekommen. Meine Zeit in der Politik ist abgelaufen, ich habe mein Bestes getan, aber nicht das erreicht, was ich für uns alle erreichen wollte. Daher bin ich zu dem Entschluss gekommen, für eine jüngere, entschlossenere Generation von Politikern meinen Platz zu räumen und meinen Nachfolger zu begrüßen. Ich habe diesem Mann einmal bitter unrecht getan, als ich ihn bezichtigte, ein Kriegstreiber zu sein und kann ihn nur um Entschuldigung bitten. Das soll meine Entschuldigung sein: Ich empfehle General Smith als meinen Nachfolger, da ich ihn allein für fähig halte, uns alle aus dieser Notlage zu befreien.“
Isabel ließ sich auf ihrem Stuhl zurücksinken und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig ihres Auftrages. In den Gesichtern der Menschen um sie herum war jedoch nichts als Erstaunen zu lesen. Mit dieser Entwicklung hatte wohl niemand gerechnet.
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