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Die Herrschaft des Phönix

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama / P16 / Gen
Gordon B. Smith Samuel Hirschmann
19.08.2009
28.09.2010
27
114.525
 
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19.08.2009 4.536
 
Später einmal würde es heißen, Lavinia Drosczek hätte ihre Ideale wegen einer heißen Dusche verraten, so glaubte sie jedenfalls. Und sie genoss die Dusche wie nie etwas zuvor in ihrem Leben. Sie hatten ihr sogar Shampoo und Duschgel gegeben und sie gebrauchte beides reichlich, ließ das heiße Wasser über ihren Körper fließen und seifte sich wieder und wieder ab, bis ihre Haut ganz schrumpelig war. Auch frische Kleidung hatte sie bekommen, die III. Abteilung hatte sich die Freiheit genommen in ihre Wohnung zu gehen und eine Reisetasche für sie zu packen.
Latour hatte Wort gehalten und sie für ein paar Stunden in Ruhe gelassen. Erschöpft war sie auf ihrem schmalen Bett eingeschlafen und erst nach einigen Stunden grübelnd erwacht. Sollte sie sein Angebot annehmen? Sie hatte sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, wieder und wieder alle Argumente dafür und dagegen erwogen. Es würde ihr nicht leicht fallen, für dieses Regime zu arbeiten, von dessen Methoden sie bereits einen Vorgeschmack erhalten hatte, denn wie immer ihr Aufgabengebiet aussehen würde, ihre Arbeitskraft und ihre Fähigkeiten würden letztlich immer dem Vorankommen der Reinigenden Flamme zugute kommen. Smith brauchte gute Wissenschaftler und Techniker für sein Programm, so viel stand fest, er schien noch nicht einmal besonders wählerisch zu sein, was deren politischen Hintergrund anging. Was immer er auch vorhatte, ihm mangelte es offensichtlich an guten Mitarbeitern. Und es ging sicherlich nicht um ein Projekt zur Sicherung der Welternährung. Lavinia wollte ihn nicht noch dabei unterstützen.
Andererseits schwebte die Drohung eines Todesurteils über ihr. Sie zweifelte nicht daran, dass Latour diese Drohung wahr machen würde. Sie hatte erbärmliche Angst, nicht nur vor dem Tod, sondern auch vor einer weiteren Haftzeit in diesem furchtbaren Gefängnis. Selbst wenn man sie zu einer Haftstrafe verurteilte, wäre das nur ein geringer Trost für sie. Sie wusste nicht, was die grausamere Alternative war, ein Leben in dieser Zelle oder ein schneller Tod. Außerdem, wer hätte schon davon profitiert, wenn es sie nicht mehr gab? So lange sie lebte, bestand noch Hoffnung. Noch saß Smith nicht so fest im Sattel, wie er es die Welt glauben machen wollte, der Spuk konnte schon morgen vorbei sein und dann wäre sie wieder frei. Das alles hatte sie erwogen, als sie Latour schließlich ihre Antwort gab, welche dieser befriedigt zur Kenntnis nahm. Und zur Belohnung war sie aus ihrer Zelle befreit worden. Wahrscheinlich um in die nächste Gefangenschaft überzuwechseln, die allerdings ein wenig komfortabler ausfallen würde.
Eine harsche Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Werden Sie da drin auch noch mal fertig, Drosczek? Die Nachtschicht kommt gleich und löst mich ab, außerdem geht Ihr Transport bald!“
Ein weiteres Privileg, da man ihr eingeräumt hatte, sie musste nicht den Duschraum für die Gefangenen benutzen, in dem es keine Einzelkabinen gab, sondern durfte die Personaldusche nehmen. Der sah zwar auch nicht gerade anheimelnd aus, aber er war wenigstens sauber. Jetzt aber schien es der Vollzugbeamtin zu reichen. Lavinia beschloss, ihre Geduld nicht über die Maßen zu strapazieren und wusch sich den letzten Rest Shampoo aus den Haaren, dann drehte sie mit einem sehnsüchtigen Seufzer das Wasser ab. Sie rubbelte sich mit den bereitliegenden Handtüchern ab und cremte sich sorgfältig ein. Dann schlüpfte sie in die frische Kleidung aus ihrem Gepäck. Es war ein herrliches Gefühl, den knisternden Stoff auf der Haut zu fühlen, der angenehm frisch duftete.
„Ich hoffe, ich habe noch die Zeit, mich zu föhnen?“, fragte sie und unterdrückte den Sarkasmus in ihrer Stimme, als sie in den Vorraum trat.  
„Na, meinetwegen, aber machen Sie schnell. Ich hoffe, Sie drehen sich nicht auch noch Lockenwickler rein!“ Die Beamtin sah von ihrem Heft auf, einer bunten Illustrierten, die das Leben der Reichen und Schönen dokumentierte. Doch anstatt irgendeines Schauspielers prangte auch hier auf dem Titelblatt ein Bild des Generals in einer schneidigen Uniform. Smith verstand es, die Medien für sich zu nutzen. Er war sich auch nicht zu schade dafür, der Boulevardpresse ein Interview zu geben, auch wenn Lavinia daran zweifelte, dass er etwas wirklich Aussagekräftiges von sich preisgab.
Als Lavinia fertig war, wurde sie wie schon gewohnt von zwei Beamten der III. Abteilung in die Mitte genommen. Doch diesmal fühlte sie sich bedeutend besser, nicht mehr so erbärmlich und schmutzig wie am Tag zuvor. Auch hielten die Beamten sie diesmal nicht fest, vielleicht, weil sie einfach keine Lust hatten, ihre Reisetasche für sie zu tragen. Gepanzerte Türen öffneten sich vor ihr und machten den Weg durch endlose Gänge frei. Sie kamen an unzähligen Zellentüren vorbei, in denen andere unglückliche Frauen saßen, einige wegen gewöhnlicher Verbrechen verurteilt, aber mehr und mehr politische Gefangene. Dann durchquerten sie den Außenbezirk des Gefängnisses, ließen Verhörräume und Aktenzimmer hinter sich zurück, bis sie endlich die Tür zum Hof erreichten.  
Es war bereits später Abend. Im Innenhof, von einigen  Scheinwerfern angestrahlt, wartete eine Diana auf sie, ein kleines, ziviles Luftfahrzeug. Der Antrieb summte schon. Kommissar Latour hatte es sich nicht nehmen lassen, zu ihrem Abschied zu erscheinen. Er erwartete sie lächelnd an der Einstiegsluke, die schwarze Uniform wie immer einwandfrei sitzend.
„Sie wissen nicht, welche Freude Sie mir gemacht haben, als Sie unserem kleinen Handel zugestimmt haben“, meinte er lächelnd. „Wissen Sie, ich habe ja von Anfang an nichts gegen Sie gehabt, aber ich bin eben ein Mann, der seine beruflichen Pflichten ernst nimmt. Also musste ich dann und wann ein wenig grob zu Ihnen sein, ich bin sicher, Sie werden das im Nachhinein verstehen.“
„Nun sagen Sie mir nicht, dass es Ihnen mehr weh getan hat als mir.“, erwiderte Lavinia spöttisch.
„Aber wir wollen uns doch nicht zum Abschied streiten, Miss Drosczek!“ Er lachte. „Es sei denn natürlich, Sie wollten meine Gastfreundschaft doch weiter in Anspruch nehmen, was ich außerordentlich bedauern würde. Auch wenn Sie nach der Dusche wieder eine sehr anziehende Frau sind. Unter anderen Umständen hätte ich Sie gern mal auf einen Drink in meinem Lieblingsrestaurant eingeladen!“
Lavinia fragte sich, was den Kommissar zu dieser plötzlichen, wenn auch zweifelhaften Höflichkeit bewog. „Ich bedauere, diese Einladung unter den gegebenen Umständen nicht mehr annehmen zu können“, entgegnete sie eisig. „Und Ihre Gastfreundschaft ist nicht gerade ein Komforthotel, wenn Sie mir erlauben, das zu sagen. Aber wie Sie ja bereits in unserem letzten Gespräch sagten, gibt mir die Reinigende Flamme ja nun eine neue Chance und ich bin gespannt, was mich erwartet. Es kann ja kaum ungemütlicher werden.“  
„Miss Drosczek, ich bedaure wirklich, dass wir nicht als Freunde scheiden, schließlich habe ich mich nicht unerheblich dafür eingesetzt, dass Sie diese zweite Chance erhalten. Der General war wirklich sehr ungehalten über Ihren kleinen Ausflug mit dem Datenwürfel, und wenn ich nicht ein gutes Wort eingelegt hätte...“
Einen kleinen Augenblick lang war sie sogar geneigt, ihm zu glauben, auch wenn er sich wahrscheinlich nur wichtig machen wollte. Der General würde wohl kaum auf die Empfehlung eines kleinen Kommissars hören, auch wenn Beamten dieses Ranges der III. Abteilung sich wie kleine Götter in ihrem Machtbereich vorkamen. Auch Latour glaubte wohl, seine Uniform wäre eine Garantie für Unverwundbarkeit. „Nun, wenn Sie das sagen... Jedenfalls werden Sie mir wohl nicht böse sein, wenn ich diesen Ort nicht ungern verlasse.“
„Ich meine es ehrlich, wenn ich Ihnen jetzt alles Gute wünsche.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.
Lavinia war verdutzt. Automatisch und aus anerzogener Höflichkeit ergriff sie die ihr entgegen gestreckte Hand und drückte sie kurz. Der Kommissar lächelte zufrieden.
„Na sehen Sie, es geht doch.“ Er legte kurz die Hand an die Mütze und wandte sich zum Gehen.
„Nun gehen Sie schon an Bord.“, drängte einer der sie begleitenden Beamten. „Wir haben nicht ewig Zeit bis zum Abflug.“
„Wo soll es denn eigentlich hingehen?“
„Keine Ahnung.“
„Bringt die Diana mich direkt dorthin?“ Das kleine Schiff verfügte über eine erstaunliche Reichweite, das Ziel konnte überall auf der Welt liegen.
„Ist Geheimsache“, erwiderte der Mann knapp, „also los jetzt, steigen Sie ein.“
Lavinia folgte der Aufforderung und duckte sich, um durch die niedrige Einstiegsluke ins Innere der Diana zu gelangen, deren Passagierraum etwa so groß wie der eines Mittelklassenwagens war. Sie stellte ihre Tasche ab, setzte sich und schnallte sich an. Kaum als sie saß, fuhr auch schon die Luke zu und das kleine Flugzeug hob senkrecht ab. Vorne saßen der Pilot und ein weiterer Beamter der III. Abteilung, der sie wohl bewachen sollte. Sie hatte keine Ahnung, wo der Flug hingehen würde, als sie unter sich die Lichter der Hauptstadt sah. Von oben betrachtet, schien dort alles seinen gewohnten Gang zu gehen, wenn man einmal von der Unzahl der Militärtransporter absah, die den Weg der Diana kreuzten oder sie mit lautem  Sirenengeheul überholten. Der General ließ wohl Truppen vom Festland in sein neues Machtzentrum verlegen. Vielleicht gab es doch noch ein paar treue Anhänger von Präsident Hirschmann, die im Untergrund den Widerstand wagten?
Die Diana umflog weitläufig das Regierungsviertel und hielt auf das Hafengebiet der Stadt zu, wo sich auch der militärische Raumflughafen befand. Lavinia hatte die Vermutung, dass sie dort noch einmal würde umsteigen müssen. Wohin nur sollte sie gebracht werden?
Tatsächlich beschrieb die Diana zunächst einen eleganten Bogen über einem der Flugfelder und erbat dann Landeerlaubnis. Der Tower bestätigte ohne Verzögerung, worauf das kleine Schiff zur Landung ansetzte. Lavinia konnte das Landefeld unter sich jetzt bereits erkennen, es war von Scheinwerfern hell ausgeleuchtet. Schon ein knappes Dutzend anderer Dianen hatte sich dort eingefunden, zwischen denen schwer bewaffnete Soldaten in schwarzen Overalls patrouillierten. In der Mitte des Landefeldes hatte sich eine kleine Gruppe von Männern und Frauen versammelt, die alle wie Lavinia Reisegepäck bei sich trugen. Sie standen beieinander wie eine verängstigte Herde Schafe, bedroht von tödlichen Waffen.
Am meisten überraschte Lavinia allerdings eine andere Tatsache, und eine undefinierbare Angst machte sich in ihr breit. An der Stirnseite des Landefeldes wartete eine schwerfällige Najade auf ihren Start, ein langsames Transportschiff, wie es sowohl für die zivile Passagierfahrt als auch für militärische Transporte benutzt wurde. Das Raumschiff sah aus wie ein aufgeblasener Kugelfisch, rund und wenig elegant. Lavinia wunderte sich immer wieder, wie diese Schiffe es schafften, sich auch nur einen Meter vom Boden weg zu bewegen. Im Weltraum, wo es keine Luftströmungen gab, mochte ihre Form gleichgültig sein, aber hier in der Atmosphäre der Erde musste diese wenig stromlinienförmige Form einfach hinderlich sein. Entscheidender für Lavinia war aber die Frage, die sich ihr beim Anblick des Schiffes aufdrängte: Wohin würden sie und diese Menschen dort unten gebracht werden? Eine Najade wurde sicherlich nicht für einen Interkontinentalflug eingesetzt.
Sanft setzte die Diana auf und mit einem Zischen öffnete sich die Luke. Lavinia griff nach ihrer Tasche.
„Steigen Sie aus und schließen Sie sich der Gruppe auf dem Landefeld an“, befahl der Beamte von vorn.
„Wissen Sie, wohin wir gebracht werden?“, fragte Lavinia mit wenig Hoffnung auf eine Antwort.
„Hat man Ihnen nicht bereits gesagt, dass das geheim ist?“, erwiderte der Mann gereizt. „Ich bin doch kein Informationsbüro! Und jetzt steigen Sie schon aus, die warten nicht auf Sie.“
Mit ihrer Tasche verließ Lavinia den Transporter. Auf dem Landefeld wehte ihr eine kühle Brise vom Meer entgegen. Zudem war es extrem laut, weil ringsumher auf dem Gelände Dianen starteten und landeten. Auch von den benachbarten Flugfeldern klang Lärm herüber. Kaum, dass Lavinia einen Fuß auf den Boden gesetzt hatte, erschien auch schon einer der wachhabenden Soldaten neben ihr und deutete mit seinem Gewehrlauf auf die Gruppe der wartenden Wissenschaftler. „Da rüber. Und beeilen Sie sich!“
Lavinia wagte nicht, noch einmal nach ihrem Bestimmungsort zu fragen und folgte der Anweisung wortlos. Mit eiligen Schritten ging sie zu der Gruppe ihrer Kollegen hinüber, die genauso ratlos wirkten wie sie selbst. Sie zählte zwölf Männer und neun Frauen. Einige der Wartenden unterhielten sich flüsternd miteinander, trotz der argwöhnischen Blicke der Wachsoldaten. Die Angst der Menschen war fast körperlich spürbar, es lag eine merkwürdige Spannung in der Luft. Nicht nur Lavinia fragte sich wohl, ob sie einen guten Tausch gemacht hatte. Was, wenn man sie einfach in eine anderes Gefängnis brachte und dort exekutierte? Vielleicht wagte es der General noch nicht, in der Hauptstadt Hinrichtungen durchführen zu lassen und schickte seine Dissidenten an einen abgelegenen Ort? Aber warum mussten sie dann Gepäck mitnehmen? War das ein weiteres grausames Spiel der Reinigenden Flamme? Sie versuchte, etwas von dem, was die anderen sagten, zu verstehen, aber der Lärm auf dem Flugfeld übertönte alles.
Ein Offizier kam die Gangway der Najade hinunter und näherte sich der Gruppe. Alle Augen wandten sich ihm erwartungsvoll zu. Die Gespräche verstummten schlagartig. Lavinia spürte, wie ängstlich alle anderen Männer und Frauen hier waren und sie konnte das gut nachvollziehen. Auch sie merkte, wie ihre Knie zu zittern anfingen. Der Offizier, ein Major der Armee, stellte sich breitbeinig vor ihnen auf wie ein Feldwebel vor seiner Truppe. Fast erwartete Isabel, dass er jeden Moment beginnen würde, ihnen Befehle entgegen zu schreien. Doch er tat nichts dergleichen. Angesichts des Lärms, gegen den er anzugehen hatte, blieb seine Stimme sogar relativ ruhig.
„Meine Damen und Herren, willkommen auf unserem Flug“, begann er, seltsamerweise ohne Ironie in der Stimme. „Ich bin während der Reise Ihr zuständiger Verbindungsoffizier, Major Brendon. Ich bin sowohl für Ihre Sicherheit zuständig als auch für Ihre Aufsicht. Wir wollen uns nichts vormachen, Sie sind alle auf Bewährung hier. Der General und die Reinigende Flamme gewähren Ihnen einen Neuanfang in Dienste unseres neu geschaffenen Staates. So lange Sie sich an meine Anweisungen halten, werden wir keine Probleme miteinander bekommen. Sie werden angemessen untergebracht und verpflegt und können sich innerhalb Ihres Decks frei bewegen, ein Aufenthaltsraum steht Ihnen zur Verfügung. Sollten Sie allerdings gegen unsere Auflagen verstoßen, bin ich ermächtigt, entsprechende Sanktionen einzuleiten.  Mehr brauchen Sie vorerst nicht zu wissen. Ich bitte  Sie nun, sich mitsamt Ihres Gepäcks in die Quartiere zu begeben, die meine Leute Ihnen zuweisen werden.“
„Sagen Sie uns doch endlich, wohin man uns bringen wird!“, wagte einer der Männer zu fragen.
Der Major bedachte ihn mit einem gelangweilten Blick. „Man hat Ihnen bestimmt bereits mitgeteilt, dass das Geheimsache ist. Sie werden es vor Ort schon erfahren.“
„Wie lange wird die Reise dauern?“, fragte eine Frau.
„Ich bin nicht befugt, Ihnen das mitzuteilen“, erwiderte der Major und machte eine abwehrende Geste, die wohl bedeuten sollte, dass das Gespräch für ihn nun beendet war. „Nehmen Sie jetzt Ihr Gepäck und gehen Sie an Bord. Sie wollen mich doch nicht schon zu Beginn unserer Reise verärgern?“
Der Mann und die Frau schwiegen, während sich rund um sie leises Gemurmel erhob. Die Menschen griffen nach ihren Reisetaschen. Einige der Soldaten in schwarzen Overalls bauten sich rechts und links der Gangway auf, so als befürchteten sie, jemand könne die Flucht ergreifen. Auch wenn Lavinia einen solchen Gedanken ins Auge gefasst hätte, trotz der allgegenwärtigen Bewacher, so hätte sie ihn gleich wieder verworfen. Schließlich konnte sie nirgendwo  hin, ihre Wohnung wurde sicherlich überwacht, ebenso wie die Häuser ihrer Freunde und Bekannten. Es war also zwecklos, auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden und sich mit falschen Hoffnungen zu verwirren. Die anderen dachten wohl ähnlich, mit gesenkten Köpfen machten sie sich auf den Weg die Gangway hinauf.
Das Innere der Najade machte einen kühlen, nüchternen Eindruck. Durch einen Schleusenraum ging es in einen Gang, von dem einige Luken abzweigten.  Am Ende des Ganges führte eine Metalltreppe sowohl in die tieferen Decks als auch hinauf. Man befahl ihnen, hinauf zu gehen, wo sie wiederum durch eine breite Luke dirigiert wurden, die sich hinter ihnen mit einem lauten Zischen schloß. Das war wohl das Passagierdeck. Die Wände waren mit weißem Kunststoff verkleidet, recht und links zweigten Türen zu den Kabinen ab. Hinten erweiterte sich der Gang zu einem Aufenthaltsraum, es gab einen Metalltisch und ein paar einfache Stühle. Lavinia konnte auch eine kleine Teeküche erkennen. Unschlüssig stand die kleine Gruppe herum, bis sich Major Brendon wieder zu ihnen gesellte.
Lavinia war positiv überrascht, als ihr eine eigene kleine Kabine zugewiesen wurde, auch wenn diese nur wenig komfortabler war als ihre Gefängniszelle. Es gab              
ein schmales Metallbett, das am Boden festgeschraubt war, einen kleinen Kleiderschrank, sowie einen Schreibtisch mit einem Sessel davor, der auch Sicherungsgurte für den Start besaß. Über dem Bett war ein kleiner TV-Monitor in die Wand eingelassen. Und es gab eine eigene kleine Nasszelle mit einer engen, aber immerhin vorhandenen Dusche! Zudem musste die Kabine an der Außenwand der Najade liegen, denn an der Stirnwand war ein kleines Bullauge in die Wand eingelassen. Seufzend ließ Lavinia ihre Reisetasche auf das Bett fallen. Sie wünschte, man hätte ihnen erlaubt, etwas zu Lesen mitzunehmen. Das würde eine langweilige Reise werden, mit viel Zeit zu düsteren Grübeleien.
Neugierig wandte sich Lavinia dem Bullauge zu. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie einen Teil des Landefeldes sehen. Gerade schwebte ein großer Transporter des Militärs heran, dessen Seitenscheiben verdunkelt waren. Er wurde von einigen kleineren bewaffneten Fahrzeugen begleitet. Wahrscheinlich transportierte er etwas Wichtiges, sonst hätte man wohl kaum so viel Aufwand darum betrieben, vielleicht technisches Equipment. Ein Soldat wies den Transporter ein, der wendete und sich rückwärts der Najade näherte. Zwei Soldaten sprangen herbei und öffneten die Türen.
„Kommen Sie vom Fenster weg!“
Lavinia hatte nicht gehört, dass der Major ihre Kabine betreten hatte ohne anzuklopfen, so viel zu ihrer Privatsphäre auf dieser Reise. Sie zuckte erschrocken zusammen. „Tut mir Leid, ich wollte nur...“
„Ihre Neugier sollten Sie sich recht bald abgewöhnen, wenn Sie keinen Ärger haben wollen“, sagte der Major kühl. „Na, gut, jetzt wissen Sie Bescheid!“ Er legte die Hand an die Mütze und verschwand so rasch aus ihrer Kabine, wie er hinein gekommen war.
Lavinia ließ sich auf die Bettkante sinken. Ihre Gedanken waren bei dem Transporter. Was mochte er wohl gebracht haben?    

***

„Was denken Sie, Montero, die blau gestreifte oder die mit den kleinen roten Punkten?“
„Also, ich finde die mit den roten Punkten schöner.“
„Einverstanden. Seien Sie doch so nett und helfen Sie mir beim Anlegen.“
Verwundert hatte Isabel zur Kenntnis genommen, dass der General bei dem auf ihn zukommenden Gespräch keine Uniform tragen wollte, aber er würde schon seine Gründe dafür haben. Der maßgeschneiderte dunkelblaue Anzug kleidete ihn aber auch vorzüglich, wie sie zugeben musste. Sie wunderte sich nur, wann er die Zeit gefunden hatte, ihn sich anfertigen zu lassen, bei all dem Trubel, der in seinem Büro in den letzten Tagen geherrscht hatte. Neu geschaffene Posten beim Geheimdienst und der Armee waren besetzt worden, Berichte eingereicht, und es verging kaum eine Viertelstunde, in der nicht ein Adjutant oder ein anderer Offizier mit neuen Nachrichten in seinem Büro vorzusprechen wünschte. Ihre Aufgabe dabei war es, ein wenig vorzufiltern, Berichte zusammenzufassen und mit zu entscheiden, ob jemand tatsächlich zu Smith vorgelassen wurde oder nicht. Er vertraute in dieser Beziehung auf ihr Urteil, was sie unglaublich stolz machte. Manchmal versuchten die Besucher sich vor ihr wichtig zu machen und ihr mit Konsequenzen zu drohen, aber sie wusste, wie sehr Smith hinter ihr stand, also ließ sie sich nicht einschüchtern. Erst gestern hatte er sie sogar offiziell vereidigt, gemeinsam mit einigen ausgewählten Männern und Frauen, die für besondere Dienste in der III. Abteilung vorgesehen waren. Was machte es da schon, dass er sie auch bei belanglosen Dingen um Rat fragte, wie etwas bei der Auswahl einer passenden Krawatte?
Er hatte den Kragen seines Hemdes bereits hochgeklappt und die Krawatte um seinen Nacken gelegt. Wie angenehm er wieder duftete! Ein wenig verlegen trat Isabel an ihn heran und schlang den Knoten mit geschickten Fingern. Als sie den Knoten fest zog, ergriff er ihre Hand und hielt sie auf seiner Brust fest. Isabel spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss. Sein Hund betrachtete die Szene ebenfalls verwundert, war aber zu gut erzogen, um einen Laut von sich zu geben.
„Sie sind mir wirklich eine große Stütze, Isabel, sozusagen das Beste, was mir Asinara zu bieten hatte.“ Sanft drückte er ihre Hand und ließ sie dann wieder los. „Drücken Sie mir die Daumen für mein Gespräch, ja? Es ist wirklich wichtig für die Zukunft, auch wenn ich es nicht gerne führe, aber es hängt viel davon ab. Ich gebe es nicht gerne zu, aber ich bin ein wenig nervös. Schließlich haben dieser Mann und ich eine nicht sehr angenehme Vorgeschichte.“ Kurz berührte er ihren Arm. „Haben Sie die Rede bereit, die wir gestern zusammen vorbereitet haben?“
„Natürlich, Sir!“ Eigentlich hatte er diktiert und sie hatte geschrieben, aber so war er nun einmal zu ihr, gab ihr immer das Gefühl, einen wichtigen Beitrag geleistet zu haben. Dennoch hatte sie wieder einmal leise Zweifel gehabt, für die sie sich selbst undankbar schalt. Smiths Gesprächspartner bekam diese Rede einfach vorgesetzt, ein vorbehaltloses Bekenntnis zur Reinigenden Flamme, aber würde er sie auch vorbehaltlos halten wollen? Vertraute Smith so auf seine Überzeugungskraft? Nun, er gab selbst zu, nervös zu sein, vor ihm lag eine nicht leicht zu bewältigende Aufgabe.
„Wenn Sie das jetzt jemandem weiter erzählen, stelle ich Sie an die Wand“, fuhr der General scherzend fort, „aber früher habe ich mich vor diesem Mann oft wie ein kleiner Junge gefühlt, der vor der ganzen Klasse abgekanzelt wird. Das habe ich ihm bis heute nicht verziehen.“
„Aber da ist doch sieben Jahre her, Sir“, meinte Isabel verständnisvoll, „heute sind Sie in seiner Position und es gibt keinen Grund mehr, warum Sie sich unterlegen fühlen sollten. Jedenfalls werde ich während des gesamten Gesprächs an Sie denken, es wird schon gut gehen.“
„Ihr Wort in Gottes Ohr!“
Isabel überreichte ihm die ausgedruckten Seiten mit der vorbereiteten Rede, und er überflog sie noch einmal rasch. „Wir haben ein bisschen dick aufgetragen“, meinte er schmunzelnd, „aber schließlich soll es eine Feierstunde werden. Und unser ehemaliger Präsident ist ja bekannt für seine wohl gewählten Worte. Jetzt muss ich nur noch ebenso wohl gewählte Worte finden, um ihn zu überreden!“
„Er muss doch einsehen, dass es zum Besten des Staates ist, Sir“, meinte Isabel. „Auch ihm kann doch nur daran gelegen sein, das sich die angespannte Lage möglichst schnell beruhigt.“
Jetzt hatte auch sie die schwarzen Listen mit potentiellen Dissidenten gesehen, welche von der III. Abteilung erstellt worden waren, und die schiere Masse der dort erwähnten Namen hatte sie erschreckt. Aber Smith hatte ihre Zweifel zerstreut und ihr erklärt, es handele sich durchweg um gewaltbereite Terroristen, die zur Sicherung des inneren Friedens inhaftiert werden müssten. Sie hatte ihm geglaubt. Draußen brodelte es, auch wenn die III. Abteilung alles tat, um die Stadt sicher zu machen.  Isabel gefielen die Methoden nicht, welche die Geheimpolizei dazu anwendete, aber vielleicht musste man in der jetzigen Lage einfach hart bleiben. In den letzten Nächten hatte sie oft schlecht geschlafen und darüber nachgegrübelt, manchmal sogar den ketzerischen Gedanken gehabt, ob sie sich der falschen Sache angeschlossen hatte. Aber gerade jetzt konnte sie den General nicht im Stich lassen. Er verließ sich auf sie und brauchte wohl auch jemanden, mit dem er reden konnte.
„Sehen Sie, Sie verstehen mich“, er legte ihr den Arm um die Schultern, was sie erneut erröten ließ. „Sagen Sie, haben Sie Lust, heute Abend, wenn wir das hinter uns haben, mit mir an der Bar was zu trinken? Sie müssen natürlich nicht, wenn Sie etwas anderes vorhaben...“
Und wie sie Lust hatte! Sie versuchte bei ihrer Antwort gelassen zu bleiben. „Aber gern, Sir“, meinte sie lächelnd. „Wir müssen doch Ihren Erfolg begießen.“
„Ihren Optimismus lobe ich mir!“ Er lachte und verabschiedete sich mit einer knappen Geste von ihr um in sein eigenes Büro zu gehen. Sein Hund folgte ihm schwanzwedelnd, als freue wenigstens er sich auf das bevorstehende Gespräch.
Isabel setzte sich an ihrem Schreibtisch im Vorzimmer des Generals zurück und wartete auf das Eintreffen des wichtigen Gastes. Sie konnte sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren, war noch nervöser als der General. Smith hatte sie gebeten, sich bereit zu halten, falls sein Gast eine Erfrischung wünschte, und sie hatte vorsorglich Kaffee und Tee zubereitet. Nun konnte sie von ihrer Seite aus nicht mehr viel tun, um zum Gelingen des wichtigen Treffens beizutragen.
Als es endlich soweit war, hielt sie den Atem an. Zwei Beamte der III. Abteilung in Uniform und ein zivil gekleideter Kommissar brachten den ehemaligen Präsidenten der EAAU zunächst in ihr Vorzimmer. Samuel Hirschmann wirkte erschöpft, Isabel empfand spontan Mitleid mit ihm. Vielleicht waren die Gerüchte um einen Herzinfarkt des alten Mannes doch wahr gewesen. Sein Gesicht war bleich und tiefe Ringe lagen unter seinen Augen. Es sah so aus, als wäre er den Beamten nicht freiwillig gefolgt. Der General hatte nichts von einer Verhaftung gesagt, aber faktisch hatte es sich wohl um nichts anders gehandelt. Hirschmann warf ihr einen kurzen Blick zu, der alles und nichts bedeuten konnte. Er schien unendlich müde zu sein. Die Beamten warteten vor der Tür.
Wenig später bat der General tatsächlich um Tee, und sie bereitete den Servierwagen vor. Leise betrat sie das Büro, in der Hoffnung, etwas von dem Gespräch zwischen Hirschmann und Smith aufschnappen zu können. Beide Männer saßen sehr dicht beieinander an einem kleinen Tisch, der General lächelnd und in Gesellschaft seines Hundes. Hirschmann wirkte verschlossen und abweisend. Isabel wollte den Tee servieren, aber Smith lehnte ab, er wolle das selbst machen. Ein wenig enttäuscht salutierte sie und verließ den Raum wieder. Sich selbst nahm sie eine Tasse von dem nicht mehr benötigten Kaffee und setzte sich an ihren Schreibtisch zurück, um die weitere Entwicklung abzuwarten.
Lange dauerte das Gespräch nicht, höchstens zehn Minuten, die sich aber für sie wie Stunden hinzogen. Das Warten wurde nur von einem gelegentlichen  Summen des Telefons unterbrochen, wenn jemand zu Smith verbunden werden wollte. Geistesabwesend wimmelte Isabel die Anrufer ab. Dann kam Hirschmann endlich wieder hinaus, wieder eskortiert von den Beamten der III. Abteilung, die ihn an der Tür in Empfang nahmen. Hirschmann schien noch bleicher als zuvor zu sein, für Isabel ein Zeichen, dass das Gespräch wohl kaum einvernehmlich abgelaufen war. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Was würde nun werden, wenn der Altpräsident dem General seine Mitwirkung versagte? Smith wusste, wie wichtig es für ihn war, dass Hirschmann sich zu ihm bekannte, um die Zweifler im Staat zum Verstummen zu bringen. Wenn Hirschmann sich nun weigerte, konnte das zu einer Katastrophe führen.
Smith erschien wenige Augenblicke, nachdem der Präsident abgeführt worden war. Seine Krawatte hatte er bereits wieder gelockert. Er wirkte wütend und fluchte leise.
„Und, wie ist es gelaufen?“, fragte Isabel überflüssigerweise.
„Beschissen!“, fluchte der General. „Dieser alte Sturkopf wollte mir nicht einen Schritt entgegen kommen. Dabei habe ich ihm alles geboten, was mir nur möglich war, eine großzügige Pension, eine Ehrengarde, aber er hatte nur Feindseligkeit für mich übrig! Dieser Mistkerl, er hat seine Haltung mir gegenüber keinen Deut geändert, obwohl die Politik der letzten Jahre mir doch eigentlich Recht gegeben hat. Der Mann ist unverbesserlich.“
„Das tut mir Leid, Sir“, meinte Isabel bedrückt. „Aber was geschieht denn jetzt?“
„Zum Glück stehen mir noch andere Mittel zur Verfügung, um mir die Unterstützung des Präsidenten zu sichern“, erwiderte der General mit leisem Triumph in der Stimme.
Isabel sah ihn entsetzt an.
„Nein, nicht das, was Sie denken!“ Smith lachte. „Wir werden ihm kein Haar krümmen, das wäre wohl das Dümmste, was wir in dieser Situation tun könnten.  Lassen Sie sich einfach überraschen.“
„Wird der Präsident denn morgen eine Rede halten?“
„Darauf können Sie sich verlassen!“ Er legte eine Hand auf ihren Arm. „Aber was ist, nehmen wir den Drink trotzdem noch heute Abend? Ich glaube, den haben wir uns redlich verdient!“
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