Geschichte: Freie Arbeiten / Prosa / Allgemein / Haare

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Haare

Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer / P12 / Gen
04.05.2009
04.05.2009
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1.813
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04.05.2009 1.813
 
Was ich hier niederschreibe, ist in der Tat ein haariges Thema. Ich bitte dies nicht als Kalauer zu verstehen, sondern als Einstimmung auf den weiteren Erlebnisbericht.
Ja, Erlebnisbericht. Denn was ich erlebt und erfahren habe, ist in der Tat haarsträubend.
Darum warne ich jeden, der bis zu dieser Stelle gelesen hat davor, zu Ende zu lesen.
Denn der weitere Text könnte sein Leben auf den Kopf stellen. Die Wahrheit zu kennen ist oft heikler und grausamer, als mit einer Lüge oder einer Unwissenheit zu leben.
Ich für meinen Teil habe mich entschieden. Ich lebe mit der Wahrheit und biete jedem an, der nicht an Haarspalterei interessiert ist, sie hier zu finden.
Die Wahrheit.
Die einzige Wahrheit… Über Haare. Sie leben.

Alles begann letzten Mittwoch, als ich mich wie immer rasierte. Seit neuesten tue ich das nass, das geht schneller und die Haare wachsen nicht so schnell nach wie bei einer Trockenrasur. Außerdem erwische ich mehr und vor allem schneide ich tiefer.
Früher habe ich mal Vollbart getragen, danach einen kombinierten Kinn/Schnauzbart.
Zurzeit rasiere ich alles ab. Keine Lust und keine Zeit für Haarkünstlerei.
Wenn ich ehrlich bin, habe ich den Bart auch nur stehen lassen, weil ich zu faul zum rasieren war.
Wie gesagt, ich war gerade so schön am rasieren. Da fiel mein Blick auf meinen Haaransatz.
Und ich hielt inne.
Anfang dreißig, und der Stirnansatz verschiebt sich immer weiter nach hinten. Er gibt mehr Gesicht frei. Betont die Denkerstirn. Was man waschen kann, braucht man nicht zu kämmen.
Kurz und gut: Mir gehen die Haare aus. Wenn der Trend so anhält, werde ich in vierzig Jahren genauso herumlaufen wie mein Vater. Der hat eine prächtige Glatze, umrahmt von einem grauen Haarkranz.
Und das macht mir Angst. Ich bin noch zu jung für eine Glatze. Ich will keine Glatze. Aber ich werde wohl nicht drum herum kommen.

An diesem Morgen ergab ich mich seufzend in mein Schicksal. Und ahnte noch nicht, was im Laufe des Tages auf mich zukommen würde.
Kennt Ihr das? In einem Moment denkt man noch daran, warum plötzlich ein Fünfhundert Euro-Schein vor einem auf dem Boden liegt und warum der alte Glatzkopf einen so interessiert mustert.
Und im nächsten Moment wacht man auf und sitzt auf einem unbequemen Stuhl in einem dunklen Raum, der nur von einer Lampe erhellt wird, die natürlich ausgerechnet auf einen selbst einen Spot wirft? Nein? Nun, mir ist es passiert.

Also, ich saß auf diesem dämlichen, harten Stuhl und blinzelte. Gefesselt war ich nicht. Aber sehen konnte ich auch nichts, außerhalb des Lichtkegels. Was sollte ich hier? Wo war ich? Und wer hatte mich entführt?
Ärgerlich genug, dass ich auf den Trick mit dem Geldschein reingefallen war. Und noch ärgerlicher, dass ich ihn nach einer kurzen Suche nicht in meinen Taschen fand.
Doch das nur nebenbei.

„Ist er bereit?“, hörte ich eine männliche Stimme aus der Dunkelheit fragen.
Eine andere antwortete. Sie war älter, gehörte aber definitiv auch einem Mann. „Ja, das ist er. Lasst uns beginnen.“
Licht flammte auf. Die fünf neuen Spots rissen fünf glatzköpfige Männer an flachen Tischen aus der Dunkelheit. Im Gegensatz zu mir hatten sie bequeme Chefsessel unter ihren Hintern. In ihren Glatzen spiegelte sich das Licht der Lampen.
„Frisch gewachst, eh?“, fragte ich und schalt mich selbst für diesen dämlichen Gesprächsauftakt.
„Wer keine Haare hat, hat mehr Gesicht zum lieben“, konterte der Glatzkopf ganz links, den ich bei mir Nummer eins nannte.
„Ruhig“, sagte der in der Mitte, Nummer drei. „Wir werfen hier doch nicht mit Phrasen um uns.“
Glatzkopf drei sah mich direkt an. „Du weißt, warum du hier bist?“
Ich schüttelte den Kopf.
Glatzkopf drei grinste breit. „Dann werde ich es dir sagen. Du bist hier, weil du bald soweit bist.“
„Soweit für was?“, fragte ich und hatte eine Ahnung, dass mir die Antwort nicht gefallen würde.
„Soweit, deine restlichen Haare abzuwerfen.“
Aus seinem Mund klang das wie eine Genugtuung. Etwas, worauf man stolz sein sollte. War ich aber nicht. „Nicht, wenn die Amis noch rechtzeitig was erfinden“, erwiderte ich.
Glatzkopf vier fuhr empört auf. „Diese verdammten Amis. Immer wieder machen sie unsere kleinen Fortschritte Zunichte!“
„Ruhig“, sagte Nummer drei, den ich mittlerweile als Anführer identifiziert hatte. „Es wird nichts am Endergebnis ändern.
Du wirst deine Haare verlieren. Und du wirst froh drüber sein“, sagte Drei leise.

Für einen Moment war ich sprachlos. Das will echt was heißen. Dieser kahle Witzbold meinte das wirklich ernst.
Wieder grinste der Typ. „Du wirst froh sein, deine Haare zu verlieren. Wenn Du die Wahrheit kennst.“
Die anderen vier Glatzköpfe nickten bestätigend.
„Welche Wahrheit?“, fragte ich geradeheraus. Hätte ich vielleicht nicht fragen und mir stattdessen besser die Ohren zuhalten sollen?
Nummer eins grinste schräg. Erst jetzt fiel mir auf, dass er nicht einmal Augenbrauen oder Wimpern hatte. Keiner von ihnen hatte welche. Oder nur ein einziges Haar am Körper. Soweit ich das erkennen konnte.
„Bist du denn bereit für die Wahrheit?“, fragte Eins. „Bist du sicher, du kannst sie ertragen?“
Also, in dem Moment wusste ich, es ging um Haare. Und es ging anscheinend nicht darum, sie zu behalten.
Ich war interessiert und wollte mehr wissen.

„Ich bin interessiert und will mehr wissen.“
Eins sah zu Drei, der stumm nickte.
„Die ersten Säugetiere traten in etwa im Jura auf, es war die Zeit der ersten großen Echsen, den Dinosauriern. Damit traten sie etwas los, was sich langfristig als Erfolgsmodell der Evolution in tausenden verschiedenen Varianten herausstellen sollte: Die Pelzträger!“, begann Eins seinen Monolog.
Pelzträger? Haarträger! Aha.
„Ich erzähle dir das, damit du etwas verstehst. Unser… Problem gibt es schon seit über zweihundert Millionen Jahren. So lange hält es uns schon im Griff. Seit dieser Zeit hat es die Säuger begleitet, hat sich mit ihnen ausgebreitet, die Evolution durchschritten und mit den Säugern die Luft und die Erde erobert, ja sogar die Meere.“
Ich stutzte. „Okay, der Pelz hat sich weitervererbt“, stellte ich fest. „Worauf willst du hinaus?“
Unbeirrt setzte eins seinen Vortrag fort. „Aber es geschah etwas ungewöhnliches. Unsere Vorfahren – Säugetiere und Pelzträger -  die frühen Menschen warfen große Teile ihres Pelzes ab.
Ursprünglich ging man davon aus, dass die Notwendigkeit, einen Pelz zu tragen unnötig geworden war, da man Bekleidung entwickelt hatte. Aber sag mir bitte, wieso Bekleidung entwickelt wurde? Haben sich die ersten Menschen Ganzkörperrasiert, um auf Bekleidung angewiesen zu sein? Haben sie ihren Pelz ignoriert und sich einfach besonders warm eingepackt?“
„Du wirst es mir sicher gleich sagen“, stellte ich fest.
Eins grinste wieder. „Kluger Junge. Also, im Laufe der Entwicklung des Menschen geschah folgendes: Ein Großteil unserer Haare verließ uns.“
„Verließ? Du klingst so, als wäre das erstens von Vorteil für uns und zweitens nicht so ganz unsere Entscheidung gewesen.“
„Er ist gut“, stellte Nummer vier fest.
„Deswegen ist er hier“, antwortete drei.
Eins grinste immer noch, mehr Gesichtsausdrücke hatte er anscheinend nicht. „Ich denke, du bist bereit für die eigentliche Wahrheit. Haare sind Parasiten!“

„Was bitte? Parasiten?“ Verwundert strich ich mir durch die Haare. Meine Haare. Diese verlogenen, schwindsüchtigen Bastarde sollten parasitäre Organismen sein?
„Parasiten“, bestätigte Nummer drei.
„Aber wenn das Parasiten sind, wenn sie also von einem Wirt partizipieren, warum laugen sie uns dann nicht aus und warum fallen sie mir dann gerade aus? Und euch auch schon vor einiger Zeit, wie es aussieht.“
Unwillkürlich strichen sich zwei der Glatzköpfe über ihre verlängerte Stirn.
„Ich meine, die Menschheit lebt doch noch. Und Milliarden Tiere mit Pelz kommen mit ihren Haaren ganz gut klar. Warum bezeichnet Ihr sie dann nicht als Symbionten? Ist ja nicht gerade so, als würden sie uns wirklich aussaugen oder so.“
Nummer eins verzog verächtlich die Miene. „Was Haare tun ist noch viel schlimmer. Hast du dich nie gewundert, dass Haare nach dem Tod des Menschen noch weiter wachsen? Oder das es solche Phänomene wie Wolfshaut gibt, wo Menschen ein regelrechter Pelz wächst? Oder warum Haare geradezu als Schönheitsideal gelten?
Wir gehen von folgendem aus: Der menschliche Körper hat im Laufe seiner Evolution die Parasiten erkannt und begann vor zwei Millionen Jahren, sie abzustoßen. Wir, der Homo Sapiens Sapiens, haben unsere Intelligenz entwickelt, um diesen Prozess abzuschließen.
Unser Weg ist nicht einfach und wird noch Jahrzehnte dauern. Aber wir haben den Kampf letztendlich aufgenommen.
Nicht nur dass die Haare bereits von der Mutter auf das Ungeborene übertragen werden. Nicht nur, dass die Haare versuchen, durch genetische Manipulation den Pelz wieder zu bringen, wie die Wolfshaut zeigt.
Nein, es ist in unseren Augen erwiesen, dass die Haare in unsere Psyche eingreifen, um zu verhindern, dass die breite Masse sie als das erkennt, was sie sind: Als Parasiten.
Stattdessen werden sie verhätschelt und gepflegt und gefüttert und gewaschen. Doch dies wird bald ein Ende haben.
Im unbewussten Kampf unseres Körpers sind wir Männer am weitesten fortgeschritten. Uns obliegt es nun, die ganze Menschheit zu retten, vor allem die Frauen, deren Abwehr noch nicht so ausgeprägt ist wie bei den Männern.
Der Weg in eine haarlose Zukunft ist nicht sehr nahe, aber auch nicht mehr fern.“
Nummer eins schloss die Augen und lehnte sich nach hinten. „Oh, welch wundervoller Tag wird das sein. Eine Welt ohne Haare. Erst die Menschen, dann die anderen Säugetiere. Befreit von der Tyrannei eines Parasiten.“

DAS war der springende Punkt. Ich hob schnell den Schuh auf, den ich mittlerweile heimlich ausgezogen hatte, warf ihn hoch und traf die Lampe über mir, die daraufhin den Geist aufgab.
Mein persönlicher Spot wurde dunkel und ich verschwand in der Finsternis.
Ich sah Nummer drei aufspringen. „Es hat nicht funktioniert! Macht Licht, schnell!“
Ich hatte drei, vier Sekunden, dann wurde der ganze Raum in helles, schmerzhaftes Licht getaucht.
„Nanu? Wo ist er hin?“ „Er kann den Raum nicht verlassen haben! Dazu hätte er wissen müssen, wo die Tür ist. Ich war aber fast sofort an der Tür.“
„Es besteht also die Möglichkeit, dass er geflohen ist.“ „Na, hier steckt er jedenfalls nicht, oder?“
„Sofort hinterher. Fasst ihn! Mit seinem Wissen darf er nicht entkommen! Mist. Wieder einen viel versprechenden Rekruten verloren.“
Schuhe klapperten, die Tür wurde mehrmals geschmissen. Dann wurde es still.
Ich sah mich um, konnte aber keine Beine rund um mich sehen. Also kroch ich unter dem Tisch hervor, unter dem ich mich versteckt hatte.
Phantasielos und in Panik wie die Glatzköpfe nun mal waren, hatten sie eher an eine erfolgreiche Flucht geglaubt als daran, dass ich noch im Raum war.
Ich betrat den Flur, fand ihn verlassen vor und war bald am Ausgang. Unbehelligt verließ ich das Haus und tauchte schon bald in der nahen Innenstadt unter. Von den Glatzköpfen habe ich bisher nichts mehr gesehen.
Aber irgendwie wusste ich, dass ihre Geschichte, pardon, nicht an den Haaren herbeigezogen war.

Das ist meine Geschichte. Und in dieser haarigen Angelegenheit kann ich wirklich nur sagen: Sollte man die Parasiten bekämpfen?
Oder die Symbionten erhalten?
Diese Entscheidung kann ich niemandem abnehmen.
Ich jedenfalls kann mir Frauen ohne Haare nicht vorstellen…
Und meine würde ich eigentlich auch gerne behalten.
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